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Der Unfall

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Martin Renold

Ein Mann

zwei Leben

Das seltsame Leben

des Manfred Keilhofer

in St. Gallen

Seit dem fürchterlichen Unfall im Frühsommer hat sich mein Leben radikal verändert. Nicht nur weil ich Karin verloren habe. Unsere Ehe fand damals ein abruptes Ende. Nach dreiundzwanzig nicht nur himmelblauen Jahren. Oft waren sie von dräuenden Wolken verhangen, oft hatten sich dunkle Gewitter entladen, grelle Blitze und krachende Donner hatten uns erschreckt. Ab und zu verwüsteten Hagelkörner die zarten Blüten unseres Gärtchens, das wir uns bepflanzt hatten, ohne es genügend sorgfältig zu hegen. Wir seien gar nicht richtig verheiratet, warf mir Karin manchmal während eines solchen Unwetters vor.

Was heißt: richtig verheiratet? Wer kann das schon von sich und seiner Ehe behaupten, vom Tag der Trauung an „bis dass der Tod euch scheidet“? Ununterbrochen, Tag für Tag. Es gibt doch in jeder Ehe Zeiten, in denen man sich fremd vorkommt, einander nicht mehr zu verstehen glaubt, wo man sich fragt, ob man sich überhaupt noch liebt, ob die Ehe, die man führt, tatsächlich das ist, was man sich von ihr und seinem Partner einmal versprochen hat.

Zugegeben, solche Zeiten des Zweifels und des klimatischen Tiefs kamen in unserer Ehe vielleicht häufiger vor oder dauerten länger als in manch anderer Ehe.

„Warum lassen wir uns denn nicht scheiden?“, schrie ich Karin vier Wochen vor dem Unfall an, als sie mir im Streit schwere Vorwürfe an den Kopf schleuderte und wieder einmal den Wert unserer Ehe bezweifelte.

„Ja, warum eigentlich nicht?“ entgegnete sie. „Du brauchst es mir nur zu sagen, wenn es dir ernst ist.“

Es war mir ernster, als ich zugeben wollte. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken und mit ihr noch länger zu streiten. Ich stieß den Frühstücksteller unwirsch von mir weg. Den Stuhl hätten meine im Aufschießen zurückschnellenden Kniekehlen umgeworfen, wäre er nicht an die Wand geprallt. Ich schlüpfte in meine Jacke und verließ das Haus.

Hedwig folgte mir hastig. Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Ich, immer noch erregt und unzufrieden mit mir selbst und meiner Umgebung, beachtete sie kaum.

„Ihr solltet euch wirklich scheiden lassen“, machte sie sich endlich bemerkbar. „Auf uns Kinder braucht ihr ja keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wir sind alt genug.“

Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich meinte, was sie sagte, oder ob sie mich damit nur zum Nachdenken zwingen wollte. In jenem Augenblick nahm ich es für bare Münze.

„Ja, ja, aber das ist nicht so einfach“, antwortete ich ihr. „Martins Studium kostet noch eine Menge Geld. Eine Scheidung brächte viele Probleme, finanzielle und andere.“

Unsere Wege trennten sich bei der Bushaltestelle.

Ich hatte Hedwig nachgeschaut, bis ich ihren blonden Haarschopf nicht mehr sehen konnte. Durfte ich es ihr und ihrem Bruder antun? Eigentlich hatte sie ja recht. Sie waren jetzt erwachsen. Hatten Karin und ich doch nur wegen der Kinder an unserer Ehe festgehalten. Inge, unsere ältere Tochter lebte ohnehin nicht mehr bei uns. Sie ist verheiratet. Und Martin und Hedwig sind jetzt auch in einem Alter, in dem sie eine Scheidung ihrer Eltern verstehen könnten und nicht mehr darunter leiden würden.

So in Gedanken versunken, hätte ich beinahe den Bus verpasst. Im letzten Moment hatte ich gesehen, dass die Menschen, die mit mir auf den Bus gewartet hatten, schon eingestiegen waren. In dem Moment, als ich einstieg, schlossen sich die Türen. Da der Bus bereits voll war, blieb ich in der Nähe der Tür stehen.

Mein Ärger, der sich unterwegs ein wenige gelegt hatte, stieg wieder an. Warum nur war ich so unbeherrscht gewesen? Das entsprach überhaupt nicht meinem Charakter. Karins Aggressivität trieb mich immer wieder zu solchen Reaktionen. Sie drehte mir oft die Worte im Mund herum, wollte mich nicht verstehen, witterte hinter allem, was ich sagte, irgendwelche undurchschaubaren Absichten. Im Grunde bin ich ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Meine Bekannten glauben, ich stünde in jeder Situation über der Sache. Warum zwang mich Karin immer wieder, anders zu sein, nicht so zu sein, wie ich meiner innersten Natur entsprechend sein möchte? Jede meiner Ungezügeltheiten empfand ich als einen Schritt zurück auf dem Weg meines Lebens, der doch stets weiter vorwärts und höher, zu Abgeklärtheit und innerem Frieden führen sollte.

Ich schämte mich vor mir selber. Ich machte Karin dafür verantwortlich. War ich ihr deshalb böse und gleichgültig ihr gegenüber, so dass sie es manchmal wirklich fast nicht mehr aushielt mit mir, obwohl sie mich liebte? Ich muss zugeben, dass ihre Liebe grösser und beständiger war als meine.

