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Оглавление2. Region als Konzept und historischer Gegenstand
In der aktuellsten historischen Literatur fehlt es nicht an Beispielen eines ratlosen Umgangs mit der Regionskategorie, der sich oft damit zufrieden geben muss, die Unschärfe des Terminus zu konstatieren und auf mögliche Funktionskontexte zu verweisen (Řezník 2019, 30).
Wer sich mit Region als Konzept und historischem Gegenstand beschäftigt, wird in Quellensprache und Forschungsliteratur des deutschsprachigen Raumes vor allem auf zwei Begriffe stoßen: Land und Region. Der lateinische Regionsbegriff wurde schon in der Antike in Bezug auf geografische Einheiten verwendet und bedeutete „Richtung“, „Lage“, „Grenze“, „Gegend“, „Landschaft“ oder auch „Stadtbezirk“ (Stauber 2009, 858; Stowasser 1997, 434). Zunächst wurde der Terminus insbesondere auf die Stadtviertel Roms bezogen, dann auf die Binnenlandschaften Italiens. Als Beispiel für eine solche geografische Verwendung heißt es bei Julius Caesar (100 v. Chr.– 44 v. Chr.) etwa:
Auximo Caesar progressus omnem agrum Picenum percurrit. cunctae earum regionum praefecturae libentissimis animis eum recipient exercitumque eius omnibus rebus iuvant. […] item ex finitimis regionibus quas potest contrahit cohortes ex dilectibus Pompeianis (Caesar 2014, Liber I, 15, 26–29).2
Řezník weist in seinen Reflexionen zu Regionalität als historischer Kategorie darauf hin, dass die Frequenz des Regionsbegriffs in der deutschen Sprache einer bemerkenswerten Entwicklungskurve folgt.
Das „Digitale Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart“ (DWDS) ist ein für Historikerinnen und Historiker immens hilfreiches Tool aus den digitalen Geisteswissenschaften bzw. Digital Humanities. Im Falle des Suchwortes „Region“ zeigt es den interessanten Befund auf, dass der Begriff im Deutschen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein keine Rolle spielt, dass seine Verwendung Mitte des 19. Jahrhunderts einen ersten Peak erreicht und dass die eigentliche Karriere des Substantivs „Region“ im Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt.
Abb. 3 Wortverlaufskurve „Region“ im DWDS (Quelle: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2020, dwds.de)
Um diese quantifizierende Feststellung durch einen qualifizierendhermeneutischen Zugang zu ergänzen, um ins 18. Jahrhundert, also die Zeit des ersten merklichen Aufkommens des Begriffs, vorzustoßen, bieten sich die monumentalen enzyklopädischen Werke der Zeit an, in denen immense Bestände zeitgenössischen Wissens gesammelt und dokumentiert wurden.
Historische Lexika als Quellen
Wenn solche Nachschlagewerke herangezogen werden, ergeben sich unterschiedliche Befunde. Johann Heinrich Zedlers (1706–1751) Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon Online, zedler-lexikon.de), ein Mammutwerk, zwischen 1731 und 1754 in mehr als 60 Bänden verlegt, widmet der Kategorie „Region“ keinen eigenen Artikel. Aber im 1737 erschienenen sechzehnten Band wird dem Begriff „Land“ ein Beitrag gewidmet. Land wird hier sowohl mit dem lateinischen terra als auch regio übersetzt.
Land – Regio – Terra
Dominant ist in diesem Lemma eine geografische Definition im Sinne geomorphologischer und klimatischer Bedingungen, die bestimmte Landnutzungen erlauben. Allerdings nimmt der Artikel eine Zweiteilung vor. Er unterscheidet zwischen dem natürlichen und dem politischen Status eines Landes. Ersterer beinhaltet die bereits genannten „natürlichen“ Bedingungen, Letzterer Faktoren wie den Bevölkerungsreichtum, Lage und Ausstattung von Siedlungen sowie Militärisches.
Ein weiteres, breit rezipiertes lexikalisches Großunternehmen des deutschen Sprachraumes wurde von Johann Georg Krünitz (1728–1796) begründet und erschien zwischen 1773 und 1858 in 242 Bänden (Oeconomische Encyclopädie Online, kruenitz1.uni-trier.de). Die Oekonomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft widmet dem Regionsbegriff ein eigenes, wenngleich sehr kurzes, Lemma (Bd.121/1812, 646).
