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»Bist Du bereit?«

Ich sah zu Chris hoch. Die Enden seines Fracks hingen wie verwelkte Blätter einer Tulpe hinunter. Seine Stirn war feucht, und der Taktstock in seiner Rechten zitterte. Er hatte wieder getrunken.

Chris musste vor jedem Auftritt trinken, sonst konnte er nicht vor das Publikum treten, vor dieses garstige Ungeheuer, das jeden Abend wieder seine Zunge durch die Zähne gleiten ließ um dann entweder den Dirigenten zu verspeisen oder sich durch die Musik einlullen zu lassen.

Man wusste, dass Chris trank. Jeder wusste es. Die Kritiker, das Publikum, die Musikkollegen, schlichtweg jeder. Aber das machte nichts, denn man schaute großzügig darüber hinweg und meinte, die Genialität von Chris fordere ihren Tribut – auch wenn es sich dabei um Alkohol handle.

Es gab diverse Anekdoten über ihn; die meisten waren leider wahr. So zum Beispiel, dass er einmal so besoffen gewesen sei, dass er keinen einzigen Einsatz korrekt geben konnte und ihm schließlich im zweiten Satz von Brahms’ zweiter Symphonie der Stock aus der Hand gefallen sei. Als er sich gebückt habe um ihn wieder aufzuheben, sei er vom Podest gefallen und benommen liegen geblieben.

Andere Zungen behaupteten – und hier weiß ich nicht, ob dies tatsächlich wahr ist –, dass er aufs Podest gestiegen sei, gewartet habe, bis die Klatscherei aufhörte, das Stäbchen gehoben, sich dann umgedreht und in den Saal gerufen habe: »Ihr seid doch alles Pisser!« Darauf habe er noch gerülpst, und damit sei er dann von der Bühne verschwunden und nicht wieder erschienen.

Ich hatte manchmal fast das Gefühl, das Publikum komme nur, um zu sehen, was heute wieder passieren könnte und ist zutiefst enttäuscht, wenn das Konzert ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen ist.

Dabei war Christopher Owen ein guter Dirigent.

Er wusste genau, was er wollte, wenn er vor das Orchester zur Probe trat und arbeitete dann unermüdlich daran, bis er seine Klangvorstellungen erreicht hatte. Die Musiker schätzten ihn als kompetenten und korrekten Leiter. Während einer Probe trank er nie, er griff erst während des Aufführungsstresses zur Flasche. Er hatte Angst vor dem Publikum, hatte Angst, etwas falsch zu machen.

Er schaute mich an, seine Augen waren wässerig und trüb.

»Sag nichts. Ich weiß, ich bin besoffen. Aber ich fühle mich gut. Wirklich, ich meine, wir werden eine großartige Vorstellung bieten.«

Er schloss die Augen und wiegte den Kopf in einem Rhythmus, der ihm wahrscheinlich im Moment gerade durch den Kopf ging.

»Können wir?«

Ich schaute ihn an. Er öffnete die Augen und grinste.

»Komm, lass uns Beethoven spielen. Weißt du, dass dieses Klavierkonzert für mich das allergrößte ist, was Beethoven je geschrieben hat? Keine Neunte, keine Fünfte, kein Fidelio, nein, das dritte Klavierkonzert. C-Moll, meine Lieblingstonart, es ist das Schicksal, das sie zeichnet. Alle großen und wichtigen Werke stehen in c-Moll. Weißt du das? Ich glaube, Beethoven hat das gewusst. Er wusste genau, wann er etwas für die Ewigkeit geschrieben hatte, ja, er wusste es immer im Voraus und dann wählte er c-Moll. Oder zumindest drei B. Es kann ja auch Es-Dur sein, die Eroica, das Emperor-Konzert, es sind immer drei B, es ist ... Kommst du jetzt?«

