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Der Hügel

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Arthur Eigenmann sitzt am Fenster seiner kleinen Wohnung am Rande der Stadt und schaut hinaus auf jenen Hügel, den er schon vor achtzig Jahren vom Schlafzimmer in der Wohnung seiner Eltern aus gesehen hatte. Sein Blickfeld war damals etwas weiter gewesen. Ein höherer Hügel südlich bot sich ebenfalls seinen Augen dar; dazwischen vorgelagert – die Senke der beiden Hügel in ihrem Schnittpunkt überdeckend –, wölbte sich die Rundung einer kleinen Erhöhung, auf deren Zenit sich eine Linde über den Horizont in den Himmel erhob. Dieses Bild hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt. Er trug es sein ganzes Leben lang in sich. Obwohl er in seiner Jugend keinen der beiden breit ausladenden Hügel je bestiegen hatte, bedeuteten sie für ihn Heimat, Geborgenheit. Sie grenzten ihn damals als kleinen Jungen ab von der dahinterliegenden unbekannten Welt. Erst jetzt drängt sich dem alten Mann das Bild auf: Die Hügel links und rechts sind wie Mutter und Vater, dazwischen die Linde, er als das von den beiden behütete Kind.

Dieses Symbol galt für damals, nicht für jetzt. Die Linde sieht er nicht von seiner Klause aus, den höheren Hügel ohnehin nur im Herbst und Winter, wenn die Blätter von den Bäumen beim nahen Schulhaus gefallen sind. Dann kann er durch die kahlen Äste hindurch einen Teil des langen Rückens sehen. Als er nach 54 Jahren in den Ort seiner Jugend zurückgekehrt war und eine Wohnung suchte, hatte er sich sofort daheimgefühlt, als er aus dem Fenster geschaut hatte und „seinen“ Hügel sah, näher als früher, doch unverändert, so wie er ihn in Erinnerung hatte. Diese Wohnung wollte er, keine andere. Schon am nächsten Tag rief ihn die Verwaltung an, er bekomme sie, er könne sie sofort beziehen.

Drei Wochen später zog er ein. Er stellte seinen Schreibtisch so vors Fenster, dass er von ihm aus den Hügel sehen kann Es vergeht kein Tag, an dem er zu Hause ist, ohne dass er auf diesen Hügel schaut, am Morgen, wenn die Sonne lange Schatten von den Wäldern auf die Wiesen wirft, am Abend, wenn sich der Hügel rötlich färbt, im Herbst, wenn der Nebel vom Tal heraufdrängt und zu den paar Bauernhöfen hinaufsteigt und allmählich den ganzen Hügel verschwinden lässt.

Er kann eigentlich gar nicht genau sagen, warum ihn dieser Hügel so bezaubert. Ist es die Erinnerung an seine Jugend oder einfach die schöne Form seines Rückens, die kleinen Wälder am Horizont und am Abhang, die dunkel aus der hellgrünen Wiese herauswachsen, das Spiel der Schatten am Morgen und am Abend? Immer wieder verändert sich der Hügel, mal leuchtet er in der Sonne, mal verliert er seine beruhigenden grünen Farben und wird grau, wenn schwarze Wolken ihn verdüstern.

Manchmal, wenn er ihn lange anschaut, ohne dass er dabei etwas denkt, ist es wie ein Meditieren. Ein andermal wieder denkt er nach über seine Vergangenheit, sein in mancher Hinsicht bewegtes Leben.

Kürzlich sind ihm bei einer solchen Betrachtung einige Gedanken, Verse eingefallen, die er zu einem Gedicht geformt hat:

Mein Hügel

Ein breiter, sanfter Hügelrücken,

bedeckt von Wald und grünen Matten,

und wenn die Sonn am frühen Morgen

dem Horizont entlang die Wipfel streift,

dann wirft sie lange, schräge Schatten,

und alle nächtlich, dunklen Sorgen

und alle bösen Traumgespenster

verwandeln sich in ein Entzücken,

das meine Seele still ergreift,

wenn ich durch meiner Klause Fenster

auf dich im Morgenglanze schau. –

Doch manchmal, statt des Himmels Blau,

steigt Nebel aus dem tiefen Tal

und legt sich um dich wie ein Schal

aus feinstem undurchsichtigem Gewebe.

Und abends, wenn den Blick ich hebe,

der Sonne Glanz auf deinen Rücken fällt,

das Licht sich spiegelt in den Scheiben

von einem Wohnhaus oder Stall

– und tiefe Ruhe überall –

und auf dich legt das Abendrot,

dann wünscht ich, dass auf dieser Welt

ich könnt noch eine Weile bleiben,

– zum Gehen ist ja keine Not.

Jetzt sitzt er am Schreibtisch, schaut aus dem Fenster zum Hügel, und das Gedicht kommt ihm wieder in den Sinn. „Zum Gehen ist ja keine Not“.

Nein, er möchte noch eine Weile leben, noch ein paar glückliche Jahre. Doch wozu? Ja, er hat eine Freundin, die er seit mehr als einem halben Jahrhundert liebt. Vor vier Jahren hat er sie wiedergefunden. Seit einer Ewigkeit hat er sich nicht mehr so glücklich gefühlt. Für sie möchte er noch ein paar geschenkte Jahre auf dieser Erde bleiben können, mit ihr noch manches Mal auf den Hügel steigen, mit ihr die Schönheit der Natur bewundern, auf das weite Land und den See hinausschauen.

Aber was hat er in dem Jahr, das bald zu Ende geht, getan, geschaffen, das wert wäre, sein Leben zu verlängern, außer ein paar Gedichten? Nichts. Er ist Schriftsteller – so steht es wenigstens im Internet. Dort kann man nachlesen, was er alles geschrieben hat: Gedichte, Erzählungen, Romane. Er hat nie von seinen Büchern leben können, er hat einen Beruf und zum Glück immer eine feste Stelle gehabt – als Angestellter in einem Verlag. Damit hat er Geld verdient für die Familie, später, als die Kinder groß waren und er sich von seiner Frau hatte scheiden lassen, für sich selbst. Und von dem verdienten Geld ist einiges an Druckkostenbeiträgen für seine Bücher draufgegangen. Denn welcher Verlag würde ohne die finanzielle Mithilfe die Bücher eines unbekannten Autors herausbringen?

Ja, seinerzeit, als er noch in der Stadt seiner Jugend wohnte, da gehörte er zum erlesenen Kreis der einheimischen Autoren. Er gehörte einem Zirkel junger Schriftsteller und Musiker an. Da galt er noch etwas. Seine Bücher, vor allem sein allererstes, eine Novelle über eine kleine Pension in Rom, die während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Soldaten besetzt war, wurde gelobt und gelesen. Er hatte bei einer Lesung mit drei anderen jungen Schriftstellerkollegen einige Abschnitte daraus vorgetragen. Es war eine ansehnliche Zahl von literarisch Interessierten gekommen. Einige hatten nach der Lesung mit ihm gesprochen, Fragen gestellt und das schmale Buch gekauft. Er bekam sogar zusammen mit vier anderen Autoren für sein literarisches Schaffen einen sogenannten Aufmunterungs- und Anerkennungspreis der Stadt. Die tausend Franken waren mehr als das Doppelte seines damaligen Monatslohnes gewesen. Seither haben viele Dutzende diesen Preis bekommen: Autoren, Maler, Grafiker, Musiker. Sie alle, glaubt er, haben Besseres geleistet als er.

Als er aus beruflichen Gründen von der Stadt wegzog, warf ihm der Stadtpräsident Untreue vor. Man habe ihn mit einem Preis geehrt, und nun lasse er schmählich die Stadt, die ihn bekannt gemacht habe, im Stich. Hatte man auf ihn so große Hoffnungen gesetzt, dass man jetzt befürchtete, er könnte in Zukunft nicht mehr als Dichter dieser Stadt gelten, und eine andere Stadt würde sich mit seinem Ruhm schmücken? Als er daran denkt, gleitet ein Lächeln über sein Gesicht, das mehr Resignation als Genugtuung oder gar Freude ausdrückt.

Der Beruf, den er ergriff, um seine Frau und die drei Kinder, die rasch nacheinander geboren wurden, zu ernähren, nahm ihn so sehr in Beschlag, dass er in den ersten Jahren nur noch vier kleine Kindergeschichten schrieb und unter einem Pseudonym veröffentlichte. In dem großen Dorf, das er zur Wohnstätte gewählt hatte, war er unbekannt. Andere hatten das Sagen. Einige Kunstbeflissene, ein Arzt, ein Landwirt, beide Anthroposophen, ein Pianist und noch ein paar weitere Anthroposophen organisierten Gemäldeausstellungen und Konzerte. Arthur gehörte nicht zu diesem auserwählten Kreis. Er war zu bescheiden, um sich als Schriftsteller für eine Lesung aufzudrängen oder, wie man heute sagen würde, zu outen. Bei zwei weiteren Wohnungswechseln fühlte er sich als Autor noch viel einsamer. Niemand kannte ihn. Sein Name als Schriftsteller war, wenn er überhaupt einmal ein wenig geleuchtet hatte, verblasst und – so glaubte er – ganz in Vergessenheit geraten.