Naturwissenschaftlicher Regionsbegriff
Region wird hier naturwissenschaftlich konzipiert als „1) Kreis, als Luftregion; 2) eine gewisse Gegend, der Erde, des Himmels, wie auch des menschlichen Körpers“ (Ebd.). Auf verschiedene Zusammenhänge (Atmosphäre, Erdoberfläche, Körper) angewendet, wird hier also vor allem der partikulare Charakter der Kategorie greifbar. Wesentlich ergiebiger ist auch im Krünitz das Lemma „Land“ (Bd. 59/1793, 396–404).
Land als Festland
Land wird definitorisch zunächst in drei Grundkategorien differenziert: Erstens Land als Festland im Gegensatz zu dem mit Wasser bedeckten Teil der Erdoberfläche im Sinne von lateinisch aridum, littus, terra, aber auch continens, im Französischen terre, continent. Zweitens als Festlands-Erdoberfläche in Abhängigkeit von der Landnutzung.
Landnutzung
Hier werden landwirtschaftlich nutzbares und ackerbaulich fruchtbares Land (lat. ager, arvum, fundus, solum; franz. terre), das Land im Gegensatz zur Stadt (lat. ager, campus, rus; franz. campagne, pays) sowie flaches Land im Gegensatz zum Gebirge unterschieden.
Herrschaft
Die dritte Grundkategorie repräsentiert einen politischen Landesbegriff, den eines durch herrschaftliches Wirken abgegrenzten Teils der Erdoberfläche. Land wird hier verstanden als ein „von einer ganzen großen Völkerschaft bewohnter und einem Ober=Herrn unterworfener Theil der Erdfläche, Lat. Provincia, Regio, Principatus, Regnum, Territorium; Fr. Contrée, Païs, Terre“ (Ebd., 398). Für die Leserinnen und Leser unserer Einführung ist der Befund nicht ohne Ironie, dass der Regionsbegriff in Form der lateinischen regio just hier erscheint, Region mithin einen politischen Landesbegriff repräsentiert, der die Kategorie Herrschaft (regio, regnum, rex, regis) in den Vordergrund rückt. Gerade die Regionalgeschichte, die nach eigenem Selbstverständnis Regionalität bevorzugt nach sozioökonomischen, sozialökologischen und kulturellen Kriterien konzipiert, verwendet einen Begriff, der dem Politischen entspringt.
Wie dem auch sei, das Lemma „Land“ der Krünitz’schen Enzyklopädie bietet interessante Lesefrüchte und es schließt mit einem Merkspruch für das Land, der auch für die Definition von Regionalität dienlich ist. Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Land, sind in folgende Zeilen zusammengebracht:
Wo der Schiffer fährt ans Land, littus.
Wo zum Feldbau fettes Land, solum.
Wo der Bauer baut sein Land, agrum.
Wo der Bürger liebt sein Land, patriam.
Wo viel Viehzucht auf dem Land, ruri.
Wo der Herr beschützt sein Land, regionem.
Das erfreuet Stadt und Land, incolas (Bd. 59/1793, 404).
Den deutschen Sprachraum verlassend, sollte ein weiteres sehr wichtiges Lexikon des 18. Jahrhunderts erwähnt werden. Die Encyclopédie von Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) widmet der Region einen sehr umfangreichen Artikel. Auch hier findet zunächst ein naturwissenschaftlicher Wortgebrauch
Anwendung, zum einen in Bezug auf Höhenschichten der Atmosphäre, zum anderen auf die menschliche Anatomie, nämlich die Unterscheidung verschiedener Körpergegenden. Aber in der zweiten Hälfte des Artikels wird es für die hier angestrebte Regionsdefinition noch interessanter. Zum einen wird der äquivalente Gebrauch des Begriffs in verschiedenen europäischen Sprachen verdeutlicht: Für das Deutsche werden die Begriffe „Landschaft“ und „Land“ angeführt. Zum anderen findet sich hier eine im weitesten Sinne geografisch-politische Erklärung: Bezogen auf die Erde bezeichne der Begriff Region einen Ausschnitt, der von verschiedenen Völkern unter dem Dach einer Nation bewohnt werde. Dieser habe wiederum seine eigenen Grenzen und sei üblicherweise einem Monarchen oder Despoten unterstellt. Große Regionen könnten wiederum in kleine Regionen und diese wiederum in kleinste Regionen unterteilt werden – je nach dem Volk, das dort wohne [ethnische Definition]. Eine weitere Unterscheidung argumentiert geo- bzw. hydromorphologisch entlang von Flussläufen oder bezogen auf Gebirge. Demnach unterscheiden die Bezeichnungen haut / bas (hoch/nieder) die Lage einer Gegend am Ober- oder Unterlauf eines Flusses bzw. im Gebirge (Diderot & d’Alembert 1765, 16–17). Noch heute übrigens manifestiert sich diese Logik in den Namen mehrerer französischer Départements (z. B. Haute-Loire, Haute-Marne, Haut-Rhin, Bas-Rhin, Haute-Saône, Haute-Savoie, Alpes-de-Haute-Provence, Hautes-Alpes, Hautes-Pyrénées). Auch die Gegensatzpaare ultérieur / citérieur (jenseits / diesseits) bezogen auf Flüsse oder Gebirge – analog den habsburgischen Reichsteilen Trans- und Cisleithanien – und intérieur / extérieur bezogen auf (De-)Zentralität z. B. zu einer bedeutenden Stadt, sowie die Qualifizierung nach Himmelsrichtungen finden hier Erwähnung.
