Читать книгу Europäische Regionalgeschichte - Katharina Scharf, Martin Knoll - Страница 6
ОглавлениеEine gute Nachricht zum Einstieg: Es spielt keine Rolle, ob Sie an einer Universität Regionalgeschichte oder Landesgeschichte als Teil Ihres Curriculums studieren, ob Sie im außeruniversitären Kontext lokal- oder regionalgeschichtlich forschen, ob Sie die Niederschwelligkeit des „Grabens, wo man steht“ oder der „Geschichte vor Ort“ im Schulunterricht nutzen wollen. Diese Einführung bietet Ihnen einen möglichst breiten, aber auch einen programmatisch undogmatischen Zugang zu Perspektiven, Gegenständen und Methoden der „Geschichte in kleinen Räumen“ (Stauber 1994) und vermittelt dabei einen Eindruck vom Facettenreichtum der aktuellen regionalhistorischen Forschungslandschaft.
Regionalgeschichte: facettenreich und offen.
Den Entstehungskontext dieses Buches bildet die Universität Salzburg, an der die Autorin und der Autor in Forschung und Lehre des Kernfachs Europäische Regionalgeschichte aktiv sind. Innerhalb der aktuellen Salzburger Curricula stehen neben epochal gegliederten Modulen mit Lehrangeboten zur Alten Geschichte, Mittelalterlichen Geschichte, Neueren Geschichte und Zeitgeschichte Module zu „Räumen und Dimensionen“, in deren Rahmen das Fach Europäische Regionalgeschichte neben der Österreichischen Geschichte, der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, der Außereuropäischen- und Globalgeschichte sowie der Kulturgeschichte steht. Europäische Regionalgeschichte wird dabei verstanden als Zugang der vergleichenden historischen Untersuchung von und in Regionen, der sich einem gesamteuropäischen Problemhorizont verpflichtet weiß.
Regionalgeschichte steht nie isoliert
Oder, um es etwas konkreter zu formulieren: Wer sich zum Beispiel mit der regionalen Prägekraft des Holzbedarfs des Salzburger Bergbaus in der Frühen Neuzeit beschäftigt oder mit den Transformationsprozessen, die der Tourismus des 19. und 20. Jahrhunderts in den alpinen Regionen Österreichs ausgelöst hat, der oder die tut gut daran, den gesellschaftlichen Energiekonsum und Ressourcenbedarf des vorfossilen Zeitalters oder den modernen Tourismus als historische Phänomene und Probleme von gesamteuropäischer Dimension zu erkennen. Auf dieser Erkenntnis kann eine Regionalgeschichtsschreibung aufbauen, die die Methode des Vergleichs mit anderen Regionen nutzbar macht, um die Befunde einer Region besser einordnen zu können. Es kann aber auch eine Geschichtsschreibung angeleitet werden, die den vielfältigen Verflechtungen und Transfers zwischen Regionen – seien sie politischer, demografischer, kultureller, ökonomischer oder sozialökologischer Natur – nachspürt und damit einem Geschichtsbild entgegenwirkt, das Regionen als statische, von ihrer Umgebung scharf abgegrenzte und gleichsam autark existierende Entitäten konzipiert.
Was will dieses Buch?
Dieses Studienbuch will in einem ersten Schritt grundlegende Begriffe und Konzepte klären, allen voran den Regionsbegriff selbst. In einem semantisch sehr weiten, oft positiv konnotierten Alltagsverständnis ist das Begriffspaar „Region“ / „regional“ allgegenwärtig. Gerade weil jede und jeder glaubt, diese Begriffe klar verorten zu können, ist besondere Aufmerksamkeit erforderlich – sowohl im Hinblick auf die historische Entwicklung der Begriffsbedeutung als auch auf den Regionsbegriff als Kategorie der Geschichtswissenschaft.
In einem zweiten Schritt gilt es dann kurz das Verhältnis zwischen Regionalgeschichte und Landesgeschichte zu diskutieren. Landesgeschichte als historische Teildisziplin stellt eine Besonderheit der geschichtswissenschaftlichen Forschungslandschaft im deutschsprachigen Raum dar. Was sie von der Regionalgeschichte unterscheidet und was sie mit dieser verbindet, das soll resümierend erörtert werden, ohne dass es hier sinnvoll wäre, alle Argumentationsstränge einer jahrzehntealten Fachdiskussion bis ins Detail nachzuverfolgen. Am Ende wird der Einschätzung des Münchener Landeshistorikers Ferdinand Kramer zuzustimmen sein, wonach sich die wissenschaftliche Debatte um Landesgeschichte und Regionalgeschichte weitgehend erschöpft habe und sich die beiden Ansätze in der Forschungspraxis kaum mehr voneinander trennen lassen (Kramer 2015, 213).