Einmal schien sein Name noch einmal aufleuchten zu wollen. Er hatte seine Stelle gewechselt. Der Verlag, in dem er arbeitete, hatte mit einem größeren fusioniert. Stellen wurden abgebaut. Arthur hatte noch zuvor selber gekündigt. Mit dem Verlag hatte er sich so verbunden gefühlt, dass er sich nicht vorstellen konnte, in der neuen Firma mit neuen Leuten zusammenarbeiten zu können. Er hatte es im alten Verlag während beinahe zwanzig Jahren mit vielen Menschen zu tun gehabt, nicht nur mit Autoren, die ihn schätzten. Nur einer war misstrauisch gewesen, weil er keine akademische Ausbildung besaß. Arthur musste eines seiner Manuskripte lesen und korrigieren. Da stieß er auf einen peinlichen Fehler. Der Autor hatte das Zitat „Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland“ Heinrich Pestalozzi zugeschrieben. Arthur ersetzte den Namen durch Jeremias Gotthelf. Er machte den Autor auf das Versehen aufmerksam und konnte ihm sogar sagen, bei welchem eidgenössischen Schützenfest Gotthelf diesen Ausspruch in seiner Festrede getan hatte. Von da an stieg seine Achtung bei diesem Autor gewaltig. Doch viele Menschen, mit denen er ebenfalls zu tun hatte, waren einfache Leute ohne große Schulbildung. In der Spedition hatte es immer viele Wechsel gegeben. Da waren komische Käuze, notorische Lügner und kleine Diebe, Faulpelze und Angeber gewesen. Einmal hatte er in einer kleinen Abendgesellschaft von diesen Sonderlingen und Originalen so lustig erzählt, dass ihn jemand aufgefordert hatte, diese Geschichten aufzuschreiben. Er hatte vorher gar nicht an so etwas gedacht. An der neuen Stelle – als ihn ein Verleger aufsuchte, der seine Kindergeschichten kannte und von ihm gerne ein Kinderbuch herausgegeben hätte – erinnerte er sich an die lustigen Geschichten. Ein Manuskript für ein Kinderbuch konnte er dem Verleger nicht anbieten, aber die Geschichten von all den Originalen wollte er gerne überarbeiten und ergänzen, manche Geschichte ein wenig verfremden und mit einer Pointe versehen. Dem Verleger gefiel dieser Gedanke. Arthur machte sich voll Eifer und auch mit einer Portion Heimweh an den alten Verlag daran, die Geschichten zu einem Ganzen zusammenzufügen. Es wurde ein witziges Buch, doch der Verleger, ein humorloser Mensch, pries es nicht als amüsante Lektüre, sondern sachlich trocken als Erinnerungen eines Verlagsleiters an, womit er natürlich nicht die Leser hinter dem Ofen hervorlocken konnte, die Arthur sich für sein Buch gewünscht hätte. Es blieb bei der ersten kleinen Auflage, obwohl später noch oft von den früheren Lesern bedauert wurde, dass das Buch, das sie gerne dem einen oder anderen Freund oder Bekannten im Spital oder bei einer anderen Gelegenheit zur Aufmunterung geschenkt hätten, nicht mehr käuflich war.

Im neuen Verlag, in dem Arthur nun arbeitete und der nebst einer Zeitung und mehreren Zeitschriften auch Bücher herausbrachte, wurde es von höchster Stelle nicht gerne gesehen, dass er seinen engsten Mitarbeitern von dem Buch erzählte und bald eine Bestellliste in Arthurs Abteilung herumgereicht wurde. Keiner der Angestellten sollte über die anderen durch irgendeine Leistung, sei sie literarischer oder künstlerischer Art, herausragen. Das würde nur Neid und Missgunst hervorrufen. Immerhin war er nun auch seinen Vorgesetzten als Schriftsteller bekannt geworden, und sie waren froh, ihn für den Text von zwei erfolgreichen Sachbüchern und für den Leittext zum jährlich erscheinenden Jahreskalender betrauen zu können. Doch für Erzählungen oder gar Romane fehlte ihm nicht nur die Zeit und die Muße – sondern auch die Muse.

Bei weitem war Arthur nicht das zurückgebliebene Kind, wie seine Eltern befürchteten, als er mit drei Jahren nur undeutlich sprach und oft zornig wurde, wenn ihn niemand verstehen wollte. Das änderte sich bald, und zwei Jahre später überraschte er eines Tages seine Mutter, als er auf einmal – wie wenn plötzlich aus einem verstopften Brunnenrohr Wasser heraussprudelt – ziemlich fließend aus einer Zeitschrift vorlas. Niemand hatte ihm das Lesen beigebracht.

„Woher kannst du auf einmal lesen?“, fragte die Mutter verwundert.

„Weißt du“, antwortete er, „jedes Mal, wenn ich mit dir einkaufen ging und dich nach den Straßennamen oder den Namen der Geschäfte fragte, habe ich mir die Buchstaben, die auf den Firmenschildern standen, gemerkt. Jetzt habe ich alle beisammen und kann alles lesen.“

Dass er auch alle Zahlen kannte und rechnen konnte, war nur selbstverständlich.

Sein Geburtstag fiel so ungünstig, dass er erst mit sieben Jahren die Schule besuchen durfte. In den Kindergarten gingen nur jene Buben und Mädchen, deren Mütter in einer Fabrik arbeiteten. Arthur wäre gerne zur Schule gegangen. Er sehnte sich danach, doch wie es so ist mit der Sehnsucht, wie größer sie ist, umso langsamer gehen die Tage und Monate dahin.

Alles, was dann in der ersten Klasse gelehrt wurde, konnte Arthur bereits, so dass er oft, ohne die Aufmerksamkeit zu verlieren, gelangweilt seinen Blick zum Fenster hinausschweifen ließ, wo er den weißen Wolken am Himmel zuschaute, wie sie sich bewegten und veränderten, Gesichter oder seltsame Tiergestalten bildeten. Ein Baum wuchs auf dem Schulhof nicht, in dem er die Vögel von Ast zu Ast hätte hüpfen sehen können. Nur manchmal setzte sich eine Blaumeise oder ein Buchfink auf den Fenstersims. Dann beneidete er sie um ihre Freiheit, denn die Zeit, die er im Schulzimmer verbrachte, schien ihm nutzlos zu verstreichen. Wenn ihn der Lehrer aufrief, ein oder zwei Worte im Lehrbuch zu lesen, las er dies ohne zu stocken und langweilte sich danach weiter.

In der zweiten Klasse rief der Lehrer ihn einmal am Ende eines Schulquartals nach vorne.

„Arthur, komm, setz dich hier auf mein Pult!“

Arthur sah, dass dort ein Buch aufgeschlagen war.

„Weil es die letzte Stunde vor den Ferien ist“, sagte Lehrer Kobler, „wird euch Arthur jetzt eine kleine Geschichte vorlesen.“

Ein wenig schüchtern, aber doch stolz, stieg Arthur aufs Podest und setzte sich auf den Stuhl, auf dem sonst sein Lehrer saß. Er schaute auf seine Mitschüler hinunter, nicht hochmütig, sondern ganz erstaunt über die neue Perspektive, und dann begann er zu lesen.

Weder am Ende dieser Stunde, als sie auf den Schulhof strömten, noch nach den Ferien hatte Arthur das Gefühl, dass seine Mitschüler, zwanzig Buben und zwanzig Mädchen, wegen dieser Bevorzugung durch den Lehrer eifersüchtig waren oder ihn hänselten und plagten, wie das leider oft bei Schülern vorkommt, die sich durch Strebertum oder sonst eine Besonderheit hervortun. Im Gegenteil, er selbst hielt sich nicht für etwas Besseres, und auch seine Kameraden behandelten ihn als Ihresgleichen. Nur das eine oder andere Mädchen begann ihn still zu verehren, und eines der Mädchen wollte unbedingt am Kinderfest mit Arthur zusammen fotografiert werden, natürlich mit der Fahne, die Arthur im Umzug der Klasse vorausgetragen hatte.

Arthur musste doch auch das eine oder andere Mal einen Verweis des Lehrers entgegennehmen, doch nur, weil er da oder dort einen Buchstaben oder eine Zahl unsauber oder gar unleserlich hingeschrieben hatte. Doch dies betrachtete er nicht als Fehler. Wenn alles andere stimmte, war ihm dies egal.

So gingen die ersten drei Schuljahre problemlos vorbei. Für die nächsten drei Schuljahre wechselten die Buben in ein anderes Schulhaus und bekamen nicht nur einen neuen Lehrer, sondern auch zwanzig neue Mitschülerinnen. Man könnte sagen, Arthur sei auch hier ein Musterschüler gewesen. Er selbst hielt sich allerdings nicht dafür. Doch während die anderen Kinder, Buben wie Mädchen, oft sogenannte Tatzen, Streiche auf die Hand mit einem Rohrstöckchen, bekamen, blieb Arthur während all der Jahre davon verschont. Ein einziges Mal hatte der Lehrer ihn an den Haaren hinter den Ohren gezerrt, weil er seinem Banknachbarn etwas zugeflüstert hatte, während der Lehrer etwas erklärte. Unglücklicherweise war der Lehrer gerade hinter ihm gestanden. Das ist wie beim Fußball, wenn der Schiedsrichter nahe beim Spieler steht, wenn der gerade ein Foul verursacht, das einen Penalty zur Folge hat. Die Rüge schmerzte Arthur mehr als das Haarezupfen. Auch bei Lehrer Fink war er der beste Schüler. Er lernte schnell. Ein Gedicht mit mehreren Strophen musste er nur zweimal anschauen, dann konnte er es auswendig hersagen. Keiner konnte so schnell Deklinieren und Konjugieren wie er, die Diktate schrieb er fehlerlos, und im Kopfrechnen war er meistens der Schnellste.

In der fünften Klasse floss sozusagen zum ersten Mal Blut durch seine dichterische Ader. Zu Weihnachten überraschte er seinen Lehrer mit einem Weihnachtsstück, das er geschrieben und mit einigen seiner Mitschüler einstudiert hatte. Es muss allerdings gesagt werden, dass dieses kleine Weihnachtsspiel nicht ganz seiner Fantasie entsprungen war. Er hatte die Geschichte in einem Kalender gelesen und für die Aufführung am letzten Schultag vor Weihnachten dramatisiert.