Hätte ich gewusst, was vier Wochen später geschah, ich hätte mich wohl beherrscht. Doch nun war es zu spät. Es ging mir wie vielen, die nach dem Tod eines Angehörigen bereuen, etwas Gutes und der Liebe Förderliches versäumt oder etwas getan zu haben, das die Harmonie zerstörte. Doch wer kann schon so leben, dass bei einem plötzlichen Tod nicht etwas zurückbleibt, das man vorher noch gerne aus der Welt geschafft hätte.

Karins Tod ist mir nahegegangen. Wenn man dreiundzwanzig Jahre miteinander lebt, verbindet einen vieles. Und wenn ich es recht bedenke, kamen wir trotz allem noch ordentlich gut miteinander aus, vor allem die ersten paar Jahre, bis Angelika in mein Leben trat. An Karins monatliche Zornausbrüche, die offenbar mit ihren „Tagen“ zusammenhingen, für die sie jedes Mal auch von mir meine volle Aufmerksamkeit forderte, hatte ich mich gewöhnt. Ich will ihr das auch nicht ankreiden. Welcher Mann weiß schon, was für Prozesse in der Biologie einer Frau sich in den Phasen des Mondes abspielen? Später, als sie erfuhr, dass ich Angelika liebte, wurde es schlimmer. Da konnte ich ihre Ausbrüche nicht mehr mit dem Kalender berechnen und vorhersehen. Doch als sie dann innerlich mehr Distanz zu mir genommen hatte und selbst auch außerhalb unserer Ehe Erfüllung ihrer Liebe fand, wurden die Stürme seltener. Die Erschütterungen waren nur noch leichtere Nachbeben.

In den Trennungsschmerz, den ich bei ihrem Tod empfand, mischte sich Mitleid. Sie musste zwar nicht leiden. Sie war sofort tot. Aber sie war nicht vorbereitet. Sie war noch jung, hing noch sehr an ihrem Leben. Sie erwartete noch viel von der Zukunft. Auch ich. Trotzdem glaube ich, hätte ich den Tod leichter annehmen können als sie. Es hätte ja auch mich treffen können. Wir saßen im gleichen Auto. Ich hätte ihr die Freiheit von mir und ein neues Leben gegönnt.

Ich erinnere mich, dass Karin mir ziemlich am Anfang unserer Ehe einmal sagte, es wäre ihr lieber, ich wäre tot, als dass sie mich an eine andere Frau verlöre. Ich konnte das nicht verstehen. Wie kann man einen Menschen, den man liebt, lieber tot sehen als glücklich mit jemanden, den er liebt? Ich sagte ihr, ich würde sie lieber einem anderen Mann überlassen. Ich sähe sie lieber in den Armen eines andern als tot in einem Sarg. Das nun konnte Karin nicht verstehen. Sie zweifelte an meiner Liebe. Ich dürfe ja nicht nur an mich und meinen Schmerz denken, erwiderte ich. Wahre Liebe wolle doch das Glück des andern.

Jetzt ist Karin tot. Aber ich habe nicht nur sie verloren. Als ich nach dem Unfall wieder zu Bewusstsein kam, spürte ich allmählich, dass mir der linke Fuß fehlte und das rechte Bein bis zum Knie. Ich wollte es zuerst nicht glauben, denn ich spürte doch die Bettdecke an den Zehen, und die Füße stießen sich aneinander. Und manchmal schmerzte mich die rechte Wade wie nach einem Muskelkrampf. Aber die dicken Verbände – der Stummel am rechten Bein hing wie ein zu kurzer Dreschflegel an meinem Kniegelenk – ließen keinen Zweifel aufkommen.

Es ist weniger der Verlust Karins, der mein äußerliches Leben verändert hat, als der Rollstuhl, in dem ich nun den größten Teil meiner Tage verbringe, seit ich aus dem Spital entlassen wurde. Es wäre falsch zu sagen, Angelika hätte Karins Stelle eingenommen. Angelika füllt nicht nur jene Leere aus, die durch Karins Tod in meinem Leben entstanden ist, sondern das Vakuum, das all die Jahre in unserer Ehe bestanden hat. Schon lange vor dem Unfall. Allein mit ihrer großen und doch stillen, nicht besitzergreifenden Liebe. Aber jetzt ist sie nicht nur mit ihrer Liebe, ihren Gedanken bei mir. Am Tag, als ich aus dem Krankenhaus kam, war sie einfach da – und blieb, mit ihrem Kind.

Die Amputation der Glieder hat mich ans Haus gefesselt. Der Rollstuhl verschafft mir eine beschränkte Bewegungsfreiheit, vom Bett zum Tisch, vom Tisch zum Schreibpult, von da zur Ecke neben dem Sofa, wo ich lese oder mir von Angelika etwas vorlesen lasse.

Ich habe meine bisherige Stelle aufgeben müssen. Die Invalidenversicherung zahlt mir eine Rente, und von meiner privaten Versicherung erhalte ich ebenfalls etwas. Karin war nicht hoch versichert. Doch alles zusammen reicht, um durchzukommen. Falls Angelika mich trotz meiner Behinderung heiraten will, braucht auch sie sich für ihre Zukunft keine großen Sorgen zu machen. Wir haben ja auch noch unser Haus. Und die graphologischen Gutachten, die ich, seit ich im Rollstuhl sitze, für verschiedene Leute mache, bringen auch etwas ein.

Doch es sind nicht nur die äußerlichen Veränderungen, die der Unfall mit sich gebracht hat. Für mich zählen die inneren ebenso. Ich habe nun mehr Zeit, über das Leben nachzudenken.

Nachdem Karin und ich uns oft aus dem Weg gegangen sind und uns in unseren eigenen Zimmern aufgehalten haben, ist es ein neues, schönes Gefühl, abends nicht mehr allein zu sein. Angelika sitzt neben mir. Jetzt bekomme ich zwar keine Mails mehr von ihr. Da Angelika ihre Mails an meine Adresse im Geschäft richtete, konnte ich sie lesen, ohne dass Karin etwas davon erfuhr.