Im weiteren Programm dieser Einführung geht es um die Erschließung des historischen Gegenstandes und die verschiedenen Herangehensweisen der Regionalgeschichte an diesen. Der hierfür gewählte Weg führt über die Vorstellung verschiedener teildisziplinär geprägter Perspektiven in der Regionalgeschichte. Den eigentlichen Kern dieser Einführung bildet daher eine Reihe von Unterkapiteln, die dem Schema „Regionalgeschichte als …“ (z. B. Regionalgeschichte als Politikgeschichte oder als Wirtschafts- und Sozialgeschichte) folgen. Dafür wurden folgende Perspektiven ausgewählt: Politikgeschichte, Mikrogeschichte, Globale und Transterritoriale Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Umweltgeschichte, Stadtgeschichte, Religions- und Konfessionsgeschichte, Tourismusgeschichte, Migrationsgeschichte, Geschichte von Einzel- und Gruppenbiografien, Geschlechtergeschichte sowie die Regionalgeschichte im schulischen Kontext.
Dabei ist klar, dass diese Auswahl erstens nicht zwingend ist und die Breite der Regionalgeschichte nicht erschöpfend abbildet und es zweitens „Sortenreinheit“ dieser Blickwinkel in der regionalhistorischen Praxis oft nicht geben kann. Sinnvoll erscheint dieses Vorgehen trotzdem, arbeitet es doch zugespitzt heraus, welche historiografischen Herangehensweisen an Regionalgeschichte möglich und in der Praxis vorherrschend sind. Dabei muss auch ausgelotet werden, welchen offenen Fragen und ungelösten Problemen die Regionalgeschichte gegenübersteht.
Zum Wissenschaftsbetrieb gehört auch die Institutionalisierung. Eine kleine Bestandsaufnahme geht daher der Frage nach, wo und in welcher Form Regionalgeschichte im deutschsprachigen Raum an Universitäten und in universitären Curricula sowie in außeruniversitären Forschungseinrichtungen verankert ist. Aber auch Ausprägungen der „Geschichte vor Ort“, also die oft von Laien getragenen lokal- und regionalhistorischen Initiativen und Vereine, liefern ein facettenreiches Feld, das nicht außen vor bleiben sollte. Institutionalisierung von Wissenschaft äußert sich auch in der Etablierung und Arbeit von Publikationsorganen wie Zeitschriften, Buchreihen oder Online-Portalen. Und so vermittelt auch die einschlägige Medienlandschaft Eindrücke von den Entwicklungen des Fachs.
1.1 Aktualität und Konjunktur von Region
Der Begriff der Region ist allgegenwärtig. Eine Google-Suche im Frühjahr 2020 erbringt 4,6 Milliarden Treffer.
Der Regionsbegriff: beliebt, aber vieldeutig
In der Medienlandschaft und der Werbewirtschaft fungiert der Regionsbegriff irgendwo zwischen Zugpferd und Allzweckwaffe: Ob regionale Lebensmittel – wie auch immer deren Herkunftsradius im Einzelnen definiert sein mag –, ob touristisches Destinationsmarketing („Nationalparkregion“, „Genussregion“, „Sportregion“) oder regional zugeschnittene Medien: Stets transportiert der Regionsbegriff eine sehr positive Botschaft, ein Versprechen von Vertrautheit, Nähe, Kontrolle und Kohärenz.
Abb. 1 Supermarkt in Oberösterreich – „Wir sind regional“ (Quelle: Eigene Darstellung 2020)
Die Beliebtheit des Begriffs spiegelt freilich seine Polyvalenz wider. Ähnlich anderen „Gummiwörtern“ der öffentlichen Debatte (besonders prominent z. B. der Nachhaltigkeitsbegriff) ist er ungemein offen für eine Vielzahl semantischer Aufladungen bei gleichzeitiger Suggestion eines konsensualen Verständniskerns.
Dabei sind weder der Begriff selbst noch der mit ihm bezeichnete Wirklichkeitsbereich einfach zu fassen. Um ein Alltagsverständnis von „Region“ greifen zu können, lässt sich die deutschsprachige Wikipedia konsultieren. Dabei wird vorneweg zwischen einem geografischen, biologischen und technischen Kontext unterschieden. Im geografischen Kontext finden sich zwei Definitionsangebote, die beide im weiteren Verlauf dieses Buches relevant sind. Region wird hier erstens als Gebiet bezeichnet, „das geographisch, politisch, ökonomisch und/ oder administrativ eine Einheit bildet“. Zweitens wird hier auf die Maßstabsebenen geografischer Betrachtung zwischen den Extremen lokaler, kleinräumiger Bereiche der Erdoberfläche auf der einen und globaler, die gesamte Erde betreffender Interessenahme auf der anderen Seite hingewiesen (Wikipedia, Region, wikipedia.org). In letzterem Gefüge verortet sich Regionalität als grundsätzlich partikulare, je nach Definition aber als supra-nationale („Der globale Süden“) oder sub-nationale („Provinz“) Größe.
Regionalität in der Europäischen Union.