Der Lehrer war des Lobes voll. Dass einige Mädchen auch in dieser Klasse Arthur bewunderten und sich verliebten, erfuhr er erst viele Jahre später bei einer Klassenzusammenkunft. Dabei erzählte ihm auch Albert Schwendener, der früher immer sein Intimfeind und Plagegeist gewesen war, mit Stolz, er habe bei der letzten Klassenzusammenkunft, bei der Arthur nicht dabei gewesen war, jene Schnitzelbank vorgelesen, die er, Arthur, für die Abschlussfeier am Ende der sechsten Klasse verfasst habe. Woher Albert den Text hatte, wusste Arthur nicht. Doch als er daheim das alte, vergilbte Blatt nach langem Suchen fand und die Verse zu lesen begann, wurde ihm mulmig zumute, einerseits, weil er sie schlecht fand, anderseits aber auch, weil er eines der Mädchen – sie war die Dickste und auch nicht gerade die Intelligenteste gewesen – etwas unfreundlich, um nicht zu sagen, beleidigend dargestellt hatte, worüber er sich nun nachträglich schämte. Er hoffte nur, dass dieses Mädchen nicht bei der Klassenzusammenkunft dabei gewesen war. Das war normalerweise nicht seine Art gewesen, dass er die Mädchen verachtet hätte, schon damals nicht. Im Gegenteil, er hatte sich immer auf die Seite der Mädchen gestellt, wenn ihnen die Buben im Winter Schneebälle nachwarfen oder sie beleidigten oder hänselten.

Charmant war ein Wort, das Arthur erst später kennen lernte. Aber Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit lernte er vor allem von seiner Mutter. Wenn auch manche Nachbarn sie für stolz oder streng hielten, weil sie jedem Getratsche auf der Straße aus dem Wege ging, war sie doch eine warmherzige und liebevolle Frau, die andere Menschen achtete und von jenen, die sie besser kannten, geschätzt und geliebt wurde.

Arthur war nicht in dem Haus geboren worden, in dem er seine Jugend verbrachte und aus dem er jeden Tag von seinem Schlafzimmer aus auf jene Hügel schaute, hinter denen oft der Vollmond aufging, was in Arthur schon damals romantische Gefühle erweckte.

Es war ein ganz gewöhnliches graues Haus mit vier Stockwerken und einem Giebel und ohne Balkon. Sein Grundriss war quadratisch, und hätte es den Giebel nicht gehabt, hätte es ausgesehen wie ein abgesägter Turm. Es stand an einer damals verkehrsarmen Nebenstraße – die hauptsächlich sein Spielplatz war –, parallel zu der Hauptstraße, die in die nächste kleinere Stadt führte. Die Eltern waren mit ihm und seiner Schwester in dieses Haus gezogen, als er drei Jahre alt war.

Das Haus wäre trotz der paar Kakteen, die Arthurs Vater auf die Simse vor den beiden Stubenfenstern gestellt hatte, schmucklos gewesen, wenn die Besitzerin, Frau Dubler, auf der Straßenseite nicht einen kleinen Rosengarten angelegt und in die Ecke ein kleines Gartenhäuschen gesetzt hätte, von dem eine Seite offen war, während die anderen drei Seiten, aus lichten Holzgittern bestehend, blendend weiß angestrichen waren. Innen lief an den drei Seiten eine Bank um einen kleinen Holztisch. Doch es waren wenige, glückliche Momente, an denen die Kinder in das Gärtchen treten durften, um im Gartenhäuschen zu spielen oder zu plaudern. Dies durfte nur geschehen, wenn Frau Dubler es erlaubte und sie in der Nähe war und die Kinder im Auge behalten konnte. Die Ballspiele mussten weiter oben oder weiter unten auf der Straße stattfinden, damit keine Rose von einem fehlgeleiteten Ball abgedrückt würde. Die Kinder hielten sich an diese Vorschrift und ließen die Bälle lieber in den Gemüsegarten der Nachbarin fallen, die darüber allerdings auch nicht erbaut war und oft einen Ball zurückhielt, bis eines der Kinder, meistens war es Arthur, hinging und sich entschuldigte.

Zum Eingang auf der Ostseite des Hauses führte ein schmaler zementierter Weg. An der Wand vor dem Eingang spross ein Pfirsichspalier.

„Arthur, da fehlt ein Pfirsich. Hast du oder ein anderes Kind den Pfirsich genommen?“, konnte es oft geschehen, dass Frau Dubler ihn ansprach, wenn er aus dem Haus trat und sie auf der Bank gegenüber dem Pfirsichbäumchen saß. Sie hatte immer ein wachsames Auge und sah es sofort, wenn eine Frucht fehlte. Vielleicht war der reife Pfirsich heruntergefallen. Arthur und alle anderen Kinder im Haus wussten, dass jeder auf dem Boden liegende Pfirsich der Frau Dubler gebracht werden musste. Anders war es mit dem Aprikosenspalier hinter dem Eingang. Der war grösser und trug im Sommer mehr Früchte. Hier durften alle abgefallenen Aprikosen von den Kindern aufgelesen und gegessen werden.

Frau Dubler fragte meistens Arthur nach den fehlenden Pfirsichen, weil sie von ihm eine wahre Antwort erwartete, während sie bei allen andern Kindern voraussetzte, dass sie schwindeln würden.

Arthur war ein schwächlicher Junge. Eine Quecksilbervergiftung hatte seinen Körper geschwächt und ihn an den Rand des Todes geführt. Noch mit achtzig Jahren erinnert sich Arthur, wie er als kleiner Bub auf dem Boden im Wohnzimmer saß und mit den silbernen Kügelchen auf dem Boden spielte, die aus dem zerbrochenen Fiebermesser gekollert waren, weil er den Arm gehoben hatte, unter den ihm die Mutter das Thermometer gesteckt hatte. Er erinnert sich auch noch, wie erschrocken die Mutter war, als sie aus der Küche zurückkam und wie sie rasch die Stube wieder verließ und mit Schaufel und Besen zurückkam und die Kügelchen zusammenwischte und sie wieder hinaustrug. Daran, dass sie mit einem Waschlappen zurückkehrte und ihm die Hände wusch, erinnert er sich allerdings nicht mehr, auch nicht an die vier Wochen, in denen er wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen gefüttert wurde. Erst wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und ihm die Hände und Füße festhielt, konnte ihm die Mutter die Nase zudrücken, damit er ein oder zwei Löffelchen Milch schluckte. Das war die einzige Nahrung während der ganzen Zeit, bis seine Verkrampfungen sich lösten und er wieder zu essen begann. Während seiner ganzen Jugendzeit aß er so wenig, dass seine Muskeln sich nur wenig entwickelten und er immer spindeldürr war. Viele Jahre später einmal, es war nach dem Krieg und während seiner Mittelschulzeit, als er bereits neunzehn Jahre alt war, als sie mit der Schule an einem Weiher badeten und er im Gras lag, als er hörte, wie ein kleiner Knabe zu seinem Kameraden sagte: „Schau dort, das ist einer aus einem Konzentrationslager.“ Es war jene Zeit, als man in allen Zeitungen die schrecklichen und Erbarmen erheischenden Bilder von den aus den Lagern befreiten Gefangenen sah.

Doch jetzt sind wir noch nicht so weit.

Der Krieg brach aus, als Arthur in der sechsten Klasse war. Auf dem Schulhof wurden die Soldaten vereidigt und auf den Straßen fuhren Panzerwagen vorüber an die Grenze.

„Der Krieg wird bald zu Ende sein“, erklärte Albert Schwendener siegesgewiss.

„Freu dich nicht zu früh“, meinte Peter Meile, „die Deutschen sind stark. Die haben viele Waffen und lassen sich nicht so leicht unterkriegen.“

„Meinst du, der Krieg dauere länger als bis Weihnachten?“, fragte Anna Bögli ängstlich.

„Ich weiß nicht, wie lange der Krieg dauert“, beschwichtigte sie Arthur. „Aber eines ist sicher, die Deutschen werden nicht gewinnen.“

Woher nahm Arthur diese Sicherheit? Sein Vater war ein politisch interessierter Mensch. Er hatte sich schon früh einige Schriften über den aufkommenden Nationalsozialismus gekauft und hörte am Radio alle Nachrichtensendungen, die man damals hören konnte. Das waren eigentlich nur der schweizerische und der deutsche. Er wusste von den Konzentrationslagern, die es damals schon gab und in die Sozialisten, Kommunisten, Zigeuner und Homosexuelle gesteckt wurden.

Arthur hörte diese Nachrichten mit, auch die Reden, die Hitler hielt. Für ihn war sicher, dass dieser Unmensch nicht siegen durfte. Ihm und seinen Kumpanen, auch seinem italienischen Freund Mussolini, die in den Zeitungen abgebildet waren – vom Fernsehzeitalter war man noch lange entfernt –, sah man doch schon von weitem an, was für miese Typen das waren. Was immer geschähe, am Ende würden die Alliierten siegen. Daran glaubte Arthur auch noch, als die deutschen Truppen halb Europa und den Norden Afrikas besetzt hatten. Und die Geschichte gab ihm schließlich Recht.

Arthur schaut zu dem Hügel. Im Italienischen, denkt er, ist der Hügel weiblich, la collina. Das tönt schön, rund, mütterlich. Das würde passen zu seinem Hügel, der wie ein weiblicher Bauch vor ihm liegt. Seine Mutter hätte gelacht, wenn sie gewusst hätte, dass Arthur sie mit dem Hügel in Verbindung brachte, und gesagt:

„Du dummer Bub, wie kommst du auch auf so komische Gedanken?“

Jetzt gehen seine Gedanken zurück zu dem Haus seiner Jugend. Er strengt sich an, es so zu sehen, wie es damals war mit dem Gartenhäuschen und dem Rosengärtchen, den Spalieren, aber auch mit den Fenstern in den kahlen Mauern. In der Nacht darauf träumt er. Er ist in dem Haus, in seinem ehemaligen Zimmer. In der Stube daneben sind Vater und Mutter. Die Schwester ist nicht da. Wie er zum Fenster hinausschaut, sieht er zwei düstere Gestalten auf der Straße vorüberschreiten. Todesangst ergreift ihn, schnürt ihm die Brust zusammen. Es sind deutsche Sol-daten, vielleicht auch SS-Männer. Ihm wird bewusst, dass die Schweiz von den deutschen Heeren besetzt worden ist. Die beiden Männer haben ihn gesehen. Sie kehren um und treten auf das Haus zu, er muss fliehen. Er warnt seine Eltern und klettert, er der sein Leben lang unter Höhenangst leidet, aus einem Seitenfenster und gleitet an der kahlen Wand – hier gibt es kein Spalier – hinab. Er weiß, auch seine Eltern haben sich irgendwie in Sicherheit gebracht. Dann erwacht er – nass vor Schweiß.