Jetzt sitzt Angelika jeden Abend bei mir. Wir reden miteinander, diskutieren. Angelika zwingt mich zum Denken. Manchmal liest sie mir vor, oder wir halten uns die Hände und schweigen. Angelika ist eine Frau, die schweigen und die im Schweigen ihre Empfindungen mitteilen kann.

Ich fühle mich glücklich, obwohl ich mir früher mein Glück unter anderen Voraussetzungen vorgestellt hatte.

Ich habe ein neues Leben gewonnen, ein zweites.

Dies meine ich ganz real. Schon vor dem Unfall hatte ich ab und zu das unbestimmte Gefühl, als hätte ich schon früher einmal gelebt. Da waren manchmal Empfindungen, die wie aus einer Zeit vor meiner Geburt zu kommen schienen. Oder dann gab es Dinge in meinem Leben, die ich mir nur als Folge von Geschehnissen in einem früheren Leben vorstellen konnte.

Eine erste bewusste Erkenntnis von einem Leben vor diesem Leben hatte ich bei dem Unfall. Seit jener schrecklichen Sekunde habe ich Einblick in mein zweites Leben. Eigentlich müsste ich sagen: das erste. Denn es ist ein früheres Leben. Vielleicht aber gab es ja schon eines davor, oder gar mehrere. Ich weiß es nicht. Nennen wir es also einfach das vorige Leben.

Inge ist erst dreiundzwanzig, aber sie ist schon bald vier Jahre verheiratet. Sie ist meine ältere Tochter. Ihr Mann ist Angestellter einer Transportfirma in Lugano. Sie ging früh von zu Hause weg und folgte dem Drang der Liebe. Das mag zum Teil daran liegen, dass sie daheim zwischen uns Eltern keine allzu große Wärme spürte. Wir waren ihr und unsern zwei jüngeren Kindern, Martin und Hedwig, gewiss keine vernachlässigende Eltern. Wir haben uns sicher in ihrer Gegenwart kaum mehr gestritten, als andere Eltern in sogenannt intakten Ehen dies auch tun. Aber sie hatten vielleicht doch gespürt, dass unsere Liebe, vor allem meine, im Lauf der Zeit ziemlich erkaltet war.

Inge war ein ruhiges Kind. Sie weinte nicht viel. Wenn ich sie in die Arme nahm, hörte sie immer sofort zu schreien auf. Auch aus der Flasche trank sie lieber, wenn ich sie ihr reichte. Vielleicht meinte ich das auch nur. Als stolzer Vater bildet man sich gerne so etwas ein. Aber sogar Karin musste anerkennen, dass Inge und später auch Martin und Hedwig, zumindest im Säuglingsalter, zufriedener waren, wenn ich sie in den Armen hielt. Meine Ruhe wirkte wohltuend auf sie und strömte auf sie über, während Karin in allem weniger geduldig war.

Später hat sich Inge seltener an mich oder Karin geschmiegt. Sie war ein Kind, das Zärtlichkeiten eher auswich. Auch wenn wir glaubten, sie trösten oder aufmuntern zu müssen, schienen ihr körperliche Berührungen peinlich zu sein. Sie fragte auch nicht so viel wie andere Kinder. Sie suchte sich für alles ihre eigenen Erklärungen. Ein schillernder Ölfleck auf der Straße, war für sie nichts „Fragwürdiges“. „Das ist ein Regenbogen, der vom Himmel gefallen ist“, sagte sie mit der ihr in allen Dingen eigenen Bestimmtheit. Obwohl sie manchmal fast zerbrechlich oder mimosenhaft wirkte, versuchte sie immer, mit allem selbst fertigzuwerden. Vielleicht war auch ihre Scheu vor Zärtlichkeit nur ein Mittel, sich frei zu machen und sich gegenüber der Umwelt zu behaupten.

Da war Hedwig gerade das Gegenteil. Sie ließ sich, noch als sie den Windeln entwachsen war, gerne „vernaschen“ und suchte den körperlichen Kontakt, mit Karin vor allem, die das Defizit an Zärtlichkeit von meiner Seite auf diese Weise fast überschwänglich kompensierte. Und als Hedwig größer wurde, war es ihr geradezu ein Bedürfnis, diesen Kontakt im Spiel und im Streit mit Martin zu suchen.

Als ich nach dem Unfall einmal einen früheren Brief von Inge hervornahm und die Schrift analysierte (seit ich im Rollstuhl sitze, habe ich mich intensiv mit Graphologie befasst), fiel mir eine negative Mutterbindung auf. Dies wunderte mich zuerst, denn Inge hing sehr an ihrer Mutter. Telefonierte häufig mit ihrer Mutter. Für mich blieb höchstens noch ein Gruß. Auch mit Hedwig telefonierte sie oft und lange. Nur Martin und ich mussten mit den Brosamen vorliebnehmen, die jeweils am Ende ihrer Gespräche an uns abfielen.

Aus Inges Schrift war aber auch eine gewisse Ablehnung des Vaters herauszulesen. Das schien mir naheliegender als die negative Mutterbindung. Denn sie als die Älteste hatte gewiss die Disharmonie zwischen Karin und mir am ehesten bemerkt und, da Karin darunter mehr litt als ich, die Schuld mir zugeschrieben.

