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Karin

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Schon in der ersten Woche nach meiner Rückkehr aus dem Spital hatte ich ein Buch mit dem Titel „Astro-Graphologie – Der Schlüssel zur Charakterdeutung“ auf einem Tischchen im Wohnzimmer gefunden. Angelika hatte es in Karins Bücherregal gesehen, darin geblättert und auf dem Tischchen liegen lassen. Es war das einzige Buch über Graphologie, das Karin besessen hatte. Ich vermute, dass sie es weniger wegen der Graphologie als wegen ihres Interesses an der Astrologie gekauft hatte. Sie hatte immer wieder Bücher über Astrologie gelesen. Sie hat aber nie, so viel ich weiß, ihr eigenes Lebenshoroskop erstellen lassen. Um es selbst zu tun, reichten ihre Kenntnisse nicht aus. Und von Horoskopen in den Zeitschriften hielt sie schon gar nichts.

„Was mich interessiert, ist allein die Tatsache, dass Menschen ein und desselben Tierkreiszeichens gemeinsame Charaktereigenschaften aufweisen, die bei den andern nicht so ausgeprägt sind“, hatte sie mir erklärt.

Ich war zuerst skeptisch gewesen. Oft hatte ich sie deswegen ausgelacht. Doch ich begann in ihren Büchern zu lesen und machte bei vielen Menschen Beobachtungen. Ich musste schließlich Karin recht geben. Doch nach wie vor spielte ich den Advocatus Diaboli.

„Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, dass alle Menschen, die wie beispielsweise du im Skorpion geboren sind, die gleichen Eigenschaften besitzen, gleich denken und gleich empfinden wie du. Gerade du, die sich für ein einzigartiges, einmalige Wesen hält, kannst doch nicht glauben wollen, dass der zwölfte Teil der gesamten Menschheit dir gleicht.“

„Das behaupte ich ja auch nicht. So naiv bin ich nicht. Du musst eben auch den Aszendenten berücksichtigen.“

Ich hatte damals nur eine vage Ahnung vom Aszendenten. Doch sie erklärte mir den Unterschied zwischen Sonnenzeichen und Aszendenten. Das Erstere bedeute, dass die Sonne im jeweiligen Sternzeichen stehe, was ungefähr einen Monat dauere. Das andere sei das Sternzeichen, das gerade im Augenblick der Geburt am Horizont aufsteige. Und die zwölf Sternzeichen würden sich im Laufe eines Tages einmal um die Erde drehen, so dass wir im Tagesablauf zwölf Sternzeichen zu Gesicht bekämen, aber nur eines bei der Geburt. Und eben dieser Aszendent könne einen ebenso großen Einfluss auf die Charaktereigenschaften ausüben.

„Also gibt es zusammen mit den zwölf Aszendenten und den zwölf Sonnenzeichen insgesamt einhundertvierundvierzig Gruppen von Menschen, das wären eine Vielzahl von Millionen, die du alle in einen Topf werfen müsstest.“

„Du vergisst, dass keine zwei Menschen genau zur gleichen Zeit am gleichen Ort geboren werden können. Selbst Zwillinge kommen nicht gleichzeitig zur Welt. Und weil die Stellung der Sterne zu keiner Zeit und zu keinem Ort auf der Erde genau gleich ist, hat jeder Mensch seine eigene Prägung.“

„Die örtlichen und zeitlichen Differenzen sind aber so gering“, widersprach ich ihr, „dass die Stellung der Sterne, die so weit von der Erde entfernt sind, kaum einen stark abweichenden Einfluss auf dein Schicksal und deinen Charakter haben können.“

„Halt!“, rief sie. „Ich habe nie gesagt, dass die Sterne einen Einfluss auf mein Schicksal haben. Aber dass sie unsere Charaktereigenschaften beeinflussen, kann ich nicht leugnen. Was jeder Mensch selbst mit seinem Charakter und den Möglichkeiten seiner Eigenschaften macht, ist seine Sache. Das steht in seiner Freiheit.“

Ich gab mich geschlagen und musste Karin stillschweigend wieder einmal recht geben. Ich weiß so wenig, wie sie es wusste, weshalb dies so ist. Aber die Beobachtungen zeigten mir, dass da gewisse unerklärliche Zusammenhänge bestehen; und jeder, der unvoreingenommen ist und sich in seinem Bekanntenkreis umsieht und das Verhalten seiner Mitmenschen beobachtet, wird zugeben müssen, dass an der Sache was dran ist.