»Chris, kannst du noch dirigieren?«

»Aber natürlich, ich ... ich fühle jede Note in mir, ich streichle jede Harmonie, sanft, wie wenn ich einen Frauenkörper berühren würde. Wir ... ich glaube, wir sollten gehen. Das Orchester ist bereit und das Publikum wartet. Die haben ja alle keine Ahnung, wissen nicht, wie sehr Beethoven gerungen hat, bis er endlich die Lösung dieses Konzerts gefunden hatte, wissen nicht, wie viel Schweiß, wie viele Tränen über sein mürrisches Gesicht geflossen sind, wissen nicht, welche bahnbrechende Revolution er damit in die Wege geleitet hat. Das Tor zur Romantik weit aufgestoßen hat er, die Exposition allein 111 Takte – man stelle sich das vor –, und die Arschlöcher sitzen jetzt da draußen und ... ja, vielleicht hat es zwei oder sogar drei Leute, die diese Arbeit zu schätzen wissen. Beethovens Arbeit und auch unsere. Weißt du, ich habe wirklich ... immer wieder und dabei war das mein Schlüsselerlebnis ... ich weiß nicht mehr ...«

Den Rest verstand ich nicht. Er hatte den Kopf nach vorne geneigt und sprach mit weinerlicher Stimme.

Ich stand auf und ergriff seine Schultern.

»Komm, Chris. Lass uns gehen und Beethoven zelebrieren«, sagte ich.

Er sah hoch und blickte mich fest an. Plötzlich schien er wie verändert. In seinen Augen schien ein Feuer entfacht worden zu sein, das mit unbändiger Gewalt alles niederbrannte, was ihm in den Weg kam. Er presste die Lippen zusammen und nickte energisch.

»Ja«, sagte er. Mehr nicht. Dann erhob er sich zu seiner vollen Größe, rückte den Frack zurecht und blickte in den Spiegel. Er hob den Stock und ließ ihn sanft nach unten gleiten, um sofort wieder, wie der Adler nach seinem erfolgreichen Raubzug, nach oben zu schweben. Diese Energie und Entschlossenheit, mit der er aus dem Handgelenk heraus den Takt zu schlagen wusste, hatte etwas Einmaliges an Grazie und Eleganz.

Ich schob mich hinter Chris zur Garderobentüre hinaus, und wir durchdrangen den langen Gang, der direkt auf die Bühne führte. Diese Katakomben empfinde ich immer als unheimlich und bedrückend, und ich bin immer froh, wenn ich sie hinter mich lassen kann, um endlich die Bühne zu betreten.

Chris wirkte nun enorm gelöst und entschlossen. Da war keine Spur mehr von Nervosität oder etwa gar Lampenfieber zu erkennen. Wie Zeus dem Olymp erklomm, so näherte er sich dem Konzertsaal.

»Na endlich«, zischte eine Stimme vor uns, und dann wurde die Türe aufgerissen.

Applaus.

Wir liefen zwischen den Musikern hindurch Richtung Podest, das heißt, Chris schwebte eher als er ging, und stellten uns an den Rand der Bühne, wo wir uns verbeugten.

Dann setzte ich mich und Chris nahm seinen Platz auf dem Podest ein. Er dirigierte ohne Partitur, das Umblättern sei ein Hindernis für ihn, hatte er einmal gesagt. Er blickte mich an, und ich nickte. Er hob den Kopf, schob seinen Unterkiefer etwas nach vorne und hob den Stock auf Schulterhöhe. Elegantes Hinuntergleiten – und – eins, zwei, eins, zwei – alla breve, jetzt ging’s los!

Allegro con brio – das Thema zuerst piano in den Streichern, dann wird es von den Bläsern weitergetragen, so sacht und doch so bestimmt. In diesem Moment liebte ich Beethoven über alles. Solch ein Werk zu erschaffen – so und nicht anders –, es war einfach herrlich.

Ich badete im wohltuenden Klang des Orchesters und ließ mich wegtreiben, weit weg, den Kopf nach oben, meinen Blick an der Kuppel des Konzertsaals verweilend. Angenehme Wellen kräuselten sich um mich herum, schlugen sanft an meinen Körper, manchmal deckten sie mich auch zu – und ich trieb – ganze hundertelf Takte lang. Dann setzte ich mich in aufrechte Haltung, blickte noch einmal zu Chris. Fortissimo ließ er das Orchester die beiden letzten Akkorde der Exposition in den Saal donnern und warf dann den Kopf nach hinten. Kein Blick zu mir, er wartete auf meinen Einsatz.