Insgesamt betrachtet, dokumentieren die hier sondierten Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts bereits eine sehr ausdifferenzierte Konzeption von Regionalität, die als Substrat des rezenten wissenschaftlichen Regionsverständnisses gelesen werden kann. Gleichwohl entsteht nicht selten der Eindruck, dass im gegenwärtigen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsbetrieb nicht immer besonders präzise mit dem Regionsbegriff verfahren wird. Das wiederum führt zu der Frage, wie die Geschichtswissenschaft der Gegenwart sich zu diesem verhält.
Region in der Geschichtswissenschaft
Ganz allgemein lässt sich Region ähnlich abstecken, wie dies auch die Regionalwissenschaft und die Raumplanung tun, das heißt, dass eine gewisse Homogenität struktureller Merkmale in Bezug zu gesellschaftlichen Funktionen und Praktiken gesetzt wird. Bei jedem Raum, so heißt es bei dem Historiker Jürgen Osterhammel, stelle sich „die zentrale Frage nach den Faktoren, die seine Einheit begründen und die es erlauben, von einem integrierten Raumzusammenhang zu reden“ (Osterhammel 2009, 156).
Gesellschaftliche Integration und politische Raumgestaltung
Es sind Faktoren wie zum Beispiel der Verkehr, die Kommunikation, die Migration und der Handel, die diese Integration leisten. Reinhard Stauber grenzt dazu die Herstellung eines politischen Territoriums als eine Folge bewusster herrschaftlicher oder staatlicher Raum-Gestaltung ab. Hier sei das „aktive Eingreifen eines zentralen Gestaltungswissens bei Grenzfeststellung, Kartierung, Zuweisung von Tätigkeitsräumen für Institutionen o. Ä.“ Voraussetzung (Stauber 2009, 858). Genau besehen lässt sich dieses herrschaftliche bzw. staatliche Wirken aber ebenso unter das oben genannte Faktorenbündel subsummieren. Auch Herrschaftspraktiken sind gesellschaftliche Praktiken und lassen sich von diesen nicht trennen.
Ein Exempel hierfür sind frühneuzeitliche Bergbauregionen. Natürlich sind das Vorkommen bestimmter Bodenschätze, die Kenntnis der Lagerstätten durch den Menschen, technologische Fähigkeiten in der Gesellschaft zu deren Abbau und gesellschaftliche Arbeitsteilung erforderlich, die die Versorgung eines Bevölkerungsteils gewährleistet, der selbst nicht in der Landwirtschaft tätig ist. Aber meist ist es ja die Herrschaft, die diese Ressourcenvorkommen kontrolliert und die diese Arbeitsteilung organisiert. Das österreichische Salzkammergut, genauer die beiden frühneuzeitlichen Salzwirtschaftsregionen des oberösterreichischen und des steirischen Salzkammerguts, waren politisch definierte wirtschaftliche Sonderzonen und als solche den landesherrlichen Verwaltungen des Landes ob der Enns und der Steiermark entzogen.