Arthur ist kein Psychologe. Ein solcher würde wahrscheinlich viel aus diesem Traum herausdeuten. Er denkt einfach, dass er bei seinen Gedanken am Vorabend den Krieg, die Angst, die damals vor einem Einmarsch deutscher Truppen stets gegenwärtig in ihm war, verdrängt hatte und in diesem Traum wieder aus seinem Unterbewusstsein auftauchte.

Der einzige Wunsch, den Arthur für Weihnachten in diesem ersten Kriegsjahr hatte, war ein Blatt Papier, nämlich das Anmeldeformular für das Gymnasium. Es war sein sehnlichster Wunsch, obwohl er wusste, dass es für seinen Vater nicht leicht sein würde, da in der Mittelschule nicht mehr wie in der Grundschule alle Bücher und Hefte und was man sonst noch an Materialien brauchte, kostenlos abgegeben wurden.

Arthur wusste, dass das Einkommen seines Vaters gerade reichte, um die Familie zu ernähren und Arthur und seine Schwester in den Sommerferien zu Verwandten in einem hundert Kilometer entfernten Dorf am Rande des Juras zu schicken. Manchmal musste die Mutter sogar auf die Kantonalbank gehen, wo sie ein Sparbüchlein deponiert hatte, auf dem zwei- oder dreitausend Franken lagen, die sie von ihrer Mutter vor langer Zeit als „Notpfennig“ bekommen hatte. Dann hob sie 20 oder 50 Franken ab, um die neuen Hosen für Arthur oder einen Mantel für seine Schwester zahlen zu können. Das meiste an Kleidern schneiderte sie jedoch selbst.

Auch für das Abonnement einer Wochenzeitschrift mit einer angeschlossenen Unfallversicherung und 100 Franken Sterbegeld reichte es noch. Arthurs Mutter las gerne. Doch die Lektüre bestand meistens nur in dem in Fortsetzungen erscheinenden Roman und den verschiedenen Artikeln in der Zeitschrift. Bücher holte die Mutter ab und zu in einem Bücherverleih. Doch auch das kostete jedes Mal ein paar Rappen. Arthur erinnert sich, dass nur drei Bücher immer auf dem Buffet lagen, von denen eines der Roman „Die Heilige und ihr Narr“ von Agnes Günthers war, das zweite hieß „Stine Menschenkind“ von Martin Andersen Nexö, und das dritte war ein Roman von Rösy von Känel. Die ersten zwei Bücher waren Geschenke, das dritte hatte sie gekauft, weil die Familie einen der dargestellten Romanhelden zufälligerweise selber kannte. Der Vater las, abgesehen von den paar wenigen politischen Schriften, ohnehin keine Bücher. Das wollte er sich auf die Zeit, wenn er pensioniert wäre, aufsparen.

Unter solchen pekuniären Voraussetzungen war es nicht selbstverständlich, dass Arthur das Gymnasium besuchen durfte, obwohl er der beste Schüler der sechsten Klasse der Grundschule war und Lehrer Fink seinen Eltern geraten hatte, ihren vielversprechenden Sohn in die Kantonsschule zu schicken, um ihm vielleicht einmal eine akademische Laufbahn zu ermöglichen, was auf Grund seiner Intelligenz durchaus möglich schien.

Herr Fink war erstaunt gewesen, dass sich neben Arthur, dessen Übertritt ins Gymnasium er für selbstverständlich hielt, ein weiterer Schüler, Urs Baldegger, für das Gymnasium anmelden wollte. Urs war nie als besonders intelligenter Schüler aufgefallen. Arthur erinnerte sich an den ersten Schultag. Damals war Urs wie Arthur auch mit der Mutter zum eine halbe Stunde entfernten Schulhaus geschritten. Unterwegs hatten sie sich getroffen. Er und Urs waren vorausgegangen, während die beiden Mütter, ihnen in einigem Abstand folgend, miteinander in ein Gespräch, wahrscheinlich über die beiden Knaben und deren nächste Zukunft, vertieft waren.

Urs wollte Arthur beeindrucken mit dem, was er schon alles wusste.

„Ich weiß, welches der höchste Berg der Schweiz ist“, sagte er mit kaum verborgenem Stolz in seiner Stimme. „Es ist das Matterhorn.“

„Nein, das stimmt nicht“, erwiderte Arthur. „Es ist die Dufourspitze.“

„Du lügst, ich weiß es ganz sicher“, behauptete Urs. „Mein Vater hat es mir gesagt.“

„Dann weiß es eben dein Vater auch nicht“, erwiderte Arthur.

„Doch, mein Vater weiß alles“, protestierte Urs.

Arthur ließ ihn in seinem Glauben. Er wusste es ja besser. Er hätte auch mit dem auftrumpfen können, was er wusste oder konnte: Lesen und Rechnen. Er tat es nicht und lachte innerlich nur, als Urs sagte, er könne schon bis zwanzig zählen.

Am Weihnachtsabend lagen unter dem Weihnachtsbaum einige hübsch in farbiges Papier eingepackte kleine Geschenke. Arthur sah sofort mit Schrecken an ihrer Form, dass kein Anmeldungsformular für das Gymnasium dabei sein konnte.

Natürlich freute er sich, nachdem die Mutter die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorgelesen hatte, vor allem über das Buch, aber auch über die neue Haarbürste, die warmen gestrickten Socken für den Winter und die Tafel Schokolade. Als all dies ausgepackt war, schaute er doch ein wenig enttäuscht drein. Die Mutter warf einen kurzen Blick, der nichts verriet, auf Arthurs Gesicht, dann verließ sie das Zimmer und kehrte kurz darauf mit einem riesigen Paket zurück. Wollten ihn die Eltern mit einem großen Geschenk darüber trösten, dass er nicht das Gymnasium besuchen durfte?

Als ihm die Mutter das Paket überreichte, ahnte er, was darin war, und sein Gesicht hellte sich auf, denn die Schachtel, die er auspackte, war beinahe federleicht. Hastig holte er das zusammengeknüllte Zeitungspapier hervor und warf es zur Seite, bis auf dem Grund ein großes gelbes Kuvert erschien. Er nahm es heraus und sah, dass es das Anmeldeformular enthielt.

Vater und Mutter freuten sich über sein Glück, das nun aus seinen Augen strahlte. Dankbar umarmte er seine Mutter. Ganz besonders aber drückte er seinem Vater die Hand. Und er fühlte sich fast ein wenig schuldig, als er daran dachte, was alles sein Vater nun für ihn in den nächsten Jahren bezahlen müsse.

Doch es musste noch mehr als nur eine Hürde übersprungen werden, bis feststand, dass Arthur das Gymnasium besuchen konnte. Die erste Hürde war die Aufnahmeprüfung. Bei ihr saß Urs neben ihm in einer der beiden vordersten Bänke. Urs saß links gegen die Mitte des Schulzimmers, Arthur rechts bei der Wand. Ein Lehrer hatte ausdrücklich die Schüler gemahnt, nicht bei einem Nachbarn abzuschreiben. Falls jemand gegen diese Regel verstoße, würde er oder sie nicht ins Gymnasium aufgenommen. Sie sollten es gar nicht erst versuchen, denn er und sein Kollege würden ein wachsames Auge auf sie haben.

Am Vormittag standen ein Diktat und ein Aufsatz auf dem Programm. Der Nachmittag war frei.

Am folgenden Tag mussten verschiedene Rechenaufgaben gelöst werden.

Arthur hatte nach beiden Prüfungen ein gutes Gefühl. Beim Diktat hatte er sicher kaum einen Fehler gemacht. Und Aufsätze schrieb er ohnehin gern. Seine Arbeit würde gewiss positiv beurteilt werden. Auch die Rechenaufgaben waren nicht allzu schwierig gewesen. Er hatte alle gelöst.

An einem der folgenden Tage konnten sich alle Kandidaten in der Aula des Schulhauses versammeln. Es war eine gespannte Stimmung in dem bis auf den letzten Platz angefüllten Raum, noch bevor der Rektor hereinkam. Und sie stieg fast ins Unerträgliche an, als die Namen jener, die bestanden hatten, in der alphabetischen Reihenfolge heruntergelesen wurden. Der Rektor las sie langsam mit lauter und deutlicher Stimme. Urs war im Alphabet vor Arthur.

„Baldegger, Urs“, rief der Rektor, und Urs, der neben Arthur saß, atmete erleichtert auf und schaute seinen Nachbarn glückstrahlend an. Wenn Urs aufgenommen wurde, dachte Arthur, dann wäre sicher auch er nicht durchgefallen. Sonst würde er die Welt nicht mehr verstehen. Endlich wurde auch Arthurs Name genannt. Er zeigte kaum eine Regung. Aber er fühlte es, er war der glücklichste Mensch auf der Welt.

Auf dem gemeinsamen Heimweg redete Urs fast ununterbrochen von seinen Zukunftsplänen, während Arthur still, aber glücklich neben ihm herging.

Am Montag der nächsten Woche rief Lehrer Fink, als nach Schulschluss alle hinausstürmten, Arthur zurück.

„Ich habe eine Nachricht von der Kantonsschule erhalten“, fing Herr Fink an.

Arthur spürte, dass es seinem Lehrer nicht leichtfiel, davon zu reden. Was hatte das wohl zu bedeuten? Etwas Schlimmes oder Gutes? Wohl eher das Erstere.

