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Vater Konrad und seine Kinder
ОглавлениеEs begann an jener Weihnacht, als Manfred seinem Vater drei Flaschen Wein schenkte.
Die Familie – es war eigentlich keine intakte mehr, sondern eine zerrissene und deshalb gar nicht als solche zu nennen – fand sich bei der zweitjüngsten Tochter von Konrad, dem Familienoberhaupt, zusammen. Auch Oberhaupt darf nicht als die Familie beherrschende Instanz aufgefasst werden, denn Konrad selbst würde sich nicht als Oberhaupt bezeichnen, so wenig wie seine Nachkommen und schon gar nicht wie seine geschiedene Frau, mit der ihn zwar seit der Scheidung eine, mehr von ihr aus als Freundschaft empfundene Beziehung verbindet. Für ihn ist sie einfach die Mutter seiner Kinder. Nein, Konrad war einfach der Älteste von allen. Außer ihm befand sich in dieser Weihnachtsgesellschaft die bereits erwähnte geschiedene Ehefrau Klara, die ebenfalls bereits bekannte Tochter Anna mit ihrem Mann und den zwei Kindern, zwei Knaben von vier und sechs Jahren, die älteste, kinderlose Tochter Sabine, die mit ihrem Mann aus Wien zu diesem Fest hergereist war, und Manfred, der einzige und noch unverheiratete Sohn.
Die jüngste Tochter, Claudia, die durch Brasilien getourt war und in einem Heim für sozial geschädigte Kinder als Hilfe einen vorübergehenden Job gefunden hatte, war wegen Unabkömmlichkeit verhindert und hatte sich mit einem kurzen Gruß entschuldigt.
Beim Essen saß Konrad neben Klara, die er seinerzeit nicht aus Liebe, sondern weil er ihr nicht durch eine Trennung wehtun wollte, geheiratet hatte. Man hätte Klara auch das heimliche Oberhaupt der Familie nennen können, war doch sie es, die ständig mit ihren Kindern in telefonischem Kontakt stand und so zumindest die jüngere Generation der Familie zusammenzuhalten versuchte. Sie war es auch, die beim Essen, das mit einem Tischgebet eröffnet worden war, das Gespräch führte.
Die beiden kleinen Kinder wurden ungeduldig, wollten vom Tisch weggehen und die Geschenke auspacken gehen, die sie unter dem Christbaum im Zimmer nebenan bereits erspäht hatten. Doch ihr Vater forderte sie auf zu bleiben, was sie unwillig befolgten.
Nachdem dann doch die Kerzen am Christbaum leuchteten, wurde Vater Konrad wie jedes Jahr gebeten, die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium vorzulesen, dann wurde ein Weihnachtslied gesungen, bevor endlich – die aufgeregten Kinder konnten es kaum mehr erwarten – die Geschenke verteilt wurden.
Als alle Kinder und auch die Erwachsenen beschenkt waren, erhob sich Manfred, ging in eine Ecke des Zimmers und trug eine Schachtel zum Tisch, aus der er neun Flaschen Wein herauszauberte. Die unterschiedlichen Flaschen waren nicht festlich verpackt, auch nicht mit einer schmückenden Masche um den Flaschenhals versehen. Er stellte sie einfach, je drei, vor seinen Vater und seine beiden Schwäger hin auf den Tisch. Noch nie zuvor hatte Manfred seinem Vater eine Flasche Wein geschenkt oder sonst ein alkoholisches Getränk, zu Weihnachten nicht und schon gar nicht zu seinem Geburtstag.
Die eine Flasche vor ihm war ein spanischer Rioja, die andere ein italienischer Montepulciano und die dritte ein französischer Beaujolais. Alles gute, aber nicht teure Weine, stellte Vater Konrad fest. Aber warum schenkt mir Manfred drei Flaschen Wein? Ich bin kein Weintrinker. Manfred weiß das. Manchmal in Gesellschaft trinke ich gerne ein Glas Wein. Aber seit ich allein lebe, habe ich kein Bedürfnis nach Wein. Wein muss man mit Freunden trinken. Allein macht es melancholisch. Wenn man nicht mit jemandem anstoßen kann, erinnert es einen, dass man allein ist. Nur Melancholiker trinken Wein, wenn sie allein sind.