Historische Landschaft und Geschichtsregion
Weitere Stichworte, die bei der Sichtung geschichtswissenschaftlichen Verständnisses von Regionalität zu erörtern sind, sind das der „historischen Landschaft“ und das der „Geschichtsregion“ (Kap. 3.1.3). Der Osteuropahistoriker Stefan Troebst hat sogenannte Geschichtsregionen einmal wie folgt definiert:
Ein vorläufiger Definitionsvorschlag dafür, was unter einer geschichtsregionalen Konzeption zu verstehen ist, könnte lauten, dass es sich um eine geschichtswissenschaftliche Methode transnational-vergleichender Art mit dem Potential zu einer Theorie mittlerer Reichweite handelt, um eine Forschungsstrategie, in die Kontrollmechanismen mittels Quellenbiß und Komparation gleichsam eingebaut sind. Der kulturwissenschaftliche Untersuchungsrahmen „Geschichtsregion“ ist dabei ein heuristischer Kunstgriff, mittels dessen nicht-territorialisierte, aber epochal eingegrenzte historische Mesoregionen staaten-, gesellschaften-, nationen- oder gar zivilisationenübergreifender Art zur Arbeitshypothese komparativer Forschung genommen werden, um spezifische Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen. Nicht die einzelnen Merkmale sind dabei einzigartig und somit clusterspezifisch, sondern ihre jeweilige Kombination. Großflächige, indes epochengebundene Cluster dieser Art können als Geschichtsregionen bezeichnet werden. Diese sind dabei, wie Arno Strohmeyer hervorgehoben hat, „fluktuierende Zonen mit fließenden Übergängen“, die in sich entsprechend in Zentren und Peripherien gegliedert werden können. Und auch hier ist das Spezifische nicht ohne ein Umfeld denkbar, ist die eine Geschichtsregion nur im Kontext anderer zu fassen. Entsprechend sind also Relationalität und Beziehungshaftigkeit komplementär zur Binnenstruktur einer Geschichtsregion (Troebst 2013, 406–407).
An diesen vergleichsweise komplexen Sätzen und der schieren Länge dieser Definition offenbart sich, dass sich der Autor hier nicht leicht damit tut, den Begriff „Geschichtsregion“ zu definieren. Die zentralen Kriterien seien noch einmal herausgegriffen:
Erstens, es handelt sich um nichts Ontologisches, so in der Welt Vorhandenes, sondern um eine Methode, einen „kulturwissenschaftlichen Untersuchungsrahmen“.
Zweitens werden Gebiete untersucht, die nicht einem (politischen) Territorium zugeordnet, aber epochal, das heißt zeitlich, abgegrenzt werden. Sie erstrecken sich über die Grenzen von Staaten, Nationen, Zivilisationen hinweg.
Drittens sollen mittels Vergleich spezifische Cluster struktureller Merkmale von langer Dauer herausgearbeitet werden. Ein Beispiel für eine solche Geschichtsregion – und quasi „Mutter aller Geschichtsregionen“ ist der Begriff oder das Konzept „Ostmitteleuropa“.
Es gibt namentlich in der Forschung zur Osteuropa-Geschichte eine breite Diskussion zur Tragweite des Konzepts der Geschichtsregion, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Aus Sicht der Regionalgeschichte, der Landesgeschichte und der historischen Landeskunde ist auf die älteren Wurzeln des Begriffs in der Geografie hinzuweisen. Im späten 19. Jahrhundert hatte der deutsche Geograf Friedrich Ratzel (1898), wenn er von einer „historischen“ oder „geschichtlichen“ Landschaft sprach, durchaus das historische Zusammenspiel von materieller Welt und menschlicher Aktivität im Sinn (Faber 1979, 7). Sein auch für die Geschichtswissenschaft einflussreicher französischer Kollege Paul Vidal de la Blache (1845–1918) unterschied zwischen région naturelle und région politique (Ebd., 9).
Stauber (1994) unternimmt eine weite Definition von Region mit konstitutiven Kriterien. Region ist demnach ein relativ selbstständiges Teilelement eines größeren Ganzen. Sie ist abgrenzbar. Ihre Landschaftsgebundenheit ist nicht als geodeterministische Einbahnstraße zu sehen, sondern konzediert auch eine Determinierung durch den Menschen und seine Tätigkeit. Es besteht Entwicklungsoffenheit, Vernetzung in einer komplexen Struktur unter- und übergeordneter Einheiten, Eigenständigkeit der historischen Entwicklung und des historischen Bewusstseins der Bewohnerinnen und Bewohner. Als alternative Kriterienkataloge unterscheidet Stauber Homogenitätskriterien (Sprache, Konfession, Recht, Wirtschaftsinteressen etc.) und Bewusstseinskriterien (Zusammengehörigkeitsgefühl, gleichgerichtete Außenbeziehungen, gemeinsame Sozialisation, Kommunikation und Erfahrung).