Welche Faktoren machen Regionalität aus? Eine mögliche Sondierung besteht im politischen und administrativen Konzept von Region, das im Kontext der Europäischen Union fassbar wird (Lottes 1992). Das viel beschworene Schlagwort eines „Europa der Regionen“, das freilich mit dem Wiedererstarken nationaler Grenzen seit 2015 viel an seiner Strahlkraft verloren hat, macht eine Suche an dieser Stelle plausibel. Konkret äußert sich der Bezug zwischen Europäischer Union und Region in verschiedenen Politikfeldern, besonders prominent im Feld der Kohäsionspolitik, also dem Zusammenhalt zwischen einzelnen Staaten und Regionen. Hier geht es um ein programmatisches Bestreben nach Stärkung des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern“ (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Art. 174, Stand 09. 09. 2020). Die Union setzt sich dabei „insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern“ (Ebd.). Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei ländlichen Gebieten, Gebieten im (post-)industriellen Strukturwandel und „Gebieten mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen, wie den nördlichsten Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie den Insel-, Grenz- und Bergregionen“ (Ebd.). Dementsprechend befasst sich die EU-Regionalpolitik mit der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land sowie mit der Entwicklung ländlicher Räume, entwirft aber auch Strategien der Entwicklung makroregionaler Räume wie der Alpen (EU Strategy for the Alpine Region, EUSALP), des Donauraums (EU Strategy for the Danube Region, EUSDR), des Ostseeraumes (EU Strategy for the Baltic Sea Region, EUSBSR; Sea Basin Strategy: Baltic Sea) oder des Adriatischen und Ionischen Mittelmeerraumes (EU Strategy for the Adriatic and Ionian Region, EUSAIR; Sea Basin Strategies: Adriatic and Ionian Seas). EUProgramme fördern die Kooperation nationaler, regionaler und lokaler Akteurinnen und Akteure über innereuropäische Grenzen hinweg (INTERREG). Zusätzlich betreibt die EU eine regional fokussierte Politik an ihren Außengrenzen als Teil der Nachbarschaftspolitik im Verhältnis zu Nicht-EU-Staaten.
Als roter Faden durch die Vielfalt dieser regional fokussierten Politikfelder und Programme zieht sich ein Verständnis von Region, das Regionalität problemorientiert von geografischen, ökonomischen, sozialen, demografischen und sozialökologischen Spezifika ableitet, während die politisch-administrative Verfassung oder die nationalstaatliche Zuordnung der territorialen Fokuseinheiten eine untergeordnete Rolle spielt. Ganz anders präsentiert sich dies freilich in der Implementierung dieser Politik. Ein Beispiel: Im Rahmen des Förderprogrammes INTERREG V-A Österreich – Bayern 2014–2020 kooperieren ein deutsches (Bayern) und vier österreichische Bundesländer (Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg) bzw. 26 deutsche und 15 österreichische Nomenclatory Units of Territorial Statistics (NUTS) Level III, die ihrerseits weitgehend deckungsgleich mit je einem oder mehreren bayerischen Landkreisen oder österreichischen Bezirken sind. Das heißt, der Projektraum definiert sich klar über administrative Teileinheiten der beteiligten Nationalstaaten. Die NUTS wiederum, zunächst einmal ein Instrument, das geschaffen wurde, um der europäischen Statistikbehörde EUROSTAT mehr oder minder vergleichbare Erhebungseinheiten für die europäische Statistik bereitzustellen, reflektieren ihrerseits das spannungsreiche Zusammenspiel von europäischem Anliegen (europäischer Statistik) und nationalstaatlicher Institutionalisierung (Deckungsgleichheit der NUTS aller drei Level mit nationalstaatlichen (Teil-)Einheiten sowie Datenerhebung und -lieferung durch nationalstaatliche Behörden).
Regionale Identität: offen für Missverständnisse
Regionalität im Gefüge sozioökonomischer Realitäten, kultureller Identitäten, integrativer Marketingsprache, nationaler, supra- und subnationaler Politik ist kompliziert. Ein anekdotisches Beispiel mag als Andeutung genügen: Zur Feier der zweihundertjährigen Zugehörigkeit Salzburgs zu Österreich im Jahr 2016 veranstaltete das Bundesland Salzburg eine breite Palette an Festlichkeiten, u. a. eine Landesausstellung. Der Salzburger Landeshauptmann (was einem Ministerpräsidenten in Deutschland entspricht) wurde anlässlich einer Pressekonferenz zu den Vorbereitungen des Jubiläums mit folgenden Worten zitiert:
Salzburg hat 600 Jahre zu Bayern gehört und war 500 Jahre ein selbständiger Staat. Jetzt sind wir 200 Jahre bei Österreich – nur um die Relation etwas zurecht zu rücken (200 Jahre bei Österreich, sn.at).