„Einer von euch beiden hat dem andern abgeschrieben“, fuhr Fink fort. „Bei einer Rechnung habt ihr den gleichen Fehler gemacht. Der Rektor der Kantonsschule meint, das könne kein Zufall sein.“

Arthur erschrak. Angst stieg in ihm auf. Das bedeutet wohl, dass beide ausgeschlossenen werden, überlegte er. Er war sich zwar sicher, nicht abgeschrieben zu haben. Das wäre auch nicht so leicht gewesen, denn er saß rechts und Urs links in der Bank. Da konnte er kaum unbemerkt über seine Hand auf sein Blatt schielen. So wie er Urs kannte, würde er ganz bestimmt leugnen. Höchstens seine Unsicherheit und Schamröte könnte ihn überführen. Auch Lehrer Fink musste solche Überlegungen gemacht haben, denn er sprach weiter:

„Wenn du mir sagst, dass du nicht abgeschrieben hast, dann glaube ich dir, dass es die Wahrheit ist. Bei Urs wäre ich nicht so sicher. Also sage mir offen und ehrlich: Hast du abgeschrieben?“

„Nein“ antwortete Arthur. „Ich habe sicher nicht abgeschrieben, das dürfen Sie mir glauben.“ Und dann fügte er nach einem kurzen Nachdenken hinzu: „Ich habe aber auch nicht gemerkt, dass Urs mir abgeschrieben hätte.“

„Dein Wort genügt mir“, sagte Fink und klopfte Arthur, der doch ein wenig ängstlich vor ihm stand, beinahe väterlich auf die Schulter. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich weiß jetzt, was ich antworten werde.“

So kam es, dass Arthur der einzige Schüler seiner Klasse war, der in das Gymnasium eintreten konnte.

Eigenmann“, sagte der Lateinlehrer barsch und warf Arthur das Heft auf die Bank, dass es einen klatschenden Ton gab und Arthur, Schreckliches ahnend, zusammenfuhr. „Eine Zweieinhalb“. Er hielt jetzt nur noch das Heft von Barbara Lätsch in der Hand.

„Eine Zwei“, sagte er und warf auch ihr das Heft auf die Bank.

Hier ging es nicht nach dem Alphabet.

Wenn der Lateinlehrer die korrigierten Klausuren verteilte, dann kamen zuerst die Besten dran. Beni, der Sohn eines Mittelschullehrers, der an der gleichen Schule unterrichtete, war immer der Beste. Sein Heft lag zuoberst, sein Name wurde nicht so vorwurfsvoll genannt, und das Heft wurde ihm in die Hand gereicht, wenn darauf die Bemerkung „eine Sechs“ folgte. Auch das Heft von Peter, dem Sohn eines reichen Kaufmanns, lag meistens weit oben. Eine Fünf war für ihn schon eine schlechte Note. Es war jeweils eine grausame Tortur für Arthur, wenn der Lehrer zwischen den Bankreihen hin und her ging und der Stoß der Hefte immer kleiner wurde. Arthur brachte es ganz selten einmal auf eine Vier.

Für den einst besten Schüler in der Grundschule war dies eine herbe Enttäuschung, zumindest in diesem Fach einer der Letzten zu sein und auf diese Weise vor den anderen Schülern bloßgestellt zu werden. In allen übrigen Fächern war er zwar gut, aber das Latein bereitete ihm Schwierigkeiten. Wohl konnte ihm die Mutter zu Hause die Wörter abfragen, aber bei der Grammatik konnte sie ihm auch nicht helfen. In der zweiten Klasse, als Französisch dazu kam, war dies noch weniger möglich, und im Englischen, wo alles ganz anders ausgesprochen wurde als geschrieben, schon gar nicht. Immerhin gehörte in diesen beiden Sprachen Arthur bald einmal zu den besseren Schülern.

Hans Müller war der einzige Mitschüler, mit dem er sich anfreunden konnte. Er kam aus ähnlichen Verhältnissen wie Arthur. Alle anderen, so vermutete er, hatten zu Hause große Bibliotheken, und ihre Väter waren Akademiker und sprachen eine oder gar mehrere Fremdsprachen. Dasselbe war auch von ihren Müttern, die aus der gehobeneren Gesellschaft stammten, zu vermuten.

„Weißt du“, hatte Hans viele Jahre später zu ihm gesagt, als sie sich wieder einmal getroffen hatten, „die anderen Mitschüler haben alles von ihren Eltern mitbekommen. Wir beide mussten uns alles ganz allein erschaffen.“

Ja, so war es gewesen. Arthur erinnerte sich an eine Episode in einer bereits höheren Klasse. Alle mussten in der Deutschstunde einen Vortrag halten. In den Stunden vorher waren die Meisten schon drangekommen. Sie alle hatten interessante Themen gewählt, trugen etwas vor über ein Gebiet, das in der Schule nicht gelehrt wurde, zum Beispiel über die Geschichte eines Schlosses in Graubünden oder über einen bekannten Gelehrten, Maler oder Musiker. Arthur hielt, als die Reihe an ihm war, einen Vortrag über den Buddhismus. Das Fach Religion war auf dieser Stufe freiwillig. Weil Arthur der Einzige seiner Klasse war, der den Religionsunterricht besuchte, musste er dies zusammen mit den Freiwilligen aus der Parallelklasse tun. Der Religionslehrer hatte interessant und lebendig über alle fremden Hauptreligionen referiert, auch über den Buddhismus. Das hatte ihn angesprochen, und er war sich sicher, später, wenn er Geld haben würde, um sich Bücher zu kaufen, die ihn mehr interessierten als die Schulbücher, würde er sich weiter in die Welt des Buddhismus vertiefen. Nicht dass er etwa den Wunsch gehabt hätte, seine christliche, reformiert-evangelisch geprägte Religion, in der er aufgewachsen war, aufzugeben. Nein, das würde er gewiss nie tun. Und er tat es auch nie.

Zuhause hatte Arthur keine Sachbücher, aus denen er Material für einen Vortrag hätte zusammenstellen können. Er brachte zwar immer vier Bücher, so viele, wie man sich auf einmal ausleihen konnte, aus der Schulbibliothek nach Hause, aber das waren die Klassiker, Schiller, Goethe, Lessing, Gottfried Keller und Konrad Ferdinand Meyer, alles Bücher, welche die anderen zu Hause in den Bibliotheken ihrer Eltern hatten. Arthur verschlang diese Bücher, die ihm eine unbekannte Welt zeigten.

Er schämte sich eigentlich ein wenig, dass er in seinem Vortrag nur mehr oder weniger das wiedergab, was er im Religionsunterricht gehört hatte. Zum Glück wussten die andern davon nichts. Aber dann geschah etwas, das ihn blamierte. Er hatte vom Nirwana gesprochen, und als in der anschließenden Diskussion eine Mitschülerin fragte, ob denn das Nirwana gleichzusetzen sei mit einer Lethargie, wusste er keine Antwort. Er hatte das Wort Lethargie zum ersten Mal gehört.

Zum Glück gingen gerade in diesem Moment die Sirenen los. Einer der Schüler musste aufs Dach steigen, wo aus Holz eine Art Hochstand aufgebaut worden war. Die vier Schüler, die aus verschiedenen Klassen bestimmt worden waren, mussten mit Feldstechern in alle vier Himmelsrichtungen schauen. Erst wenn fremde Flugzeuge gesichtet wurden, mussten die Schüler in den Keller hinabsteigen. Sonst ging der Unterricht wie gewohnt weiter.

Nach der kleinen Unruhe, die durch den Lärm der Sirenen und das Hinausgehen des Schülers entstanden war, sagte der Deutschlehrer:

„Eigenmann, Ihre Mitschülerin hat Sie gefragt, ob das Nirwana mit vollkommenem Vergessen zu vergleichen sei.“ Arthur war dem Lehrer im Stillen dankbar, dass er offenbar seine Verlegenheit von vorhin bemerkt hatte und nun die deutsche Bedeutung für Lethargie verwendete.

Bei dieser Gelegenheit wurde es Arthur wieder deutlich bewusst, dass er aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammte, in der nicht mit solchen Fremdwörtern gesprochen wurde. Das hing ihm an wie ein schwerer Rucksack, den er nie würde ablegen können. Sein Vortrag war, wenn er es recht bedachte, sogar ein Plagiat gewesen, und dann noch das!

Schon zwei Jahre vorher hatte er sich überlegt, was einmal aus ihm werden würde, wenn er die Matura gemacht haben würde. Daran, dass ihm dies gelingen würde, zweifelte wohl kein Lehrer, nicht einmal der neue Lateinlehrer, der in der dritten Klasse unterrichtete. Doch konnte er seinem Vater zumuten, ihm ein Studium in Zürich zu finanzieren? Es gab zwar Stipendien, aber die deckten bei Weitem nicht die Kosten eines Studiums in Zürich, wo er täglich mit dem Zug hinfahren oder sich in der großen Stadt ein Zimmer suchen müsste. Die Ausgaben für die Schulhefte und Bücher in der Kantonsschule waren schon hoch genug für das Budget seines Vaters. Alljährlich gab es zwar einen Büchermarkt auf dem Vorhof der Schule, an dem die älteren Schüler ihre Bücher, die sie nicht behalten wollten, verkauften. Da wurde gefeilscht wie auf einem arabischen Basar. Das eine oder andere Buch konnte Arthur so erwerben, aber manche Bücher waren trotzdem für ihn nicht erschwinglich und wurden ihm von anderen Schülern, die einen höheren Preis zahlen konnten, weggeschnappt. So musste er doch noch viele Bücher in der Buchhandlung kaufen. Unter anderem auch einen teuren Schulatlas. Daheim gab es allerdings einen großen „Dierckes Weltatlas“, den sein Vater in der Sekundarschule gebraucht hatte und am Ende der Schule mitnehmen durfte. Er war schon ziemlich abgegriffen, die eine oder anderes Seite fiel auch schon heraus, und in Asien, Afrika und Südamerika gab es weiße Flecken, bei denen gedruckt stand „Unerforschtes Gebiet“. Die Grenzen der Länder in Europa stimmten auch nicht mehr mit der Wirklichkeit überein. Arthur staunte immer wieder über die rot gefärbten Länder in Asien, Afrika, ja selbst in Nordamerika. Sie zeigten, wie gewaltig das britische Weltreich und wie klein das Mutterland war. Nebst den roten Kolonialgebieten des britischen Imperiums gab es in andern Farben die französischen, portugiesischen und damals auch noch deutschen Kolonien. Arthur hatte schon früher oft in dem Atlas geblättert, aber für die Schule brauchte er eben einen neueren Schulatlas, dazu für den Geschichtsunterricht auch noch einen historischen Atlas, der die Länder und Reiche zeigte, wie sie sich im Altertum und im Mittelalter entwickelt hatten. Das alles kostete viel Geld, auch der Zirkel und die Winkelmaße, die Maßstäbe, die Füllfeder und jeder Bleistift und Radiergummi.