Manfred ist sicher kein Melancholiker. Er ist dreißig Jahre alt und immer noch Junggeselle. Ich habe ihn selten Wein trinken gesehen. Mag sein, dass er sich einen kleinen Vorrat hält für seine Gäste. Junge Menschen haben gerne Gesellschaft. Die Jungen von heute trinken Bier, wenn sie beisammen sind. Sie trinken es aus der Flasche. Manfreds Freunde sind anscheinend keine Biertrinker, die aus der Flasche trinken. Da ist es schon möglich, dass Manfred mit ihnen gerne einmal ein Glas Wein trinkt. Die Weine, die er seinem Vater und den Schwägern geschenkt hat, hat er sicher nicht extra als Weihnachtsgeschenke gekauft. Es scheint so, als wollte er seinen Vorrat loswerden. Ist Manfred Abstinent geworden?
Konrad fragt nicht. Als die Weihnachtsfeier vorbei ist, steckt Konrad die Flaschen in eine Tragtasche, die ihm sein Sohn gereicht hat, verabschiedet sich von allen und geht nach Hause, sorgfältig bedacht, die Tasche nirgends anzuschlagen, weder im Zug noch im Bus oder daheim, wenn er die Tür zu seiner Zweieinhalbzimmerwohnung öffnet. Auf der Heimfahrt hat er immer wieder daran denken müssen, was wohl hinter diesem ungewohnten Weingeschenk steckt.
Ein halbes Jahr später löst sich das Rätsel. Manfred hat seinen Vater zu einem Essen eingeladen. Nicht bei sich daheim, sondern in einem bekannten Ausflugsrestaurant in der Höhe, wo man einen schönen Rundblick auf das alte Städtchen und das ganze Land bis zu den Alpen hat. Konrad kommt diese Einladung seltsam vor. Genau wie das Weihnachtsgeschenk, an das sich Konrad jetzt erinnert. Zwei Flaschen stehen bei ihm immer noch verschlossen in einem Küchenschrank. Eine hat er mit einem Freund zur Hälfte geleert. Die andere Hälfte hat er allein an den zwei nächsten Tagen zum Mittagessen getrunken.
Auf irgendeine Überraschung gefasst, unternimmt Konrad den Weg an gepflegten Gärten vor den Einfamilienhäusern vorbei, die in der Vormittagshitze dieses wolkenlosen Sommertags wie verlassen dastehen. Hinter den letzten Häusern geht die Autostraße durch Wiesen und Äcker. Manfred hat seinen Veston ausgezogen, hat seinen Zeigfinger durch die Aufhängung gesteckt und den Veston hinter sich auf den Rücken geworfen und trägt ihn so, bis ihm der Zeigfinger wehtut und er den Veston von der linken auf die rechte Seite wirft.
Nachdem Konrad in eine schmalere Nebenstraße eingebogen hat, erreicht er nach einer halben Stunde Aufstieg an der glühenden Sonne sein Ziel. Als er im großen Garten des Restaurants unter den Kastanienbäumen nach seinem Sohn sucht, sieht er, dass Manfred nicht allein ist. Eine schwarzhaarige, dunkelhäutige Frau sitzt bei ihm am Tisch. Südamerikanerin denkt er sofort. Nicht dass er etwas gegen Südländerinnen gehabt hätte. Im Gegenteil, er findet sie schön. Der Schweiz mit den vielen verbohrten Schweizern, die am liebsten gar keine Fremden ins Land ließen, täte eine Blutauffrischung gut. Konrad ist gar kein Rassist. Allerdings, wenn sein Sohn eine Schwarze heiraten würde, was wäre dann? Wäre mir das egal?, fragt er sich, während er sich durch die Tische und Bänke zwängt. Die beiden Kulturen wären doch zu weit auseinander, als dass eine ungetrübte Beziehung entstehen könnte. Man hört doch immer wieder von solchen zerbrochenen Ehen, wobei meistens um die Kinder ein Kampf geführt wird. Das ist alles, was er denkt. Zu mehr reicht es nicht, denn er steht bereits vor seinem Sohn und seiner schönen, aber ein wenig schüchternen Begleiterin.
