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Kapitel Eins KONTAKT
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Es herrscht Krieg. Na ja, Kalter Krieg. Aber immerhin. Der Ölpreis steigt und die RAF bringt die Bundesrepublik – das eine Deutschland – zur Verzweiflung. „Die Grenzen der demokratischen Belastbarkeit“, heißt so was dann. Und: „Am Rande des Rechtsstaates operieren“. Sagen die einen. „Weg damit!“, sagen die anderen. Schreien sogar. Und das eigentlich immer. Und die ganz anderen? Heißen immer noch DDR. Das andere Deutschland sozusagen. SBZ. Drüben. Ostblock. Ostzone. Im Osten nichts Neues, auch das ließe sich behaupten. Dann der „Sturm 333“. Häh? Was’n das jetzt wieder? So nennt sich die Offensive der Sowjetunion gegen Afghanistan. 1980 war das. Und sowas schimpft sich jetzt Brennpunkt des Kalten Krieges. So viele Eigentümlichkeiten. Früher ging’s einfach Knüppel auf den Kopf. Nun aber hieß so etwas Konflikt. Oder Einsatz. Kollateralschäden auch damals schon. Mehr als genug. War aber für eine gerechte Sache. Sagen die einen ...
Aber was sein muss, muss sein! Osten gut, Westen schlecht. Oder umgekehrt, je nachdem, wo man halt steht. Wer kann das schon wissen. Barbrak Kamal heißt da einer, der es weiß. Der ist Staatschef in Afghanistan. Kennt heute auch keiner mehr. Kamal aber ist es, der dann mit den Russen kollaboriert. Und das ist auch so eine Sache. Russen, Sowjets, UdSSR, die Roten – alles dasselbe damals. Und die anderen? Amis! NATO bestenfalls. Hier aber: der Geheimdienst. Der schickt Waffen an alle, die bis drei zählen können und gegen die Russen sind. Das wird sich noch rächen. Weiß man heute. Aber wenn der Kommunismus sich ausbreitet, ist alles verloren. Und die anderen sagen dann: Aber, aber. Ist doch nur wider den Imperialismus! Nun ja.
Es klingt so einfach, so manch einem vertraut, und wieder anderen Millionen Jahre weit weg. Es war aber Realität. Jeden Tag. Wer es miterlebt hat, wird es wohl kaum vergessen. Sorgenfalten auf der Stirn der Eltern, Jodtabletten, Wehrdienst, Luftschutzübungen und immer die Worte „Konflikt“, „Offensive“, „Teile der Roten Armee haben..“, und so weiterundsofort. Immer pünktlich um viertel nach Acht in der Tageschau. Ungläubiges Staunen. Treffen sich zwei Weltanschauungen. Sagt die eine „Und? Wie geht’s?“ Sagt die andere: „Wie soll’s schon gehen. Gleichbleibend beschissen.“ Und auch wenn Entspannung in Sicht war, seit der Kubakrise hatte die Welt ihr Testament dann doch immer in der Manteltasche bei sich. Man weiß ja nie. Millionen Soldaten, Panzer, Kampfflugzeuge, dazu Betonköpfe in den Parlamenten und Parlamentäre auf den Konferenzen. Von den Atomwaffen fangen wir hier gar nicht erst an. Afghanistan – so wird man später sagen – würde das sowjetische Vietnam werden. Aber das stimmt nicht ganz. Im Falle Vietnams waren die Verluste an amerikanischen Soldaten dem heimischen Publikum nicht mehr vermittelbar. Zumutbar ohnehin nicht. Das war bei den Russen anders. Der Tod des russischen Soldaten war schon immer billig zu haben, da konnte auch die Truppe in Afghanistan keine Extrawurst erwarten. Speznas? Ach komm ... Nein, am Ende ging der UdSSR schlicht das Geld aus. Konto leer, Portemonnaie verloren, Licht aus. Erst in Afghanistan und dann im ganzen Warschauer Pakt. Und das war es dann. Do Swidanja. All den Arsenalen wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht, im wahrsten Sinne. Geschichte kann so unspektakulär sein. „Wenn wir den Menschen nicht ändern, dann fängt die ganze Scheiße von vorne an!“ So sprach Karl Marx und so kam es denn auch. Wie visionär.
Dann gab es noch die blockfreien Staaten und es gab Embargos und es gab Sicherheitskonferenzen und was noch alles. Aber am Ende wurde dann doch die Zahl der Atomwaffen immer wieder und noch einmal erhöht, bis dem Einen dann – wir hatten das ja schon – die Puste ausging. Uff. Tut-Zug stoppt mit Tender leer. Doch so weit sind wir noch nicht. Oh, so weit sind wir noch lange nicht! Denn mitten in all dem Getöse, mittendrin, als alles, was einmal Bipolar in Multipolar und noch viel später in Monopolar verwandeln sollte noch so endlos weit weg scheint, mittendrin und völlig ahnungslos steht nun also Einer an dem Tresen einer Bierschenke und fragt uns zurecht, was das alles mit ihm zu tun haben mag. Achselzucken.
Es darf hier schon verraten werden: gar nichts. Oder aber: alles. Denn der Schleier, der über allem Geschehen in Europa und der Welt liegt, lüftet sich nicht. Noch nicht. Die Supermächte sind wie zwei nervöse Hunde an bis zum Zerreißen gespannten Ketten, die einander ankläffen und so gern zubeißen würden. Alles, was der Mensch in seinem Einfallsreichtum erdenken könnte, um sich selbst auszulöschen, steht sozusagen Gewehr bei Fuß. Die Entfesselung als schwarzer Punkt, ganz da hinten am Horizont. Anspannung ist greifbar. Grenzkontrolle. Was hamse denn da? Sirenengeheul. Kaleidoskopisches Lichtermeer aus Scherben und Blaulicht. Hahaha. Reingefallen! Nur eine Übung. Und dennoch Alltag, auch in der Bundesrepublik zu jener Zeit. Und in all diesem waffenstarrenden Geschehen, in dieser Zeit, in der man nicht weiß, wer Falke oder Taube ist, spielt unsere Geschichte, und nun wollen wir sie denn auch beginnen lassen.
II.
Es ließe sich also so zusammenfassen: es war eine ganze Menge los gewesen, seit Richard genannt Rick Pfeffer 1979, also vor nunmehr fast sieben Jahren den Job bei jener Zeitung begonnen hatte. Eine ganze Menge los, jawohl, und es hatte nicht danach ausgesehen, dass sich dies noch einmal ändern sollte. Doch das alles interessierte Rick Pfeffer heute Abend herzlich wenig.
Es war Freitag, und es war wieder einer dieser speziellen Tage. Richard genannt Rick Pfeffer saß jedenfalls fest im Sattel. Ach nee. So gar nicht. Warte ... ach verdammt. Er saß im Sattelschlepper, einer Bierschenke mittlerer Größe und unterer Ansprüche nahe der A1 bei Delmenhorst und dachte über die vergangenen Wochen nach. Da aber hatte er allerdings fest im Sattel gesessen, hatte sogar das Lasso geschwungen und laut „Yehaaw“, geschrien. Jene vergangenen Wochen, die im heutigen Tag ihr unrühmliches aber dafür nicht gerade leises Ende gefunden hatten. Was war denn bloß schief gelaufen? Grübel, grübel.
Eigentlich hatte alles ganz vortrefflich angefangen. Formidabel könnte man sagen. Damals. Mit der neuen Stelle. Also vor jetzt fast genau sieben Jahren. Wie gesagt. Da hatte er den Job als Redakteur für den Lokalteil des Weser-Land-Blattes angetreten. Uff, der Lokalteil. Na ja. Aber gut, irgendwo gibt es immer eine erste Stufe und die muss man nehmen, wenn man auf der Treppe ganz nach oben will. Und genau dort hatte er hingewollt. Ganz nach oben. Zugegeben: das Weser-Land-Blatt war jetzt nicht gerade der SPIEGEL oder die FRANKFURTER, aber immerhin: er konnte dort als Journalist arbeiten. Endlich konnte er zeigen, was er so drauf hatte, ganz so, wie er es sich immer ausgemalt, wie er es sich immer gewünscht hatte. Und eigentlich war dann ja auch alles recht gut angelaufen. Mit seinen in der Tat hervorragenden Zeugnissen hatte er alle Kollegen ausgestochen, die sich gemeinsam mit ihm auf die Stelle bewarben, selbst die erfahrenen und die viel gereisten. In einem nämlich war er schon immer der beste: im Überzeugen. „Fünf Minuten! Geben Sie mir nur fünf Minuten, mehr brauche ich nicht! Wenn Sie mich dann nicht wollen, gehe ich sofort!“, hatte er in seine Bewerbung geschrieben und mehr hatte er dann tatsächlich nicht gebraucht. Kleiner Cognac, Herr Redakteur? Aber sicher doch! Kling, Schlürf, Ahhh!
Dann aber ging es los. Und die Arbeit selbst konnte einen echten Rick Pfeffer wenig überzeugen. „Zuchtbulle des Jahres kommt aus Bremen“, lautete die Überschrift des Artikels. Es ging, welch Überraschung, um einen stattlichen Holsteiner-Bullen, der von den Züchtern der Region und den Journalisten der Fachpresse zu eben jenem Kuh-König gewählt worden war. Nach Pulitzer-Preis klang das eher nicht. Au Backe.
„Keine Sau interessiert dieser Scheiß“, murmelte Pfeffer noch, als er das jungfräuliche, weiße Blatt in seine Olivetta spannte und anfing, den Artikel zu schreiben. „Und das sollen jetzt meine ersten Zeilen als Journalist sein? Als Redakteur? Das ist ja lächerlich!“ Erst mal eine HB. Er rauchte langsam und betrachtete das Bild des Rindes. Ja, ja, dochdoch. Er musste es zugeben: der Bulle hatte tatsächlich eine stattliche Größe. Auch seine ganze Statur war um so vieles beeindruckender, als die der anderen Bullen. Hm ... tja, könnte das und - aber was wäre wenn der ... aber dann hätte ja ... GENAU! Und da schoss es ihm ein: der ist gedopt! Aber klar doch! Zugepumpt mit Steroiden. Dicht bis unter die Hufe! Wie hatte er das übersehen können, es war doch sonnenklar! Alle anderen Tiere sahen einfach nur gewöhnlich aus, normal eben. Aber dieser Bulle war so wohlgediehen, wie man es sonst nur von den DDR-Schwimmern oder Kugelstoßerinnen aus China kennt. Dann sah sich Rick Pfeffer das Bild noch einmal genauer an. Lupe raus und die Glupschkorken bis zum Zerplatzen fokussiert. Da waren zunächst der Bulle und sein Besitzer. Gut. Der Bulle war groß und sehr kräftig. Also gedopt – ja. Aber der wird ja nun nicht allein in die Apotheke gegangen sein. Der Besitzer hielt in einer Hand die Trophäe, in der anderen die Leine, die am Nasenring des Bullen befestigt war. Er wirkte eigentlich ganz unverdächtig. Im Hintergrund die Juroren und ... da! Mit seinem überdimensionierten Leseglas konnte Pfeffer es sehen! Fast nicht zu erkennen, stand im Hintergrund ein Herr mittleren Alters, Haarkranz, Brille, dunkler Anzug. Dreiteiler, Seidenkrawatte. „Warum trägt der Typ einen Anzug?“, schoss es Pfeffer durch den Kopf. Alle waren in Arbeitskleidung, alle! Sie trugen Latzhosen oder ein ähnliches Gewand niedersächsischer Knechtsnatur, nur dieser eine Kerl trug einen Anzug. Aha. Schon mal verdächtig. Aber es beschlich Pfeffer auch der Gedanke, den Anzugträger schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Nur wo?