Nun zeigt genau dieses Zitat, wie anfällig für Missverständnisse die Konstruktion von Regionalität ist. Im Manuskript der Rede für Salzburg, die der Schriftsteller Karl-Markus Gauß zu eben demselben 2016er-Jubiläum gehalten hat, heißt es:
Als der letzte geistliche Herr Salzburgs aus der Stadt floh, ging in Wirren und Kriegen, mit Besatzungen und Plünderungen eine Epoche zu Ende. Dreimal wurde das Land jetzt von französischen Truppen besetzt, auf eine erste österreichische Ära folgten sechs Jahre, in denen Salzburg unter bayrische Herrschaft gestellt war; sechs Jahre, von denen ich kürzlich aus einer Sendung im deutschen Fernsehen erfuhr, sie hätten nicht weniger als sechshundert Jahre gedauert. Bis 1816 wäre Salzburg ununterbrochen sechs Jahrhunderte lang ein Teil Bayerns gewesen, zwei Jahrhunderte gehöre es nun zu Österreich, deswegen hegten viele Salzburger noch heute eine heftige Abneigung gegen Wien, während sie sich einen sentimentalen Hang zu München bewahrt hätten: Solches erfuhr die bildungshungrige deutsche Fernsehnation, was uns nicht zu ärgern, nicht einmal zu wundern braucht. Schließlich leben wir in Zeiten einer historischen General-Amnesie, in der etliche europäische Staaten, die periodisch Hunderttausende ihrer Bürger in die Flucht zwangen, in Panik geraten, wenn sie einmal in ihrer Geschichte nicht Menschen vertreiben, sondern selber ein paar Tausend Vertriebener aufnehmen sollen; und in Zeiten, in denen überhaupt die größte Konfusion darüber herrscht, was die Europäer in der fundamentalen europäischen Krise von heute eigentlich damit meinen, wenn sie von Europa sprechen und die europäischen Werte beschwören (Gauß 15. 01. 2016).
Interessant am Gauß-Zitat ist an dieser Stelle nicht das Leiden des Autors am traurigen Zustand des Gegenwarts-Europas – auch wenn er hier mit gutem Grund leidet. Interessant ist sein Hinweis auf die Rezeption des Salzburger Jubiläums im deutschen Fernsehen. Ohne die Sendung zu kennen, auf die Gauß sich bezieht und die behauptet habe, vor 1816 habe Salzburg über sechshundert Jahre zu Bayern gehört, drängt sich der Verdacht auf, wie die deutschen Fernsehleute auf diese Lesart gekommen sein mögen: Sie könnten jenes denkwürdige Zitat des Landeshauptmannes einfach gründlich in den falschen Hals bekommen haben. Sie mögen nicht gut zugehört haben – und etwas geschichtsvergessen werden sie wohl gewesen sein. Aber das Missverständnis hat – wenn man so will – doch auch Salzburger Wurzeln. Und: Karl-Markus Gauß setzt auf ein Missverständnis noch ein weiteres drauf. Denn ohne es zu wollen, reduziert er ein Thema regionaler Identität auf eine nationalstaatliche Lesart, wenn er hier das Agieren deutscher Medienmacherinnen und -macher stereotyp über einen Kamm schert.
Regionale Identitäten sind komplex. Darüber hinaus wird ein Detail in diesem anekdotischen Beispiel weder von den deutschen Fernsehleuten angesprochen noch von Gauß: Es gab im Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, dessen Kaiser die meiste Zeit in Wien saß, die Ebene der Reichskreise, eine Zwischenebene zwischen den einzelnen Fürstentümern und dem Reich. Und Salzburg gehörte über Jahrhunderte hinweg und bis 1803 zum Bayrischen Reichskreis. Wer Salzburg in der berühmten Topographia Germaniae sucht, einer Sammlung von illustrierten Landesbeschreibungen des Verlegers Matthäus Merian des Älteren (1593–1650)1 aus dem 17. Jahrhundert, wird nicht im Band mit dem Titel Topographia Provinciarum Austriacarum, der Österreich-Topografie, sondern im Band mit dem Titel Topographia Bavariae, der Bayern-Topografie, fündig.
Historikerinnen und Historiker, die regionalhistorisch arbeiten, aber auch diejenigen, die sich als Landeshistorikerinnen und -historiker verstehen, eint, dass es ihnen einigen Spaß bereitet, solche alltäglichen Gegenwartsbefunde in ihrer historischen Dimension aufzuschlüsseln und zu deuten.
Spatial Turn
Beide können sich eines Umstandes sicher sein: Der sogenannte Spatial Turn in den Kulturwissenschaften, die Rückkehr des Raumes – auch in der Geschichtswissenschaft – hat den Gegenständen und Diskussionen der landeshistorischen und der regionalhistorischen Forschung neue Aufmerksamkeit, aber auch neue Impulse beschert. Im Raume lesen wir die Zeit, so lautet ein vielzitierter Buchtitel des Historikers Karl Schlögel (2003). „Was lesen wir im Raume?“, lautet die titelgebende Gegenfrage des Literaturwissenschaftlers Jörg Döring und des Geografen Tristan Thielmann in der Einleitung ihres Sammelbandes (Döring & Thielmann 2009) zum Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Der Raum (Günzel 2020) und seine Lektüren hatten lange einen schweren Stand. Im Zeichen von Globalisierung und Digitalisierung glaubten die Kulturwissenschaften an ein Schrumpfen oder gar ein Verschwinden des physischen Raumes und an eine Entmaterialisierung und Deterritorialisierung von Kommunikation. Zugleich war – nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft – ein geografischer Materialismus, wie ihn Friedrich Ratzel (1844–1904) geprägt und Karl Haushofer (1869–1946) geopolitisch ausgedeutet und in die völkisch-nationalsozialistische Raumforschung eingespeist hatte, gründlich diskreditiert. Dass freilich die Raumkategorie nie komplett vom Radar der Geschichtswissenschaft verschwand, dafür liefert nicht zuletzt die geografisch informierte Geschichtsschreibung der französischen Annales-Schule (Burguière 2009; Schöttler 2015) ein beredtes Beispiel. In der jüngeren, durch den Spatial Turn geprägten Diskussion wurden nun verstärkt Inputs aus der Sozialgeografie, wie das handlungstheoretische Regionalisierungsverständnis von Benno Werlen (2017), oder aus der Soziologie, wie die relational argumentierende Raumsoziologie von Martina Löw (2017), rezipiert und diskutiert.