Manfred stellt sie seinem Vater als seine Freundin und zukünftige Frau vor. Später erfährt er, dass sie aus Bolivien stammt. Ähnliche Gedanken wie vorhin flackern durch seinen Kopf, ohne darin etwas anzuzünden, denn Manfred zielt in seinem Gespräch in eine ganz andere Richtung.
Vater Konrad weiß, dass sein Sohn in einem Musikaliengeschäft arbeitet. Durch seine Arbeit in dem Geschäft, so sagt ihm Manfred, habe er Betty kennen gelernt. Eines Tages nämlich, seien zwei Männer von der Kirche der Heiligen der Letzten Tage – du kennst sie wohl eher unter dem Namen Mormonen – in das Geschäft gekommen, weil sie eine Orgel für ihr Gemeindehaus kaufen wollten.
Weißt du, fährt Manfred fort, ich habe schon seit der Konfirmation nach etwas gesucht, das mich spirituell mehr ergreift als die Predigten unserer Pfarrer in der reformierten Kirche. Ich habe auch den Buddhismus, alle anderen östlichen Religionen studiert, aber jetzt, nachdem die beiden Männer mich in ihre Gemeinde eingeladen haben, weiß ich, wo ich das finden kann, wonach ich gesucht habe – einen lebendigen Glauben, der in der Gemeinschaft, aber auch in der Familie gelebt wird. Ich bin der Kirche der Heiligen der Letzten Tage beigetreten. Und dort habe ich Betty kennen gelernt.
Konrad ist, so kann man sagen, ein gläubiger Christ, ein reformierter Christ, der ab und zu in die Kirche geht. Er selbst hat auch als junger Mann buddhistische Bücher gelesen. Er hat sich in Büchern auch über die Sekten schlau gemacht.
Von all den Sekten, denkt er, ist die Kirche der Mormonen ihm noch die sympathischste. Er hat Mormonen gekannt und weiß, dass sie sehr familienfreundlich sind. Wenn nur das Buch Mormon nicht wäre. Dass Manfred daran glaubt, kann er nicht verstehen. Manfred war doch immer ein Mensch, der seine Vernunft gebraucht hat. Aber welcher Vater kann schon in die Seele seines Sohnes schauen? Er war immer ein eher stiller Mensch, der alles, auch die Trennung seiner Eltern, still in sich selbst verarbeitet hat. Wie kann er glauben, dass das Buch Mormon von einem Engel auf die Erde gebracht worden sei?
Jeder Mensch muss selber wissen, wohin er gehört und was er glaubt, sagt sich Konrad. Es hat keinen Sinn, seinen Sohn davon abzuhalten. Ohnehin ist es schon zu spät. Gutheißen kann er es nicht. Aber er akzeptiert es stillschweigend. Er hätte viel zu Manfreds Entscheidung zu sagen gehabt. Aber er will ihn nicht in eine Diskussion über Religion und Glauben verwickeln, schon gar nicht in der Gegenwart seiner Freundin.
Die Mormonen trinken keinen Alkohol, das weiß er, keinen Schwarztee und rauchen nicht. Jetzt erinnert sich Konrad, dass er seinen Sohn seit längerer Zeit nie mehr mit einer Zigarette im Mund gesehen hat. Na ja, schlecht ist das allemal nicht. Und nun weiß er auch, warum Manfred an Weihnachten all seinen Wein verschenkt hat.
Die nächste Überraschung trifft Konrad ein Jahr später wie ein Doppelschlag auf beide Backen als seine älteren Töchter, Sabine und Anna, ihm erklärten, sie würden zum Katholizismus übertreten.
Von der älteren kann er das ja noch verstehen. Sie lebt in einem katholischen Land, wohnt gerade vis-à-vis einer katholischen Kirche – die evangelische sei eine Stunde entfernt –, ist mit einem katholischen Mann verheiratet, wenn auch dieser nie eine Kirche von innen sieht, außer bei Hochzeiten oder Beerdigungen in der Verwandtschaft. Er und Sabine haben auch nicht kirchlich geheiratet.