Er nahm das Foto und ging zu Werner Bangemann, dem Redaktionsleiter. „Der Artikel muss nach hinten gestellt werden. Unbedingt“. Zeit, Zeit. Er rang nach Worten. Er schürzte vor, eine Spur zu haben, nur ein wenig Zeit, noch ein wenig mehr, die Fotos wären nichts geworden, und er müsse noch einmal zum Züchter, um ein vernünftiges Bild zu schießen. Bangemann knurrte zwar und kürzte seine Vergütung um zwei Pfennig pro Zeile, sagte dann aber so etwas wie „‘s interessiert doch eh kein Schwein!“
„Noch nicht“, dachte sich Pfeffer schelmisch grinsend, „noch nicht!“ Und huch – die Sache begann ihm langsam Spaß zu machen. War das jetzt dieses Jagdfieber, von dem alle immer gesprochen hatten? Mal sehen.
Er verließ das Verlagshaus und plötzlich fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wohin er nun eigentlich gehen sollte. „Nachgehen gleich Weggehen“, war sein erster Gedanke, als er das Bild oben eingesteckt hatte. Jetzt aber fragte er sich, was er damit eigentlich hatte sagen wollen. Was tut man, wenn man meint, jemanden zu erkennen, aber nicht weiß, wo man suchen soll?
„Oh Mann“, seufzte Pfeffer. „Eine Maschine müsste es geben. Eine Suchmaschine. Ständig verfügbar. Begriff rein, Ergebnis raus!“ Hm ..., während er so darüber nachdachte, fragte er sich, ob nicht „Findemaschine“, ein treffenderer Name wäre, als ihm auch schon die Sinnlosigkeit des gesamten Gedankens bewusst wurde. Zu viel Science Fiction. Eher so Lem oder Dick. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm erst einmal ein paar kräftige Züge. Schulterzucken, Stirnekratzen. Paff Paff und Asche abschnippen. Was soll’s schon. Er beschloss, zunächst zum Hof des Züchters zu fahren. Er hatte vom Verlag einen nagelneuen Opel Senator zur Verfügung gestellt bekommen, den er sich jedoch mit drei weiteren Kollegen teilen musste. Die saßen aber im Moment alle oben in den verrauchten Redaktionsräumen und so gehörte das stolze Flaggschiff der Opelfamilie hier und heute nur ihm allein. Er stieg ein, schloss die Tür mit dem angenehmen Schmatzen eines Neuwagens und fuhr los. Um diese Uhrzeit war nicht viel los auf den Straßen und so war er bereits wenig später am Hof des Züchters angekommen. Er begann natürlich sofort damit, das Gelände zu observieren.
So verging die Zeit und nachdem Enthüllungsjournalist Rick Pfeffer zwar noch nichts enthüllt, aber dafür zwei Stunden lang einen Acker mit Stall und Wohnhaus observiert hatte, entschloss er sich, abermals zu handeln. Wirkung vor Deckung. Nur so geht es! „Nur wer sich traut, bekommt die schönste Braut!“, hörte er noch seinen alten Vater vor sich hinzitieren, als er aus dem Senator stieg und auf das Haus zuging. Doch ach, sofort drang die Feuchtigkeit des vom ewigen Regen matschig gewordenen Bodens in seine nicht allzu teuren Schuhe und er spürte, wie die Kälte des Schlamms seine Füße umschloss. Das war äußerst unangenehm. Sein erstes Gehalt hatte er noch nicht bekommen und wenn jetzt die Schuhe hin waren, müsste er wohl morgen sockfuss zur Arbeit gehen. „Verdammt!“, rief er halblaut. Und dann lauter: „Verdammt, verdammt, verdammt!“, und drehte schon, um wieder in Richtung Opel Senator zu stelzen, als er plötzlich wie vom Blitz getroffen stehen blieb.
„Nein! Echt jetzt! NEIN! Es wird hier nicht aufgegeben wegen einem einzigen Paar Schuhe! Vater hat auch nicht aufgegeben damals im Osten, und was hatte der erst auszustehen. Das hier ist jetzt mein Krieg. Mein Krieg gegen Lüge und Rosstäuscherei, mein Krieg für Gerechtigkeit. Und für die Wahrheit.“
Pathetisch? Oh ja! Aber Pfeffer bemerkte, wie er sich bei diesen Worten, die er beinahe ein wenig zu laut gesagt hatte innerlich aufrichtete. Haltung meine Herren! Er war jetzt am Zug. Er war der einzig Übriggebliebene. Es gab sonst niemanden mehr, der sich dieser Sache hätte stellen können, und morgen war es vielleicht schon zu spät.
Er drehte also erneut um und ging nun – entschlossen und zielgerichtet – auf das Hauptgebäude des Hofes zu und klopfte. Es wurde geöffnet und ihm stockte der Atem.
Niemand anderes als der Anzugträger vom Foto öffnete ihm.
„Ja bitte?“
Pfeffer starrte den Anzugträger ungläubig an. Ostdialekt! Erwischt!
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte der nur. Pfeffer starrte weiter. Er konnte es nicht fassen. Es verging eine Weile. Dann wieder der alte Anzugträger: „Ja, was wolln’se denn, Junge?“ Wieder nichts. Dann rief der Anzugträger leicht nach hinten gewandt: „MATTHIAS! Komm’ mal an die Tür!“, und wieder zu Pfeffer: „Warten ‘se mal kurz hier.“ Bums, und zu war die Tür. Pfeffer verstand die Welt nicht mehr. Nur Sekunden später öffnete sich die Tür erneut und vor dem Journalisten Richard genannt Rick Pfeffer stand der Züchter, und der war ebenso einschüchternd wie sein preisgekrönter Bulle.
„Ja?“, fragte dieser, und jetzt konnte Pfeffer antworten. „Pfeffer, vom Weser-Land-Blatt. Ich war gestern auf der Preisverleihung.“
„Ja, ach so, Mensch entschuldigen Sie bitte meinen alten Vater, ich habe ihm schon hundertmal gesagt, er soll nicht zur Tür gehen!“, und ganz leise fügte er hinzu „der hört ja fast nix mehr, wissen Sie? Aber die Türklingel, die hört er noch. Weiß der Geier warum.“
Das Eis war gebrochen, jetzt konnte es losgehen. Die Fragen sprudelten nur so aus Pfeffer heraus und eine lag auf der Hand.
„Wenn der nichts mehr hört, warum flüstern Sie dann?“
„Auch wieder wahr.“ Der Züchter runzelte die Stirn. Verunsicherung. Ha! Jetzt oder nie, Pfeffer musste in die Offensive gehen. Wirkung vor Deckung.
„Ihr, ... also der Bulle, ... der war ja wirklich ziemlich groß, nicht wahr!“, begann er sein Verhör mit dem ahnungslosen Delinquenten.
„Ja, das kann man wohl sagen“, schoss es aus dem Züchter heraus. „Den haben wir ganz ordentlich hinbekommen, was? Aufgepäppelt. Das macht die gute Luft hier und das saftige Gras. Alles hundert Prozent biologisch. Außerdem die nette Gesellschaft nicht zu vergessen“, schmitzte der Züchter und zeigte auf die weidenden Kühe neben dem Haus.
„Gute Luft am Arsch“, grummelte Pfeffer in Gedanken. „So dreist zu lügen. Aber pass bloß auf, Dich knall ich ab wie eine wilde Sau!“ Und laut sagte er: „Und was sonst noch? Ich meine, haben Sie denn kein Geheimrezept? Das Gras, die Gesellschaft, na kommen Sie, das ist doch nicht alles, oder?“
Und der Züchter: „Nee nee, der kriegt auch richtig gutes Kraftfutter. Die Mischung habe ich selbst zusammengestellt. Aber mehr kriegen ‘se darüber nicht aus mir raus. Betriebsgeheimnis!“
„Aha!“, dachte Pfeffer, „jetzt habe ich Dich von wegen Betriebsgeheimnis!“ Mehr brauchte er gar nicht zu wissen. Der Anzugträger auf dem Hof, Kraftfutter, Betriebsgeheimnis und wieso denn „alter Vater“. Hielt der ihn etwa für dumm? Es passte einfach alles, Pfeffer hatte die Sensation auf der Feder. Es vergingen noch einige Minuten inhaltlosen Palavers, ehe Rick Pfeffer es für angemessen hielt, sich verabschieden zu können.
„Ich muss jetzt weiter. Viel zu tun!“, raunte er gedankenversunken in Richtung Züchter und ließ diesen in der Tür stehen, während der ihm hinterher rief, doch bitte unbedingt ein anständiges Foto von Helmut, so hieß wohl jener kapitale Bulle, abzudrucken! Denkste. Das könnte Dir so passen!
Wieder im Senator startete Pfeffer den Motor und fuhr los. Jetzt passte alles zusammen. Der abnorm kräftige Bulle, die Geheimniskrämerei des Züchters, der Mann im Anzug und Brille, der angeblich der Vater des Züchters war. Wenn der denn aber der Vater sein soll, woher dann dieser beeindruckende Dialekt. Hier in der Gegend war man doch so verdammt stolz darauf, dieses ach so gute Hochdeutsch zu sprechen. Das Beste in der BRD, blablabla. Eines war ihm klar: der Anzugträger war aus der Ostzone. Deswegen der Dialekt, deswegen die Geheimniskrämerei, und deswegen der kräftige Bulle. Jetzt ergab es alles einen Sinn. Der Kerl hatte der armen Kuh bestimmt dieses Zeugs gespritzt, was die von Drüben immer vor Olympia bekommen, damit sie dem Klassenfeind zeigen, wo Hammer und Sichel hängen. Aber nicht mit ihm, nicht mit Rick Pfeffer, die werden schon sehen, mit wem sie sich hier angelegt haben. Am Ende waren das nicht nur irgendwelche Aufbaupräparate sondern sogar Gifte. Um die westdeutsche Bevölkerung auszuschalten. Schließlich handelte es sich hier um einen Zuchtbullen allererster Güte. Preisgekrönt. Wenn der im Jahr durchschnittlich 600 Kühe beglückt und deren Nachkommen dann wieder jeweils ... Es war nicht auszudenken! Skandal! Staatsaffäre! In nur wenigen Jahren könnte das gesamte Bundesgebiet von diesen Stasi-Kühen unterwandert sein, so dass die Auswirkungen praktisch global wären. Erst fällt der Rhein und dann die freie Welt. Ja, ja, das werden wir ja sehen die Herren Kommunisten! Sie alle hatten die Rechnung ohne Rick Pfeffer gemacht.
