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2. Kapitel

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Vera Feiner saß am Abend des 1. August allein im Wohnzimmer – Living nannte sie es – und blätterte in einer Zeitschrift. Aus den Boxen der Stereoanlage ertönte das Klavierkonzert Nr. 24 in a-Moll, KV 491 von Mozart, bei dem sie das Larghetto besonders liebte. Vor zwei Jahren hatte sie die gleiche CD mit den beiden Konzerten Nr. 19 und Nr. 24, mit dem Pianisten Vladimir Ashkenazy, Michael zu seinem achtundvierzigsten Geburtstag geschenkt. Oft hatten sie gemeinsam dieses Konzert gehört, mal bei ihr, hier im Living, mal bei ihm drunten in seinem Haus im Lauterbach. Oft aber, wenn sie allein war, gab ihr die Vorstellung, Michael höre bei sich zu Hause vielleicht gleichzeitig ebenfalls „ihr“ Klavierkonzert, das Gefühl oder die Illusion von geistig-seelischer Übereinstimmung. Auch heute gab sie sich ganz dem Gedanken an diese Liebe hin. Das Blättern in der Zeitschrift geschah ohne innere Beziehung. Sie besaß die Fähigkeit, verschiedene Dinge zugleich zu tun oder in einer Gesellschaft auf verschiedene Gespräche gleichzeitig zu hören und zu reagieren. Michael empfand es oft als Beleidigung, denn er stellte immer wieder fest, dass sie ihm nicht recht zuhörte, obwohl sie das Gegenteil behauptete. Oft entbehrte, was sie sagte, aller Logik. Oft, wenn er ihr etwas ausreden wollte, was ihrer zu allem Mysteriösen und Übersinnlichen neigenden Phantasie entsprang, fiel sie ihm ins Wort, glaubte, bereits zu wissen, was er ihr sagen wollte, legte ihm ihre Worte in den Mund und war dabei kaum zu bremsen. Vera war vollkommen davon überzeugt, eine aufmerksame Zuhörerin zu sein und die Aussagen der andern in keiner Weise zu beeinflussen. Michael jedoch war nicht bereit, sich von ihr Gedanken aufdrängen zu lassen, die nicht die seinen waren. Und so kam es öfter zu Spannungen zwischen ihm und Vera, die seine Beziehung zu ihr schon seit längerer Zeit belasteten und zu einer anfänglich inneren und allmählich auch äußeren Loslösung von ihr führten.

Mitten ins Larghetto hinein schrillte das Telefon. Vera überlegte, wer es sein könnte. Vielleicht ihr Mann, der schon früh zu dem alle zwei Monate stattfindenden Stamm der Altherren seiner Studentenverbindung weggefahren war. Wahrscheinlich wollte er ihr mitteilen, sie solle nicht mehr auf ihn warten, es werde doch – wie meistens – später, als er gedacht habe. Wenn er nur nicht so viel trinken würde.

Oder war es Michael? Seine Anrufe und Besuche hatten zwar aufgehört, seit er dieses Mädchen, Käthi Amacker, kennen gelernt hatte. Aber sie hoffte doch darauf, dass er eines Tages wieder zu ihr zurückkehren würde. Ja, sie war sogar davon überzeugt. Was konnte ihm denn dieses Mädchen schon bieten!? Das Einzige was diese Käthi ihr voraus hatte, war ihre Jugend. Mit ihren sechsundzwanzig Jahren war sie gut dreißig Jahre jünger als sie, aber sonst? Das war doch ein unbedeutender Mensch. Zu unbedeutend für einen Mann wie Michael.

Vera drehte den Lautstärkeregler zurück und nahm den Hörer ab.

Es war Wilma Huberti.

„Gerade in diesem Augenblick habe ich an Sie gedacht“, sagte Vera und war überzeugt, dass sie tatsächlich einen kurzen Moment geglaubt hatte, es könnte Frau Wilma sein.