„Weißt du“, sagte mir Inge, als ich ihr, etwas unsicher über das Ergebnis meiner Untersuchungen, die Schriftanalyse zeigte, „ich glaube, das stimmt schon. Ich habe mich so stark mit Mutter verbunden gefühlt, vielleicht sogar mit ihr identifiziert, dass ich unbewusst von ihr wegstrebte, von ihr loskommen wollte.“

Diese und ähnliche Bestätigungen von Freunden, deren Schrift ich analysiert hatte, bestärkten mich, meine Kenntnisse und Erfahrungen weiter anzuwenden. Bald beanspruchten auch weitere Bekannte meine Dienste gegen Entgelt und gaben mir damit das Gefühl, trotz meiner Behinderung nicht nutzlos zu sein und mich sogar auf einem neuen Feld betätigen zu können.

Der Tag unseres Unfalls hatte in fröhlicher Stimmung begonnen. Die Sonne schien früh in mein Zimmer. Weiße Föhnstreifen klebten am Himmel. Solche Tage duften nach Süden, nach Ferne. Man bleibt ein Weilchen länger am geöffneten Fenster stehen, atmet tiefer als sonst. Denkt an Angelika, schickt in Gedanken einen heimlichen Gruß und hat das Gefühl, dass er hinter jenen Hügeln ankommt, aufgenommen wird; und ein jähes Anrühren der Seele zeigt an, dass auch von dort her Gedanken auf dich zuströmen. Du schließt die Augen und weißt, dass das Bild, das für eine Sekunde in dir aufblitzt, eine Erinnerung an einen andern solchen Morgen ist. Bildest dir vielleicht sogar ein, dass diese Erinnerung von einer gleichzeitigen und gleichartigen Empfindung in jenem anderen Menschen in der Ferne ausgelöst wurde.

An einem solchen Morgen wie dem heutigen waren Angelika und ich miteinander weggefahren in ein paar Tage gemeinsamen Urlaubs. Wir hatten einige romanische und gotische Kirchen in der französischen Schweiz besucht: Donatyre, Fribourg, Hauterive, Payerne, Romainmôtier. Es war ein echtes gemeinsames Interesse, das dann auch die nächtlichen Stunden überstrahlte. Und das Glück, das Empfinden eines von Ewigkeit vorherbestimmten Einsseins, einer schicksalhaften Zusammengehörigkeit ließ ein Gefühl von Schuld oder Sünde gar nicht aufkommen.

An diesem Tag nun aber fuhren Karin und ich mit Inge. Unsere Tochter hatte uns über die Pfingsttage besucht, ohne ihren Mann, und wollte uns nun noch für ein paar Tage mit nach Lugano nehmen.

Mein kurzer Gruß aus dem Schlafzimmer in den frischen Morgen hinaus und an die ferne Geliebte hatte meine heitere Stimmung nicht nur erweckt, sie hatte sich, so seltsam es klingen mag, auch auf meine Gefühle zu Karin übertragen.

Martin war schon am Tag vorher nach Genf zurückgekehrt, wo er Romanistik studiert. Hedwig war früh zur Arbeit aufgebrochen. Karin und ich saßen noch eine Weile mit Inge am Frühstückstisch beisammen und plauderten, das heißt, es waren vor allem Mutter und Tochter, die sich unterhielten, während ich zuhörte. Jener Streit vor vier Wochen, bei dem so rasch das Wort Scheidung fiel, war, wenigstens was mich betraf, schon längst vergessen. Dass über die Pfingsttage wieder einmal die ganze Familie beisammen war, hatte uns alle glücklich gemacht.

Schließlich machten wir uns auf den Weg. Schon bei der Einfahrt auf die Autobahn und unterwegs zum Bodensee hinab schien uns, die Menschen am Steuer ihrer Wagen führen weniger konzentriert als sonst. Vielleicht war es der Föhn oder schon wieder das Aufkommen von Stress oder auch nur ein unbewusst banges Vorgefühl auf den Alltagstrott nach dem verlängerten Wochenende. Karin saß vorne rechts neben Inge. Ich machte mich im Fond breit, saß hinter Inge und streckte meine langen Beine auf die rechte Seite hinüber.

Der Verkehr in Richtung Chur war nicht übermäßig stark. Auf der anderen Seite flitzten viel mehr Wagen vorbei. In den senkrecht abfallenden Felsen der Kreuzberge vermeinte man, jede Kante, jede Ritze erkennen zu können. Ich blickte zwischen Inge und Karin durch die Windschutzscheibe hinaus, achtete aber nicht so sehr auf den Verkehr, sondern sah rechts Häuser und Dörfer und einen Berg nach dem andern näher auf uns zukommen. Ich hatte eben noch bemerkt, dass wir einen langsam fahrenden Wagen überholt hatten und auf der linken Spur weiterfuhren. Dann sah ich nur noch einen dunklen Schatten, der sich von rechts vor unser Auto schob. Ich hörte einen heftigen Knall, ein Krachen und den Schreckensschrei von Karin. Ich wurde herumgeschleudert wie in der Schleuderbahn auf dem Jahrmarkt. Einen Augenblick schien mir, mein Herz stehe still. Ein bisher unbekanntes Gefühl durchströmte meinen ganzen Körper bis in die Finger- und Zehenspitzen im Bruchteil einer Sekunde. Es war kein Schmerz. Dann nichts, absolut nichts. War dies der Tod?

Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand der Empfindungslosigkeit dauerte. Irgendwann aber musste mein Herz tatsächlich zu schlagen aufgehört haben. Denn als ich wie aus einem traumlosen Schlaf erwachte, hatte ich in der Brust ein beengendes Gefühl, wie wenn sich ein eiserner Ring um mein Herz gelegt hätte. Unter diesem Druck musste es unmöglich sein, dass sich die Herzmuskeln überhaupt noch bewegen konnten. Doch dann schien mir auf einmal, als würde ich durch diesen beengenden Ring hindurchgeschoben, so wie man einen Finger aus einem festsitzenden Ring zieht. Noch klemmt das Gelenk fest, du hast Angst, es nicht mehr durchziehen zu können, aber auf einmal geht es doch, der Ring rutscht über das Gelenk hinweg, und du fühlst dich befreit. Ich hatte keinen Schmerz, hatte überhaupt kein körperliches Empfinden. Ich war leicht, schwerelos. Einem Raumfahrer müsste so zumute sein. Ich wurde ein Stück weit von unsichtbarer Hand in die Höhe getragen. Zuerst sah ich nur den blauen Himmel mit seinen Föhnstreifen. Dann aber bemerkte ich, dass ich über einem breiten Tal schwebte. Zu beiden Seiten sah ich Berge. Ich glaubte nicht, tot zu sein. Denn ich befand mich weder in einem Himmel noch in der Hölle, obschon ich wie in einem himmlischen Gefühl zu baden schien. Aber ich war noch auf dieser Erde, zumindest in ihrer Atmosphäre. Ich erkannte die Berge ringsum. Da waren die Kreuzberge, an denen wir vorher vorübergefahren waren, der Alvier und auf der anderen Seite, das mussten wohl die Drei Schwestern sein. Auch die Luziensteig, jene steil aus der flachen Ebene des Rheintals aufsteigende Felsformation, erkannte ich. Und unter mir sah ich den leicht gebogenen Lauf des Rheins.

Aber dann kam es mir doch seltsam vor, wie ein Ballon über dem Tal und dem Fluss zu schweben. Sollte ich doch tot sein? Sollte dies das Jenseits sein? Aber wo sind denn die anderen Seelen? Ich war allein, verlassen. Mensch, du bis doch tot, sagte ich mir. Vielleicht bin ich unterwegs ins Jenseits. Ich wartete darauf, dass der Himmel sich öffnete. Der Himmel: Dabei dachte ich an den irdischen Himmel, dieses blaue Gewölbe über mir mit seinen Föhnstreifen. Irgendwo müsste sich ein Loch auftun, durch das ich hinausschlüpfen und in eine andere Welt hineingehen könnte. Wohin, wusste ich nicht. Ich dachte weder an einen Himmel, der das Reich Gottes sein sollte, noch an eine Hölle. Einfach an ein Jenseits, ein Unbekanntes.

Als mir bewusst wurde, dass ich jetzt vielleicht die Möglichkeit hätte, auf irgendeine Weise noch von den Menschen, die mir nahestanden, Abschied zu nehmen, überflutete mich ein beglückender Schauer. Ich dachte an Angelika. Ich wollte sie noch einmal sehen, ehe das Unbekannte mich verschlingen würde. Ich wollte noch einmal ihre weiche, beinahe singende Stimme hören, die mich so oft, ja selbst in meinen Tagträumen, fast flüsternd und doch so klar, in ihren Bann gezogen hatte.

Ich versuchte, mir Angelika vorzustellen, wie sie an diesem Vormittag in der Küche oder im Garten arbeitete. Ich verspürte einen Zug in die Richtung ihres Hauses. Doch ich blieb an derselben Stelle schweben. Aber es war nicht so, wie ein Ballon in der Luft stehenbleibt, wenn er keinen Wind hat Es war, wie wenn ich von einer unsichtbaren Leine zurückgehalten würde. Wie ein Kinderballon, der an einem Faden festgehalten wird, oder wie ein Papierdrachen, der vom Wind in der Luft gehalten wird. Dann zog es mich auf einmal hinunter. Ich sah die Berge höher steigen, die Talsohle mit dem Fluss und den Häusern näherkommen. Unter mir sah ich die Autobahn, und ganz deutlich erkannte ich, dass da direkt unter mir etwas Schreckliches passiert sein musste.

Auf einmal wurde ich wieder in die Höhe gehoben. Die Berge sanken zurück, die Häuser wurden immer kleiner, die Autobahn war nur noch ein schmaler Strich. Es wurde hell, viel heller, als es schon war. Ich sah eine goldene Sonne am Himmel, nicht unser Tagesgestirn, diesen glühenden Feuerball, den Mittelpunkt unseres Planetensystems. Auch sie sah ich. Aber die neue Sonne war viel heller, und doch blendete ihr Licht meine Augen nicht. Ihr heller Schein war mild. Sie sah aus wie eine große Öffnung am Himmel, mit unscharfem Rand wie bei einer Nebensonne. Ich dachte an eine Erscheinung, die ich beobachtet hatte, als ich noch ein Junge war. Damals hatte ich zufällig nach einem Gewitter zum Fenster hinausgeschaut und mit Schrecken drei Sonnen am abendlichen Himmel erblickt, jede so leuchtend hell wie die andere, und zwischen den Sonnen sah ich ein kurzes Stück eines intensiven Regenbogens. Für mich war es damals wie ein Wunder. Ich weiß nicht, ob ich mehr erschrak über die Dreizahl der Sonnen oder über die beiden Bruchstücke eines Regenbogens zwischen den Sonnen am westlichen Himmel, bog sich doch sonst bei einem abendlichen Gewitter der Regenbogen über den östlichen Himmel, der Sonne gegenüber. Was hatte das zu bedeuten? Ich bekam Angst, denn ich hatte keine Erklärung dafür. Erst später fand ich eine. Und als ich zum ersten Mal das Lied „Die Nebensonnen“ aus Schuberts „Winterreise“ hörte und den ersten Vers „Drei Sonnen sah ich am Himmel steh’n“, da durchfuhr es mich wie ein warmer Schauer.

