Читать книгу Der Schatten ihres Hündchens - Martin Frech - Страница 8
6.
ОглавлениеDer Mann vor meiner Tür war mir vollkommen fremd. Er war etwas größer als ich, etwa in meinem Alter, gebräunt, blondlockig und trug ein Stirnband in den Regenbogenfarben. Auf seinem weißen T-Shirt, das ihm aus der Hose hing, stand in großer roter Schrift WOW!. Seine Shorts endeten kurz über den Knien und ließen den Blick auf zwei muskulöse Sportler-Unterschenkel frei. Die Füße steckten, passend dazu, in Nike Turnschuhen. Seine Linke lag lässig auf dem Lenker eines Fahrrades, das von prall gefüllten Packtaschen flankiert war. Er grinste mich an. Dann legte er den Kopf ein wenig schräg, sah an mir vorbei und sagte, den Blick gleich darauf wieder auf mich richtend und einen ebenso überraschten wie erfreuten Ton in der Stimme: „Bob Dylan!“ Er sprach den Namen so amerikanisch aus, dass er nur Amerikaner sein konnte.
So sehr sich auch meine Gedanken überschlugen in dem Bemühen, eine Verbindung herzustellen zwischen ihm und irgendeinem Menschen, dem ich vielleicht irgendwann einmal begegnet war oder irgendeiner Situation, in der ich mich irgendwann einmal befunden hatte – es gelang mir nicht. Ich kannte keine Leute, die einen Regenbogen um die Stirn trugen. Ich kannte auch keine, die in solche T-Shirts schlüpfen würden. Und ich kannte schon gar keine, die sich mit an Schlachtrösser erinnernden Reiserädern abends um zehn vor eine Wohnungstür im dritten Obergeschoß stellen würden. Es erschien mir unmöglich, mit diesem Menschen in irgendeiner Form zu tun haben zu können.
„Bob Dylan“ empfand ich, auch in perfekter amerikanischer Aussprache, weder als Gruß noch als Erklärung. Dass er ihm gefiel, war schön für ihn. Mir selbst war es eher egal. Es war mir auch vor seinem Erscheinen klar gewesen, dass es neben mir noch einige weitere Menschen gab, die Dylan mochten.
Ich sagte nichts. Der Sportsmann machte keinen ausgesprochen unsympathischen Eindruck. Seine Art, sich zu kleiden, ließ allerdings nicht gerade auf ein sehr ausgeprägtes ästhetisches Empfinden schließen. Und für das Fahrrad, das er die drei Stockwerke mit hoch geschleppt hatte, musste ich ihm einige Punkte abziehen. Radfahrer gehörten nicht zu denen, denen sich mein Herz auf Anhieb weit öffnete. Einerseits kam mir die Tatsache, dass sie sich auf diese Weise fortbewegten, oft wie eine penetrante Demonstration ihrer moralischen Überlegenheit vor: Schaut her, wir machen keinen Krach, wir stinken nicht, wir vergeuden keine nicht erneuerbaren Ressourcen, und wir fahren keine Leute tot, mit einem Wort, wir sind in Ordnung – im Gegensatz zu Euch! (und ich wäre doch auch gerne jemand gewesen, der sich in die Kategorie derjenigen, die in Ordnung sind, einstufen konnte), andererseits ärgerte ich mich ziemlich oft über ihren Fahrstil, dem in vielen Fällen, wie ich fand, eine Mischung aus Arroganz, Rüpelhaftigkeit und Dummheit zugrunde lag. Viele von ihnen beachteten nicht nur die Straßenverkehrsordnung nicht, sie kannten sie wahrscheinlich auch gar nicht, und ich war mir sicher, dass die Zahl derer, die noch nie davon gehört hatten, dass es so etwas wie eine Straßenverkehrsordnung überhaupt gab, beängstigend hoch war. Alles, was sie wussten, war, dass man möglichst heftig in die Pedale treten musste, um schnell voranzukommen. Und dass die Autos gefälligst auf sie acht zu geben hatten. Und dass sie selbst nicht achtzugeben hatten, weder auf ihre motorisierten Hauptfeinde noch auf Menschen, die sich nur auf zwei Beinen vorwärts bewegten, auch dann nicht, wenn sie deren Wege, die Bürgersteige benutzten, zum Beispiel, weil die Straße gepflastert und infolgedessen etwas holprig und das heißt, für die Crème unter den Verkehrsteilnehmern unzumutbar war. In der Großgörschenstraße, die ja in Höhe unseres damaligen Hauses ebenfalls gepflastert war, hatte ich einmal beobachtet, wie einer dieser verhinderten Tour-de-France-Teilnehmer, ganz offensichtlich in dem Bemühen, einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen, sich dicht an den Häuserwänden haltend zuerst fast ein kleines Kind niedergerollt hätte, das aus einer Ausfahrt auf den Bürgersteig gehüpft kam, danach einer schimpfenden älteren Frau den erhobenen Mittelfinger zeigte und Ecke Katzlerstraße schließlich aufs Schönste mit einem anderen Radler zusammenkrachte, der gleichfalls den Bürgersteig der Straße vorgezogen und es ebensowenig wie er für nötig gehalten hatte, daran zu denken, dass sich, verborgen von den Häusern, ein ähnlicher Idiot im neunzig-Grad-Winkel der Kreuzung nähern könnte. Es hatte mir gut getan.