Noch am Abend schrieb er den Artikel, aber jetzt lautete die Überschrift „Kalter Krieg beim Bullenpreis! Der Sieger war gedopt!“ Er schrieb den Artikel so schnell, dass seine Finger über die Schreibmaschine zu fliegen schienen, und schon nach einer knappen halbe Stunde war er fertig. Er las noch einmal drüber. Aber er war sich so sicher wie noch nie in seinem Leben. Das konnte, das musste genau so gedruckt werden, gar keine Frage. Also nichts wie raus damit. Es gab dabei nur ein Problem: wie sollte er diesen neuen Artikel an Redaktionsleiter Werner Bangemann vorbeibekommen? Vielleicht hing der sogar mit drin? Warum sonst sollte man wohl zu einem Ereignis mit so enormer politischer Sprengkraft einen Anfänger schicken? Jetzt passte auch noch das letzte Puzzlestück in dieses große enigmatische Rätsel hinein. Der Redaktionsleiter hatte aber nicht mit der Spürnase eines Rick Pfeffer gerechnet. Niemand hatte damit gerechnet. Und wer weiß, wer sonst noch alles mit drin hing. Vielleicht befand er sich auch mitten in einer kommunistischen Zelle, die von Moskau gelenkt den Westen infiltrieren sollte. Na ja, das war dann vielleicht doch ein bisschen zu weit hergeholt, aber alles andere war nichts als die Wahrheit. Mindestens. Also rauf aufs Kanonendeck und Sicht nach vorn.
Rick Pfeffer stand von seinem hölzernen Drehstuhl auf, ging hinüber zur Tür des Redaktionsleiters und klopfte. Poch, poch. Wie man es halt so tut. Und dann, wie man es halt so macht: „Herein!“ An seinem Schreibtisch saß Werner Bangemann mit seinem grobschlächtigen Körper und dem aus der Mode gekommenen Bürstenschnitt. Auf der Nase eine Lesebrille, die Zigarette qualmte im Aschenbecher. Aufgeschaut und kurz gegen das Licht der Schreibtischlampe geblinzelt, dann aber: „Pfeffer. Ich dachte, sie sind den ganzen Tag weg. Was machen sie denn noch hier? Oder schon wieder hier? Oder was auch immer. Ich habe jedenfalls keine Zeit.“
„Ich habe das Foto doch nicht gebraucht. Es war ja kaum genug Platz für den Artikel“, entgegnete Pfeffer.
„Gut, mir auch egal. Und wo ist der Artikel?“
„Ja, also den habe ich schon in die Schriftsetzung gegeben, damit er morgen noch im Landlust-Teil erscheinen kann. Ich hoffe, das geht in Ordnung. Aber weil doch die Zeit so drängt.“
„Sind sie bescheuert oder was, Pfeffer?“ Ups. Wurde Bangemann jetzt etwa laut? Tatsache. Und da kam noch mehr. „Alles was aus dieser Abteilung in die Schriftsetzung geht, geht vorher über meinen Schreibtisch. Das habe ich doch nun wirklich oft genug gesagt. Sind sie taub oder was? Was soll denn der Scheiß. Sie sind die erste Woche hier und gleich so was! Holen Sie das zurück!“, er nahm die Zigarette und tat einen tiefen Zug. Die Brille hatte er schon beim ersten Wort energisch abgestreift und fuchtelte damit nun wie mit einem Marschallsstab herum. Pfeffer nutzte die Zeit, in der Werner Bangemann an seiner Zigarette wie an einem Asthma-Inhalator zog: „Ich weiß, und ich bitte natürlich um Entschuldigung. Aber es waren doch eh nur ein paar Zeilen über diese Kuh-Modenschau. Ich wollte Ihre Zeit nicht verschwenden, und der Landlust-Teil kommt eben nur am Mittwoch. Nächste Woche wäre der Artikel nichts mehr wert gewesen, und der Züchter wäre uns aufs Dach gestiegen. Also was soll’s.“ Kurze Pause. „Na ja, habe ich mir so gedacht. Wie heißt es? Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.“
Der Redaktionsleiter ließ sich seinen Rücken in die Stuhllehne sinken, wirkte aber keineswegs beschwichtigt: „Haben Sie sich so gedacht, ja?“ Noch eine Pause. Pfeffer wurde schwer ums Herz. Dann aber: „Weil das Ihre erste Sache war Pfeffer, will ich hier mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Und kommen sie mir nicht mit so einem Geschwafel. Ab jetzt halten Sie hier schön die Fresse und machen, was man ihnen sagt. Ansonsten sind sie hier genauso schnell wieder raus, wie mit Zweifuffzich im Puff. Ist das klar?“
„Klar“, antwortete Pfeffer. „Also kann ich der Schriftsetzung sagen, dass das okay ist?“
„Meinetwegen“, grummelte Bangemann. „Aber wie gesagt: damit ist ihre Schonzeit schon am ersten Tag abgelaufen, Pfeffer! Ab jetzt kein Welpenschutz mehr! Verstanden?“
„Total verstanden“, duckmäuserte Pfeffer und verließ den Raum, ohne dass sich die beiden verabschiedeten.
Kaum draußen, beschleunigte er seinen Schritt. Jetzt musste er sich beeilen, um den Artikel wirklich noch vor Redaktionsschluss in den Druck zu bekommen. Er zog die letzte Seite aus seiner Schreibmaschine und lief zum Paternoster. In der Schriftsetzung angekommen, knallte er dem Schichtleiter die losen Blätter regelrecht auf den Tisch!
„Befehl von ganz oben. Das muss morgen auf die Titelseite! Und das ganze ziemlich pronto!“, bellte er dem Schichtleiter zu. „Und absolute Funkstille. Wenn das morgen kommt, dann platzt hier die Bombe!“
Der Schichtleiter las den Artikel kurz an, sah auf das Foto, las etwas weiter und kam aus dem Stirnrunzeln nicht heraus. Seine Augen weiteten und verengten sich abwechselnd, bevor er von der Seite hochsah und einige Sekunden brauchte, um die richtigen Worte zu finden.
„Ist das ihr Ernst?“, fragte er Pfeffer, in dem er nun abermals die Augenbrauen hochzog.
„Mein voller Ernst!“, antwortete Pfeffer und ergänzte noch einmal „Ist von ganz oben abgesegnet. Auch wenn wir damit Gott spielen!“ „So!“, dachte Pfeffer, das hatte gesessen. Jetzt musste der Herr Schichtleiter verstehen, wie ernst es ihm war und dass er nicht bereit war, sich einschüchtern zu lassen. Der Schichtleiter war jedoch unangenehm und unübersehbar unbeeindruckt indem er sagte „Da muss ich mich beim Redaktionsleiter rückversichern.“ Er griff zum Telefon, wählte mit der Drehscheibe die entsprechende Kurzwahl und stützte seinen Kopf auf das veritable Doppelkinn, während er anfing zu sprechen.
„Moin Werner, hier ist Wolfgang vom Druck. Du sag mal, hast Du diesen Halbschwachsinnigen hier runtergeschickt mit diesem Bullen-Stasi-Dings-Artikel? Hast Du das abgesegnet? Das mit dem Zuchtbullen? Hmmm. Hmmm. Wirklich? Gerade eben? Na, dann ist es ja gut. In Ordnung. Bis morgen.“ Er legte den Hörer auf, wandte sich wieder Pfeffer zu und hatte noch immer diese skeptische Falte auf der Stirn. Die Augenbrauen allerdings waren wieder in Ausgangsposition. Immerhin.
„Wenn Werner das abgesegnet hat, dann ist das in Ordnung. Er sagt, Du warst vor fünf Minuten noch deswegen im Büro und er hätte Dir für das Ding hier“, er schwenkte die beschriebenen Seiten „einen Freifahrtschein gegeben. Da musst Du mächtig Eindruck gemacht haben, Junge. Sonst lässt Werner Niemandem so’n Quatsch durchgehen. Aber von mir aus. Dann halt morgen auf’m Titel. Aber damit wir uns verstehen: so läuft das normalerweise nicht!“
Normalerweise. Ein Wort für den Pöbel, für alle Unwissenden, für die Folger, nicht für die Führer, für die Hütten, nicht die Paläste für die ... All das dachte Pfeffer und war im Gehen begriffen, während er noch sah, wie der Schriftsetzer sich mit seinem Stuhl herumdrehte und ihn keines weiteren Blickes mehr würdigte.
In der folgenden Nacht machte Rick Pfeffer kein Auge zu. Ab jetzt war alles möglich, vielleicht würden die sogar versuchen, ihn umzulegen. „Die machen vor nichts Halt“, sagte er sich immer wieder. War es richtig, zu tun, was er getan hatte? Gegen Mitternacht begann er, richtig Angst zu bekommen und wünschte sich, er könne alles rückgängig machen. Wenn er doch nur anders in das Gespräch mit dem Züchter gegangen wäre. Er hätte ihm auch von seiner Zeit im SDS erzählen können, und dass er das mit dem Kommunismus ja gar nicht so unsympathisch fand. Eigentlich war das ja ohnehin die logische Entwicklung. Und dass die Roten dem Westen überlegen waren, hat man ja damals schon gesehen. 45 oder wann? Aber nun war es zu spät. Nun waren es nur noch wenige Stunden bis zur Auslieferung, bis die Zeitung an den Kiosken und Trinkhallen lag, bis sie tausendfach in die Haushalte flatterte und in der Straßenbahn den Besitzer wechselte.
III.
Und dann war es geschehen.
Als Rick Pfeffer am nächsten Morgen in die Redaktion kam, übernächtigt zwar, aber dennoch in gespannter Erwartung auf die Lawine, welche seine Enthüllungen ausgelöst haben würde, erwischte diese ihn auch kurzerhand und unmittelbar. Er war durch den Haupteingang ins Foyer getreten, da sah er sie bereits. Tuschelnde Mitarbeiter, vorgehaltene Hände, verkniffene Blicke, doch auch starrende Augen, die nur auf ihn gerichtet waren. „Dabei bin ich doch noch gar nicht lange hier“, dachte er noch, während er die Gänge abschritt. „Das muss ja eingeschlagen haben wie eine Bombe, oder was ist mit denen los?“ Er grinste still und dachte weiter „Sag’ ich ja. wie eine Bombe:“
Er ging weiter und genoss sichtlich die Anerkennung, die wie ein warmer Sommerregen auf ihn herab zu prasseln schien. Ein lockerer Gruß hier, ein Augenzwinkern da, jaja, plötzlich wusste der sonst eher grob reservierte Rick Pfeffer sie alle in seinen Bann zu ziehen. Und waren nicht gerade die Augen der weiblichen Mitarbeiter, vornehmlich die der beiden Sekretärinnen vom Sport auf ihn gerichtet? „Nicht nur möglich, sondern höchstwahrscheinlich! Nette Schlampen! Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frauen ...“ Lalala und plötzlich pfiff er auch noch.
Aber dann ... ja, dann knallte es.
So sehr, dass es ihn wie ein Hammerschlag traf. So abrupt, dass er sich kurz aber ordentlich sammeln musste, um zu begreifen was gerade passierte.
„Da ist er ja! Sofort zu mir!“, brüllte Werner Bangemann just in dem Moment, in welchem er ihn erblickte.
„Da ist er ja!“, brüllte er.
Schon wieder. Jedes einzelne Wort schlug ein wie ein Schrapnell.
Also rein, Tür zu, Stahlhelm auf.
„Haben Sie diese Scheiße verzapft? Ach, was frag’ ich eigentlich, Ihr dämlicher Name steht ja direkt oben drüber. Da! Sind Sie eigentlich total bescheuert, Pfeffer? Sind Sie vielleicht geisteskrank oder sowas in der Richtung? Berühren sich bei Ihnen irgendwo zwei Drähte, die da nichts zu suchen haben?“
Werner Bangemann war außer sich vor Wut und Richard genannt Rick Pfeffer wusste plötzlich nicht mehr, wie ihm geschah. Und es ging weiter. Bangemann war wie ein menschliches Maschinengewehr und feuerte Salve um Salve auf ihn ab. „Mann, bitte Pfeffer, bitte sagen Sie mir, dass Sie besoffen waren, als Sie das geschrieben haben. Echt. Bitte! Ansonsten würde das nämlich bedeuten, dass ich hier einen GEISTIG BEHINDERTEN EINGESTELLT HABE!“
Er schrie jetzt, wedelte mit der Morgenausgabe vor Pfeffers Gesicht herum und ließ sich leider nicht unterbrechen. Dabei hätte Pfeffer gern gewusst, wo genau eigentlich das Problem lag. Dann plötzlich stieß ihm Bangemann die zusammengerollte Zeitung unter das Kinn, so dass Pfeffer gezwungen war, den Kopf zu heben.