Trotzdem gab ich meine Rolle als Advocatus Diaboli noch nicht auf. Denn das, was sie da von der Freiheit sagte, war das, worauf es nach meiner Meinung ankam. Doch gerade diese Freiheit schien sie für sich nicht immer in Anspruch zu nehmen.

„Du weißt also genau wie ich, dass es gefährlich ist, seinen Charakter damit zu entschuldigen, dass er dir von den Gestirnen vorausbestimmt sei und es nichts nütze, ihn ändern zu wollen.“

Ich wollte sie damit provozieren, denn ich hatte schon oftmals erlebt, dass, wenn ich ihr Verhalten, irgendeine impulsive Reaktion bemängelte, mit der sie bei mir oder anderen Menschen anstieß, sie sich selbst gerne darauf hinausredete, sie könne nichts dafür, sie sei nun halt mal ein Skorpion.

„Das habe ich nicht gesagt“, antwortete sie. „Die Freiheit, von der dich sprach, kann man nur im Rahmen seines Charakters beanspruchen. Den Charakter selbst kann man nicht oder nur in geringem Maße ändern. Mir kommt immer wieder ein Zitat von Goethe in den Sinn, das mir seinerzeit in der Schule bei der Lektüre des „Egmont“ einen so großen Eindruck gemacht hat, so dass ich seinen genauen Wortlaut bis heute nicht vergessen habe: ‚Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken.‘ Natürlich ist der Spielraum, unseren Charakter und damit unser Verhalten zu ändern und unser Schicksal zu beeinflussen, nicht unbeschränkt. Aber wir müssen und können während unseres Lebens Millionen persönliche Entscheide treffen. Die Astrologie enthebt uns keineswegs unserer persönlichen Verantwortung. Wir dürfen also die Schuld für unser Verhalten nicht auf die Gestirne abschieben und dürfen auch nicht wie eine Maus gespannt auf den offenen Rachen der Schlange starren und wie gelähmt das Schicksal über uns ergehen lassen im Glauben, alles, was uns widerfahre, sei in den Sternen vorgezeichnet. Du siehst also, dass ich der Meinung bin, dass die Sterne nur das Grundmuster unserer Eigenschaften bestimmen, nicht aber das, was wir daraus machen.“

Ich gab endgültig auf. Auch Karin war also nicht so sehr auf die Astrologie festgefahren, dass sie mir in manchem nicht recht gegeben hätte.

So waren oft unsere Diskussionen gewesen, als wir noch diskutieren konnten, ohne dass daraus ein Streit wurde.

Jetzt, da mir das Buch über Astro-Graphologie in die Hände kam, erwachte in mir plötzlich der Wunsch, mehr über Graphologie zu erfahren. Ich bat Angelika, mir sämtliche Bücher aus der Buchhandlung zu holen, die sie dort über dieses Thema finden würde. Ich hatte jetzt ja nicht nur die Zeit zum Lesen, ich wollte mich auch gründlich in ein Gebiet einarbeiten, das ich mir vielleicht für einen kleinen Nebenverdienst nutzbar machen konnte. Dabei ging es mir weniger um meine finanzielle Lage, die so weit gesichert war, als darum, mich geistig anregend betätigen zu können und um das Gefühl, auch selbst noch etwas für meinen Unterhalt beitragen zu können.

Angelika brachte mir einen ganzen Stoß von Büchern, und ich begann noch am gleichen Tag mit meinem Studium. Ich ließ die Bücher, die für einen oberflächlichen Selbstgebrauch gedacht waren, beiseite und beschäftigte mich nur mit den ernsthaften, wissenschaftlichen Publikationen. Bald war ich so weit, dass ich einige Schriften von Freunden und Bekannten, von denen ich noch handgeschriebene Briefe besaß, analysieren konnte. Auch Hedwig und Martin gaben mir Schriftproben, als sie bei einem ihrer Besuche von meinem neuen Steckenpferd hörten.