„Entschuldigung“, entschloss sich mein Besucher nun doch zu sagen, „sind Sie Herr Weinmeister?“ Er sprach deutsch, mit einem leichten amerikanischen Akzent zwar, aber ohne jeden Zweifel deutsch!
Und er schien tatsächlich zu mir zu wollen. Ein sportlicher Amerikaner mit Fahrrad, der zu mir wollte! Wow! Doch anstatt mich nun ohne zu zögern zu verleugnen, anstatt zu sagen, Herr Weinmeister sei leider verreist, und ich hütete nur die Wohnung während seiner Abwesenheit, gösse die Pflanzen, fütterte die Aquariumsfische, machte in den verschiedenen Zimmern das Licht an und aus und zeigte mich hin und wieder auf dem Balkon, um bei möglichen Einbrechern gar nicht erst die Idee aufkommen zu lassen, dass sie hier ungestört ihrem Geschäft nachgehen könnten, anstatt in diesem Moment, wo ich es noch in der Hand hatte, mir sehr viel zu ersparen, Zuflucht zu einer kleinen Lüge zu nehmen, sagte ich schlicht „ja“ und gab ihm damit Gelegenheit, ebenso schlicht zu sagen: „Ich bin Jeremy Clark aus Saint Louis, Missouri. Ich glaube, ich bin Ihr Ururgroßcousin.“
Ich habe seither oft überlegt, wieso in aller Welt ich diesen Mann hereingelassen habe. Ein absolut Fremder, schon an seiner Kleidung problemlos als zu einer anderen Welt gehörig erkennbar und, um das Maß voll zu machen, auch noch dieses Fortbewegungsmonstrum mit sich führend, das er übrigens ohne zu zögern und mir dabei keine Chance lassend, dagegen einzuschreiten, über die Schwelle meiner Wohnung schob und in der Diele so dicht neben der Art-Déco-Kommode abstellte, dass ich gar nicht hinschauen mochte. Vielleicht, habe ich manchmal gedacht, war es dieses merkwürdige Wort „Ururgroßcousin“ gewesen, das ich bis dahin noch nie gehört hatte und das ihn zu etwas sehr Besonderem, Einzigartigem machte, das ihn, jedenfalls im ersten Moment der Verwirrung, als jemanden zu bezeichnen schien, der aus einer weit zurückliegenden Epoche der Menschheitsentwicklung kam, aus den frühen Jahren des Holozän vielleicht noch, wo er seine Steinkeule zur Seite gestellt und den zottigen Pelz eines unter Lebensgefahr erjagten Braunbären von sich geworfen hatte, um sich aufs Fahrrad zu schwingen und sich auf den Weg zu mir zu machen, seinem weit entfernten Verwandten, und der nun, am Ende seiner langen Reise, sehr, sehr müde sein musste – hätte ich so jemanden abweisen können? Letztlich habe ich mich aber dann doch für eine andere Erklärung entschieden, nämlich dass es eigentlich Christine gewesen war, die dem guten Jeremy den Weg in meine Wohnung freigeräumt hatte, mit ihrem Lachen, mit dem sie mir, unmittelbar bevor die Türglocke ertönt war, zu verstehen gegeben hatte, was für ein Würstchen ich doch geworden sei. Damit hatte sie den Hausbesetzer in mir geweckt, der niemanden abwies, der vor seiner Tür erschien – vorausgesetzt natürlich, er trug keine grüne Uniform. „Bitte, kommen Sie doch herein“, hatte ich gesagt und damit Christine und vor allem auch mir selbst gezeigt, dass ich so schlimm, wie sie es mir unterstellte, doch noch nicht geworden war. Der Werbetexter wäre nicht so dumm gewesen. Er hätte gewusst, dass die Dinge in den allermeisten Fällen nicht so sind, wie behauptet wird. Aber der Werbetexter war nun einmal ausgeschaltet gewesen in diesem Moment.