Die Nebensonne, die ich jetzt sah, schien mir tausendmal heller als jene Nebensonnen. Und doch flößte sie mir keine Furcht ein. Ich flog auf die Öffnung zu, aber nur langsam. Etwas hielt mich noch immer zurück. Plötzlich war mir, als sei ein Schatten vor der Öffnung vorübergeflogen, so wie wenn rasch ein Vogel oder ein Flugzeug vor der Sonne vorbeifliegt und flüchtig seinen Schatten auf einen wirft.

Karin, dachte ich und in diesem Augenblick erkannte ich tatsächlich, dass es Karin war. Sie wandte sich nicht um. Aber ich sah wie von hinten durch sie hindurch ihr Gesicht. Es schien mir, als sähe sie jemanden, dem sie mit ausgestreckten Armen entgegenging.

Ich wollte ihr zurufen, sie solle auf mich warten. Aber ich hatte keine Stimme. Sie wurde kleiner, durchsichtiger und verschwand, so wie ein Mensch einem im Nebel aus den Augen verschwindet.

Und so wie das Licht erschienen war, verblasste es wieder und verschwand. Und so wie man einen Papierdrachen wieder hereinzieht, sank ich tiefer und tiefer. Ich spürte eine erst leise, dann immer stärker werdende Beklemmung in der Brust. Ich schwebte nun schon ganz nah über der Unglücksstelle. Polizeiautos standen herum, zwei Krankenwagen waren da. Eine Tragbahre stand am Straßenrand, zugedeckt mit einem weißen Tuch. Auf einer andern Bahre lag Inge. Ich sah, dass sie lebte. Als ich ganz nah über dem einen Krankenwagen schwebte, bemerkte ich eine weitere Bahre neben dem Auto. Auch sie war zugedeckt mit einem Tuch. Inges Wagen und jener, der uns gerammt hatte, und ein dritter standen ziemlich weit voneinander und arg demoliert auf der Autobahn.

Mit einem unwiderstehlichen Sog zog es mich in den einen der Krankenwagen hinein. Dort sah ich, als ich unter der Wagendecke schwebte, meinen Körper unbeweglich auf einer Bahre liegen. Ein Arzt beugte sich über mich, und ein Sanitäter hielt meinen Arm.

Was ich jetzt erlebte, ist kaum zu glauben. Und doch war es so. Es wurde schwarze Nacht um mich. Ich lag zusammengekauert in einer feuchten, engen Höhle, die mich von allen Seiten umschloss und mich beengte. Ich sträubte mich dagegen, doch in rhythmischen Stößen, die zuerst von längeren, dann von immer kürzeren Pausen unterbrochen waren, wurde ich zusammengepresst. Aber es war alles weich und nass um mich herum. Nach einiger Zeit wurde ich Kopf voran durch eine enge Röhre gepresst. Einen Augenblick dachte ich, meine Seele, die sich bereits vom leblosen Körper gelöst und entfernt habe, kehre durch diesen Kanal in ihn zurück. Aber ich hatte nun ja schon einen Augenblick lang, ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte, die Empfindung einer körperlosen Seele kennen gelernt. So konnte ich gut feststellen, dass dies nicht die Empfindung einer Seele war, die sich mit einem Körper verbindet. Es war vielmehr der Schmerz eines Körpers, dem sich in diesem Augenblick eine Seele zugesellt. Ich wurde von Händen gegriffen und aus der Röhre gezogen, und beinahe im selben Moment, wie der Druck nachließ, begann ich zu schreien. Ich war ein neugeborenes Kind. Ich wurde an den Beinen hochgehoben, mein gurgelndes Schreien befreite mich langsam von der Flüssigkeit, die mir Mund und Nase verstopfte. Dann wurde mir die Nabelschnur durchgeschnitten, und schließlich wurde ich in Wasser getaucht und von dem weißlichen Schleim befreit, der an meinem ganzen Körper klebte.

Ich hatte – und ich erinnere mich, dass ich darüber erstaunte – nicht das Bewusstsein eines Säuglings, sondern dasjenige eines erwachsenen Menschen, oder noch deutlich ausgedrückt, mein eigenes Bewusstsein. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, als erlebte ich die Geburt des Menschen, der ich war, die Geburt von Manfred Keilhofer, der soeben im Alter von zweiundfünfzig Jahren auf der Autobahn im sankt-gallischen Rheintal verunfallt war und dabei anscheinend sein Leben verloren hatte. Obwohl ich mit dem Bewusstsein dieses Manfred Keilhofer empfand, was mit mir und um mich geschah, musste der Junge, in den ich in diesem Augenblick geboren worden war, ein anderer sein.

Mensch, dachte ich, es geschieht also doch, dass du wiedergeboren wirst, und dies im Augenblick des Todes. Da geht also deine Seele von einem verbrauchten Körper sofort in einen neuen über. Aber warum war denn Karin durch jene Öffnung im Himmel entschwunden? War sie nicht wie ich dazu verdammt, auf dieser Erde zu bleiben? Sie hatte wohl ein besseres Leben gelebt als ich, dass sie gleich in den Himmel eingehen durfte.