„Elf Jahre bin ich jetzt hier, elf! Aber sowas ist mir noch nicht untergekommen. Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Was soll dieser Scheiß, Mann? Sie können doch nicht ... „, doch jetzt unterbrach ihn Pfeffer:
„Also, Herr Bangemann wenn ich kurz bitten dürfte ... „, weiter kam er allerdings nicht, denn schon wieder brachen bei dem mittlerweile rot angelaufenen Redaktionsleiter alle Dämme.
„Ey, echt jetzt Mann, Sie haben hier überhaupt nichts zu bitten. Sie haben hier allerhöchstens tausendmal Danke zu sagen, dass ich ein zivilisierter Mensch bin und Ihnen dafür nicht gleich eins in die Fresse haue, Pfeffer. In der Ostzone würde man Sie für sowas hinterm Schuppen an die Wand stellen, wissen Sie das eigentlich? Stehen Sie da nicht so rum wie’n vollgeschissener Strumpf! Ich habe Sie was gefragt!“
Und nun war Rick Pfeffer doch etwas verunsichert. Als er anfing zu sprechen, kam es ihm vor, als würde er sich sogar stammeln hören.
„Also, es gibt da unwiderlegbare Beweise für den ... also ... den ...“ Tatsächlich, es war so. Er stammelte. Er. Der Pfeffer-Treffer. „... die haben dem Tier auf dem Hof ...“ Weiter kam er nicht, denn das Telefon klingelte. Bangemann hob den Hörer ab und knallte ihn ohne irgendetwas zu sagen direkt wieder auf die Gabel.
„Bitte. Fahren Sie fort, Pfeffer. Ich bin gespannt!“
Pfeffer meinte, einen süffisanten Unterton in der Stimme des Redaktionsleiters zu hören, und nun morphte sich seine Verunsicherung langsam in Richtung ernsthafter Sorge. Gerade als er wieder zu seinem Bericht ansetzten wollte, klingelte das Telefon erneut. Und wieder: Kopf wird rot, Hörer abgenommen, Hörer wird auf das Gerät geknallt.
Dann Schweigen. Nur ein paar Atemzüge lang. Kein Dummdidumm, kein Däumchendreh. Der Redaktionsleiter gestikuliert hektisch bis aufgeregt, schreit die immer gleichen Beschuldigungen. Dann: Pfeffer möge doch fortfahren, und just in dem Moment, als dieser ein wenig zu lang einatmete, um sich erneut für seinen Kampf gegen den Bolschewismus zu erklären, war es ein Gefühl, als wenn eine Atombombe zündete, als das Telefon schon wieder zu klingeln begann. Bangemann ballte sein Gesicht nun endgültig zur Faust, doch diesmal hatte er sich offenbar entschlossen, den Anruf entgegenzunehmen. Er riss den Hörer zu sich, presste ihn ans Ohr, dass Pfeffer ganz – Achtung – bange wurde und ging tatsächlich ran.
„Was ist denn verdammt? Ich bringe hier gerade jemanden um die Ecke! Wenn das jetzt nicht der scheiß Generalbundesanwalt persönlich ist, dann bin ich für niemanden zu sprechen!“
Dann aber hörte er zu. Und hörte zu, und er hörte zu. Zwischendurch gab er immer wieder ein kurzes „Hm“, oder auch „Aha“, von sich. Einmal entfuhr ihm sogar ein „Ach was, tatsächlich?“, bis er schließlich zum „Wer hätte das gedacht!“, kam, sich bedankte und verabschiedete.
Bevor er auflegte drückte er den Hörer auf die Brust, schloss die Augen, senkte den Kopf und hielt einige Sekunden inne. Schweres Atmen. Dann legte er langsam den Hörer wieder auf, hob den Kopf und sah Pfeffer mit kaltem durchdringendem Blick an. Er begann ebenso ruhig wie kontrolliert zu sprechen. Und auch wenn es vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprach, hätte man Rick Pfeffer später gefragt, er hätte schwören können, dass Bangemann in diesem Moment so ausgesehen hatte, als täte er sich selbst sehr, sehr leid!
„So. Jetzt mal von Mann zu Mann, Pfeffer. Ich werde hier nichts zurücknehmen. Sie haben mich beschissen. So wie Sie diese Geschichte an mir vorbeigeschleust haben, das war unter aller Kanone. Sie haben den Schichtleiter von der Schriftsetzung belogen und uns dann auch noch gegeneinander ausgespielt. Noch so ein Unding. Und die Geschichte selbst – ich kann nicht begreifen, wie Sie darauf gekommen sind. Zumal ich nichts von irgendwelchen Beweisen gelesen habe in diesem ... diesem Artikel.“
Er zeigte auf die zusammengeworfene Zeitung.
„Das ... das ist doch alles nur Geschwafel, Pfeffer. Und Sie schwadronieren da über den Klassenfeind als wären Sie Walter Hallstein persönlich. Aber wissen Sie was?“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause und musste sich abermals sammeln, um nicht wieder zu schreien. „Aus zwei Gründen, haben Sie heute ungeheures Glück. Erstens: es ist nur der beschissene Lokalteil von einem Käseblatt. Okay, scheiß’ drauf, das ist der Grund, warum ich hier so ruhig bleiben kann. Und zweitens: ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber es ist so: Fiete Weiler – ja genau – Sie Idiot kennen nicht einmal seinen Namen, aber Fiete Weiler ist hier einer der größten Landwirte in der Gegend. Der hat nicht nur zum ersten Mal seit dem Krieg nur den zweiten Platz bei diesem Zuchtbullen-Miss-Germany gemacht, sondern der hat auch einen Sohn bei der Polizei. Und weil Fiete heute Morgen glatt die Brücke aus der Schnauze gefallen ist, als er gelesen hat, was Sie da verzapft haben, hat er in guter alter Blitzkrieg-Manier seinen Sohn angerufen, dass der sich diesen Hof mal ansieht. Gerade auch, weil der ihm den Ersten Platz vor der Nase weggeschnappt hat. Ist ja auch alles scheißegal. Wie auch immer: vor einer halben Stunde haben die Bullen den Hof vom Mattis Reimann durchsucht und wirklich irgendwelche Mittel gefunden. Die stehen auf so einer schwarzen Liste oder was weiß ich, sind aber auf jeden Fall verboten, und jetzt haben die bei dem Bullen ... oh Mann, das muss man sich mal anhören ... die Bullen haben bei dem Bullen eine Blutprobe genommen und alles. Der Veterinär sagt, alles spricht dafür, dass das Tier mit illegalen Substanzen getrimmt und hochgespritzt wurde. Und wissen Sie was?“ Bangemann entfuhr ein Lachen voller Verzweiflung. „Wissen Sie, was das für Sie bedeutet, Pfeffer?“
Der konnte nur langsam den Kopf schütteln.
„Das bedeutet, dass Ihre Geschichte damit tatsächlich wahr wäre.“
Und auf einmal wurde Rick Pfeffer wieder warm ums Herz. Alles nur ein Traum! Alles gar nicht wahr, was sich hier gerade kurz zuvor abgespielt hatte! Er hatte also Recht. Natürlich hatte er das. Und dann überkam es ihn, nach und nach, aber doch unaufhaltsam, indem er dachte „Was meint der eigentlich, wer er ist! Was erlaubt der sich mit mir? Den müsste man mal ... „. Und fast hätte er dies auch laut ausgesprochen, wenn nicht in diesem Moment wieder Werner Bangemann das Wort ergriffen hatte. Diesmal klang seine Stimme eiskalt und doppelkornklar.
„Damit wir uns richtig verstehen, Pfeffer: wenn ich sage, dass Ihre Geschichte damit wahr wäre, dann betone ich nicht ohne Grund das Wort Geschichte!“
Er hielt jetzt wieder die Zeitung in der Hand und schwenkte damit umher. Gemeinheit. Aber Richard genannt Rick Pfeffer hatte wieder Oberwasser, das ließ sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Vorerst allerdings war noch eine gewisse Vorsicht geboten. Deswegen lediglich: „Aber der Ostblock-Arzt, dieser Typ da im Anzug!“, entfuhr es ihm.
„Scheiße Pfeffer, das ist sein Alter!“ Und schon war es wieder laut.
„Das ist der Vater von Mattis Reimann. Der hat ‘77 rübergemacht und ist ‘ne ganz arme Sau. Jeder Volltrottel im Dorf weiß das, jeder! Aber sie schreiben hier was von DDR-Arzt und geheimen Olympia-Medikamenten. Sie haben sich diese ganze Sache, diese ganze Scheiße einfach ausgedacht! Oder wollen Sie hier allen Ernstes das Gegenteil behaupten?“ Bangemann atmete tief ein und gleich wieder aus. Dann begann er wieder ruhiger.
„Sie sind dumm wie ein Sack Schrauben, Pfeffer, und um es ganz deutlich zu sagen, neulich, ...also ich habe Sie wegen Ihrer guten Noten und Empfehlungen eingestellt. Ja, das stimmt. Alles sauber soweit. Top. Aber ich hatte auch Mitleid mit Ihnen. Als Sie da vor meinem Tisch standen und fast gewinselt haben, wie sehr Sie den Job brauchen würden mit Ihrer kranken Mutter und so, da taten Sie mir leid, und ich dachte, mit den Zeugnissen und so weiter, na ja, ist ja auch egal. Aber seit heute halte ich Sie offiziell nur noch für einen Idioten! Für einen Rosstäuscher. Sie hatten entweder unfassbares Glück mit dem Döntjes, den Sie sich da zusammengereimt haben oder aber sie verfügen über einen ganz speziellen Riecher, keine Ahnung. Falls ja, hat das wahrscheinlich der liebe Gott in seiner ganzen perversen Abartigkeit arrangiert, um mir – mir ganz persönlich – das Leben zu verkürzen. Egal, wie auch immer. Auf jeden Fall haben Sie den Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen, Pfeffer.“ Kurze Pause. Dann: „Ihr Glück.“
Das mit seiner Mutter damals war natürlich gelogen. Auch egal.
Jetzt atmete Bangemann auf einmal wieder schwerer, und als Pfeffer die Adern an der Schläfe des Redaktionsleiters pochen sah, ahnte er, dass es nun abermals laut werden würde.
„Aber was zur Hölle sollte der Scheiß mit den Kommunisten? Mann, wir sind hier in Bremen. Hier gibt’s keine Kommunisten! Die Roten steigen mir sowieso bei jeder Kleinigkeit aufs Dach, und dann kommen Sie mit so einer Räuberpistole um die Ecke. Das ist hier nicht der Völkische Beobachter!“
Aber Rick Pfeffer war beruhigt. Spätestens jetzt wusste er, dass er über den sprichwörtlichen Berg war, und er empfand eine tiefe Genugtuung dabei. Sogar so was wie einen ersten Anflug von Freude über die Situation.