Konstruktivismus
Nunmehr schon seit einem guten Vierteljahrhundert betont die regionalhistorische Forschung den konstruktiven Charakter von Region. Gerald Wood und Andrea Komlosy bringen dies so auf den Punkt:
Selbst der Wissenschaftler, der diesen Begriff nutzt, kann nicht hoffen, im weiten Feld der Empirie eine quasi „naturwüchsige“ Region zu finden, die abseits jeglichen menschlichen Tuns gewissermaßen eine eigenständige Existenz fristet und nun des Menschen harrt, der sie entdecken und anderen davon Kunde bringen möge. Dieses naive Regionsverständnis war übrigens lange Zeit verbindlicher und zentraler Gegenstand im Gedankengebäude der Geographie (auch und gerade als Hochschuldisziplin). Ein solcher positivistischer Regionsbegriff ist natürlich ebenso ein gesellschaftliches Konstrukt wie alle anderen auch […] (Wood & Komlosy 1997).
Die Anschlussfähigkeit mit konstruktivistischen Perspektiven in der jüngeren Sozialgeografie ist offensichtlich. Der Geograf Anssi Paasi sieht diese Konstruktion im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und Machtgefügen. Regionale Identität als regionales Bewusstsein von Menschen, die innerhalb oder außerhalb einer Region leben, wird Paasi zufolge in einem dialektischen gesellschaftlichen Prozess von einer Vielzahl beteiligter Akteurinnen und Akteure ausgehandelt. Dabei wirken zwei tendenziell gegensätzliche, aber miteinander verwobene Kräftefelder, eines „von oben“ – also politische Kontrolle, Regierung und Verwaltung – und eines „von unten“ – also Akzeptanz bzw. Identifikation mit einem Territorium oder Widerstand dagegen. Oder anders formuliert: Egal wie eine Region „von oben“ definiert wird, wenn keiner mitmacht, gibt es diese Region nicht (Paasi 2003).
Region und „Heimat“: top-down und bottom-up konstruiert
Anders herum stehen, wie Wilfried Müller und Martina Steber zeigen, die meisten vermeintlich bottom-up gewachsenen, unter dem Signet von „Heimat“ und „Heimatschutz“ seit dem 19. Jahrhundert inszenierten, regionalen Identitäten für die eminent enge Bindung solcher Identitätsangebote an die Entwicklung von Staatlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. „Das bayerische Schwaben“, so Steber, „ist ein Kind der Moderne“ (Müller & Steber 2018, 660; Steber 2010).
Der Landeshistoriker Ferdinand Kramer schlägt drei Perspektiven vor, um die durch die Begriffe Region und Regionsbildung sowie „die damit assoziierten Räume, Landschaften, Territorien, Herrschaften etc.“ definitorisch fassen zu können:
Drei Perspektiven auf die Definition von Region und Regionsbildung
Erstens ist eine mehr oder weniger herrschaftsfreie Perspektive zu nennen, die geographische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Spezifika, Sprache und Kultur als Identifikations- und Unterscheidungsmerkmale kennt. Zum zweiten ist in einem Kontext von Herrschaft die Perspektive der Regierenden auf die von ihnen beherrschten und in verschiedenen Regionen verwalteten Räume zu sehen, was in der Regel mit dem Begriff der „Provinz“ belegt wurde. Zum dritten ist die Perspektive eigener, autochthoner oder erworbener autonomer Rechte, Macht und Herrschaft zu beachten, wie dies etwa durch die Erblichkeit in zahlreichen Adelsherrschaften oder durch Republiken, Stadtstaaten in Norditalien, in der Schweiz oder im Reich, durch geistliche Territorien oder Kommunen möglich wurde (Kramer 2011, 2–3).