Die Menschen, die um mich herumstanden, waren mir unbekannt. Erst nach einiger Zeit fiel mir auf, dass der Arzt und die Hebamme keine weißen Mäntel trugen. Ich war offenbar nicht in einer Klinik zur Welt gekommen. So hygienisch sauber schien es hier nicht zu und her zu gehen. Der Arzt trug auch keine Jacke, hatte die Hemdärmel zurückgekrempelt und trug altväterische Hosenträger, wie man das etwa in Verfilmungen alter Romane sehen kann. Ich musste auch in einem ziemlich altertümlichen Haus zur Welt gekommen sein. Und als ich neben der Frau, die nun meine Mutter war, im Bett lag und verschiedene Leute hereinkamen, die mir ebenfalls unbekannt waren, bemerkte ich, dass auch sie merkwürdig altmodische Kleider trugen, wie sie etwa zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Mode gewesen sein mochten. Ich fragte mich, ob wohl durch den Tod die Zeit derart aufgehoben würde, dass es möglich sei, in eine frühere Zeit zurückgeboren zu werden. Die Leute, die um das Bett herumstanden und mich bewunderten, waren allem Anschein nach mein Vater, eine Tante und eine kleine Schwester von ungefähr vier Jahren.

Ich hörte eben noch, wie der Arzt, der seine Jacke angezogen, das Köfferchen gepackt und sich zum Weggehen bereit gemacht hatte, zu meinem Vater sagte: „Ein strammer Junge. Da kann man Ihnen nur gratulieren. Ihrer werten Gemahlin natürlich auch. Wie soll er denn nun heißen?

„Heinrich Otto“, antwortete mein Vater stolz.

Dann schlief ich ein.

Als ich erwachte, lag ich in einem weißen Zimmer. Ich sah über mir eine helle Decke und einen Ständer mit aufgehängten Flaschen, die Hälse nach unten, aus denen dünne Schläuche herabhingen, die vermutlich mit meinem Körper verbunden waren. Ein solcher Schlauch steckte mir auch in der Nase und führte durch sie in den ausgetrockneten Rachen hinunter. Ein hübsches, junges Gesicht mit blauen Augen kam ein wenig verschwommen in mein Blickfeld. Ich wollte den Kopf drehen, mich aufrichten, aber eine freundliche Stimme sagte: „Bleiben Sie schön liegen. Sie dürfen sich jetzt nicht bewegen. Ich bin Ihre Betreuerin, Pflegerin Margreth. Der Herr Doktor kommt sofort.“

Hierauf kamen zwei oder drei Ärzte, und nach einiger Zeit sah ich die Gesichter von Martin und Hedwig über mir. Dann schlief ich wohl wieder ein; denn als ich erneut aufwachte, war es Nacht, und später einmal lag ich in einem anderen Zimmer, und die Sonne schien durch ein Fenster auf mein Bett. Nach und nach erfuhr ich von den Pflegerinnen oder meinen Kindern, die mich teils abwechselnd, teils miteinander besuchten, dass ich seit ungefähr vierzehn Tagen im Kantonsspital lag, dass Karin bei dem Unfall ums Leben gekommen und inzwischen kremiert und begraben worden war, dass ich selber bereits für tot gehalten worden sei, da mein Herz einige Zeit zu schlagen aufgehört habe, dass man mich aber wieder ins Leben habe zurückrufen können. Inge hatte nur Prellungen und einen Knöchelbruch erlitten. Auch der Fahrer eines andern Autos, der einen Wagen vor ihm habe überholen wollen, ohne in den Rückspiegel zu schauen, habe seine Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlen müssen. Der Spitalpfarrer hatte mir auch behutsam eröffnet, dass man mir den linken Fuß und das rechte Bein bis unter das Knie habe amputieren müssen. Ich hatte dies bereits selbst festgestellt, obwohl ich manchmal meine verlorenen Glieder noch deutlich zu spüren vermeinte.

Schon am Tag nach meinem Erwachen kam Angelika. Sie hatte durch Hedwig von meinem Unfall erfahren, war zu Karins Beerdigung gegangen und hatte sich wiederholt nach meinem Ergehen erkundigt.

Die Zeit im Spital wurde mir lang. Die Beinstummel heilten schlecht. Die Wunden mussten immer wieder ausgewaschen und desinfiziert werden, was nicht ohne brennende Schmerzen ablief.

Angelika besuchte mich, so oft sie konnte.

Ich hatte viel Zeit, über mein Leben nachzudenken. Aber manchmal, wenn ich so dalag und an nichts dachte, kamen wie Fetzten aus einem fernen Traum Bilder zu mir, und seltsame Empfindungen suchten mich heim. Mir war plötzlich, als wäre ich ein kleines Kind, ein neugeborener Säugling. Der helle, weiße Raum, in dem ich lag, verwandelte sich in eine altertümliche, etwas muffige Stube. Nein, ich hatte ja die Augen geschlossen. Jenes düstere Zimmer befand sich nur unter meinen Lidern. Sobald ich sie öffnete, war wieder das Spitalzimmer da. Und eines Tages fragte ich die Pflegerin, die mir das Fieber maß, wie ich heiße. Sie war erstaunt und glaubte wohl, ich hätte den Verstand oder zumindest die Erinnerung verloren. Mir war, als hätte ich auf einmal drei Namen. Heinrich, Otto und Manfred. Und ich wusste einen Augenblick lang tatsächlich nicht, welches der richtige war.

Endlich kam der Tag, an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich wollte nicht bleiben, bis ich die Prothesen bekommen würde.

Angelika holte mich ab. Sie brachte mich selber im Rollstuhl zu ihrem Auto. Zwei Pfleger halfen ihr, mich auf den Sitz neben ihr zu heben. Auf dem Sitz hinter ihr saß Tilla, schüchtern und mit großen Augen. Die Pfleger klappten den Rollstuhl zusammen und versorgten ihn im Kofferraum.

Mein Haus in St. Gallen, am östlichen Rand der Stadt war voll Blumen.