Vera hatte erst vor ein par Monaten Wilma Huberti kennen gelernt. Das war beim Besuch einer Cousine in Göttingen am Bodensee gewesen. Dort hatte Frau Huberti im Haus der Cousine eine Wohnung gemietet. Wilma – die beiden Frauen nannten sich gleich bei ihrer ersten Begegnungen mit ihren Vornamen – war nur wenig jünger als Vera, sah aber viel weniger attraktiv aus als diese. Ihr Gesicht war hart geschnitten, beinahe männlich.

Wilma Huberti beschäftigte sich intensiv, wie sie selbst sagte, streng wissenschaftlich mit Astrologie. Die Cousine, die Veras Neigung kannte, hatte die beiden Frauen miteinander in Verbindung gebracht, nachdem sie der Sternkundigen schon einige Zeit zuvor Veras Geburtsdatum genannt hatte, ohne jedoch die genaue Tageszeit oder den genauen Geburtsort zu kennen. In einem ersten Gespräch, das einige Stunden dauerte, hatte die Astrologin Vera auf den Kopf so vieles zugesagt, das sie in Erstaunen versetzte, dass sie vollkommen von der Aussage der Ehrlichkeit und den Fähigkeiten dieser wundervollen Frau überzeugt war. Schon auf Grund der dürftigen Unterlage – allein ihres Geburtsdatums – hatte sie so vieles über Veras Mann, über ihren Sohn, ja selbst über ihren Geliebten ausgesagt, dass für Vera kein Zweifel – den sie allerdings vorher schon nicht hatte – an der Wahrheit der Planeten, über die Wilma so viel zu sagen wusste, bestand.

Selbstverständlich hatte Wilma Huberti sich nun bei dieser persönlichen Begegnung auch nach ihrer genauen Geburtszeit und ihrem Geburtsort erkundigt, um in den kommenden Wochen weiter an Veras Geburtshoroskop zu arbeiten. Einmal hatte sie Vera angerufen und ihr mitgeteilt, sie habe gesehen, dass sich etwas ereignen würde, das einen großen Einfluss auf ihr Leben ausüben würde.

An diesem Abend fragte sie Vera nach ihrem Befinden. Vera konnte ihre Unruhe nicht verbergen, und Wilma erinnerte sie daran, dass sie ihr für diese Tage jenes Ereignis vorausgesagt habe. Vera vermochte sich des Datums nicht zu erinnern, jetzt aber, da Wilma es ihr sagte, tauchte es wieder aus ihrem Unterbewusstsein auf und bestärkte sie in ihrer Unruhe.

„Ich sehe nicht, wer es ist“, sagte Frau Huberti, „vielleicht Ihr Mann oder Ihr Sohn, vielleicht aber auch jener andere Mann. Sie tun sicher gut daran, wenn Sie alle drei in den nächsten Tagen zur Vorsicht ermahnen.“

„Mein Freund hat mich verlassen“, sagte Vera, verschwieg aber, dass es zwischen ihr und Michael gerade wegen dieser Sterndeuterin zu schweren Spannungen gekommen war, obwohl Vera die Schuld an dem Auseinanderleben allein Käthi Amacker zusprach. Dass Michaels Liebe zu Käthi jedoch gerade eine Folge dieser Entfremdung zwischen ihr und Michael sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Vielleicht verdrängte sie diese Einsicht auch unbewusst.

„Könnte es diese Trennung sein, die Sie gesehen haben im Horoskop?“, fragte Vera.

Nachdem Wilma erfuhr, dass dies doch schon einige Zeit zurückliege, verneinte sie, erinnerte Vera aber daran, dass sie ihr auch schwere Belastungen in ihrer Beziehung zu dem Mann vorausgesagt habe.