Was noch in der aufklärerischen Universalgeschichte des 18. Jahrhunderts außer Frage stand, dass sich nämlich – in den Worten Reinhart Kosellecks (1923–2006) – das Verhältnis zwischen Raum und Geschichte zwischen den Polen der „Naturvorgegebenheit jeder menschlichen Geschichte“ und den Räumen bewegt, „die sich der Mensch selber schafft,“ wurde nun auch in der Geschichte verstärkt zum Thema – und damit auch die räumliche Skalierung von Territorialität (Koselleck 2000, zitiert nach Piltz 2009, 78). Auf das historiografische Verständnis von Regionen gemünzt haben dies die Wirtschafts- und Sozialhistoriker Peter Ainsworth und Tom Scott einmal auf den griffigen Nenner gebracht, „that regions may be seen as the product both of reality (or nature) and of imagination (or human agency)“ (Ainsworth & Scott 2000, 19).
1.2 Landesgeschichte oder Regionalgeschichte?
Doch ein entscheidender Unterschied bleibt: die Landesgeschichte ist an die politischen Grenzen des Raumes gebunden; die Regionalgeschichte schafft sich ihre Grenzen durch ihre Fragestellung selbst (Hanisch 2000/2001, 47).
Über das Für und Wider der einen oder anderen Perspektive wurde schon viel geschrieben. Ebenso vielstimmig ist mittlerweile der Chor derjenigen, die die Diskussion über Landesgeschichte und Regionalgeschichte als Alternativen für überwunden halten. Der Historiker Ernst Hinrichs (1937–2009) hatte bereits 1985 auf die Vielfalt der Traditionen und Ansätze hingewiesen, die aus seiner Sicht Landesgeschichte ausmachten und daraus die Forderung einer „offenen Landesgeschichte“ abgeleitet, die sowohl selbstreflexiv als auch relational denke und sich durch ihre methodische Offenheit neues Terrain erobere. „Dann“, so Hinrichs, werde „es auch müßig sein darüber zu streiten, ob man sie Regionalgeschichte nennen sollte oder ob man bei der alten Bezeichnung bleibt“ (Hinrichs 1985, 18). Auch bei der Lektüre von Winfried Speitkamps Gedanken zum „Dilemma der Landesgeschichte“ (Speitkamp 2015) kommt das Projekt einer solchen als zeitgemäße „historische Regionalwissenschaft“ (Ebd., 85) zum Vorschein. Diese interessiert sich weniger für die Kategorie „Land“ als einen (vermeintlich) ontologischen Raum, denn für die Region als eine historisch wandelbare, vernetzte und durch unterschiedliche politische, wirtschaftlich-soziale, ökologische und kulturelle Faktoren konstituierte Kategorie.
„Problem“ Landesgeschichte
Landesgeschichte und Regionalgeschichte also alles eins in Wohlgefallen? Nicht ganz. Zum einen bezeugt schon der Umstand an sich, dass es Institutionen und Publikationsorgane gibt, die sich der einen oder anderen Ausrichtung verschreiben, den Verbleib von Unterschieden. Zum anderen wird die Landesgeschichte auch als Problemgeschichte beschrieben. So kommentiert der Historiker Wolfgang Schieder polemisch:
Die Landesgeschichte war ein politisch gezeugtes Kind der Weimarer Republik, sie verdankte ihre Entstehung dem Versailler Vertrag, durch den das Deutsche Reich im Osten (Westpreußen, Danzig, Oberschlesien), im Norden (Nordschleswig) und Westen (Elsaß-Lothringen, Eupen-Malmedy, Saarland) erhebliche Gebietsverluste hinnehmen mußte, denen solche in der Republik Österreich (Südtirol, sowie Gebiete in Kärnten und Steiermark) entsprachen. Den Österreichern wurde überdies von den Alliierten bekanntlich der Anschluß an das Deutsche Reich verboten (Schieder 2014, 151–152).