„Und dieses debile Grinsen, Pfeffer, das können Sie sich schenken. Was ich Ihnen sagen will ist Folgendes: wenn Sie das hier wirklich recherchiert haben“, hierbei machte er mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft, „dann gut. Wenn nicht, auch egal. Wenn die Blutwerte von dem Bullen Ihre Story stützen, sind Sie drin, wenn nicht, sind Sie raus. Im Moment sieht es so aus, als ob Sie drin sind.“
Und Pfeffer musste tatsächlich grinsen. Seine erste große Story, Wahnsinn! Sollten sie alle sagen, was sie wollten, er hatte den Skandal aufgedeckt, den sonst keiner gesehen hatte. Er war das. Er allein. Er hatte das gemacht. Niemand würde ihm das je wieder wegnehmen können. Der Redaktionsleiter wies ihn zum Abschluss noch einmal etwas mürrisch an, nun gehen zu können und beinahe selig steuerte Pfeffer in Richtung Bürotür.
„Pfeffer!“, rief es dann doch noch einmal hinter ihm her.
„Noch was. Sollte ich mich ausnahmsweise mal irren, und sollte das hier kein Glück gewesen sein“, er macht eine kurze Pause, „dann bringen Sie mir mehr davon. Aber vernünftig recherchiert.“ Hoppla! Das klang jetzt immerhin neutral. Und weiter: „Mit Beweisen und Zeugenaussagen und so weiter.“ Rick Pfeffer konnte sich nun doch freuen. Ganz aufrichtig und ehrlich. Er nickte und wollte schon gehen, um endlich ein paar Tiefe Züge Cherrie aus seinem silbernen Flachmann zu nehmen, da rief Bangemann ihn ein zweites Mal zurück.
„Pfeffer?“
„Ja?“, fragte dieser sich wendend in den Raum hinein.
„Sie verstehen, was ich meine, oder? Lassen Sie diesen Scheiß mit dem Klassenfeind. Mit diesem ganzen Kommunisten-Quatsch, und mit dem Ostblock und diesem ganzen Mist. Verstanden? Wir sind hier in Deutschland! Diesmal haben Sie Glück gehabt, aber wer weiß. Ich hoffe Sie haben aus diesem ganzen verkorksten Zinnober etwas gelernt“.
Ja, das hatte er.
Er hatte gelernt, dass wenn er sich nur selbst vertraute und der Wahrheit im entscheidenden Moment den richtigen Schubs, einen nur ganz kleinen Antritt gab, dass dann so gut wie alles möglich war.
IV.
Und so hätte es alles sein können.
Aber so war es leider nicht.
Denn Richard genannt Rick Pfeffer war nicht irgendein Schreiberling des Lokalteils beim Weser-Land-Blatt, er war der leitende Chefredakteur. Und er wurde dort auch nicht angeschrieen (obschon er es wohl oft verdient hätte). Nein, dort schickte sich niemand an, in einem ungebührenden Ton mit ihm zu reden. Der einzige Mensch, der sich traute, ihm gegenüber laut zu werden, war seine Frau. Und die auch nur dann, wenn er mal wieder erheblich einen über den Durst getrunken oder zu viel Geld verspielt hatte. Oder beides. Oder überhaupt zu Hause war.
Aber seinen Skandal, den hatte er tatsächlich gefunden. Und er hatte ihn veröffentlicht. Und auch geknallt hatte es tatsächlich in Echt und in der Wirklichkeit. Oh ja, und wie es geknallt hatte.
Mehr durch Zufall war Pfeffer auf ein 1944 verfasstes Kampfblatt gestoßen, und was er dort las, war erst einmal nichts, was ihn hätte erschüttern können. Blut und Boden, rassische Reinheit, die Judengefahr, die Bolschewikengefahr, die Kapitalistengefahr, und immer wieder der Endsieg, der wohl nun bald kommen solle. Ganz bestimmt sogar. Doch als er den Namen des Verfassers eines dieser Artikel las, da wurde ihm auf einmal ganz schwindelig. Sollte das etwa derselbe sein wie ...
Ja, ja, der war es, und zwar genau der.
Ohne sich mit langer Recherche aufzuhalten veröffentlichte Pfeffer besagten Artikel direkt am nächsten Tag im Weser-Land-Blatt auf der Titelseite und nannte an prominenter Stelle den Namen des Verfassers. Ohne Kürzel, keine Anführungszeichen, einfach der Klarname und dann Bummsdiewurst.
Hans Stefan Seifriz, im Jahre 1944 schmale 16 Lenze zählend, war mittlerweile Bausenator der Hansestadt Bremen und hatte sich als SPD-Mitglied eher nicht den Ruf eines Alt-Nazis erworben. Er war ein geachteter und erfolgreicher Politiker. Nun, zumindest bis zu diesem Tag.
Denn der hanseatische Senator und Verfasser des Artikels – und jaja: dieser Artikel war wohl schon ziemlich antisemitisch – waren tatsächlich ein und dieselbe Person. Schnell war seitens der Sozialdemokraten eine Klageschrift sowohl gegen Pfeffer als auch gegen das Weser-Land-Blatt verfasst, doch ebenso schnell bekannte sich Seifriz ehrlich und ausführlich zu seinen Jugendsünden. Recht so!
Seifriz war im Januar 1933, drei Tage vor Hitlers Machtübernahme gerade sechs Jahre alt geworden, und so wie viele Kinder der sogenannten Flakhelfergeneration waren wohl auch ihm all die Phrasen zu Kopf gestiegen, die er sein ganzes kurzes Leben lang von Hitler, Goebbels, Göring und all den anderen mit ordentlich Blech an der Titte gehört hatte, als er kurz vor Kriegsende eben jenen Artikel schrieb, der ihm nun, über 30 Jahre und viele Verdienste um die noch junge Republik später zum Verhängnis werden sollte. Aber für Antisemitismus gibt und gab es nun mal kein Pardon, egal wann und egal von wem geäußert. Seifriz seinerseits hatte das schnell verstanden und war aus eigenen Stücken zurückgetreten. Wohl nicht zuletzt, um eine langwierige und sogenannte Schlammschlacht zu vermeiden. So hoffte er, Schaden von sich, seiner Partei, aber vor allem seiner Familie abwenden zu können. Armer Mann? Nun, alles holt einen irgendwann ein. Blut fließt dort, wo Turandot herrscht.
Pfeffer aber hatte seine Sensation. Er hatte einen Senator gestürzt. Nein, besser noch: er hatte einen roten Senator gestürzt! Die Bremer SPD kam ob dieses Vorfalls wochenlang nicht aus den Schlagzeilen (natürlich am wenigsten aus denen, die Rick Pfeffer selbst verfasste), und immer mehr Gerüchte waren auf einmal an der Weser zu hören. Allesamt falsch, vielleicht erfunden, wie sich jedes mal schnell herausstellte, doch das war Pfeffer im Grunde gleichgültig. Er hatte an diesem Tag mit der Veröffentlichung seines Artikels der Wahrheit mit jenem kleinen Schubs auf die Sprünge geholfen, von dem er nun wusste, dass er ausreichte, um auch den größten Stein ins Rollen zu bringen.
An diesem Abend betrank sich Rick Pfeffer ausgiebig und mit tiefsitzender Freude. Ihm war einfach nach Feiern zumute. Er war das gewesen. Er ganz allein. Er hatte das gemacht. Und alle sollten es wissen. Er besuchte dieses Mal ausnahmsweise keine der gewöhnlichen Kneipen, in welchen er sonst zu verkehren pflegte. Nein, diese Mal musste es dem Anlass entsprechend sein, und so zog er mit Pauken und Trompeten in die „Rote Katze“, ein, was nichts anderes war, als eines der größten Bordelle der Stadt. Im Suff im Puff. Na, das konnte ja nicht gutgehen ...
Am nächsten Morgen erwachte Richard genannt Rick Pfeffer in einem ihm unbekannten Zimmer. Er schaute sich kurz um und stellte fest, dass es sich wohl um das Zimmer eines Hotels handeln musste. Dies hatte drei Gründe:
Erstens: Es war nicht sein zu Hause. Zweitens: Die Einrichtung war Hotelstandard, also geschmacklos und eindimensional und Drittens stand auf dem Nachtschrank ein Telefon mit der Aufschrift „Waldhof Hotel“. Ja, es handelte sich um ein Hotel. Unverkennbar. Aber wie war er dorthin gekommen? Dann fiel es ihm langsam wieder ein, was allerdings auch daran gelegen haben dürfte, dass er aus der Roten Katze nicht nur einen gehörigen Kater mitgebracht hatte, sondern auch eine Frau, die ebenda noch selig neben ihm im Bett schlief.
Panik!
Doppelte Panik!
Eieieieieiei ... eine fremde Frau! Nackt dazu. Ohmannohmannohmann. Nicht schon wieder! Nicht jetzt! Er betete im Stillen. „Oh Gott oh Gott, lieber Gott, bitte lass es eine Nutte sein!“ Dann traute er sich vorsichtig, die fremde Schönheit zu wecken. „Was ist denn Schätzchen, schon ausgeschlafen?“, ihre Stimme war unverkennbar alkoholgeschwängert und hatte unter unzähligen Zigaretten gelitten. Er dachte, sie klinge genauso, wie er sich gerade fühlte. Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war jetzt: „Sag mir nur eins.“ Pfeffers Ton war fast flehentlich. „Hatten wir was? Also ich meine ... haben wir ... miteinander geschlafen?“
„Du meinst, ob wir gefickt haben? Ohhh ja, mein Lieber. Und wie!“
Pfeffer wurde schlecht. Er musste sich spürbar zusammenreißen als er sagte:
„Und ... also bitte versteh’ das jetzt nicht falsch, aber bist Du eine ... bist Du ...“
„Was? Eine Nutte? Ja natürlich. Und Du warst ganz schön in Geberlaune gestern Abend.“
Sie lachte, aber Pfeiffer fielen hundert Steine vom Herz.
„Um Gottes Willen, Gott sei Dank! Ich dachte jetzt echt gerade ... also für einen kurzen Moment dachte ich, ich hätte meine Frau schon wieder betrogen.“
„Hast Du das denn nicht?“, fragte sie hörbar irritiert.
„Nein, nein“, entgegnete er direkt und war jetzt wieder ganz der alte, selbstsichere Rick Pfeffer, „so ist es schon in Ordnung. Ohne Liebe kein Betrug!“
Sie stand nun langsam auf und begann, Ihre Kleidung im Zimmer zusammenzusuchen. „Sag’ mal“, fragte sie, „was Du da gestern Abend alles erzählt hast, stimmt das alles?“
Schock! Ja, was hatte er denn erzählt? Er versuchte sich zu erinnern, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Also folgerichtig:
„Was habe ich denn erzählt?“
Pfeffer war nun doch wieder ein wenig besorgt. Offenbar fehlten ihm vom vergangenen Abend wesentlich mehr Stunden, als er gedacht hatte. Alkoholinduzierte retrograde Amnesie nannten die Ärzte das.
„Na ja, dass Du Chefredakteur bis?“
Uff! Schwein gehabt!
„Ja, das stimmt!“
„Und das mit dem Kampf gegen die Roten und so? Mit dem Senator hier aus der Stadt?“
Noch einmal Uff! Aber mit breiter Brust:
„Ja, stimmt auch. Das war ich!“
„Und sag’ mal, also ich sollte das jetzt vielleicht nicht sagen, aber, dass Du die ganzen Informationen vom Geheimdienst gekriegt hast und die Dir das alles bezahlt haben gestern Abend in der Katze? Also als Belohnung?“
Auweia. Da waren ihm wohl ein bisschen die Pferde durchgegangen.