Von Karin besaß ich nur noch einen einzigen Brief, den sie mir ein paar Jahre zuvor einmal geschrieben hatte. Ihre Schrift war nicht leicht zu entziffern.

„Wer mich liebt, kann auch meine Schrift lesen“, hatte sie oft gesagt, wenn ich mich ab und zu einmal zu ihrer Schrift geäußert hatte, was ich später jedoch wohlweislich unterließ, weil es meist in einem Ehekrach endete. „Nur du kannst sie nicht lesen, weil du mich nicht liebst. Und wer mich nicht liebt, braucht mich auch nicht zu verstehen.“

Ich nahm den alten Brief zur Hand. Jetzt, da dieser Brief das Persönlichste war, das mir von Karin geblieben, kam mir die Schrift lesbarer vor als damals. Ich begann sie zu analysieren und gab mir Mühe, wirklich nur das aus ihr herauszulesen, was in ihr steckte, und mich so wenig als möglich von dem beeinflussen zu lassen, wie ich Karin gekannt und erlebt hatte. Doch bei einem bekannten Menschen lässt es sich nie ganz vermeiden. Ja, ich empfand es sogar als Vorteil, da man doch zum vornherein weiß, wie positiv oder negativ die einen oder anderen Merkmale zu beurteilen sind. In jedem Menschen gibt es positive und negative Seiten, Stärken und Schwächen, und da manche Tugend, extrem überspitzt und verhärtet, zur Untugend wird, können positive und negative Eigenschaften in der Schrift sich oftmals an den gleichen Merkmalen zeigen. Darum muss man zuerst den Gesamteindruck der Schrift beurteilen, intuitiv ihren inneren Wert erfassen, die Persönlichkeit erkennen, die dahintersteht. Erst dann darf man ins Einzelne gehen, so oder so werten. Und auch dann noch muss sich jede Wertung von verschiedenen Anzeichen bestätigen lassen, ehe man sie äußern darf. Da wo der Graphologe bei einem unbekannten Menschen mangels ungenügender Hinweise oft eine Aussage zurückhalten oder vage formulieren muss, darf er doch bei einem bekannten Menschen sich ein Urteil bilden. Mir hat es sehr geholfen, dass ich zuerst nur Schriftproben von Bekannten analysieren konnte. Dadurch bekam ich die nötige Sicherheit, mit der ich später an die Analyse der Schriften von mir fremden Menschen herangehen konnte. Da aber Martin, Hedwig und einige Freunde, die mir ihre Schriften gegeben hatten, die Ergebnisse nachprüfen und mir ihre Richtigkeit bestätigen konnten, kam ich zu Überzeugung, dass ich auf dem richtigen Weg war. Auf jeden Fall braucht es eine gehörige Portion Intuition, um die Schrift eines unbekannten Menschen richtig beurteilen zu können.

Langsam kristallisierte sich aus Karins Schrift ein Bild heraus, das ich schließlich in einem Analysebericht niederschrieb:

Karin legt Wert darauf, vor ihren Mitmenschen korrekt zu erscheinen und von ihnen möglichst besser beurteilt zu werden, als sie selbst es tut. Auch ihr Äußeres, Kleidung, Erscheinung, sind ihr wichtig. Doch verspürt sie oft den Drang, gegen das Übliche, Herkömmliche zu rebellieren, sich zumindest innerlich dagegen aufzulehnen und sich dort, wo ihr Ruf nicht auf dem Spiele steht, so zu verhalten, wie die Gesellschaft es nicht erwartet.

Karin besitzt ein gesteigertes Exklusivitätsgefühl. Sie ist stolz auf ihre Einzigartigkeit. (Tatsächlich hat sie nichts so sehr geärgert, wie wenn sie mit einem anderen Menschen verwechselt wurde oder wenn ihr jemand berichtete, er sei einem Menschen begegnet, der ihr gleiche.) Sie flieht vor sich selbst, will sich aber auch den andern nicht aufschließen. Sie lässt die Mitmenschen nur schwer an sich heran. (‚Mich kann niemand kennen, außer er liebt mich.‘) Trotzdem besteht ein starkes Bedürfnis nach Kontakt.

Ihr Überlegenheitsgefühl ist Ausdruck einer gewissen Unsicherheit. Dem Wunsch nach Begegnung mit den Mitmenschen steht die Angst, die innere Unsicherheit zu verraten, gegenüber.