Die daraus in beiden Ländern resultierenden „fundamentalen Identitätskrisen“ hätten dabei Pate gestanden, dass historische, geografische und volkskundliche Forschungen in Deutschland und Österreich sich mit massiver politischer und finanzieller Unterstützung des Staates daran gemacht hätten, „die durch die Friedensverträge von 1919 festgelegten Grenzen durch wissenschaftliche Forschung kulturell zu überwinden und die historische ‚Einheit‘ der Deutschen (und auch der Österreicher) virtuell wiederherzustellen“ (Ebd., 152). Dabei habe man sich nicht an den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg orientiert, sondern nach einer überstaatlich gedachten, „imaginären ‚völkischen‘ Einheit aller Deutschen“ gesucht. „Man konstruierte sogenannte Kulturräume, welche die 1919 gesetzten staatlichen Grenzen bewußt ignorierten“ (Ebd.). Schieders zentraler Vorwurf lautet, dass die Landesgeschichte und die interdisziplinäre Geschichtliche Landeskunde „ihrer historischen Entstehung nach in diesen politischen Zusammenhang völkischer Geschichtswissenschaft“ gehörten und deren führende Protagonisten wie die Historiker Hermann Aubin (1885–1969), Franz Petri (1903–1993) oder Otto Brunner (1898–1982) diesen Weg unter „Verkennung des radikal imperialistischen Expansionsstrebens des Nationalsozialismus, in der Zeit des ‚Dritten Reiches‘“ fortgesetzt hätten. Regionalgeschichtliche Forschung der Gegenwart müsse sich dem stellen. Gegenwartsdiskussionen dürften sich nicht darauf beschränken, methodische Unterschiede zwischen Landesgeschichte und Regionalgeschichte zu reflektieren, sondern müssten sich (selbst) kritisch zu der „Tradition der politisch fehlgeleiteten Landesgeschichte“ verhalten (Ebd.).
Nun lässt sich Schieders Periodisierung im Detail kritisieren und mit gutem Recht auf ältere Wurzeln der Landesgeschichte weit vor den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain verweisen. Doch im Kern wird seinem Monitum zuzustimmen sein: Eine postnationale Europäische Regionalgeschichte muss sich – gerade, wenn sie in Deutschland oder Österreich betrieben wird – auch ihrer problematischen Traditionsstränge in der völkischen Wissenschaft, sei es in der Landesgeschichte, sei es in der volksgeschichtlich grundierten Sozialgeschichte, bewusst sein. Letztlich wird dieser Anspruch aber in der aktuellen Fachdiskussion ohnehin nicht mehr negiert (Freitag 2018; Werner 2018). Werner Freitag etwa stellt in seinen Reflexionen zur „disziplinären Matrix der Landesgeschichte“ fest, dass in den landesgeschichtlichen Publikationen der Zwischenkriegszeit die unbewältigte Niederlage des Ersten Weltkrieges mit Händen zu greifen sei und dass nach 1945 die Landesgeschichte als „ein Kind der unbewältigten nationalsozialistischen Zeit und Spiegelbild restaurativer Tendenzen“ (Freitag 2015, 8) zu fassen sei. Detailliert zeichnet er die personellen Kontinuitäten und deren retardierende Wirkung auf die demokratische Neuformatierung der Landesgeschichte nach: „Auch nach 1945 blieben das deutsche Volk und seine Stämme Zielprojektionen der Landeshistoriker, allerdings verschwand der nationalistisch-chauvinistische, auf Korrektur der Grenzen abzielende Tenor“ (Ebd., 9).
Öffnung, Abgrenzung, Auszehrung
Ob die Entwicklung der Landesgeschichte in den danach folgenden Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher als Prozess der Öffnung oder Auszehrung gelesen werden kann, liegt letztendlich im Auge der Betrachterin oder des Betrachters. Festzuhalten bleibt, dass zwar die Präsenz der Vokabeln (und nachgelagerten Konzepte) von „Volk“ und „Stamm“ zunehmend schwand, dass aber ein stark verfassungsgeschichtlich und mediävistisch ausgerichteter Fokus der Landesgeschichte die Anknüpfungspunkte zu der sich zunächst sozial- und später kulturwissenschaftlich erweiternden
Neuzeitgeschichte reduzierte. Die Entwicklungen von Landes- und Regionalgeschichte waren auch Kinder des Kalten Krieges, dies insofern, als in den Warschauer-Pakt-Staaten Regionalgeschichte als marxistischer Gegenentwurf zu einer als bürgerlich-konservativ diskreditierten Geschichtsschreibung auftrat. In der DDR geschah dies speziell im Bezug zur Landesgeschichte, Hand in Hand mit einer später stückweise revidierten Abwertung der historischen Länder. Eine simple Binarität „alte“ Landesgeschichte versus „neue“ Regionalgeschichte wurde und wird den disziplinären Entwicklungen sicher nicht gerecht, selbst wenn manch zur Schau getragener Gestus theoriefernen Beharrens auf der einen und des gesellschaftswissenschaftlichen Aufbruchs auf der anderen Seite geeignet waren, diesen Eindruck zu erwecken.
Reiches Repertoire
Der bereits eingangs zitierte Ernst Hinrichs begründete sein Konzept einer „offenen Landesgeschichte“ mit der enormen Breite wissenschaftsgeschichtlicher Vorstufen, (inter-)disziplinärer Kontexte und theoretischer Ansätze, aus denen heraus regional orientierte Geschichtsschreibung schöpfen konnte und kann. Die von ihm entworfene Matrix (Abb. 2) ist deshalb auch heute noch geeignet, um die Regionalgeschichte zu verorten.