„Die haben die Nachbarn gebracht, als ich gestern mit Hedwig zusammen das Haus für deine Rückkehr vorbereitete“, sagte Angelika. „Wir haben ein wenig umgestellt. Aus dem Gästezimmer haben wir für dich ein Studierzimmer gemacht.“

„Und mein bisheriges Zimmer?“, fragte ich.

Mein Zimmer war bis jetzt Arbeits- und Schlafzimmer in einem gewesen. Karin hatte allein im oberen Stock geschlafen. Sie war nur in mein Zimmer gekommen, um mein Bett zu machen, und ich hatte ihr Zimmer seit Jahren kaum mehr betreten, oder wenn, dann nur um mir vielleicht ein Buch von ihr auszuleihen oder für ein kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel. Ich weiß kaum mehr, wann ich zum letzten Mal mit ihr geschlafen hatte. Ich war froh, dass sie es nicht mehr von mir erwartete. Und doch hatte ich mich Tag für Tag und Nacht für Nacht nach einem Menschen gesehnt, der liebend meinen Alltag, meine Abende mit mir teilen und keine Nacht von meiner Seite weichen würde. Diesen Menschen gab es: Angelika. Doch sie war mit einem andern Mann verheiratet. Aber jetzt stand sie neben mir, und statt eine Antwort auf meine Fragen zu geben, schob sie mich in das Zimmer. Der Schreibtisch war nicht mehr da, dafür stand neben meinem Bett ein zweites, und auf dem Tischchen daneben stand eine Vase mit einem Strauß roter Rosen.

Angelika lächelte. Ihre Nasenflügel bewegten sich, wie ich das oft an ihr erlebt hatte, wenn sie mich mit ihren braunen Augen, die einen Schimmer ins Grünliche zeigten, stumm anschaute, wenn sie ihren Atem anhielt und sie mich zu fragen schien: Ist es tatsächlich wahr, dass du mich liebst? Einen Augenblick lang schien sie dann zu zögern in Erwartung meiner Annäherung, der Berührung unserer Lippen, bis sie ihrerseits die Arme um mich schlang und tief Atem holte. So war es wie jenes erste Mal vor vielen Jahren.

„Du willst also hier bleiben?“, fragte ich.

Sie nickte stumm und erwiderte den Druck meiner Hand. „Und wenn Tillas Schulferien vorüber sind? Was dann?“

„Ich kehre nicht mehr zu Christian zurück“, antwortete sie. „Ich will nicht, und ich kann nicht mehr. Für Tilla habe ich oben Hedwigs Zimmer eingerichtet. Wenn sie dich nicht stört, bleiben wir bei dir, sonst suchen wir uns in der Nähe eine Wohnung.“

Ich sagte nichts. Ich zog sie nur zu mir herab, fasste sie mit beiden Händen um den Halb und küsste sie auf die Wange. Sie verstand meine Antwort, und ich sah, wie ihre Augen leuchteten.

Ich fragte nicht, was dieses „ich will nicht, und ich kann nicht mehr“ zu bedeuten habe. Ich wusste, dass sie das Zusammensein mit Christian schon lange kaum mehr aushielt, obwohl er sie liebte. Aber ihre Liebe gehörte so sehr mir, dass ihr die Ehe mit Christian oft sinnlos vorkam, und hätte ich sie nicht selbst ermuntert, um Tillas willen auszuharren, sie hätte wohl kaum so lange an seiner Seite leben können. Ich wusste, dass dieses „ich kann nicht mehr“, im Wunsch, jetzt bei mir zu sein, und im Wiederwillen mit einem ungeliebten Mann in so enger physischer Nähe zu leben, seinen Grund hatte. Dass vielleicht auch Christian nicht mehr wollte, jetzt, nachdem er ja alles erfahren haben musste, konnte ich nur ahnen.

„Hedwig und Martin sind einverstanden, dass ich bleibe.“

Angelika hatte mit ihnen bereits alles besprochen. Sie wussten schon lange von meiner Liebe zu ihr. Aber jetzt, da ihre Mutter nicht mehr lebte und sie meine Hilflosigkeit sahen, waren sie froh, dass Angelika ihnen die Arbeit, für mich zu sorgen, abnahm.

„Martin hat oben ja noch ein Zimmer, wenn er in den Semesterferien oder am Wochenende heimkommen will“, erklärte Angelika. „Und Hedwig will vorläufig in Karins Zimmer schlafen.“

Von Hedwig hatte ich bereits im Krankenhaus erfahren, dass sie eine eigene Wohnung gemietet hatte, um dort mit ihrem Freund zusammen zu wohnen. In ein paar Wochen wollte sie ausziehen. Ich wusste, dass sie dies schon vor dem Unfall geplant hatte. Angelika berichtete mir, Hedwig wäre vorerst nicht weggezogen und hätte mich mindestens eine Zeit lang gepflegt, sei nun aber doch froh, dass sie, Angelika, sich dazu entschlossen habe, bei mir zu bleiben.

Nachdem Angelika mir am ersten Abend ins Bett geholfen hatte, zog sie sich selber aus. Dann blieb sie in ihrem duftigen Nachtkleid, durch das ihr großer, schlanker Körper hindurchschimmerte, vor ihrem Bett stehen. Ich spürte, dass sie es nicht wagte, unaufgefordert zu mir ins Bett zu kommen. Sie fürchtete wohl, ich könnte glauben, dass sie meine Beinstummel abstoßend finden würde. Erst auf meinen Wink mit den Augen legte sie sich an meine Seite und ließ es geschehen, dass ich sie ganz an mich heranzog.

Ein Mann zwei Leben

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