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Was ein Reh in der Heiligen Nacht erlebte
ОглавлениеEs war im Dezember. Schon am Nikolaustag fing es zu schneien an. Den ganzen Tag schwebten die Schneeflocken wie kleine silbrige Sterne vom Himmel herab. Im Wald waren die Tannen zuerst ganz fein überzuckert. Als es aber nicht aufhören wollte und auch am nächsten Tag immer mehr Schnee vom Himmel fiel, sah es aus, wie wenn dicke Flaumkissen auf den Ästen lägen. Und auf dem Boden war der Schnee schon knietief. Die kleinen Tiere wie die Hasen und die Eichhörnchen konnten nicht mehr herumspringen und verkrochen sich in Wurzelhöhlen.
Aber auch für die großen Tiere wie die Rehe und Hirche wurde es mühsam. Sie fanden fast keine Nahrung mehr. Auch ein Reh, das erst im Sommer zur Welt gekommen war, konnte sich nur noch von ein paar dürren Ästchen ernähren. Aber davon wurde es nicht satt. Doch einmal kam es zu einer kleinen Waldlichtung. Dort stand eine hölzerne Krippe. Und darin lag viel Heu. Über der Krippe war ein weit ausladendes Dach angebracht, damit es nicht hineinschneien konnte. Das Reh ging ganz nah heran und äugte auf alle Seiten, ob nicht irgendwo eine Gefahr drohe. Aber eigentlich musste es gar keine Angst haben, denn die Krippe war extra für die Tiere im Wald aufgestellt worden, damit sie im Winter nicht verhungerten. Vorsichtig zupfte es ein Maul voll heraus. Und weil es so gut schmeckte, hörte es nicht mehr auf, bis es satt war. Von da an kam das Reh jeden Tag zur Futterkrippe.
Aber einmal, es ging schon auf Weihnachten zu, musste es auf seinem Gang zur Krippe einen kleinen Waldweg überqueren. Auf dem Weg kam ein Mann daher, der seinen Hund spazieren führte. Eigentlich führte er ihn gar nicht, ich meine an der Leine, wie es sich im Wald gehörte. Er ließ ihn frei laufen. Er dachte: „Mein Hund ist ja folgsam und gehorcht mir aufs Wort. Wenn jemand kommt, rufe ich ihn, und dann ist es noch früh genug, ihn an die Leine zu nehmen. Doch bis dann soll er nur noch ein wenig im Schnee herumtollen, das macht er ja so gerne.“
Als der Hund aber das Reh sah, sprang er plötzlich auf es zu. Ich weiß nicht, wollte er einfach nur mit dem Reh spielen. Er war ja kein Jagdhund. Als aber das Reh davonsprang, erwachte in ihm doch ein Jagdtrieb, und er verfolgte das Reh in den tiefen Wald hinein. Weil aber der Schnee so hoch war, konnte das Reh nicht schnell genug fliehen. Der Hund holte es schon bald ein und biss sich an einem Hinterlauf des Rehs fest. Dem Hundebesitzer war dies natürlich gar nicht recht. Er lief dem Hund sofort nach und rief ihn zurück. Doch es war schon zu spät. Als der Hund aber sah, dass sein Herr ein böses Gesicht machte und zu schimpfen anfing, ließ er das Reh los. Der Meister nahm seinen Hund an die Leine, und das Reh humpelte davon und verschwand im tiefen Wald.
Die Wunde tat dem Reh fürchterlich weh. Sie blutete, und am nächsten Tag fing sie sogar zu eitern an. Sie wollte und wollte nicht mehr heilen. Am schlimmsten aber war, dass das arme Reh seiner Schmerzen wegen nicht mehr zu der großen Futterkrippe gehen konnte.
Schließlich wurde es Heiligabend, und weil das kleine Reh nur noch von ein paar Ästchen leben konnte, wurde sein Hungers immer heftiger. Als es Nacht wurde, sah es im Dunkeln auf einmal einen Lichtschimmer zwischen den Bäumen. Es ging vorsichtig auf das Licht zu. Als es näher kam, sah es, dass das Licht in den Fenstern einer Kapelle leuchtete, und es vernahm einen wunderschönen Gesang. „Stille Nacht, heilige Nacht“, hörte es singen. Der Gesang war so schön, dass es alle Angst vergaß. Als die Tür aufging, versteckte es sich rasch im Dunkeln hinter einem Baumstamm. Es waren Männer und Frauen, die herauskamen und sich auf den Heimweg begaben. Alle hatten glückliche Gesichter. Und das Reh dachte, hier drin müsse es ganz besonders schön sein.
Als alle weg waren, stieß es mit dem Kopf gegen die Tür. Und sie öffnete sich. Die Lichter des Christbaums, die durch das Fenster hindurch das Reh angelockt hatten, waren niedergebrannt. Aber vorn in der Mitte leuchtete ein anderer ganz heller Schein. Das Reh ging auf das Licht zu, und da sah es, dass dort eine Krippe stand wie jene im Wald, bei der es noch vor ein paar Tagen sein Futter holen konnte. Nur war diese Krippe hier viel kleiner. Es dachte, weil es hier allein sei, würde das Heu wohl ausreichen, um ihm den Hunger zu stillen. Doch hinter der Krippe stand ein Mann mit einem langen Stab in der Hand, und auf einem niedrigen Hocker saß eine Frau in einem blauen Mantel. Und auch ein Ochs und ein Esel standen da, und rings um die Krippe lagen kleine Schafe. Doch all diese Tiere und auch die Menschen waren kleiner als jene, die das Reh zuweilen am Waldrand gesehen hatte. Und wie merkwürdig: Niemand bewegte sich.
Da auf einmal schien es dem Reh, wie wenn der Mann ihm winkte, so, als ob es näher gehen solle. Und als es ganz nah bei der Krippe war, da sah es, dass in der Krippe ein Kindlein lag. Die Frau im blauen Mantel aber spürte, dass das Reh Hunger litt und von dem Heu essen wollte. Da hob sie das Kindlein aus der Krippe und wiegte es in ihren Armen. Und der Mann sagte zu dem Reh: „Iss nur, du sollst heute satt werden. Weißt du, heute ist die Nacht des Weihnachtswunders. Und wenn du von dem Heu isst, auf dem der Heiland gelegen hat, dann wird auch dein Bein wieder ganz gesund werden.“
Und so geschah es auch.
Kaum hatte das Reh ein Büschelchen Heu zerkaut und geschluckt, war es schon satt davon und fühlte sich stark. Und es spürte, dass sein Bein wieder gesund war.
Die Frau legte das Kind in die Krippe zurück. Und als das Reh den lieben Menschen danken wollte, griff das Kind aus der Krippe hinaus nach dem Hals des Rehs und streichelte ihn ganz sanft. Und dann ging das Reh hinaus in die dunkle Nacht und in den tief verschneiten Wald.
Weil es jetzt aber wieder gesund und stark war, konnte es jeden Tag zur großen Futterkrippe gehen. Aber immer, wenn es dort war, musste es an den Mann und die Frau und ihr Kindlein denken. Und es zupfte nie Heu aus der großen Krippe, ohne für das große Wunder bei der kleinen Krippe zu danken.