Hinrichs Matrix ist zweifach chronologisch gegliedert. Drei verschiedene „Schichten“, also Forschungszugänge, sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden: erstens die staatlich-herrschaftliche Schicht (A), die die Kategorie Land als politischen Raum konzipiert, zweitens die geografisch-landeskundliche Schicht (B), die Land als geografischen Raum versteht, und schließlich drittens die sozialwissenschaftlich-anthropologische Schicht (C), die Land als sozialen Raum behandelt. Auch innerhalb dieser Schichten gliedert er (von links nach rechts) Ansätze unterschiedlichen Alters. In Hinrichs Darstellung wird dreierlei sichtbar: Zunächst verweist er auf die alten Vorläufer der herrschaftlich-politischen Landesgeschichtsschreibung in der spätmittelalterlichen Chronistik, in der genealogisch-staatsrechtlichen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts und der ökonomischstatistisch-topografischen Landesbeschreibung der Aufklärungszeit. Übrigens sind genau dieser epochale Kontext und diese Literaturkorpora auch zu adressieren, wenn es um die zweite von Hinrichs benannte Schicht, die der „geographisch-landeskundlichen“ Zugänge, geht. Die Nähe zur Geografie ist ein Konstituens von Landesgeschichte und Regionalgeschichte. Schließlich ist in der dritten „sozialwissenschaftlich-anthropologischen“ Schicht die für die Regionalgeschichte charakteristische Nähe zu sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen, darunter die der französischen Annales-Schule, zu greifen, genau wie zu jüngeren kulturalistischen Zugängen aus dem Bereich der Neuen Kulturgeschichte, Historischen Anthropologie und Alltagsgeschichte.
Abb. 2 Konstitutionselemente von Landesgeschichte in der Gegenwart (Quelle: Hinrichs 1985, 5)
Landesgeschichte und/ oder Regionalgeschichte
Doch, um auf die zu Beginn des Kapitels zitierten Stimmen zurückzukommen, die die Unterscheidung zwischen Regionalgeschichte und Landesgeschichte in der aktuellen Wissenschaftspraxis für mehr oder minder obsolet halten, stellt sich die Frage, was an Trennendem bleibt, wenn es so viel Verbindendes gibt. Eine Antwort fällt schwer. Vielleicht muss sie offen bleiben. Andreas Rutz (2018) wählt in seinem Forschungsüberblick über landes- und regionalgeschichtliche Forschung in Europa den perspektivischen Kniff, einfach alle Formen regional orientierter Historiografie als „Landesgeschichte“ zu etikettieren. Er propagiert die Europäisierung der Landesgeschichte, ganz ähnlich wie Ferdinand Kramer (2011) dies unter Hinweis auf die Kleinräumigkeit des europäischen Kontinents tut. Kramer leitet das Potenzial der Landesgeschichte aus der historiografischen Bearbeitung der regionalen Dimension europäischer Geschichte ab. Und die Unterschiede? Die epochal starke Konzentration der landesgeschichtlichen Forschung auf das Mittelalter ist – wie bereits erwähnt – aufgebrochen. Mit der Öffnung zur neuzeitlichen Geschichte hat Landesgeschichte gerade in den föderal verfassten Staaten der Bundesrepublik Deutschland und der Zweiten Österreichischen Republik an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen, weil sie das Bedürfnis nach „Bundeslandgeschichte(n)“ bedient. Die Schweizergeschichte wird, offensichtlich aufgrund des kleinräumig strukturierten und kantonal organisierten Föderalismus der Schweiz, weniger als Landes- denn als Regionalgeschichte verstanden und betrieben (Sonderegger 2011). Walter Rummel (2015) sieht nach wie vor markante Unterschiede zwischen Landes- und Regionalgeschichte und er kritisiert sogar, dass diese „leider durch die bisweilen nicht mehr beachtete, begriffsgeschichtliche korrekte Verwendung der Begriffe verwischt werden“ (Ebd., 31). Zum Kern verbliebener Unterschiede führt er aus:
So geht die Landesgeschichte in der Regel von einem administrativ vorgegebenen Raum aus, selbst wenn dieser nicht mehr existiert […]. Im Vordergrund darauf bezogener Forschungen stehen historische Verhältnisse, Entwicklungen, Erscheinungen, Personen und Ereignisse, die stark vom administrativen Gefüge des Raumes geprägt sind oder es zu sein scheinen und die ihrerseits in die Räume zurückwirkten. Für die Regionalgeschichte hingegen erschließt sich der Raum nicht durch Grenzen, sondern erst durch eine auf Prozesse und Strukturen bezogene Fragestellung. So betrachtet ist der Raum sekundär und konkret erst ein Ergebnis der Forschungen. Es sind daher jeweilige sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Prozesse und Strukturen, die jeweilige Räume überhaupt erst ausprägten (Ebd.).