Sie ist intelligent, besitzt Bildung, Kultur, ästhetisches Bedürfnis, künstlerische (musikalische) Begabung. Sie ist bewegungs- und reiselustig.

Karin muss sich davor hüten, dass ihr kritischer Sinn nicht in Intoleranz und Unversöhnlichkeit ausartet.

Die Angst, die Zuneigung der anderen zu verlieren, führt zu einem Besitz-ergreifen-Wollen. (Gerade das war es, was mich am meisten von ihr entfernte.) In ihrer Denkweise ist sie ziemlich subjektiv, anderseits aber doch auch nüchtern im Denken, scharfsinnig. Ihre Schrift zeigt, dass die Hand ihren Gedanken kaum zu folgen vermag. Sie ist eigenwillig, oft unberechenbar, lebhaft, spontan, impulsiv.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich um einen Menschen mit großen inneren Konflikten handelt, der voller Widerspruch ist. Gefühl und Verstand bekämpfen sich eher, als dass sie sich ergänzen. Depressionen, Lebensangst auf der einen Seite, Beweglichkeit und – allerdings oft aufgestaute – Energie auf der andern Seite, führen nicht zum Ausgleich, sondern eher zum Konflikt.“

Erst gegen Ende der Analyse wurde mir bewusst, dass ich den Bericht schrieb, als wäre Karin noch am Leben. Eigentlich hätte ich in der Vergangenheitsform schreiben müssen. Aber der Brief war ja von der lebenden Karin geschrieben, und obwohl ich den Inhalt des Briefes gar nicht bewusst wahrnahm, versetzte ich mich gleichsam zurück in die Zeit, in der der Brief geschrieben worden war. Trotzdem empfand ich keine anderen Gefühle ihr gegenüber als all die Jahre vor ihrem Tod und die Wochen und Monate seit diesem Ereignis. Mein stärkstes Gefühl ihr gegenüber war schon immer nur das der Schuld gewesen, der Schuld, sie durch die Heirat an mich gebunden zu haben, obwohl mir damals schon bewusst war, dass ich sie nicht so liebte, wie ich mir vorstellte, dass die einzige große und wahre Liebe sein müsste. Jetzt, da mir ihre inneren Konflikte wieder stärker bewusst wurden, kam zu diesem Gefühl der Schuld auch das des Mitleids. Ja, sie tat mir leid. Aber ich fragte mich auch, wie weit ich schuld an ihren Konflikten war. Sie hatte vom ersten Tag unserer Ehe an in einer Art und Weise von mir Besitz ergriffen und mich nie losgelassen, dass ich unsere Ehe als eine Fessel empfand, die es mir trotz anfänglich langem Widerstreben leichter gemacht hatte, mich innerlich Angelika zuzuwenden, die damals noch nicht verheiratet war, und ihre große Liebe in gleichem Masse zu erwidern. Gehörte dieses Besitzergreifen nicht schon zu Karins Wesen, bevor wir uns kennen lernten? Gerne hätte ich nun einen Brief aus unserer Verlobungszeit oder den ersten Ehejahren zur Hand gehabt, um festzustellen, wie ihre Schrift sich geändert hatte. Doch so sehr ich auch suchte, ich fand keinen aus der Zeit, bevor ich sie betrogen hatte. Doch ich glaube, mich zu erinnern, dass ihre Schrift sich kaum von der späteren unterschieden hat, so dass alle Charaktereigenschaften schon damals in ihr steckten und der Grund zu unserem ehelichen Zerwürfnis schon in ihr saß, bevor wir uns begegnet waren.

Wenn dem so war, dann müssten eigentlich die Charaktereigenschaften des Tierkreiszeichens, unter dem Karin geboren war, mehr oder weniger dasselbe aussagen wie meine Schriftanalyse, überlegte ich mir. Dann müsste Karins Schriftbild sich beinahe zwangsläufig auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu den Skorpionen entwickelt haben, ihr also sozusagen in die Wiege gelegt worden sein.