„Ähmm, also weißt Du, eigentlich darf ich darüber gar nicht sprechen. Du weißt schon ...!“
Er fühlte auf einmal eine seltsame Mischung aus Scham für die Lüge und echtem Stolz, dass er den Geheimagenten offenbar recht gute hatte abgeben können. Sie zuckte nur mit den Schultern, während sie ihren Slip hochzog.
„Na ja, ist ja auch egal, ich sag’ keinem was. Und so viele Leute waren ja nicht da. Den meisten ist es eh nicht recht, wenn einer erfährt, dass sie Station in der Katze gemacht haben. Du musst Dir also keine Gedanken machen, glaube ich.“
Jetzt doch wieder Uff! Geschafft! Raus aus der Gefahrenzone.
Derart erleichtert verließ Pfeffer schon wenig später mit seiner Kurtisane das Hotelzimmer und weil ja nun einmal alles bereits bezahlt war, gingen die beiden auch gleich noch gemeinsam im hoteleigenen Restaurant frühstücken.
In den folgenden Tagen und Wochen war die Seifritz-Affäre das tonangebende Thema in der Hansestadt an der Weser und Pfeffer war langsam froh, an jenem Abend in der Roten Katze noch einmal alle Register gezogen zu haben, denn nun war er pausenlos in Sachen Senatorensturz unterwegs. Was? Ja, ja, war ich. Kein anderer. Hätten Sie nicht gedacht, was? Und immer so weiter. Als Seifriz dann schließlich zurückgetreten war und langsam wieder Ruhe einkehrte, wurde es auch um Richard genannt Rick Pfeffer wieder still. Kein Schampus mehr, keine Nutten, keine Hände mehr, die seine schüttelten. Und weil ihm das so gar nicht gefiel, machte er da weiter, wo er bei dem Bremer Senator aufgehört hatte. Er las noch einmal den ursprünglichen Artikel und so langsam formte sich ein Bild vor seinem inneren Auge: hier ruhte eine wahre Lebensaufgabe. Er würde dem Roten Filz in der Hansestadt ein für alle Mal den Garaus machen. Er wusste, dass er es konnte, soviel war jetzt sicher. Er hatte es bewiesen. Erst Bremen, dann Niedersachsen, dann die Republik und dann die ganze Welt. Pfeffer Kommunistenschreck. Oder eigentlich ja Nazischreck. Altnazischreck? Egal, Titel sollten andere ihm verpassen, er hatte schließlich zu arbeiten. Aber wo anfangen?
„In Ordnung“, dachte er sich, „erst einmal bescheiden bleiben und klein loslegen. Die Welt nehme ich mir dann später vor.“
Doch leider fanden sich auf die Schnelle keine weiteren Skandale im Range eines Seifriz. Ja, es schien fast so, als sei die SPD in Bremen die Unschuld selbst, was nur einen Schluss übrig ließ: alle hatten sich gemeinsam im Roten Filz verwoben mit nichts als einem Ziel: am Ende doch noch die Rote Fahne auf dem Rathaus zu hissen. Oder so ähnlich. Wer weiß das schon?
„So ist denen nicht beizukommen! Immer dieses Kleinklein“, das war Pfeffer schnell klar. Und daher begann er, selbst für Skandale und Skandälchen zu sorgen. Glaubste nicht? War aber so. Kostprobe zum Abschmecken gefällig? Es fing damit an, dass er, ausgestattet mit einem falschen Parteibuch der SPD und sonst keinerlei Dokumenten, einen Reisepass beantragte, den er dann sogar erhielt. Mit falschem Namen natürlich. Dieter Lindemann hatte er sich genannt, einfach so. Dazu eine falsche Adresse, auch ein bisschen jünger machte er sich noch, und schon war der falsche Pass fertig.
Nicht so schlimm? Aber, aber!
Eine Dokumentenfälschung auf diesem Niveau war in einer Zeit der Grenzkontrollen und Demarkationslinien, der Transitabkommen und Reisebestimmungen keine Kleinigkeit, und Pfeffer wusste alles dem roten Senat anzuhängen. Die mit ihrem Filz, die haben schon wieder. Und überhaupt! Und so ging es weiter. All die Jahre. Für ein Kind mit einem Hammer sieht eben alles wie ein Nagel aus.
Es gab wieder Schampus, Schlagzeilen und leichte Mädchen, während sich die Klagen wegen Diffamierung und verleumderischer Nachrede auf seinem Schreibtisch nur so stapelten. Aber ebenso wuchs auch sein Renommee, so dass er zeitweise sogar kleinere Artikel für den SPIEGEL schrieb. Und das war ja bekanntlich das Sturmgeschütz der Demokratie. Echtheitsgarantie mit Gütesiegel und Eichenlaub. Aus dem Journalistenverband in Bremen musste er zwar irgendwann austreten, da man dort Wert auf die sogenannten journalistischen Tugenden der Recherche und Lauterkeit legte, aber das juckte Rick Pfeffer verhältnismäßig wenig. Für ihn war jede einzelne öffentliche Beleidigung durch einen Kollegen wie ein Orden. „... die zwielichtigste Figur, die in Politik und Medien der deutschen Nachkriegsgeschichte ihr Unwesen treibt!“, hatte zum Beispiel Gerhard Mumme, der große Chef der Bild-Zeitung über ihn gesagt. Herrlich! Mehr davon! Der Bremer Oberbürgermeister, ein Sozi natürlich, nannte ihn sogar „Ein subjektives Ferkel“. Großartig! Die rote Tapferkeitsmedaille à la Stephen Crane! 1
„Viel Feind, viel Ehr’!“, sagte sich Pfeffer immer nur, und schließlich gab der Erfolg ihm ja auch Recht. Oder etwa nicht? Abstimmung mit dem Geldbeutel. Seine Artikel und Enthüllungsgeschichten lockten die Leser an, und die Zahl der Leser wiederum lockte Werbepartner an. Und da das Blatt im Handel kostenfrei erhältlich war, gelang es Pfeffer als Chefredakteur auf diesem Wege tatsächlich die Auflage von mickrigen 20.000 Exemplaren auf über 280.000 zu steigern. Donnerwetter! Aber verbrieft. Er schrieb sich also nicht ganz zu Unrecht auf die Fahnen, das partei- und privatfinanzierte Weser-Land-Blatt von einer nahezu ungelesenen Beilage zur Macht an der Weser gemacht zu haben. Allerdings war er der einzige, der die Zeitung so zu nennen pflegte. Und wenn der Preis hierfür war, hin und wieder eine Gegendarstellung bringen zu müssen oder ein Schmerzensgeld zu bezahlen, dann nahm er dies als doch recht billig in Kauf.
Nun sind Glückssträhnen aber bekanntlich stets ein Grund, misstrauisch zu werden, und am Ende hatte es Richard genannt Rick Pfeffer dann doch übertrieben. Alles begann bei einem Gerichtstermin, auf welchem sich Pfeffer zum wiederholten Male wegen Beleidigung verantworten musste. Das Verfahren war für ihn im Grunde nur Routine und das Urteil zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von eintausend Mark nahm er mit verschmitzter Beliebigkeit in Kauf. Ein paar Meineide, ein paar Verpflichtungserklärungen, Unterlassung von diesem und jenem. Herr Vorsitzender können wir dann bitte? Wir werden hier schließlich nicht jünger. Was Richard genannt Rick Pfeffer allerdings sehr interessierte, war die als Zeugin Nummer Drei aufgerufene junge Dame, die in all ihrer Eleganz und Weiblichkeit den Saal betrat und derart überzeugend für den beleidigten Genossen aussagte, den Rick Pfeffer als Hure Moskaus bloßgestellt hatte, dass unser lieber Herr Pfeffer letztlich zu jener mittleren Geldstrafe verdonnert wurde. Das Urteil war ihm jedoch schlichtweg egal, er hatte ab diesem Zeitpunkt nur noch Augen für die junge Genossin und konnte das Ende der Verhandlung kaum abwarten.
Als der Richter dann endlich den Hammer schwang und jener Lächerlichkeit ein Ende setzte – Pfeffer bezahlte die Strafe noch an der Gerichtskasse in bar – sprang er auf und eilte der davonschreitenden, nein, dahinschwebenden Schönheit hinterher. Er hielt die verwunderte Aphrodite flugs an, ließ all seinen Charme spielen, raspelte Süßholz und kassierte dafür eine derartige Abfuhr, wie er sie sein Leben lang noch nicht bekommen hatte. Was, aber ... das ist ja wohl, englitten ihm die Züge. Und sie sagte wörtlich: „Sie ekelhaftes Schwein, sie sollten sich was schämen. Was Sie da machen, ist wie der Stürmer mit Ihnen als Julius Streicher! Sie haben keinen Anstand, Herr Pfeffer, keine Moral und überhaupt kein Gewissen. Sie sind einer von diesen Perversen, die sich daran aufgeilen, wenn sie andere fertig machen.“
Dann spuckte sie ihm ins Gesicht.
„Außerdem sind sie hässlich! Jawohl, hässlich sind Sie! Glatze, Brille, fetter Bauch. Wahrscheinlich haben Sie auch noch einen kleinen Schwanz!“
Man sah ihr an, dass sie ihn schlagen wollte. Vielleicht auch zwischen die Beine treten. Ihre Lippen zitterten und sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt. So starrte sie ihn eine endlose Sekunde an und dann ... Dann drehte sie sich um und ließ Rick Pfeffer stehen. Einfach so.
Nachdem er die Verhandlung so lässig überstanden hatte, war er nun doch noch Mittelpunkt des Spottes geworden, hatten doch alle um ihn herum die ganze Szene mitbekommen und lachten ihn jetzt aus. Hahaha und alle Finger auf ihn. In Gedanken, ja. Aber auch von dort stechen sie wie Degenspitzen und durchbohren seinen Stolz, seine Würde, seine Ehre. Und so war es nur folgerichtig, als er dachte: „Na warte, Du Schlampe. Dir werd’ ich’s besorgen!“ Hätte, könnte, wäre, wenn. Ach ja. Aber neben viel bemühten Konjunktiven geschah nun, was geschehen musste. Und zwar mit der Vorhersagbarkeit von Steuererhöhungen. Hätte unser guter Pfeffer sich nur seine Avancen gespart ... Wer weiß? Aber es kam, wie es gekommen ist. Ein kleiner Schubs, ein kurzer Tritt, eine einzige Wendung und alles ändert sich. Unumkehrbar und für immer. So ist es halt. Und so wird es immer sein. Solange sich Mutter Erde dreht und windet. Wir wollen also nicht klagen.
Rick Pfeffer hatte es sich zum Ziel gesetzt, dieses Subjekt, wie er sie nur noch nannte, fertig zu machen. Er wollte sie am Boden sehen. Sie zerstören. Und weil er nichts, aber auch gar nichts über diese nicht nur unbescholtene, sondern auch sozial engagierte Sozialdemokratin ausgraben konnte und weil außerdem Pfeffer so tief gekränkt war, musste er sich etwas einfallen lassen. Mal wieder. Ein Zweifler siegt nicht und ein Sieger zweifelt nicht! Niemals! Und so kam es, dass er in seinem nächsten Artikel aus der Sozialdemokratin eine DKP-Vorsitzende machte, die Ihre Funktion als Jugendclubleiterin dazu benutzte, den Kindern kommunistische Doktrinen einzubläuen. Und weil das bei den aufgeweckten Bremer Kindern natürlich nicht den rechten Eindruck schinden konnte, hatte er noch einen oben draufgepackt. „Sie verabreichte den Kindern Alkohol in rauen Mengen, dann wurde das Lied angestimmt: Wir pfeifen auf den Stress der Kapitalisten!“
Und das war dann selbst für einen Rick Pfeffer ein bisschen zu dick aufgetragen. Zugegeben, er war nicht mehr so ganz nüchtern, als er den Artikel verfasste und in die Schriftsetzung gab, aber dass diese Sache einen solchen Wendepunkt in seinem Leben markieren sollte, damit hatte er nicht gerechnet.