Das Klavierkonzert war schon längst verklungen. Vera verabschiedete sich schließlich von Wilma, griff aber sofort wieder zum Hörer, nachdem sie zuerst aus dem Telefonbuch die Nummer des Restaurants „Seefeld“ in Hurden herausgesucht hatte. Adalbert war jedoch am Stamm nicht zu erreichen. Er war vor einer Weile schon hinausgegangen, aber niemand hatte bemerkt, dass er nicht mehr zurückgekommen war. Sein Auto stand auch nicht mehr auf dem Parkplatz neben dem Gasthaus.

Sohn Aurelius spielte heute Abend im Lido in Rapperswil. Ihn konnte Vera nicht einfach so ans Telefon rufen lassen.

Eine Weile überlegte sie sich, ob sie Michael anrufen sollte. Wenigstens wollte sie wissen, ob er zu Hause war. Sie wählte seine Nummer. Als Michel sich meldete, legte sie den Hörer zurück, ohne sich zu erkennen zu geben. Fürs Erste war sie beruhigt, wenigstens was Michael betraf.

Schon während sie dem Klavierkonzert gelauscht hatte, war das heftige Gewitter heraufgezogen und hatte sich über der Gegend entladen, dann hatte es wieder etwas nachgelassen. Nun, da die Blitze von neuem aufzuckten, löschte sie das Licht im Living. Sie liebte es, aus der Sicherheit des dunklen Zimmers heraus das Gewitter zu beobachten. Aber in dieser Nacht flößte ihr der Sturm doch einige Angst ein. Nicht Angst um sich selbst. Sie behauptete von sich, noch nie im Leben Angst empfunden zu haben, außer für andere. Und Angst um andere hatte sie auch diesmal.

Als Adalbert um Mitternacht noch nicht zu Hause war, rief sie erneut im „Seefeld“ an. Man sagte ihr, die Stammrunde sei bereits aufgebrochen. Sie wartete nochmals eine Viertelstunde, dann rief sie bei Flint an. Diesmal hatte sie Glück. Wie sie vermutet hatte, war man zu Flint nach Hause gefahren. Adalbert wurde ans Telefon gerufen. Seine Stimme war laut, lauter als sonst, wenn er nüchtern war, aber nicht ungewohnt in diesem Zustand, in dem er sich wieder einmal befand. Dies war eigentlich selten, aber doch meistens dann der Fall, wenn er sich mit den Altherren seiner Verbindung traf.

Vera brauche ihm nachzuspionieren, schrie er sie an, und aus dem Hintergrund vernahm Vera das Grölen und Lachen seiner Farbenbrüder. Dass sechzigjährige Männer sich so benehmen konnten, hatte Vera noch nie verstehen können. Sie hatte auch jedes Mal Angst, wenn er von solchen Abenden mit dem Wagen nach Hause fuhr. Doch Adalbert schien ein besonderes Glück zu haben. Noch nie war etwas geschehen, und noch nie war er in eine Polizeikontrolle geraten.

Als Vera bat, er möchte doch nicht selber heimfahren, und als sie gar noch von Wilma Hubers Anruf zu erzählen anfangen wollte, schmiss Adalbert den Hörer wütend auf den Apparat. Vera hörte ein Scheppern, der Hörer musste wohl mehr neben als auf den Apparat zu liegen gekommen sein, denn sie vernahm weiter lärmige Stimmen, aus denen die von Adalbert herauszuhören war.

Vera horchte noch eine Weile und legte dann auf. Es wurde spät. Und mit den Stunden wuchs die Sorge um Adalbert.

Vera fragte sich, warum sie sich eigentlich Sorgen mache. Sie und Adalbert hatten sich auseinandergelebt, schon bevor sie Michael kennen gelernt hatte. Und doch, sie brauchte ihn, jetzt, seit sie Michael verloren hatte, noch mehr. Er war ihr trotz allem ein guter Kamerad.