Ich legte los. Sechzehntelslauf aufs eingestrichene C. Sforzando. Kurze Pause. Neuer Lauf, diesmal aufs zweigestrichene C. Und noch einmal, noch eine Oktave höher und dann forte, das Thema beidhändig in den Oktaven. Vielleicht spielte ich zu grob, aber in dem Moment gab es für mich nur diese eine Lösung. Hart und bestimmt, genauso wie Chris es mit dem Orchester vorgemacht hatte. Beethoven hätte es geliebt!

Ich blickte kurz hoch zu Chris. Er stand immer noch wie vorher, die Augen geschlossen und den Mund ganz leicht geöffnet. Ich wusste, dass er jetzt ganz leise mitsang.

Weiter. Piano. Chris ließ seinen Kopf nach vorne fallen und blickte seine Musiker von unten an, dann hob er den Stock. Vier Takte, ganz zart und gedankenverloren, dann setzten die Streicher wieder ein und untermalten meine Läufe mit wohlklingenden Harmonien.

Ich fühlte mich gut, was heißt hier gut? Dafür lohnte es sich zu leben. Ich schloss kurz die Augen, um die Tasten besser fühlen zu können. Das war es! Die Tasten, die meinen Bewegungen nachgaben, die für mich sprachen, die für diesen einen Moment eine untrennbare Einheit mit mir bildeten – das ist der Sinn des Lebens. Und wenn jetzt neben mir eine Bombe explodieren würde, mir war es egal. Ich hatte die Musik, ich hatte meinen Beethoven. Nichts auf dieser Welt konnte mich aus meiner Fassung bringen. Zärtlich spann ich das Liebesspiel mit meinem Flügel weiter, und er gab mir, was ich wollte. Die Musik trug mich fort.

Und jetzt – Chris winkte das Orchester ab und blickte mich an. Mein großer Auftritt – Kadenz. Ich schwitzte wie ein Wahnsinniger. Ich rackerte mich ab, bearbeitete den Flügel mit all meiner Energie – kurz vor dem Höhepunkt –, ich müsste schreien, aber Beethoven tat es für mich.

Letzter Triller auf dem E, dann setzten ganz fein – pianissimo die Pauke und die Streicher ein, hoben den Satz noch einmal an, ließen die Musik zu ihrer vollen Schönheit entfalten, ich antwortete ihnen, gab noch einmal alles, was ich hatte, ließ meinen Kopf nach vorne fallen – letzter Lauf – Chris umklammerte seinen Taktstock, er erwürgte ihn beinahe – fortissimo – ba bam .... ba baaaaaaaam.

Aus.

Ich blickte auf die Tasten, versuchte, meinen Atem wieder etwas zu bändigen. Dann hob ich meinen Kopf und suchte den Kontakt zu Chris.

Er schaute zurück, nickte und strahlte mich mit einem seligen Lächeln an. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Er wandte den Blick von mir ab und ließ ihn übers Orchester gleiten, den Musikern leicht zunickend. Das hieß, dass er sehr zufrieden war.

Räuspern im Saal. Flüstern. Das arme Publikum hat über eine Viertelstunde stillsitzen müssen um sich nun endlich wieder bewegen zu können. Dilettanten! Chris’ Worte! Und wohl auch die meines Vaters!

Nach einer Weile spürte ich Chris’ Blick wieder auf mir. Ich schaute zurück und nickte.

Zweiter Satz – Largo.

Etwas vom Allerschönsten, was Beethoven je geschrieben hat – eine Hymne an die Liebe und an die Menschlichkeit, voller Sehnsucht und Tiefe.

Ich spielte den ersten Akkord und fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. So möchte ich leben können, mit dieser Ruhe und Gelassenheit. Wenn Gott mir jetzt zuhörte, dann sollte er wissen, dass es für die Menschheit doch noch Hoffnung geben muss.