Dieses Zitat erinnert an jenes vom Kapitelbeginn. Das ist kein Zufall, denn im Kern adressiert es eben denselben Unterschied zwischen beiden Perspektiven, den auch bereits Ernst Hanisch ansprach.
Europäische Regionalgesichte
Verkompliziert wird die Verortung der Regionalgeschichte noch durch das Adjektiv „europäisch“, das in jüngerer Zeit die regionalgeschichtliche Denomination zu dem erweitert hat, was auch in dieser Einführung vertreten wird: eine am europäischen Problemhorizont orientierte, vergleichende historische Regionalforschung. Dass der europäische Horizont großes analytisches Potenzial für regionalhistorische Forschung besitzt, wird sich in zahlreichen Beispielen der Folgekapitel zeigen. Zum innovativen Charakter der Regionalgeschichte erscheint freilich noch ein relativierender Hinweis aus der Feder des Regionalhistorikers Miloš Řezník erwähnenswert. Er hält den Umstand, dass in den 1990er-Jahren Regionalgeschichte oft mit damals innovativen Zugängen wie Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte identifiziert wurde, für ein Missverständnis. Denn die Anwendung alltags- oder mikrogeschichtlicher, historisch-anthropologischer oder historisch-demografischer Zugänge sei zwar meist, forschungspragmatischen Motiven folgend, im Rahmen von Regionalstudien angewandt worden, jedoch:
Soweit unter der Regionalgeschichte die Geschichte von konkreten Regionen verstanden wird, bleibt der regionalhistorische Wert dieser allgemeinhistorischen Forschungen im Grunde ein – gleichwohl bedeutendes – Nebenprodukt (Řezník 2019, 29–30).
Nebenprodukt oder nicht – die Offenheit der Regionalgeschichte für diverse historiografische Zugänge der Allgemeingeschichte gehört zu ihren großen Potenzialen. Diese Offenheit wird in Kapitel 3 anhand verschiedener Beispiele ausgelotet.
Drei Zugänge zur Regionalgeschichte
Für den Moment soll es nun genügen, eine annäherungsweise Definition dessen zu versuchen, was eine regionalhistorische Perspektive ausmacht. Stephen Jacobson et al. haben hierzu eine dreigliedrige Unterscheidung vorgeschlagen. Im Feld regional orientierter Geschichtsschreibung lassen sich demnach drei unterschiedliche Methodologien unterscheiden: erstens ein materialistischer, zweitens ein konstruktivistischer und drittens ein juridisch-institutioneller Ansatz (Jacobson et al. 2011, 15–16). Der materialistische Ansatz setzt im Gefolge der regionalhistorischen Agenda der französischen Annales-Schule in Regionalstudien die historische Entwicklung mensch licher Gesellschaften in Beziehung zu ihrer materiellen Umwelt. Dieser Weg sei – trotz der Konzentration vieler Werke der früheren Annales-Schule auf die Vormoderne – auch einflussreich für wirtschafts- und sozialhistorische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, z. B. für die Untersuchung regionaler Muster der industriellen Entwicklung und Unterentwicklung. Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte stehen in einem Naheverhältnis zueinander.
Ein zweiter, konstruktivistischer Zugang richtet seine Aufmerksamkeit auf die Konstruktion ethnischer, religiöser und nationaler Identitäten. Das Verhältnis zwischen den Entwicklungen regionaler und nationaler Identitäten steht hier ebenso zur Debatte wie regionale Erinnerungskulturen und z. B. die Erfindung von Traditionen (Hobsbawm & Ranger 1983; Küster 2002).
Im Rahmen eines dritten, juridisch-institutionellen Ansatzes findet das Adjektiv „juridisch“ auf private, öffentliche, zivil- und kirchenrechtliche Rechtsordnungen Anwendung. Die Kategorie des Institutionellen wird hier auf politische und kirchliche Körperschaften angewendet. Beide waren in der Geschichte Europas wichtige Akteure der politischen Definition von Regionalität: Die italienischen Stadtrepubliken, die Fürstbistümer des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, die mehreren hundert geistlichen und weltlichen Träger von Grund- oder Landesherrschaft sind – auch – notwendiger Bezugspunkt regionalhistorischer Forschung.
Literaturtipps
Ellis, S. G. & Michailidis, I. (Hg.). (2011). Regional and Transnational History in Europe. Cliohworld readers: Bd. 8. PLUS-Pisa University Press.
Freitag, W., Kißener, M., Reinle, C. & Ullmann, S. (Hg.). (2018). Handbuch Landesgeschichte. De Gruyter Oldenbourg.
Hinrichs, E. (1985). Zum gegenwärtigen Standort der Landesgeschichte. Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte: Neue Folge der „Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen“, 57, 1–18.
Hirbodian, S., Jörg, C. & Klapp, S. (Hg.). (2015). Methoden und Wege der Landesgeschichte. Landesgeschichte: Bd. 1. Jan Thorbecke Verlag.
1Anm.: Die Lebensdaten bereits verstorbener Personen werden bei der erstmaligen Nennung in Klammern angeführt.