Michael hatte sie vor fünf Jahren kennen gelernt nach der Uraufführung seines Stücks „Des einen Uhl“ im Schauspielhaus. Sie hatte ihn nach der Vorstellung im Foyer angesprochen und ihm gesagt, wie sehr ihr das Stück gefallen habe. Und er hatte sie und Adalbert ganz spontan zu der anschließenden Party im Haus des Verlegers eingeladen.

Vera Feiner, schon damals um die fünfzig und einiges älter als Michael, war eine auffallende Frau. Sie war groß und schlank, ihr Auftreten war sicher, ihr Gang leicht und grazil, fast eine Spur zu beschwingt für eine Frau ihres Alters, um noch natürlich zu wirken. Ihr Gesicht strahlte etwas aus von Intelligenz, Abgeklärtheit und menschlicher Reife. Doch ihr Blick hatte etwas Herausforderndes, vielleicht sogar etwas Aufreizendes, Verführerisches, obwohl sie das später immer wieder bestritt und Michael nur Eifersucht vorwarf, wenn er von ihr etwas mehr Zurückhaltung gegenüber anderen Männern, nicht nur aus ihrem Bekanntenkreis, sondern auch fremden, erwartete.

Diese Frau könnte ich lieben, hatte Michael bei der ersten Begegnung schon gedacht, wie er ihr später gestand. Und dann war in den nächsten Monaten tatsächlich eine große Liebe gewachsen, auch bei ihr. Ihr Mann hatte dies mitangesehen, hatte es geduldet, da er es anfänglich nur für eine Schwärmerei für den erfolgreichen Schriftsteller hielt. Als er dann aber erkennen musste, dass es mehr als nur Verehrung war, verfolgte er ihre Beziehung zu Federbein mit großer, manchmal fast krankhafter Eifersucht, obwohl er selber außerhalb der Ehe ebenfalls eine neue Liebe erfahren hatte. Er fühlte sich zwar in seiner Ehre gekränkt, dass Vera die Erfüllung ihrer gemeinsamen Liebe nicht gefunden und ein jüngerer Mann ihn ausgestochen hatte. Aber er wollte und konnte ihr jetzt nicht davor sein, auch wenn es ihm wehtat. Er glaubte, seiner Frau diese Freiheit nicht verwehren zu dürfen, die er selber für sich in Anspruch nahm. Er liebte Vera wie ein Freund. Und er passte auf sie auf wie ein Vater auf seine unmündige Tochter. Wäre Michael ein Abenteurer gewesen, er hätte es nicht ertragen und nicht geduldet.

Um zwei Uhr hielt ein Auto vor dem Haus. Vera schaute durchs Fenster. Es war Flint. Auf der anderen Seite stieg noch einer aus, ein junger Mann, den Vera nicht kannte. Gemeinsam zogen sie Adalbert aus dem Wagen. Vera stürzte hinaus, öffnete die Haustür.

„Was ist geschehen?“, rief sie.

„Nichts“, beruhigte sie Flint. „Wenn er den Rausch ausgeschlafen hat, ist alles wieder in Ordnung. Er soll ruhig bis Mittag schlafen. Ich hol ihn später am Nachmittag und fahr ihn ins Geschäft. Sein Wagen steht bei mir. Er kann ihn dann am Abend holen.“

Flint und der andere wollten ihn noch ins Bett bringen. Aber Adalbert begehrte plötzlich auf.

Es sei wohl besser, wenn sie nun gingen, meinte Vera, sie werde schon allein fertig mit ihm, dankte den beiden und verabschiedete sich.

Adalbert lallte etwas von Nachspionieren und er sei kein Kind mehr, stieß Vera heftig von sich und drohte ihr, als sie nicht aufhören wollte, sich um ihn zu sorgen, so dass sie ihn, nachdem er neben dem Bett zusammengesunken war, dort liegen ließ und es vorzog, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.

Glücklich, dass nichts Schlimmeres passiert war, schlief sie ein, nachdem sie gehört hatte, dass auch Aurelius gut nach Hause gekommen war.

Mord in Hombrechtikon und Tod am Wasserfall

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