Der Artikel erschien und kurze Zeit später traf wie üblich die dazugehörige Klage mit Verfügung zur sofortigen Gegendarstellung in seinem Büro ein. Rick Pfeffer hatte damit gerechnet. Routine. Gähn. Mehr hatten die nicht drauf? Womit er aber nicht gerechnet hatte, geschah wenige Tage später. Als er an einem Dienstagmorgen sein Büro betrat, warteten dort zwei Herren auf ihn. Er kannte sie beide und ihre Anwesenheit verhieß nichts Gutes.
Der eine war Bernd Plaumann. Kurz, stämmig, mit einer etwas zu großen Brille und einem etwas zu kleinen Schnauzbart stand er am Konferenztisch und schenkte sich gerade Kaffee ein. Plaumann war der Verlagschef, der große Big Boss und damit im Grunde Pfeffers einzig echter Vorgesetzter.
Der andere, ein stilvoll gekleideter Mann mit ausgezeichnet geschneidertem Anzug und einem gutmütigen Gesicht, das jenen Ausdruck vornehmer Intelligenz hatte, den Pfeffer sich schon sein ganzes Leben lang wünschte, war Bernd Neustädter. Er war der CDU-Chef der Hansestadt und außerdem Mitinhaber des Weser-Land-Blattes. Pfeffer hatte beide schon oft getroffen, aber wenn sie in einem solchen Rahmen gemeinsam auftraten – wie gesagt: das verhieß nichts Gutes. In der Redaktion hatten sie sogar einen Ausdruck für ein derartiges Ereignis: Der Doppelte Bernd. Und gerade an diesem Morgen sollte Richard genannt Rick Pfeffer ein solcher Doppelter Bernd ereilen.
„Guten Morgen!“, sagte Neustädter, als er Pfeffer eintreten sah, ging mit bedachtem Schritt auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.
„Guten Morgen!“, sagte nun auch Plaumann, allerdings ohne Pfeffer die Hand zu reichen.
„Meine Herren!“, sagte Pfeffer ganz staatsmännisch, so wie er sich bei Helmut Schmidt abgeguckt hatte und nickte. Er ging um seinen Schreibtisch herum, wie jeden Morgen, er legte seine Tasche auf den Schreibtisch und öffnete sie, wie jeden Morgen, atmete tief ein, atmete lange aus und sagte dann:
„Schön, Sie zu sehen. Haben sie den Artikel gelesen?“
Der doppelte Bernd hatte mittlerweile Aufstellung auf der anderen Seite des Schreibtisches genommen, als Plaumann sagte: „Ja, das haben wir. Aber deswegen sind wir nicht hier. Nicht nur deswegen.“
OK. Es war ernst.
„Herr Pfeffer, lassen Sie uns doch bitte am Konferenztisch Platz nehmen, ja? Wir möchte Ihnen etwas zeigen“, sagte Neustädter in aufrichtiger Ruhe und wandte sich zu eben jenem Konferenztisch. Auch Plaumann nahm jetzt dort Platz, so dass Pfeffer seine Position hinter fester Burg aufgeben und sich ebenfalls zu ihnen setzten musste. Bernd Neustädter begann das Gespräch.
„Mein lieber Pfeffer, Sie können sich sicher denken, dass wir Sie nicht ohne Anliegen aufgesucht haben. Und, ja, sie erwähnten es bereits, natürlich hat auch Ihr letzter Schriftsatz seinen Teil dazu beigetragen, uns einmal in aller Form Gedanken zu machen, ob wir nicht das persönliche Gespräch mit Ihnen suchen sollten. Es gibt nämliche einige Unstimmigkeiten – gewissermaßen kompromittierender Natur – die unser beider Erscheinen zu einer, sagen wir, Notwendigkeit haben werden lassen.“
„Ach Bernd jetzt komm’ mal auf den Punkt!“, grätschte Plaumann dazwischen und zog aus seiner Aktentasche, die schon die ganze Zeit neben dem Tisch stand, ein mehrseitiges Pamphlet heraus. Er warf es über den Tisch direkt vor Pfeffers Nase.
„Tun Sie mir einen Gefallen, Pfeffer!“, sagte er fordernd. „Lesen Sie vor, was da steht!“
Pfeffer nahm die zusammengehefteten Seiten auf und blickte sie an. Er sah die Buchstaben, aber er kannte sie nicht. War das russisch? Ihm wurde heiß und kalt. Nein, die kyrillische Schrift war so einmalig, die hätte er erkannt. Aber was dann? Arabisch? Griechisch? Doch ihm blieb keine Zeit, zu überlegen, denn schon wieder hielt ihn Plaumann an. Diesmal bereits etwas lauter.
„Na Los, Pfeffer. Lesen Sie schon!“
„Ich ...“, begann Pfeffer zu stammeln, „ich weiß nicht ... ich kenne diese Schrift nicht.“ Er legte die Seiten wieder auf den Tisch. Und dann, fast war es eine Erlösung, ein Donnerschlag, der das Gewitter einläutet, denn plötzlich fuhr Plaumann aus der Haut.
„Sie kennen diese Schrift nicht? Nein? Na, das ist aber merkwürdig Pfeffer! Das ist die Tora, der Anfang des ersten Buch Mose. DAS IST HEBRÄISCH! Und das kennen Sie nicht? Dabei steht doch hier in Ihrem Zeugnis“, er holte ein weiteres Papier aus seiner Aktentasche, „dass Sie das Hebraicum gemacht haben. Mit einer Eins!“ Er schrie jetzt fast. „Und da erkennen Sie kein hebräisch, wenn Sie es sehen?“
In diesem Moment sauste die Guillotine herunter und Pfeffer spürte, wie ihm der Kopf abgeschlagen und vom Rumpf getrennt wurde. Sie hatten ihn erwischt.
„Soll ich Ihnen vielleicht auch etwas Altgriechisches vorlegen? Aber da hatten Sie ja nur eine Zwei! Da wissen Sie dann wahrscheinlich noch nicht mal, ob Sie das Papier richtig herum halten!“
„Mein lieber Bernd“, sagte nunmehr Neustädter in seiner vornehmen Ruhe, „nun wollen wir doch sachlich bleiben. Herr Pfeffer, vorgestern, also zwei Tage nach Ihrem letzten Artikel, erreichte uns eine, ich will sagen recht beunruhigende Nachricht bezüglich Ihrer schulischen Ausbildung. Darf ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, was diese Nachricht zum Inhalt hatte?“
Pfeffer sah keine Notwendigkeit mehr, seine kerzengerade Sitzhaltung beizubehalten und ließ sich mit dem Rücken in die Stuhllehne fallen. Alles war verloren. Aus, Ende, Berlin 45. Russe da, Führer tot. Jetzt war alles egal.
„Ach das“, sagte er mehr zu sich selbst als zum doppelten Bernd.
„Ja. Das.“ Sagte Neustädter, und legte seine gefalteten Hände auf den Tisch, bevor er fortfuhr.
„Ihr Zeugnis weist gute bis sehr gute Noten in insgesamt fünf Fremdsprachen auf. Latinum Eins. Graecum Zwei. Hebraicum Eins. Englisch Zwei und Französisch Eins. Sagen Sie, und ich bitte Sie, ehrlich zu sein, beherrschen Sie auch nur eine von diesen Sprachen?“
Stille.
„Nein“, sagte Pfeffer dann und wie nach einem guten Stich beim Skat schlug nun Plaumann mit der Faust auf den Tisch.
„Da haben wir es!“, sagte er in einer Mischung aus Triumph und Verzweiflung. Neustädter machte eine beruhigende Geste und wandte sich abermals an Pfeffer, der immer weiter in seinem Stuhl versank.
„Und sagen Sie, Herr Pfeffer, dieses Abiturzeugnis ist ausgestellt vom Missionsgymnasium St. Antonius in Bad Bentheim. Darf ich fragen, ob Sie jemals dort waren?“
„Nein“, sagte Pfeffer leise. „War ich nicht.“
„Haben Sie überhaupt ein Abitur, Herr Pfeffer?“ Neustädter sprach jetzt sehr ruhig und beinahe väterlich.
„Volksschule.“ Pfeffer flüsterte beinahe.
Und Neustädter: „Sie haben das alles erfunden, nicht wahr?“
Pfeffer nickte, ohne einen der beiden anzuschauen.
„Und Sie haben ebenso diese Zeugnisse gefälscht?“
Wieder Nicken. Immer noch Blick nach unten auf seine Hände. Zusammengesunken auf seinem Stuhl war er jetzt nurmehr ein armes Häufchen Elend. Als Bernd Plaumann ihn so sah, tat er ihm fast schon wieder leid und doch musste er sagen, was zu sagen war.
„Pfeffer, Sie wissen, was das bedeutet, oder?“
„Ich bin gefeuert“, flüsterte Pfeffer.
„Sind Sie wahnsinnig?“, entfuhr es Plaumann, „Wissen Sie wie das aussehen würde? Das hier ist ein CDU-Blatt! Wenn wir Sie jetzt feuern, wirkt das wie eine Kapitulation für die Sozis! Und vor den Sozis! Wie ein Schuldeingeständnis! Nein, nein, Sie werden schön kündigen!“
„Ist gut.“ Wieder nickte Pfeffer. Jetzt war noch einmal der andere Bernd an der Reihe, und langsam kam es Pfeffer so vor, als würde die beiden Guter Bulle, böser Bulle mit ihm spielen, denn Neustädter legte seine Hand auf Pfeffers Unterarm, sah ihn an und sagte:
„Herr Pfeffer, sie waren doch Pressesprecher bei der Polizei, bevor Sie nach Bremen kamen. War das auch alles gelogen?“
„Nein, das nicht.“ Und das war es wirklich nicht.
„Und Ihre Stellen als Pressesprecher bei den Unternehmen, die Sie in Ihrem Lebenslauf angegeben haben - wenn wir da nachfragen, was werden die uns Ihrer Meinung nach erzählen?“
„Gar nichts. Die werden das wohl bestätigen, was da steht“, sagte Pfeffer, und auch das war nicht gelogen. Zumindest nicht so richtig. Denn die erste Stelle hatte er tatsächlich angetreten und dort auch als Pressesprecher gearbeitet. Das Zeugnis war ebenfalls gut. Weil ihm eine einzige Stelle in der Wirtschaft für einen Lebenslauf aber viel zu wenig erschien, hatte er sich außerdem noch zwei Firmen ausgedacht, inklusive Pressestelle und einer Anstellung für Richard genannt Rick Pfeffer. Die Zeugnisse hatte er dann höchstselbst nachgeliefert. Aber wenn Sie dort anriefen, würden Sie in der Tat nichts Gegenteiliges erfahren, da die genannten Telefonnummern natürlich nie wirklich existiert hatten. Aber das war jetzt nicht kriegsentscheidend, und auch Neustädter sagte, die Hand noch immer auf Pfeffers Arm: „In Ordnung. Ich glaube Ihnen. Aber sehen Sie Pfeffer“, und nun ließ er seinen Arm los, faltete erneut die Hände und legte sie auf den Tisch „Sie waren dann auch bei uns Pressesprecher. In der CDU-Fraktion. Bevor Sie hier beim Blatt angefangen haben. Und auch diese Zeitung ist im Grunde ja nicht viel mehr als ein Parteiorgan. Wenn nun bekannt wird, dass die Bremer CDU all die Jahre einen Hochstapler beschäftigt hat“, er machte eine kurze bedeutungsschwere Pause, „glauben Sie, das wäre gut für unsere Position?“
Pfeffer schüttelte den Kopf.