Nein, ein Studium würde er seinem Vater nie zumuten können. Nach vielen Überlegungen stand für ihn fest, dass er in die Handelsabteilung wechseln würde. Mit einem Abschluss würde er sofort einen Beruf ergreifen können und seinem Vater nicht länger auf der Tasche liegen. Alles, was die andern an humanistischer Bildung im Gymnasium lernten, außer Latein und Griechisch, wollte er sich selber anhand von Büchern, die er weiterhin aus der Schulbibliothek beziehen würde, aneignen.

Nun war er auf einmal einer der Besten in der neuen Klasse der Handelsabteilung. Am meisten liebte er den Deutschunterricht. Hier wurde der „Egmont“ von Goethe gelesen, „Der Grüne Heinrich“ von Keller, Theaterstücke wurden einstudiert, Gedichte auswendig gelernt und aufgesagt. Manche Schüler hatten wenig Interesse an solchen Dingen. So war er auch jetzt fast der Einzige der Klasse, der die Schulbibliothek benutzte. Der eine oder andere Schüler holte sich wohl einmal einen Roman, vielleicht von Ernst Wiechert, der gerade en vogue war, doch Arthur stieg immer mit einen Arm voll Büchern von der Bibliothek, die unter dem Dach eingerichtet war, nach unten.

Einmal hatte der Lehrer einen Schüler seinen Aufsatz vorlesen lassen. Der Lehrer bezeichnete ihn als das Musterbeispiel eines gut geschriebenen Aufsatzes. Das nächste Mal schrieb Arthur seinen Aufsatz in einem ähnlichen Stil. Doch der Schuss ging hinten hinaus.

„Eigenmann“, sagte der Lehrer, als er Arthur sein Aufsatzheft zurückgab, „dieses Elaborat, das Sie geschrieben haben ist nichts anderes als ein Plagiat. Sie sollen nicht Ihren Mitschüler Niedermeyer imitieren, sondern Ihren eigenen Stil finden.“

„Ja, so ist es“, denkt Arthur, „und schaut zu seinem Hügel hinauf. „Ich habe nie einen eigenen, unverwechselbaren Stil gefunden. Ich habe mich mal von diesem, mal von jenem Autor beeinflussen lassen wollen, aber nicht einmal das habe ich geschafft. Geschichten und Romane sind immer ein „stilloses“ Erzählen geblieben.

Als Arthur die Schule als zweitbester seiner Klasse abschloss, war sein größter Wunsch gewesen, in einem Verlag zu arbeiten. Doch das gelang ihm erst ein paar Jahre später.

Fern auf dem Hügel sieht Arthur das junge Bäumchen, das ganz oben allein zwischen zwei Wäldchen in einer Mulde am Horizont steht. Von seinem Schreibtisch aus ist es nur wie ein Punkt auf einem Strich zu sehen oder wie ein im Boden steckendes abgebrochenes Streichholz. Zweimal schon ist er mit seiner Freundin über jene Mulde und an den Bäumchen vorbei hinaufgestiegen. Er wollte nicht sterben, ohne wenigstens einmal dort oben gestanden zu haben. Sie hatten nach dem kleinen Baum Ausschau gehalten. Aber aus ihrer Perspektive war er kaum zu erkennen, da er beinahe vom Wald dahinter verschluckt wurde. Aber sie hatten ihn schließlich doch entdeckt, da sich seine grüne Farbe ein wenig vom dunkleren Grün des Waldes abhob. Seither ist ihm das Bäumchen besonders lieb, und immer, wenn er zum Hügel schaut, geht sein Blick zum Horizont. Ehe er vor zwei Jahren den grauen Star am einen Auge hatte operieren lassen, hatte er das Bäumchen selbst mit der Brille nicht gesehen. Jetzt sieht er es bei schönem Wetter sogar ohne die Gläser.

Oft wenn er zum Hügel hinaufschaut, denkt er an seine Vergangenheit. Der Hügel hat ihn durch seine ganze Jugend begleitet. Jetzt, im Alter, ist der Hügel ihm noch näher. Nicht nur emotional. Die Stadt hat sich auf das Land in die Richtung zum Hügel hin ausgebreitet, und er wohnt jetzt ganz am Rand der Stadt.

Er ist schon ein paar Mal an dem Haus, in dem er als Knabe und junger Mann gelebt hat, vorbeigegangen. Seltsamerweise war in jenem Haus genau zum Zeitpunkt seiner Suche eine Wohnung ausgeschrieben. Als er vor dem Haus stand, hatte er gesehen, dass genau die Wohnung im zweiten Stock, in der er gewohnt hatte, leer stand. Die Straße ist verbreitert worden und reicht jetzt bis zu zwei oder drei Handbreit an das Haus heran. Kein Gartenhäuschen, kein Rosengärtchen mehr, auch keine Spaliere vor und hinter dem Eingang. Seine Freundin war bei ihm, und er zeigte ihr das Fenster, hinter dem einst sein Schlafzimmer war und von dem aus er oft den Vollmond hinter den Hügeln hatte aufgehen sehen. Das graue, schmucklose Haus macht einen traurigen, verlassenen, beinahe toten Eindruck. Die Fenster, auch die der anscheinend noch bewohnten Etagen, sind meist ohne Vorhänge, schwarze, fast unheimliche Löcher, hinter denen sich dunkle Schicksale abzuspielen scheinen. Vermutlich wohnen jetzt Ausländer in dem Haus. Bestimmt hätte er die Wohnung bekommen, wenn er sich um sie beworben hätte. Der wehmütige Gedanke an die Vergangenheit und sie wieder mit der Gegenwart zu verbinden, war jedoch rasch verflogen. Das Haus hat bestimmt keinen Aufzug, in seinem Alter wollte er kein Risiko eingehen, und überhaupt, so wie es aussieht, scheint das Haus bald dem Abbruch geweiht zu sein.

Eine Fabrik gegenüber dem Haus hat einem riesigen Wohnblock weichen müssen. Daneben sind zwei kleinere Wohnblocks gebaut worden, welche die Aussicht auf die Hügel von Arthurs ehemaligem Zimmer aus vollends verdecken.

Ein wenig Wehmut war schon in ihm aufgestiegen. Auf dieser Straße hatte er im Winter mit den Nachbarsbuben Eishockey gespielt und im Sommer Verstecken und Völkerball, auch mit den Mädchen. Von hier aus hatte er mit seinen Freunden das Revier, ihre kleine Welt durchstreift, bis hinauf zum nahen Wald. Hier, auf der Straße und den Hinterhöfen, hatte er sich zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt. Doch jetzt: Sina, seine Freundin, hatte ihn von der Seite angeschaut und ihm angesehen, dass er in die Vergangenheit versunken war und verständnisvoll ihn eine Weile darin gelassen.

Das ist damals gewesen, ehe er in die Wohnung am Stadtrand gezogen ist. Wenn er jetzt zu dem Hügel schaut, dann denkt er zurück an das, was er in seinem Leben außerhalb seines Berufs geschaffen hat. In jenem jetzt fast toten Haus seiner Jugend hatte er sein erstes Buch geschrieben, eine Novelle – nach einem seiner jährlichen Aufenthalte in Rom. Sie handelte von jener Pension, in der er jeweils abstieg, und in der während des Krieges deutsche Soldaten einquartiert waren, während das Ehepaar, das die Pension führte, in einem gefangenen Zimmer ihren Schwiegersohn und dessen Freund versteckte, aber auch von dem einen Soldaten, der zu dem Massaker an über dreihundert Römern in den Fosse Ardeatine abkommandiert worden war und daran zerbrach und sich das Leben nahm.

Es sei das beste Buch, das er geschrieben habe, glaubt er selber auch, genauso wie einige seiner Leser, unter ihnen auch seine älteste Tochter.

„Glaub mir“, hat sie ihm einmal geschrieben, „von keinen deiner Bücher war ich so betroffen wie von diesem. Es ist dein bestes Buch.“

Es gibt noch einige andere Bücher, auf die er stolz ist: ein historischer Roman, einige seiner Geschichten, die in verschiedenen Bänden in einem deutschen Verlag erschienen, zwei oder drei kleine unveröffentlichte Romane und Erzählungen, die er für niemand anders als seine Freundin schrieb.

Sein Arbeitgeber, dem er damals sein erstes Buch geschenkt hatte, lobte ihn und verglich ihn mit einem berühmten deutschen Autor. Nach der Veröffentlichung seines zweiten Buches, einer Kindergeschichte, hatten ihm Kinder kleine Briefe und Zeichnungen geschickt. Mit einer späteren Neuauflage und mit drei weiteren Kinderbüchern hat er zudem vielen tausend lesefreudigen Kindern manche glückliche Stunde geschenkt.

Den ersten und einzigen Gedichtband hätte er wohl eher nicht veröffentlichen sollen. Auf einige Gedichte ist er allerdings auch jetzt noch stolz, andere betrachtet er als „Jugendsünden“. Von einigen jungen Mädchen weiß er, dass ihnen die Gedichte gefallen haben. Zwei oder drei seiner Schriftstellerkollegen hielten die Gedichte für pubertäre Gefühlsduselei und überhaupt zu konservativ. Arthur ließ sich nicht beirren. Er glaubt, dass jene Kollegen ein Gedicht nur dann für gut und modern hielten, wenn darin irgendwelche englische Wörter oder Namen wie Coca-Cola oder gar Wörter aus der Fäkalsprache vorkamen.