Sabine war als Kind sehr verletzlich. Doch Vater Konrad hat seine Tochter später doch eher für eine Frau gehalten, die mehr vom Intellekt als von den Gefühlen beherrscht wird. Darin hat er sich wohl getäuscht.
Weißt du, sagt sie, in den evangelischen Kirchen ist mir immer kalt zumute. In der katholischen Kirche gegenüber aber wird mir warm im Herzen. Da fühle ich mich geborgen und in der Messe Gott näher als in einer evangelischen Predigt.
In der Kirche gegenüber, denkt er, hat Sabine gesagt. Es geht ihr also gar nicht um den katholischen Glauben, sondern um das Gebäude, die Kirche, die an der Straßenecke steht.
Heute, erwidert Konrad, bei diesen Päpsten, die das Zweite Vatikanische Konzil geradezu verraten, denen die Unversehrtheit der Kirche wichtiger ist als das Heil der Menschen und denen der Missbrauch der Kinder durch ihre Priester gleichgültig ist, solange er verschwiegen werden kann, und solche Priester schlimmstenfalls an einen anderen Ort versetzen, wo sie weiter ihr Priesteramt und ihren Missbrauch ausüben können, während Priester, die sich zu ihrer Liebe zu einer Frau bekennen, in die Wüste geschickt werden, jetzt, da viele aus der Kirche austreten, weil sie das, was aus dem Vatikan kommt, nicht mehr länger mitansehen und mitmachen können, da willst du katholisch werden und zur Maria statt zu Christus oder zu Gott zu beten? Kannst du denn zu dem stehen, was diese konservativen Päpste vertreten?
Nein, entgegnet Sabine, aber das interessiert mich auch nicht, mir geht es nur darum, an einen Ort hingehen zu können, wo ich spirituell beheimatet bin. Da kann ich auch beichten, wenn ich das Bedürfnis habe, mich einem Menschen anzuvertrauen, der mir hilft. Du warst zwar kein schlechter Vater, aber in den letzten Jahren, als ich noch daheim war, hätte ich manchmal gewünscht, einen Vater zu haben, dem ich mich hätte anvertrauen können.
Ja, das war die Zeit vor der Scheidung gewesen. Da hatte Klara Tochter Sabine auf ihre Seite gezogen, sich ihr anvertraut und sie zur Freundin gemacht, so dass Konrad die innere Entfremdung seiner Tochter zu ihm schmerzlich empfunden hatte. Der Vorwurf von Sabine und dass sie sich lieber einem katholischen Priester anvertraut als ihrem Vater, trifft ihn nun ebenso hart wie ihr Schritt zum Katholizismus.
Konrad denkt zurück an die Zeit, als seine Kinder wirklich noch Kinder waren. Da lief alles doch so gut. Da brauchte er sich nicht in das Leben seiner Kinder einzumischen. Er ließ allem seinen Lauf. Wann schon hatte er mit seinen Kindern über Gott gesprochen oder über das, was sie bewegte? Er glaubte, es genüge, seinen Kindern ein Vorbild zu sein. Ja selbst als es in seiner Ehe zur Krise, ja, um die Wahrheit zu sagen, zu einer Zerreißprobe kam, hatte er nicht mit seinen Kindern gesprochen. Nein, ich werde euch nie verlassen, war das Einzige, was er gesagt hatte. Dann hatte er sich bemüht, die Kinder nichts von seinen inneren Kämpfen anmerken zu lassen und weiterhin Vorbild für sie zu sein. Jetzt sieht er ein, dass dies nicht genügte.
Es ist bei einem Besuch Sabines bei ihrer Schwester Anna, als beide die Gelegenheit benutzen, den Entscheid, katholisch zu werden, gemeinsam ihrem Vater zu eröffnen und sich dann auch miteinander in einer katholischen Bistumskirche von einem konservativen Bischof firmen zu lassen.
Ihr habt uns Kindern schon früh biblische Geschichten erzählt, sagt Anna zu ihrem Vater, und ein Tisch- und ein Abendgebet waren selbstverständlich. Daran dass sie am Tisch gebetet hatten, kann sich Konrad nicht mehr erinnern, nur dass meistens die Mutter am Abend am Bett mit den Kindern gebetet hat. Auch zur Kirche hatten sie die Kinder schon früh mitgenommen, wann immer das möglich war.