In Summe bewegt er sich mit diesem Vorschlag weitgehend innerhalb eines politikgeschichtlichen Paradigmas. Damit steht er auch in der regionalhistorischen Szene nicht alleine da. Jacobson et al. distanzieren sich zum Beispiel von einem Regionsverständnis, das entweder rein geografisch oder ökonomisch argumentiert oder das Region nur als konstruierte Identität aus Erinnerung und Kultur herleitet:
The region is not only a geographically defined zone of work and production. It is not only a popular repository for language, traditions, folklore, and religion. The region is also defined by the existence of juridical, political, ecclesiastical, and administrative structures that have affected the lives of people over centuries through a plethora of rules and practices which range from marriage to divorce, from crime to taxation, from legitimacy to inheritance, from education to health, from voting to minority rights (Jacobson et al. 2011, 55).
Es bleibt ein letzter in der Geschichtswissenschaft beheimateter Regionsbegriff anzusprechen. Es handelt sich um das „Land“ in der „Landesgeschichte“.
Das Land der Landesgeschichte
Die fachliche Diskussion der letzten dreißig Jahre, die darum kreist, welches Verständnis von Land die landesgeschichtliche Forschung hat, dokumentiert viele divergente Positionen, Perspektiven und forschungspraktische Entscheidungen, die zu diskutieren hier zu weit führt. Etwas verkürzt formuliert kann die Sache wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Es gibt die Traditionslinie, die auf die historische Geografie und die historische Landeskunde zurückführt, und damit auf Namen wie den schon angesprochenen Friedrich Ratzel oder Rudolf Kötzschke (1867–1949) mit einem sehr differenzierten sozionaturalen Landesbegriff, der in mancher Hinsicht auf eine Art Umweltgeschichte avant la lettre hinausläuft. Und es gibt eine stärker politisch-herrschaftsgeschichtliche Orientierung, die sich entweder an historischen Territorien orientiert, wie den vielen Fürstentümern des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, oder die ganz pragmatisch – und oft ohne dies kritisch zu reflektieren – einfach „Bundeslandgeschichte“ (Freitag 2003, 60) betreibt. Das heißt, der hier untersuchte Bezugsrahmen ist diejenige unternationale Ebene, die in Österreich und Deutschland in Form des Bundeslandes besteht.
Dabei ist natürlich dem Hinweis des österreichischen Landeshistorikers Heinz Dopsch (1942–2014) zuzustimmen, dass die große territoriale Stabilität der meisten Bundesländer des heutigen Österreich einen landesgeschichtlichen Zugriff plausibel mache. Es gebe in Europa keinen Staat, so schrieb Dopsch (2011), dessen Länder ein derart hohes Alter und eine derart starke räumliche Konstanz aufwiesen wie Österreich (Kap. 3.1.1). So seien sowohl das heutige Niederösterreich als auch die Steiermark schon im 12. Jahrhundert voll ausgeprägte Länder gewesen.
Dass die Bayerische Landesgeschichte hier größere Probleme mit ihrem räumlichen Bezug hat, liegt auf der Hand, so ist sie ja nicht nur für das historische Altbayern zuständig, sondern auch für die vormals territorial zersplitterten Landesteile Schwaben und Franken. Nicht umsonst verfügt die Universität Augsburg über eine Professur für Europäische Regionalgeschichte, Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, während man in Würzburg mit einer Professur für Fränkische Landesgeschichte aufwarten kann, in deren Denomination das Adjektiv „bayerisch“ gar nicht erst erscheint.
Die Region der Regionalgeschichte
Die Frage drängt sich auf, was nach den vielen Stimmen, die hier zu Wort gekommen sind, im Hinblick auf die Definition einer für die Regionalgeschichte brauchbaren Kategorie bleibt. Die gute Nachricht kommt von Řeznik (2019, 37): Gerade das „Wirrwarr“ der vielen verschiedenen funktional argumentierenden Regionsdefinitionen, die im Wissenschaftsbetrieb präsent sind, rege dazu an, „die historischen und kulturellen Formen und die Gründe dessen zu suchen und zu analysieren, was als Region fungiert“. Er selbst nimmt bei folgender Minimaldefinition seinen Ausganspunkt:
Definition Region
1) Regionen sind territoriale Einheiten, die sich aufgrund bestimmter Merkmale als relativ homogen definieren lassen.
2) Regionen sind daher abgrenzbar, obwohl die „Härte“, Eindeutigkeit und die kategoriale oder funktionale Grundlage der Grenzziehung unterschiedlich ist.