Heute würde er einige jener Gedichte wieder in einem Band veröffentlichen, zusammen mit Gedichten, die später entstanden waren und von denen er glaubt, sie würden auch der Literaturkritik standhalten können.

Auch das Buch, das er über seine Jugend geschrieben hat und wie er damals die Kriegsjahre erlebte, hat bei vielen Lesern eigene ähnliche Erinnerungen geweckt. Als Zeugnis jener Zeit hält er das Buch auch heute noch für lesenswert.

Wenn er aber an seine Romane denkt, dann muss er sich eingestehen, dass er immer nur sein eigenes Leben in verschiedenen Varianten und Verfremdungen dargestellt hat. Ihm fehlte die Fantasie, um etwas Größeres gleichsam aus dem Nichts zu schaffen. Zudem sind alle seine Romane einfach Erzählungen ohne tiefere philosophische Betrachtungen und ohne gesellschaftliche Relevanz. Viel Pech mit Verlegern, die entweder Pleite machten oder verstarben, verhinderte, dass seine Bücher in größerer Anzahl in den Buchhandel kamen und sein Schriftstellername über eine kleine Leserschaft hinaus bekannt wurde. Vielleicht ist es gut, dass seine Bücher nicht den Kritikern in die Hände fielen. Er hat nicht für die Literaturkritik geschrieben, auch nicht, wenigstens in den späteren Jahren, um berühmt zu werden. Er freut sich, wenn einfache Leute ihm sagen, seine Bücher könne man wenigsten – im Gegensatz zu vielen anderen – lesen und verstehen, freute sich seinerzeit auch, wenn er von einer Bibliothek oder sonst wem eingeladen wurde, aus seinen Büchern zu lesen, und wenn ihn dann die Zuhörer mit ehrlichem Beifall und dem Kauf seiner Bücher belohnten.

Manchmal denkt er, was aus ihm geworden wäre, wenn er in einer Akademikerfamilie aufgewachsen wäre wie die meisten seiner Kameraden im Gymnasium. Wäre er dann ein besserer Schriftsteller geworden oder wenigstens einer, der nicht schon zu Lebzeiten der Vergessenheit anheimgefallen ist? Liegt es an dem schweren Rucksack, den er auf seinem Rücken immer noch herumträgt, dass er keine großen Gedanken in seine Romane einflechten konnte, Sätze, die man später bei irgendwelchen Gelegenheiten oder in literarischen Zeitschriften zitieren kann?

Natürlich hätte er sich keine anderen Eltern gewünscht. Doch es gibt auch Schriftsteller, die in noch ärmlicheren Verhältnissen aufgewachsen sind und berühmt wurden. Vielleicht war seine Jugend zu behütet, zu unproblematisch und zu ruhig verlaufen. Muss man in der Gosse oder in einer armen, zerrütteten Familie aufwachsen, sich wie mit einem gewaltigen Schrei aus dem Gefängnis seiner Jugend befreien, um ein anerkannter Schriftsteller zu werden?

„Gehen wir heute einmal auf den Hügel?“, hatte ihn Sina gefragt, als sie, was sie fast jede Woche einmal tut, ihn in seiner Klause besuchte. „Das Wetter ist heute so schön, und du wolltest doch endlich einmal zu jener Höhe hinaufsteigen und von dort oben hinabschauen.“

„Als sähe ich auf mein ganzes Leben zurück“, erwiderte er. „Ja, ich bin bereit, gehen wir!“

Sie fuhren in ihrem Auto ins Tal hinab und auf der andern Seite hinauf auf der Straße, von der er ein Stück von seinem Fenster aus sehen kann, zu dem Dorf auf der Rückseite des Hügels. Auf einem langgezogenen Weg stiegen sie in die Höhe. Erst als sie um die Kuppe unter dem Wald hinauf zur Mulde mit dem Bäumchen schritten, waren sie auf jenem Teil des Hügels angelangt, den man von Arthurs Fenster aus sehen konnte. Es war Dezember gewesen, doch es lag noch kein Schnee. Als sie auf der Rückseite des Hügels hinabstiegen, sahen sie in der Ferne im Osten einen Baum, an dem Dutzende von roten Lichtern glänzten. Hatte ein Bauer an einem Apfelbaum bereits weihnachtliche Leuchtketten aufgehängt?

„Ich glaube, es sind Äpfel, die in der Abendsonne leuchten“, sagte Sina.

„Das ist doch unmöglich“, meinte Arthur. „So hell können nur rote Glühbirnen strahlen. Zudem sind doch alle Äpfel im Dezember schon gepflückt worden.“

Kurz entschlossen lief Sina über die abfallende Wiese zu dem Baum und kehrte mit einem roten Apfel in der Hand zurück wie Eva im Paradies zu Adam.

Noch eine Weile warteten sie Hand in Hand, bis die Sonne hinter der Kuppe verschwand und die „Lichter“ am Baum löschte.

Für Arthur ist der Hügel wie ein heiliger Berg, wie der Kailash, den Sina gerne einmal umrundet hätte. Dass er seinen heiligen Berg mit ihr zusammen „umrundete“ und mit ihr das Untergehen der Sonne im Osten an dem leuchtenden Apfelbaum beobachten konnte, war für ihn ein ganz besonderes Erlebnis. Auch sonst sind die Schönheiten in der Natur, sei es nur in einer Blume, einem Insekt oder an einem von mit Schnee bedeckten Gipfeln umrahmten Bergsee, die sie gemeinsam erleben, immer wieder glückliche Momente.

Sina wohnt in einem Tal hinter dem Hügel. Wenn Arthur in seine Richtung schaut, geht sein Blick immer auch weiter über den Hügel hinweg zu seiner Geliebten.

Jeden Morgen, wenn er den Vorhang zurückgezogen und sich an seinen Computer gesetzt hat, schaut er zu dem Hügel und schickt ihr einen Morgengruß. So erfährt sie, dass „die Zeit zum Gehen“, wie er in seinem Gedicht geschrieben hat, noch nicht gekommen ist, dass er lebt und an sie denkt. Ein Buch mit Texten für jeden Tag regt sie zum Weiterdenken an. Arthur versucht, seine Gedanken in schöne Sätze zu formen. Wenn ihre Antwort eintrifft, denkt er oft, dass sie die Schriftstellerin, die Denkerin sei, nicht er. Wenn er glaubt, ein Thema zu Ende gedacht zu haben, so weiß sie immer noch etwas draufzusetzen, das ihn erstaunt.

Die junge Sina hat sich seinerzeit, vor mehr als einem halben Jahrhundert, nicht in ihn, den um einige Jahre älteren Mann verliebt, weil er Gedichte und schon einige kleine Bücher geschrieben hatte. Sie wusste damals noch nichts davon. Sie hat ihn um seiner selbst geliebt. Der Umstand, dass Arthur bereits verheiratet war, hatte dazu geführt, dass sie sich mehrmals getrennt und wieder gefunden hatten, schließlich aber ganz auseinandergingen, ohne jedoch die Liebe in ihrem Herzen erlöschen zu lassen. Erst vor vier Jahren haben sie sich nach langer, langer Zeit wieder getroffen. Und die Liebe, die in beiden so lange überdauert hat, dürfen sie nun endlich miteinander leben.

Hätte Arthur schon vor bald sechzig Jahren so kritisch über viele seiner Gedichte und seiner Bücher gedacht wie heute, hätte er wohl einige nicht geschrieben oder zumindest seinen Mitmenschen vorenthalten und in einer Schublade oder einer großen Truhe verborgen, so wie Sina es machte mit seinen Briefen aus früheren Zeiten und anderen sichtbaren Zeichen seiner Liebe.

Wenn er Sinas Mails – er nennt sie lieber „Briefe“ – liest, denkt er manchmal, sie sei eine kreative Denkerin, die aus ihrem Inneren schöpft, während er nur ein Erzähler ist, der die Dinge beschreibt. Seine Romane seien nichts als Erzählungen, Beschreibung von äußeren Ereignissen. Vielleicht, denkt er, habe er unbewusst deshalb angefangen, historische und biblische Romane zu schreiben. Da konnte er in Sachbüchern und im Internet forschen, was historisch, oder bei der Bibel, was dort festgelegt war. Manche Orte, mit denen seine historischen Figuren verbunden waren, hat er auf Reisen kennen gelernt. Über diese und jene, die er nicht selbst gesehen hatte, forschte er, wie sie zu jenen Zeiten aussahen. Kein Tempel und kein Tor oder sonst ein Gebäude durfte er beschreiben, das erst später gebaut wurde. Solche Fehler durften ihm nicht unterlaufen. Er legte grafische Darstellungen an, „Lebenslinien“ von Zeitgenossen der historischen Gestalt, die er beschrieb, damit er erkannte, wer wann und wie lange zur gleichen Zeit oder nicht gleichzeitig gelebt hatte. Dann konnte er seiner Fantasie und Kreativität, die er sonst nicht zu besitzen glaubte, freien Lauf lassen. So konnten beispielsweise aus einer kleinen, zehn Zeilen umfassenden alttestamentlichen Bibelstelle fünfzig Seiten seines Romans werden. Aber auch da erzählte er doch nur ausführlicher, was in kurzen Sätzen vorgegeben war. Aber er liebte es, sich in die Geschichte und Kultur und Lebensweise der alten Ägypter, der Babylonier oder Israeliten mit Hilfe der Literatur von Historikern und Archäologen einzuarbeiten und sich in jene Epochen versetzen zu lassen. Es war jeweils, als wäre er mitten drin. Er sah die Mauern der Städte, die Tore und Tempel, teils aus eigener Anschauung, teils aus Bildbänden oder dem Internet vor sich, er ging mit Echnaton durch Achet Aton, mit Moses durch Pi Ramesse, mit Paulus durch Ephesus und das alte Korinth und alle anderen Orte in Kleinasien, mit Jesus durch Jerusalem, mit Abraham durch die Stadt Ur und stieg mit ihm auf die Zikkurat zu den Priestern des Mondgottes Nanna. Seine Gabe der Intuition erlaubte es ihm, sich in die Menschen, ob Herrscher oder Apostel oder die einfachen Leute aus dem Volk der damaligen Zeit hineinzuleben. Besonders gefreut hatte ihn die Stelle in der Rezension einer Fachzeitschrift über ägyptische Kultur, in der geschrieben stand, seine Schilderung der damaligen Verhältnisse und die historischen Zusammenhänge in seinem Echnaton-Roman seien durchaus glaubhaft.