Dann hatte ich meine Einleitung beendet und das Orchester trug meine Gedanken fort. Ja, jetzt gab Gott mir Antwort, durch Beethovens Musik: »Sei unbesorgt, ich glaube an den Menschen. Wir sind doch alles Brüder.«

Es gab für mich nichts anderes, als dieser tiefe, innere Frieden in mir zu spüren, dieses Glück in mir entflammen zu lassen. Mein Gott, wie kann ein Mensch nur etwas so Schönes schreiben. Diese Reinheit und Einfachheit, als ob es gar nicht anders sein könnte!

Ich musste meine Finger nicht kontrollieren, sie flogen wie von selbst über die Tasten, und ich war vertieft in den Rausch der Musik.

Dann fortissimo der Schlussakkord in E-Dur – dem ich nachhorchte, bis er vollständig verklungen war, um dann quasi attaca den letzten Satz, das Rondo, zu entflammen.

Welch ein Abschluss! Eine ganze kurze Kadenz, Wechsel in sechs Achtel und dann presto ins Finale.

Fortissimo enden wir schließlich in strahlendem C.

Ruhe.

Dann ließ Chris, der im Schlussakkord erstarrt zu sein schien, den Stab und seinen Kopf sinken. Erstes zögerliches Klatschen.

Dann plötzlich tosende Begeisterung, wilde Bravorufe. Die Zuschauer auf der Galerie standen auf.

Chris stieg von seinem Podium hinunter und umarmte mich. »Genauso habe ich es mir vorgestellt. Es war herrlich«, flüsterte er.

Ich brachte kein Wort über die Lippen, nickte nur. Dann drehte ich mich um und schüttelte dem Konzertmeister die Hand.

»Meine aufrichtige Bewunderung«, meinte dieser, ein bereits ergrauter, älterer Mann. Ich lächelte.

Chris ergriff mich an den Schultern und zwang mich damit zu einer Vierteldrehung, so dass ich nun vor dem Publikum stand.

Orkanartige Begeisterung, die Leute im Parkett hatten sich mittlerweile auch erhoben und zollten uns stehende Ovationen. Wir verbeugten uns tief und bahnten uns dann den Weg durch das Orchester in die Katakomben zurück.

Dort standen bereits eine Flasche Whisky und zwei Gläser bereit.

»Willst du auch?«, fragte mich Chris und ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er die Flasche bereits angesetzt und trank gierig mit großen Schlücken.

»Los, raus mich euch!«, wurden wir aufgefordert. »Sonst reißen die uns noch den Saal ab.«

Zurück auf die Bühne.

Die Woge der Begeisterung hatte noch nicht abgenommen, im Gegenteil. Als Chris und ich durch die Türe schritten, wurde sie noch einmal angehoben zu einer Intensität, die ich selten zuvor vernommen hatte.

»Das ist dein Applaus«, meinte Chris.

Ich dankte noch einmal dem Konzertmeister und verbeugte mich erneut. Chris war aufs Podest gestiegen, bat das Orchester aufzustehen, streckte die Hand in meine Richtung aus und klatschte ebenfalls.

So ging das noch ein paar Mal. Keine Zugabe heute.

Fünf Mal mussten wir auf die Bühne zurückkehren, bis das Publikum anscheinend genug bekommen hatte und sich nun in der Pause dem Champagner zuwenden konnte.

»Willst du wirklich keinen Schluck?«, fragte mich Chris noch einmal mit erhobener Whiskyflasche, kurz bevor ich in meine Garderobe zurückging. Ich verneinte und schloss die Tür hinter mir.

Endlich allein. Ich ließ mich in meinen Sessel fallen, betrachtete mich im Spiegel und zündete eine Zigarette an.

Es ist schwierig, die Empfindungen nach solch einem Konzert zu beschreiben: ein unglaublich euphorisches Glücksgefühl. Meistens fühle ich mich aber komplett leer und bin völlig erschöpft.

Ich hatte alles gegeben, was ich geben konnte.

Da klopfte es an die Türe.

Es war Violet.

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