Nun ergriff Plaumann wieder das Wort. „Es ist ja nicht nur das, Pfeffer. Wären Sie irgendeiner von diesen Schreiberlingen“, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter zur Bürotür, „dann würden wir hier nicht sitzen. Aber Sie sind hier der Chefredakteur. Und außerdem haben Sie sich in den vergangenen Jahren mächtig exponiert. Mehr als uns je lieb gewesen ist, das möchte ich hinzufügen! Und das sage ich! Ich! Der auch kein Kind von Traurigkeit ist, wenn es um die Sache geht. Jeder gute General muss halt mal eine Division ins russische Feuer geschickt haben, um zu wissen, wie sich das anfühlt. Und ein Journalist, der nie verklagt wird oder der nie eine Gegendarstellung bringen muss, der macht seinen Job nicht richtig. Aber das hier“, und dabei zog er aus seiner scheinbar unerschöpflichen Aktentasche die Ausgabe mit dem Jugendclub-Artikel, „ganz ehrlich, Pfeffer: das hier war die Krönung!“
Plaumann machte eine kurze Pause, während er die Zeitung auf den Tisch warf.
„Wir wissen, dass Sie Probleme haben, Pfeffer. Das mit Ihrer Trinkerei ist ein offenes Geheimnis und das mit den Frauen und den Spielcasinos – also es geht uns ja im Grunde auch nichts an, was Sie in Ihrer Freizeit machen. Aber das hier“, er tippte hart mit dem Zeigefinger auf den Artikel, der nun vor ihnen lag „ich meine wissen Sie eigentlich, wie viele Klagen hier eingegangen sind, seit Sie auf dem Sessel da drüben sitzen? Dutzende. Dazu insgesamt fast 38.000 Mark Schmerzensgeld, die übrigens immer der Verlag bezahlt hat. Von den unzähligen Gegendarstellungen ganz zu schweigen. Aber wir haben das immer mitgemacht. Immer! Und wir haben auch immer beide Augen zugedrückt. Auch dann noch, als wir schon wussten, dass Sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Es war ja alles für die gute Sache. Aber wenn jetzt rauskommt, dass Sie selbst eigentlich nie der waren, für den Sie sich ausgegeben haben, was denken Sie denn, wie wir dann alle dastehen! Blamiert! Für alle Zeit! Mann Pfeffer, warum müssen Sie denn nur immer lügen?“
Plaumann wurde jetzt wieder laut, und Neustädter konnte gerade noch eingreifen, um einen weiteren Ausbruch des Verlagschefs zu verhindern, indem er ansetzte:
„Sie haben hier insgesamt gute Arbeit geleistet, Pfeffer, und das werden wir auch jetzt, bei allem verständlichen Unbill nicht vergessen. Aber Sie müssen verstehen, dass Sie zu halten bedeuten würde, uns verwundbar zu machen. Angreifbar. Das Blatt, die Fraktion, die Partei und am Ende natürlich auch uns selbst. Ich will Ihnen daher einen Vorschlag machen.“
Neustädter sah ihn jetzt direkt an, aber aus seinem Gesicht waren Güte und Verständnis auf einmal gewichen. Die vornehme Noblesse jedoch war geblieben.
„Sie haben damals den Seifriz zu Fall gebracht. Sie haben den Apparatschicks mit Ihren Geschichten ordentlich die Bürste durch den Filz getrieben, außerdem haben Sie die Umlage auf 280.000 gebracht. Deswegen werden wir Ihnen nicht die Kündigung aussprechen. Sie aber, mein lieber Pfeffer, Sie werden ihr Gesuch über den Rücktritt als leitender Chefredakteur noch heute einreichen. Dafür erhalten Sie im Gegenzug eine Verabschiedung aller Ehren halber und ein sehr ordentliches Zeugnis, welches ich selbst erstellen und persönlich unterzeichnen werde. Herr Plaumann ebenfalls, selbstredend. Diese unsägliche Sache mit Ihren Zeugnissen bleibt unser Geheimnis, auch wir haben kein sachliches Interesse daran, dass es in dieser Causa zu einer Öffentlichkeit kommt. Es wird überdies keine Klageschrift gegen Sie eingereicht, weder von uns, dafür garantiere ich, noch von dritter Seite, dafür sorge ich.“
Er machte eine kurze Pause.
„Einen Haken hat dieses Angebot allerdings, Herr Pfeffer. Es besteht ab jetzt für genau sechzig Sekunden und ist, ganz hanseatisch, mit Handschlag zu bestätigen.“
Richard genannt Rick Pfeffer sah Neustädter an. Sein Ton war während er sprach immer kühler geworden und als er Pfeffer nun die Hand reichte, meinte dieser die Eiseskälte der Entscheidung fast körperlich spüren zu können.
Und dann schlug er ein.
Und so hatte es sich in Wirklichkeit zugetragen.
V.
Und nun saß er also hier, in dieser heruntergekommenen Spelunke nahe der Autobahn, und überlegte, ab welchem Punkt ihm eigentlich die Zügel entglitten waren. Das Hebraicum, oh Mann, das war dann wohl doch ein bisschen zu viel des Guten. Er trank sein Bier aus und bestellte gleich noch eins.
„Ach und Süße“, rief er der Bedienung hinterher „einen Schnaps kannst Du auch gleich dazustellen!“
Die Bedienung hatte ein hübsches Gesicht und eine ganz ansehnliche Figur, insgesamt etwas üppig und schon ein wenig verlebt, aber so mochte Pfeffer sie in der Regel. Die wussten, was sie wollten. Normalerweise hätte er sie neben Bier und Schnaps auch gleich um ihre Telefonnummer gebeten, aber heute war ihm nicht danach. Also dann doch nur das Herrengedeck. Die Bedienung nickte beiläufig und begann zu zapfen.
Vielleicht war das ja auch das Problem. Der Alkohol. Er hatte immer schon viel getrunken, aber unter dem Druck der vergangenen Monate und Jahre war es immer mehr geworden, immer schlimmer. Manchmal war er in einer Kneipe aufgewacht und hatte weder gewusst, wo er sich befand, noch wie er dort hingekommen war. Oder eben wie damals im Hotel nach seiner Sause in der Roten Katze. Und, ach ja, die Frauen ... Oh Mann, er konnte ihnen einfach nicht wiederstehen. Wenn er eine sah, die ihm gefiel, dann musste er sie einfach haben. Koste es, was es wolle. Aber selbst ihm Puff musste er lügen und Geschichten erfinden, damit er sich halbwegs attraktiv fühlen konnte. Und damit er die guten Nutten abbekam. Traurig. Eigentlich. Aber so war es nun mal. Obwohl er erst 46 war, bildeten seine Haare nur noch einen breiten Kranz um seinen Kopf. Da half auch alles Über- und Rüberkämmen nichts, so sehr er sich auch jeden Morgen bemühte. Alle Versuche hierbei schlugen fehl. Ebenso wie die, weniger zu trinken. Und dem Trinken hatte er wohl auch seinen ordentlichen Bauchansatz zu verdanken. Und dann noch die blöde Brille ... Beinahe verlor er sich im Selbstmitleid und vermutlich log er deshalb eben manchmal so sehr, dass sich die Balken bogen. Na ja, und wo wir schon dabei sind, wollen wir auch ehrlich bleiben: die meisten Frauen, die er abschleppte, wollten es auch nicht anders. Es waren zumeist ältere Damen, gelangweilt, verblüht, letztlich anspruchslos. Da kam ihnen ein Rick Pfeffer mit seinen Räuberpistolen gerade recht. Eine kleine Aufregung zur Abwechslung vom öden Alltag, eine kurze Affäre, das war es dann. Die letzte Cola in der Wüste eben.
Das mit der Spielerei allerdings bereitete ihm langsam ernsthafte Sorgen. Ja, er spielte wirklich ein bisschen zu gern. Nie um richtig große Summen, aber doch genug, um schon mal den Autoschlüssel an der Kasse abzugeben, wenn das Portemonnaie wieder zu schnell leer war. Na Schätzchen. Papa braucht noch was. Ja, ja, Belehrungen kannste Dir sparen. Jetzt gib schon die Jetons rüber. Hier der Schlüssel. Sollte wohl reichen!
Und das bei seinem Auto! Er hatte sich vor zwei Jahren einen Mercedes gekauft. Neu natürlich, das musste schon sein. Damit hatte er sich einen echten Traum erfüllt. Wer einen Mercedes fuhr, der war schließlich jemand! Als er den Wagen dann aber abholte, fiel ihm plötzlich auf, wie viele von diesen Dingern eigentlich herumfuhren, und so ließ er seinen eigenen kurzerhand in Gold lackieren! Gold! Ohgottohgott. Es tat ihm also jedes Mal besonders weh, wenn er den Schlüssel für sein geliebtes Goldstück im Casino abgeben musste. Oh Mann, das Casino war wirklich sein persönlicher Vorhof zur Hölle, kamen dort doch jedes Mal alle seine Probleme auf einen Schlag zusammen: Spielen, Frauen, Alkohol.
„Ist hier noch frei?“
Die Frage riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Er blickte vom Tisch auf und sah vor sich einen Mann, unauffällig, mittleres Alter, mittlere Statur, brauner Mantel. Pfeffer starrte den Unbekannten an. Der Laden war doch vollkommen leer. Warum wollte der Typ sich ausgerechnet hier hinsetzten? Zu ihm! An seinen Tisch! Gesellschaft konnte er in diesem Moment nun wirklich nicht gebrauchen.
Aber er hatte noch weniger Lust auf Diskussionen, und sein Bier war inklusive Schnaps auch gerade angekommen. Deswegen zog er beides etwas dichter zu sich heran und nickte stumm. Dann wendete er sich seiner Getränke-Orgel zu. Er kippte den Schnaps in einem runter, so wie es sich gehörte. Der Fremde hatte inzwischen Mantel und Hut abgelegt und selbst ein Bier bestellt. Pfeffer hatte sich schon darauf eingestellt, ihn vollständig zu ignorieren. Bloß jetzt kein Gespräch. Wie geht’s denn so? Hier aus der Gegend? Blabla. Oh Gott, hoffentlich war das nicht einer von diesen Schwulen! War er nicht. Aber er sprach ihn trotzdem an.
„Sagen Sie, Sie sind doch Richard Pfeffer oder? Der Kommunistenfresser vom Weserkreis! Na, Sie haben es aber mit den Genossen, was?“
Pfeffer nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. „Und Sie sind wohl vom KGB und wollen mich verhaften, nehme ich an?“, sagte er mürrisch und tat einen weiteren großen Schluck.
„Nein, nein, das eher nicht, kein KGB“, sagte sein Gegenüber in einer Mischung aus Strenge und Heiterkeit.
„Ich bin vom Bundesnachrichtendienst.“