Es gab zwar eine Zeit, in der Konrad auch nicht mehr in die Kirche gegangen ist. Er hat in einer christlichen Firma gearbeitet. Im Verwaltungsrat saßen ein Pfarrer und ein Theologieprofessor und der Präsident gehörte einem besonders frommen Verein an. Zwei Jahre zuvor hatte die alte Firma, in der er einen führenden Posten innegehabt hatte, mit dieser neuen Firma fusioniert. Konrad hatte bald danach gemerkt, dass diese Fusion auf gefälschten Daten beruhte, dessen Urheber der Präsident war. Doch der versuchte die Schuld erbarmungslos auf andere abzuschieben, auch auf Konrad. Es war eine schlimme Zeit gewesen. Konrad hatte seine Arbeit geliebt, aber unter diesen frommen Vorgesetzten, hielt er es nicht aus. Nach drei Jahren hatte er die Firma verlassen. Selbst der Pfarrer und der Theologieprofessor, die sich hinter den Präsidenten stellten und sich vor der Wahrheit verschlossen, hatten ihn enttäuscht. Ein paar Mal war er noch in die Sonntagspredigt in seiner Wohngemeinde gegangen. Doch die Worte, die der Pfarrer, der nichts mit der Firma zu tun hatte, sprach, waren ihm wie leere Hülsen vorgekommen. In einem Gespräch, in dem er dem Pfarrer seine Situation schilderte, hatte er das Gefühl, an eine leere Kirchenwand zu sprechen. Auch dieser Pfarrer schwebte hoch über dem, was unten im täglichen Leben geschehen konnte und auch wirklich geschieht.
Das hat nichts mit meinem Glauben zu tun, hatte sich Konrad damals gesagt. Sein Glaube an einen Gott war unerschüttert.
Das alles kommt ihm jetzt in den Sinn. Er kann seine Töchter verstehen. Aber finden sie in der katholischen Kirche das, was sie in der evangelischen nicht gefunden haben – die Geborgenheit?
Weißt du, fährt Anna fort, ich bin ein sehr gläubiges Kind gewesen und habe auch oft auf dem langen Schulweg gebetet. Davon weiß Konrad nichts. Anders als Sabine, hält er Anna für einen Menschen, der seine Gefühle voll auslebt. Sie brauchte die elterliche Wärme. Schon als kleines Kind, wenn er sie in den Armen hielt, konnte er sie, anders als die Mutter, beruhigen, wenn sie schrie. In seinen Armen fühlte sie sich offenbar mehr geborgen als in den Armen der oft unzufriedenen Mutter. Und auch später war Anna ein Kind, das Nähe brauchte, während die ältere Sabine oft stumm danebenstand, wenn Anna sich umarmen ließ. Darum erstaunt es ihn bei Anna weniger, dass sie die Geborgenheit in der katholischen Kirche sucht. Bei beiden ist es, denkt er, wohl weniger die Lehre der katholischen Kirche, also des geistigen Gebäudes, als die Geborgenheit in den mit Bildern geschmückten und reich verzierten und vergoldeten Räumen der Kirche.
Nach meiner Konfirmation mit sechzehn Jahren bin ich immer mehr von der Kirche weggekommen, gesteht Anna ihrem Vater. Ich zweifelte an vielem, was in der Kirche gesagt wurde, und Gott rückte für mich immer mehr in den Hintergrund. Mit etwa fünfunddreißig Jahren kam ich durch tiefe innere Erlebnisse wieder neu zum Glauben, da ich erlebte, dass Gott direkt in mein Leben eingreift. So habe ich wieder ab und zu die reformierten Gottesdienste besucht, habe dort aber nicht mehr das, was ich suchte, gefunden. Die zwar guten Predigten haben mehr meinem Verstand gedient, als dass sie mein Herz erfüllten. In dieser Zeit habe ich angefangen, Bücher zu lesen über Schwester Faustina, Therese von Avila, die Kinder von Fatima und auch über Lourdes und vieles mehr. Auch bin ich sehr überrascht gewesen, dass die Mutter Gottes so sehr den Rosenkranz empfiehlt, ein Gebet, das ich nicht wirklich gekannt habe und es daher als Geplapper abgetan hatte.