3) Region ist per definitionem keine holistische Kategorie; so lässt sich ein geschlossenes System nicht zugleich sinnvoll als Region beschreiben. Region lässt sich nicht für sich allein und aus sich selbst heraus bestimmen, sondern
4) Regionen sind nur denkbar als Teile von Systemen, in deren Rahmen sie funktional agieren, gedacht, konstruiert werden. Somit ist eine Region ein Teil eines Ganzen, ein Teil eines oder mehrerer Gefüge / Geflechte, wobei dann auch Regionen möglich erscheinen, die in der einen oder anderen Hinsicht grenzüberschreitend sind. Somit ist Region ein untergeordneter Teil eines übergeordneten Ganzen.
Mit Partikularität, Homogenität und Verflechtung sind hier Aspekte angesprochen, die wohl in der regionalhistorischen Forschung auf breiten Konsens stoßen.
Aus der hier vorgenommenen Sichtung historiografischer Zugänge zum Regionsbegriff lässt sich abschließend eine Arbeitsdefinition ableiten:
Region – Eine Arbeitsdefinition:
Eine Region ist zum einen ein erkenntnistheoretisches und historisch-soziales Konstrukt mit flexiblen Grenzziehungen, die es im jeweiligen Kontext genau zu definieren und argumentieren gilt, zum anderen aber verdankt sie sich konkreten räumlich-materiellen Faktoren, also einem Realsubstrat mit fassbaren Auswirkungen. Eine Region ist Teil eines übergeordneten geografischen, politischen, sozioökonomischen oder ökosystemaren Ganzen und mit ihrem Außen vielseitig verflochten.
Die räumliche Ausdehnung kann über nationale Grenzen hinausgehen (Makroregionen) und Räume unterhalb der Nation wie Bundesländer oder wesentlich kleinere Einheiten wie Städte oder Dörfer (Mikroregionen) betreffen.
Konstruiert, gestaltet, inszeniert, gepflegt und gelebt werden Regionen und regionale Identitäten aktiv und passiv von individuellen (z. B. Personen aus Politik, Journalismus, Wissenschaft, Kunst oder Werbung) und kollektiven (Massenmedien, Vereine, Institutionen, Parteien, Firmen etc.) Akteurinnen und Akteuren – dies geschieht etwa in Geschichten, Liedern, Bildern etc. und wird durch Museen, Ausstellungen und Ähnliches im kollektiven Gedächtnis verankert. Von wem, weshalb und auf welchem Wege Regionen gestaltet werden, ist kontextabhängig und mitunter eine Machtfrage.
Die folgende Grafik (Abb. 4) von Ernst Langthaler (2012) veranschaulicht ein Konzept von Region, das nicht mehr von einem absoluten Raumverständnis („Containerraum“), ausgeht, sondern Region relational im Sinne einer Summe von „Orten in Beziehung“ auffasst. Er veranschaulicht eine Loslösung vom überholten absolut(istisch)en Raumbegriff und eine Annäherung an ein relationales Verständnis von Raum. Damit kommt für den Raum- bzw. auch Regions-Begriff die zentrale Komponente von (Austausch-)Beziehungen im Verflechtungsraum zum Vorschein.
Abb. 4 Die Region: Vom Behälter- zum Verflechtungsraum (Quelle: Langthaler 2012, 33)
Literaturtipps
Jagodzinski, S., Kmak-Pamirska, A. & Řezník, M. (Hg.). (2018). Regionalität als historische Kategorie: Ostmitteleuropäische Perspektiven. Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau: Bd. 37. fibre.
Stauber, R. (2009). Regionalismus. In F. Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit:
Band 10: Physiologie – Religiöses Epos (S. 858–869). J. B. Metzler.
Werlen, B. (2008). Sozialgeographie: Eine Einführung (3. Aufl.). UTB Geographie,
Sozialwissenschaften: Bd. 1911. Haupt; UTB.
2Übersetzung (Caesar 2014 – Reclam): Von Auximum aus drang Caesar weiter vor und durchquerte in Eilmärschen das ganze picenische Land. Alle Praefekturen dieses Gebietes nahmen ihn mit größter Bereitwilligkeit auf und unterstützten sein Heer mit allem Notwendigen. […] In gleicher Weise zog er, soweit er konnte, aus den umliegenden Gegenden Kohorten zusammen, die aufgrund der pompeianischen Aushebungen gebildet worden waren.