Ich ließ mir von Angelika ein Astrologiebuch aus Karins Bibliothek holen. Hier las ich ein längeres Kapitel über die Eigenschaft der Skorpione und sah darin meine Vermutung bestätigt. In einem kurzen, zusammenfassenden Text fand ich folgenden Passus:

„Skorpion-Menschen können sein wie Herbststürme, heftig, aggressiv, zerstörerisch. Sie zerfleischen sich selbst. In der Liebe sind sie besitzergreifend. Sie können rachsüchtig sein und fühlen sich meist unverstanden, wollen aber auch nicht, dass man sie versteht, dass man in sie hineinblickt. Der Skorpion ist meist ein liebenswürdiger Mensch, der in Gesellschaft sehr umgänglich ist. Er verteilt jedoch Sympathien und Antipathien in einer manchmal recht unverdeckten und verletzenden Art und Weise. Er ist in starkem Maße ichbezogen. Alles muss sich um ihn drehen. Auf die Gefühle anderer nimmt er kaum Rücksicht. Er kann sich manchmal in eine fast dämonische Zerstörungswut hineinsteigern, die auch dann keine Grenzen kennt, wenn er selber dabei zu Schaden kommt. Der Skorpion setzt alles aufs Spiel. Doch er mag sich noch so oft mit seinem eigenen Stachel ins eigene Fleisch stechen, er wird immer wieder wie ein Phönix aus der Asche auferstehen.“

Ich war verblüfft, wie nah doch diese Charakterisierung meiner Analyse kam. Alle ihre Eigenschaften steckten also doch wohl in Karin seit ihrer Geburt und hatten sich durch unser Zusammenleben weder im Guten noch im Bösen wesentlich verändern lassen. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht ganz los, in meiner Ehe manches versäumt zu haben und zu wenig auf Karins Gefühle eingegangen zu sein. Vor allem aber hatte ich durch meine Abwendung von ihr und meine Liebe zu Angelika ihre Gefühle negativ beeinflusst und verstärkt. Eingebettet in meine Liebe, hätten sie sich wohl sanfter geäußert und hätten nie zu diesen Spannungen zwischen uns geführt und sie in die Arme eines anderen getrieben. Jetzt, da Karin tot war, bedauerte ich, dass ich ihr nicht mehr von dieser meiner späten Erkenntnis sagen konnte. Doch, so dache ich auch wieder, was wäre in unserem Leben anders geworden? Das Schicksal hat es nun offenbar einmal so gewollt.

Ich beschloss, nebst der Graphologie mich auch vermehrt mit den Eigenschaften der Tierkreiszeichen zu beschäftigen, dabei aber meine Skepsis doch beizubehalten. Ich wollte mit aller Vorsicht versuchen, Zusammenhänge zwischen Tierkreiszeichen und Schrift zu finden. Bei meinen Analysen sollte das eine das andere bestätigen.

Karin selbst hatte oft in diesen Büchern gelesen. Sie musste sich in solchen Charakterisierungen wiedererkannt haben. Doch sie war stolz, ein Skorpion zu sein, ein Skorpion wie kein anderer, außer Bernhard natürlich, der fast am gleichen Tag wie sie Geburtstag hatte. Nur sie beide, hatte sie behauptet, seien richtige Skorpione, so voller Widersprüche, so voller Leidenschaft, so eingebildet noch auf alle schlechten Eigenschaften und Laster, auf deren Schicksalshaftigkeit man sich so gut berufen konnte. „Ich bin halt ein Skorpion. Da kann man nichts dagegen tun.“ Sie war der Gefahr, schicksalsgläubig zu werden, nicht entgangen, hatte dem Schicksalswagen aus Goethes „Egmont“ doch keine so große Bewegungsfreiheit zugetraut, wie sie mir in unseren Diskussionen hatte weismachen wollen, sie, die von allen anderen erwartete, dass sie gegen das Schicksal ankämpften und sich nicht damit entschuldigten, dass man nichts ändern könne. Man brauche nur zu wollen. Im Grunde wollte auch sie sich nicht ergeben. Auch sie kämpfte gegen das Schicksal, aber nicht in sich. Nicht sie wollte sich ändern, um das Schicksal zu ändern, um das Schicksal zu zwingen, sondern die andern sollten sich ändern, damit ihr Schicksal erträglicher würde.

Ein Mann zwei Leben

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