In unseren Herbstferien in den Bergen hatte ich den großen Wunsch, das Rosenkranzgebet kennen zu lernen. Wieder daheim, bin ich in eine christliche Buchhandlung gegangen und habe mir eine Anleitung zum Rosenkranzgebet gekauft. Dann habe ich mich zum ersten Mal in unsere katholische Kirche gesetzt und mit geschlossenen Augen vor der wunderschönen Statue der Maria mit dem Kind gebetet. Plötzlich hat mich eine sanfte Hand angerührt und eine Stimme hat mich gefragt, ob ich zum Rosenkranzgebet käme. Total erschrocken habe ich gestammelt, ich sei reformiert und kenne das Gebet nicht, aber es sei mein Wunsch, es kennen zu lernen. Die Frau, die hinter mir saß, hat mich eingeladen, einfach mitzumachen. So bin ich mitgegangen und habe den einen oder anderen Satz mitgesprochen, und dabei ist es in der Kirche so hell geworden, dass ich gedacht habe, die Sonne scheine direkt zum Fenster herein. In meinem Herzen habe ich eine große Freude und viel Licht gespürt.
Vater Konrad hat ihr zugehört, ohne sie zu unterbrechen.
Wenn es so ist, musst du tun, was du tun möchtest. Ich will und kann euch beiden nicht davor sein. Wenn es für euch richtig ist und ihr glaubt, dort euer himmlisches Heil und euer irdisches Glück zu finden, dann müsst ihr es tun.
Vater Konrad kann, auch wenn es ihm nicht gefällt, verstehen, dass seine Tochter wie durch einen Blitzstrahl eine Erleuchtung bekommen konnte. Wenn es auch plötzlich über einen kommt, so braucht es doch eine lange Vorbereitungszeit. Es ist wie ein Embryo im Mutterleib, der langsam heranwächst und dann plötzlich mit einem Schrei ins Leben hineingeworfen wird. Konrad hat selber mehrmals ein solches Erlebnis gehabt. Es war plötzlich über ihn gekommen. Er hatte für einen Augenblick das Bewusstsein für das Irdische verloren und sich in einem raum- und zeitlosen Zustand gefühlt, der kaum eine Sekunde dauerte. Da hatte ihn ein Glücksgefühl überfallen, das monatelang anhielt und auch später in ihm war, wenn er daran zurückdachte. Doch auch dieser Blitz war nicht aus heiterem Himmel gekommen. Ihm war eine platonische Beziehung zu einer älteren Frau mit vielen Gesprächen und Briefen vorausgegangen, in denen es um Gott, die Liebe, um Kunst und Tod ging. Diese Lichtblitze hatte er einmal in der Natur, ein zweites Mal in der Musik und viel später ein drittes Mal in der Liebe erlebt. Warum hatte er mit dieser Frau über all diese Dinge sprechen können – er war damals noch nicht verheiratet –, aber später nie mit seiner Frau und schon gar nicht mit seinen Kindern. Auch jetzt bringt er nur dürftige Worte hervor, ohne die Tiefe und den Glanz jener früheren Gespräche.
In der Absicht, seinem Vater die Kirche der Heiligen der Letzten Tage verständlicher zu machen, hat ihm Manfred das Buch Mormon geschenkt. Konrad hat es gelesen, hält es in seinem Erzählstil dem Alten Testament für ähnlich, findet aber nicht dessen Weisheit und die Stärke des Glaubens sowie den Abfall von Gott und die Strenge der Propheten, das Volk zum Glauben zurückzubringen. Einzig die grausamen Kämpfe, von denen das Buch Mormon voll ist, haben eine gewisse Ähnlichkeit mit denen des Alten Testaments. Auch von der Offenbarung des Christus, die dieser offenbar dem amerikanischen Volk kundtun wollte, spürte Konrad wenig. War nicht die Geschichte von dem Buch Mormon, das Joseph Smith gefunden und übersetzt haben wollte, einfach der krampfhafte Versuch, das amerikanische Volk als das neue Volk Gottes darzustellen, so wie die Juden das alte Volk Gottes waren? Genügte die Bibel nicht auch für das US-amerikanische Volk? Brauchte es denn – nur weil sein Land zu Christi Zeiten noch nicht entdeckt war – eine eigene Offenbarung? Sie, die Einwanderer aus Irland und von überall aus dem alten Europa hatten doch die Lehre der Bibel und den Glauben an Christus nach Amerika, den neuen Kontinent, gebracht. Galt das alles dort drüben nicht mehr? Trennte sie der Atlantik vom alten Glauben so sehr, dass sie im neuen Land eine neue Offenbarung brauchten? Das war doch Irrsinn.