Christine war dann, trotz ihrer Trunkenheit in fortgeschrittenem Stadium, im Gegensatz zu mir sofort aufgefallen, dass zwischen dem Alter, auf das der Begriff „Ururgroßcousin“ hinzuweisen schien und dem Aussehen unseres Besuchers ein auffälliges Missverhältnis bestand. „Dann stammen Sie ja noch aus dem 19. Jahrhundert!“ stellte sie, auf aufreizende Art die tief Beeindruckte spielend, fest. „Dafür sehen Sie aber noch erstaunlich knackig aus!“ Ich kam mir vor wie ein tumber Tor, der sich auf billigste Art hatte übertölpeln lassen. Einzig die Tatsache, dass auch Jeremy von ihrer Bemerkung ziemlich verwirrt zu sein schien, hielt mich davon ab, ihn umgehend wieder hinauszuwerfen. Wobei allerdings nicht ganz klar war, ob seine Verwirrung von Christines prompter Schlussfolgerung ausgelöst wurde oder von seiner Qualifizierung als „knackig“ oder einfach davon, dass ihm dieses Adjektiv unbekannt war. Vielleicht war es auch alles zusammen. Mir jedenfalls gefiel die Bemerkung nicht besonders, da dieses Wort nicht nur Spott, sondern durchaus auch Anerkennung ausdrückte. Christine aber lachte und forderte unseren Besucher auf, sich doch zu uns zu setzen, holte ihm einen Teller, ein Glas, Besteck – er sei doch sicher hungrig und durstig – und Jeremy folgte, etwas zögernd, aber letztlich doch bereitwillig ihrer Einladung. Ich konnte die Dinge nur noch ihren Lauf nehmen lassen, denn einmal abgesehen davon, dass ich es ja gewesen war, der ihn hereingebeten und damit den ersten Schritt getan hatte, war mir klar, dass Christine es mir sehr übel genommen hätte, wenn ich ihn wieder hinauskomplimentiert hätte, bevor sie ihre Neugierde befriedigt hatte. Ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie neugierig war. Und dass es sie amüsierte, mich in einer Situation zu sehen, die nicht mehr allzu viel zu tun haben konnte mit dem, was ich mir von einem Treffen mit ihr erhofft haben mochte.
Jeremy machte sich nun ohne Umschweife über die noch recht üppigen Reste in den Schüsseln her. Sein Essverhalten ließ nur zwei Schlüsse zu: Entweder er war vollkommen ausgehungert, oder mein Hahn mundete ihm ganz außerordentlich. Es hätte mich nicht sehr gestört, wenn er zwischen zwei Bissen auch schon einmal die eine oder andere Bemerkung bezüglich seines doch recht unerwarteten Erscheinens gemacht hätte, zum Beispiel, worauf seine Annahme, wir seien füreinander irgendeine Art von Cousin, überhaupt basierte, wie er zu meiner Adresse und dann hierher gekommen war, wieso er dieses Fahrrad mit sich führte und so weiter. Aber man hatte ihm wohl irgendwann einmal beigebracht, dass man beim Essen nicht spricht, und daran hielt er sich mit beeindruckender Konsequenz. „Schmeckt’s Ihnen?“, fragte Christine zwischendurch einmal überflüssigerweise, und er sagte, es sei „delicious“, und sie sei eine sehr gute Köchin. Sie widersprach ihm und sagte, sie koche ausgesprochen schlecht, und das empfand er dann wohl doch als allzu große Bescheidenheit, seine Kaubewegungen stockten, sein Blick ging von Christine zu dem kleinen Rest Geflügelfleisch auf seinem Teller und zurück, aber nein, es sei wirklich hervorragend! -, und Christine klärte ihn darüber auf, dass ich es gewesen war, der das Essen zubereitet hatte. Sie liebte diese kleinen Verwirrspielchen und hatte ihren Spaß dabei.
Jeremy schaute mich überrascht an. „Oh, wirklich?“
Ich bestätigte Christines Aussage, und da ihm mehr dazu offenbar nicht einfiel, aß er weiter. Er schien mit einem recht unkomplizierten Naturell gesegnet und weit davon entfernt zu sein, irgendeine Erwartung unsererseits für möglich zu halten oder die Situation als wenigstens ansatzweise unbehaglich zu empfinden. Also saßen wir da, nippten ab und zu an unseren Gläsern und übten uns in Geduld. Da es uns als unhöflich erschienen wäre, ein angeregtes Gespräch zu führen, ohne den Neuankömmling einzubeziehen, und da dieser wiederum ganz offensichtlich im Moment uneinbeziehbar war, da wir andererseits aber auch schlecht einfach da hocken und der Gabelbewegung von seinem Teller hoch zu seinem gefräßigen Mund und zurück folgen konnten, entschieden wir uns für eine Konversation auf Sparflamme. Hier eine Bemerkung zum Wein, da eine zu den hochsommerlichen Temperaturen, die einen schon fast von einer Klimaanlage träumen lassen würden, dazwischen einmal wieder ein vorsichtiger Versuch Christines, Jeremy doch schon aus der Reserve zu locken, bevor er sich auch noch das letzte Zipfelchen Gemüse einverleibt hatte: ob es am Tage nicht viel zu heiß sei für eine größere Fahrradtour, wie er sie offenbar hinter sich habe?