Auch in seinem Kriminalroman, den ein Zeitungsverleger, der den Krimi in seiner Zeitung als Vorabdruck erscheinen ließ und ihn ein Kabinettstück der Kriminalliteratur nannte, hatte er sich in die Protagonisten hineingelebt und ihr Handeln aus ihrer Psyche heraus darzustellen versucht. So schlecht waren diese Bücher wohl doch nicht. Gut, bei dem Krimi hatte er lebende Vorbilder gehabt. Damals war es einmal zu einer komischen Situation gekommen. Einer seiner guten Bekannten hatte ihm gesagt, er sei stolz, sich in dem Roman verewigt zu sehen. Er hatte sich mit dem Vater des vermuteten jugendlichen Täters identifiziert, dabei hatte Arthur einen ganz anderen Menschen als Vorbild genommen.

Jener Verleger, der seinen Krimi gelobt hatte und der jedes Jahr ein Weihnachtbüchlein für seine Kunden mit Weihnachtsgeschichten herausgab, meinte auch, Arthurs Weihnachtsgeschichten könnten durchaus mit denen berühmter Autoren der Weltliteratur verglichen werden. Die Nachfrage nach seinen Weihnachtsgeschichten war dann auch tatsächlich recht groß gewesen.

Aber was war denn mit seinen anderen Romanen, die ein Wiener Verleger herausgebracht hatte und der starb, ehe alle Bücher im Buchhandel erschienen? Der Verlag wurde aufgelöst und alle Exemplare, welche die Autoren nicht selber noch kauften, wurden von den juristischen Nachlassverwaltern kurzerhand zum Eingestampftwerden verurteilt. Welch grausames Verfahren! Fast kam es den Bücherverbrennungen gleich, wenn auch aus einem anderen Motiv.

Es gab keine Besprechungen von Arthurs Büchern in der Presse. Sie wurden demzufolge weder gelobt noch zerrissen, nur von seinen Lesern erhielt er Positives zu hören. Doch er selbst wusste, diese Bücher erhielten viel Autobiografisches. Er hatte stets aus seinem bewegten Leben geschöpft, hatte es verfremdet, aber nichts Kreatives geschaffen. Nein, große Literatur waren diese Romane nicht. Oft hatte er beim Schreiben versucht, kreativ zu sein, gescheite Gedanken zu formulieren, aber dann kam er wieder ins Erzählen, seine Finger flogen nur so über die Tasten.

Ja, der Kriminalroman, der hätte ein Erfolg werden können, wäre sein Verleger nicht gestorben. Hatte nicht jener andere Verleger, der seinen Krimi in Fortsetzungen in der Zeitung veröffentlicht hatte, von einem Kabinettstück gesprochen? Der Krimi wäre vielleicht sogar verfilmt worden. Doch an wen sollte er sich wenden? Er hatte keine Beziehung zu Filmschaffenden.

Arthur war immer ein Einzelgänger gewesen. Er hatte sich nie um die Aufnahme in einen Schriftstellerverein bemüht und auch nie mit andern Autoren einen Brief-wechsel geführt, außer mit jenem deutschen Oberstudienrat, der skurrile Kurzgeschichten schrieb und sie selber in kleinen Auflagen veröffentlichte und durch Arthurs kleines Buch mit „Wunderlichen Geschichten“ auf ihn aufmerksam wurde. Die beiden tauschten eine Zeitlang ihre Bücher aus, und der Oberstudienrat ging immer wieder auf Arthurs neue Veröffentlichungen ein, lobte sie meistens und ermunterte ihn immer wieder, trotz der Misserfolge mit den Verlegern, das Schreiben nie aufzugeben. Ja, auch mit einem Schriftsteller aus der DDR hatte er korrespondiert, den er an einem Treffen nicht linientreuer Autoren in Ostberlin, drei Wochen vor dem Bau der Mauer kennen gelernt und in ihm eine verwandte Seele gefunden hatte. Dieser Autor, der sich selber nicht politisch und gesellschaftlich äußern durfte und sich auf das Schreiben von Gedichten und – er war Förster - von Schilderungen der Natur in kleinen Erzählungen beschränkte, hatte an Arthurs Büchern bemängelt, dass er seine Freiheit nicht nutze, um das politische Leben seines Landes zu beschreiben. Sowohl die Briefe des einen wie des anderen hatte Arthur – was er heute bedauert – nicht aufbewahrt.

Hat eines seiner Bücher je etwas bewirken können?, fragt sich Arthur Eigenmann. Wird einmal etwas bleiben? Da erinnert er sich plötzlich an etwas, das ihm ein kurzes, fast ein wenig abschätziges Lächeln entlockt. Eigentlich gar kein Lächeln, nur ein „hmm“, ein kleiner Schluckauf. Warum handelt Ihr Krimi in Hombrechtikon und nicht in unserem Dorf?, ist er gefragt worden, als er damals in der Bibliothek seiner Wohngemeinde daraus vorlas. Warum nicht auch von einem Mord schreiben, der in unserem Dorf sich abspielt?, dachte Arthur. Da bietet sich doch der Wasserfall in der kleinen Schlucht, die gleich ein paar Schritte hinter unserem Haus beginnt, für eine solche Tat geradezu an. Gedacht – getan. Da wird also eines Nachts ein Mann vom schmalen Weg, der ganz nah über dem Wasserfall hinwegführt, hinuntergestürzt. Arthur schreibt den Krimi in der Ich-Form und ist selbst der Täter. Er ist ein wenig stolz darauf, denn das hat er sonst noch nie bei einem Krimi gesehen. Er schickt das Manuskript dem Verleger, der seinen „Mord in Hombrechtikon“ veröffentlichen will, und bittet ihn, den kleinen Krimi, den er „Tod am Wasserfall“ nennt, dem andern noch anzuhängen. Ein Exemplar des Buches schenkt er dem Gemeindepräsidenten. Als Arthur das nächste Mal durch die kleine Schlucht geht und beim Wasserfall in die Höhe steigt, sieht er, dass zwischen dem Weg und dem steil abfallenden Felsen, über den der Bach hinabstürzt, ein Zaun errichtet worden ist. Das einzige sichtbare Zeichen, dass ein Buch von Arthur etwas Gutes bewirkt hat. Aber nicht einmal das hat Bestand vor Arthurs bilanzierender Erinnerung. Denn ein Jahr später hat sich trotz des Zauns ein Verzweifelter hinabgestürzt. Es jedoch ist nicht anzunehmen, dass er Arthurs Krimi gekannt hat.

Nachdem Arthurs letzter Verlag seinen Versprechungen nicht nachgekommen war, hatte er keinen neuen Verleger mehr gesucht. Er wusste, wie viele Verlage angeschrieben, wie viele Kurzdarstellungen und Probeseiten an die Verlage versandt werden müssten, bis man auch nur von einem oder zweien eine abschlägige Antwort erhielte. Er kannte sich aus, er war ja vom Fach. Nein, bis vielleicht einer an der ausgeworfenen Angel hängen blieb, würde er dies gar nicht mehr erleben können. So fing er an, seine Geschichten in ganz kleinen Auflagen selbst herauszugeben, als Geschenke für seine Freunde und einige treue Leser. Schließlich schrieb er nur noch für seine Freundin, die er zu ihrem Geburtstag oder zu Weihnachten mit einer neuen, schön eingebundenen Erzählung überraschte. Manchmal gelang ihm auch ein kleines Gedicht, wie jenes über den Hügel, den er jetzt, während er diese Zeilen schreibt, durch das Fenster seiner Klause sieht.

Er ist nicht verbittert, er grämt sich nicht mehr über die literarische Welt, die von seinen Büchern kaum Notiz genommen hat, verübelt es ihr nicht und niemandem.

Nicht einmal jenes kleine Sachbuch, von dem das Börsenblatt des deutschen Buchhandels meinte, es müsste in hunderttausend Exemplaren verbreitet werden, brachte es zu einer zweiten Auflage.

Arthur ist jetzt allein schon glücklich, wenn er seine Freundin mit seinen literarischen Ergüssen glücklich machen kann. Sie liebt seine Gedichte und seine Erzählungen, aber sie liebt ihn nicht wegen dem, was er für sie in literarischer Form schreibt, sondern vielmehr wegen dem, was er ihr jeden Tag als Zeichen seiner Liebe als elektronischen Brief übermittelt, vor allem aber liebt sie ihn um seiner selbst willen, so wie sie ihn vom ersten Tag, von der ersten Begegnung vor über fünfzig Jahren an – auch während der langen Jahre der von beiden selbstgewählten Trennung – geliebt hat.

Arthur beendet den kleinen Rückblick auf sein Leben und stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch. Er hat die Finger vor seinem Mund ineinander verschlungen wie ein Beter, stützt mit den Daumen sein Kinn und schaut andächtig zu dem Hügel. Kein Sonnenstrahl trifft die Hänge und die Wälder. Er sieht am Horizont das alleinstehende Bäumchen und lächelt still vor sich hin. Viel Liebe hat er in seine Schriften hineingelegt. Sein ganzes Leben war Liebe, Liebe für die Frau, die er gesucht und erahnt und gefunden hat, auf die er Jahre und Jahrzehnte verzichten musste und die er am Abend seines Lebens wieder gefunden hat, gefunden, weil sie nie verloren war, weil sie vielleicht von Ewigkeit her füreinander bestimmt waren:

Sina und Arthur

Der Hügel

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