Dies alles sagte Konrad seinem Sohn nicht. Nur eines rief er seinem Sohn in Erinnerung: Ich bin getauft, und ich möchte nicht, dass ihr mich nach meinem Tod noch einmal tauft oder, wie ihr sagt, versiegelt. Wenn ich einmal eure Fürsprache bei Gott oder euer Gebet brauche, dann tut es nicht als Mormonen oder Katholiken, sondern schlicht und einfach als Sohn oder Tochter.
Auch das Buch über die vielen Marien-Erscheinungen, das ihm Sabine zu Weihnachten geschenkt hatte, las Konrad, wenn auch mit großem Befremden. Warum erschien die Jungfrau nicht auch den evangelischen Christen? Waren ihr die katholischen lieber oder galten ihr die evangelischen gar nicht als Christen? Oder wollte sie die Evangelisch-Reformierten und die Lutheraner und Anglikaner allein ihrem Sohn überlassen? Aber Christus erschien diesen auch nicht.
Es ist leicht, dachte Konrad, an eine Maria zu glauben, die da und dort im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert immer wieder erscheint und zu Auserwählten spricht, die ihre Worte an die Gläubigen weitergeben. Wo und wann hat schon einmal ein evangelischer Christ die Stimme Gottes oder eines seiner Vertreter gehört oder gar einen dieser Gesandten gesehen!?
Dass seine dritte und jüngste Tochter – immer fragend, immer eine wenig rebellisch, immer konsequent und ziemlich radikal – aus der Kirche austrat, ohne in eine andere überzutreten, erschütterte Konrad nicht mehr. Silvia arbeitete damals in einer evangelischen Organisation. Ihre Vorgesetzte war eine bekannte Persönlichkeit, die öffentliche Vorträge über Lebens- und Glaubensfragen hielt.
Theorie und Praxis, erklärte sie ihrem Vater, unterscheiden sich bei dieser Frau gewaltig. Was sie im Alltag tut, entspricht keineswegs dem, was sie predigt. Weißt, du, ich konnte den Mund nicht mehr halten. Darum hat sie, diese Heuchlerin, mich so drangsaliert, dass ich es nicht mehr aushielt und kündigte.
Aber deshalb braucht man doch nicht gleich aus der Kirche auszutreten, hatte ihr Konrad geantwortet. Doch seine Worte fielen wie die Samen im Gleichnis vom Sämann auf unfruchtbaren Boden.
Und was ist mit meinem Glauben?, denkt Konrad. Ich gehe zwar seit Langem wieder ab und zu in die Kirche. Aber mein Glaube ist auch nicht der, wie ihn Luther, Zwingli und Calvin gelehrt haben. Aber in unserer Kirche hat vieles Platz. Bei den ökumenischen Gottesdiensten bei uns nehmen die Katholiken das Abendmahl wie wir, und umgekehrt auch – trotz päpstlichen Verbots. Ich glaube auch nicht an einen Gott, der im Himmel thront. Für mich ist Gott ein Geist, der den ganzen Kosmos durchdringt und in Bewegung hält, der auch die Menschen durchdringt mit dem Leben, das Teil des göttlichen Geistes ist, und mit der Liebe – vor allem der Liebe –, die wir einander, die Frau dem Mann, der Mann der Frau schenken und die wir unseren Nächsten und allen anderen Menschen weitergeben, und nicht nur den Menschen, auch den Tieren und Pflanzen, der ganzen Natur und damit auch dem göttlichen Geist, der von Anfang an war und immer sein wird.
Ha, das ist ja die reinste Predigt. Fehlt nur noch „in Ewigkeit. Amen.“