Nein, nein, das Wetter sei wunderbar, geradezu perfekt! - und ein forschender Blick in die Schüssel, und der anschließende Griff zu Messer und großer Geflügelgabel setzten auch schon wieder den Schlusspunkt unter seine Antwort.
Ich fragte mich unwillkürlich, wie er wohl mit der Käseplatte umgehen würde, und als der Moment gekommen war, sie ihm vorzusetzen, weil sich wirklich nichts Essbares mehr auf dem Tisch befand, entschloss ich mich, diesen Gang einfach ausfallen zu lassen. Wer aus dem Land von Coca Cola und Doppel-Whopper kam, kannte Käse wahrscheinlich nur vom Cheese-Burger, und für so einen Gaumen waren mir mein Rohmilchmorbier, der frische Ziegenkäse und der Iberico zu schade. Außerdem war mir inzwischen wieder das kleine Scharmützel eingefallen, das zwischen Christine und mir unmittelbar vor der Ankunft unseres Gastes begonnen hatte, und obwohl ich dabei der Ausgelachte und Verhöhnte gewesen war, ärgerte ich mich nun doch darüber, dass infolge der völlig neuen Situation alles, was sich womöglich daraus ergeben hätte, hinfällig geworden war. Auch später, als ich im Bett lag und nicht abschalten und daher auch nicht einschlafen konnte und der vergangene Tag wie ein Film vor meinem inneren Auge ablief, drängte sich der Gedanke, dass diese Auseinandersetzung vielleicht doch der Impuls für einen Neuanfang hätte sein können, wieder in mein Hirn, er quälte mich noch über Wochen und Monate hinweg immer aufs Neue, und letztlich tut er es bis heute. Denn es ist ja nicht zu bestreiten, dass just in den Momenten vor dem Ertönen der Türklingel eine Qualität in unser Streitgespräch gekommen war, die es lange nicht mehr gegeben hatte und die vor allem darin ihren Ausdruck fand, dass Christine mir mit ihrem beißenden Spott vermittelte, dass sie, entgegen dem Eindruck, den sie bei früheren Treffen immer wieder gemacht hatte, dem, was ich tat und den Veränderungen, die sie glaubte, bei mir feststellen zu können, durchaus nicht gleichgültig gegenüberstand. Gewiss, die Zeit, als wir uns bei dieser Art von Disputen so aneinander erhitzt hatten, dass es uns irgendwann zu einer gemeinsamen Entladung im Bett drängte, lag ziemlich lange zurück, und es war nicht gerade sehr wahrscheinlich, dass es ausgerechnet an diesem Abend, wäre Jeremy nicht erschienen, wieder zu einer solchen Nähe zwischen uns gekommen wäre. Aber eine kleine Chance hätte ich gehabt, zum ersten Mal, seit Christine mich verlassen hatte, davon bin ich auch heute noch überzeugt. Wie hatte ich nur, anstatt sie zu nutzen, anstatt wenigstens zu versuchen, sie zu nutzen, mitten im Gespräch das Zimmer verlassen können, um die Wohnungstür zu öffnen?!! Was hätte es denn da draußen so Besonderes geben sollen, das es wert gewesen wäre, diese einzigartige Gelegenheit, die sich mir womöglich an diesem Abend noch geboten hätte und auf die ich so lange schon gewartet hatte, zu verpassen? Denn selbst wenn gestimmt hätte, was dieser Jeremy behauptete, wenn er tatsächlich mein Ururgroßcousin gewesen wäre – eine Unmöglichkeit, wie Christine ja gleich erkannte, im Gegensatz zu mir, wofür ich mich immer noch schäme – oder irgendein anderer entfernter Verwandter – was hätte ich damit gewonnen gehabt, dass ich ihn kennenlernte? Was war das denn für ein Gewinn neben dem Verlust, dem endgültigen Verlust Christines, den ich dafür in Kauf genommen und mit dem ich bezahlt habe?