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Kapitel Zwei KARRIERE
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Auf Blitz folgt Donner. Und es donnert viel. Kostprobe? Also bitte, Zahnstocher rein und her damit. Die Russen versuchen aus Afghanistan eine sowjetische Enklave zu machen. Ach ja, hatten wir schon. Was war sonst noch? Blätter blätter. Oha. So einiges. Säuberungsaktionen in Kambodscha durch Vietnam (sollten die es nicht besser wissen? Tss Tss Tss ...), blutige Aufstände in Südkorea (ja, richtig: der gute Teil), Bürgerkrieg im Jemen und außerdem wird zwischen Israel und den palästinensischen Provinzen im Westjordanland ... nun ja, die alte Geschichte eben. Gähn. Das war’s schon? Ach na ja, wissen Sie, das ist jetzt auch nicht soooo aufregend. Also mehr. Kein Problem. Putsch im Tschad, in Gambia, Liberia, Ghana, Uganda, Nigeria, Burundi und in der Zentralafrikanischen Republik. In Kamerun wird es zumindest versucht, in Mauretanien dagegen durchgeführt, aber anschließend durch Gegenputsch wieder rückgängig gemacht. Rinn inne Kartoffeln, raus ausse Kartoffeln. So wird das natürlich nix mit’m Wirtschaftswunder. Egal. Hier heißt der wahre Feind: Kolonialismus! Und der liegt nun endlich niedergestreckt auf der Bastmatte und verdorrt in der Sonne. Auch eine Ex-Kolonie: El Salvador. Auch dort: meine Schaufel, Deine Schaufel. Großoffensive der Guerilla gegen die Regierung. In Bolivien hingegen wird artig gewählt. Weil einem aber die guten Antworten immer zu spät einfallen, ist das mit dem Wahlergebnis dann zwar schön und gut, wird aber trotzdem hinterher mit der Knute geregelt. Und auch hier wieder: Knüppel aus dem Sack. Das ewig wildschlagende Herz.
All das schafft es aber in den Nachrichten auch gerade so eben noch vor den Sportteil. Viel schlimmer sind da schon die Umtriebe von Maurice Bishop, Premierminister von Grenada und außerdem Marxist. Ohgottohgott, direkt vor der Haustür der freien Welt. Das geht nun wirklich nicht. Was macht der? Sowjetunion? Kuba? Bilateral? Das geht zu weit. Mr. President? Mr. President, könnten Sie kurz? Ja, ja, gleich gleich. Muss hier noch was in Auftrag geben. Also mal sehen, Neutronenbombe? Check! Star-Wars-Programm? Check! Größter Flugzeugträger aller Zeiten? Check! Kurz den Bleistift weg, was war jetzt gleich? Bishop? Ja, mach mal. Besetzen und gut. Aruba, Jamaica, ooooh I wanna take ya! So einfach ist das. Bishop wird exekutiert und der Cowboy schwingt weiter die Winchester-Flinte im Western. Oder war das vorher? Man kann da schon durcheinander kommen. War’s das denn nun? Grenada? Check!
Klappt in Nicaragua leider nicht, aber immerhin gelingt es, dort wenigstens einen ordentlichen Bürgerkrieg anzuzetteln. Da wird auch noch Honduras mit hineingezogen. Querfinanziert, gesponsert, das ganze Netz wie schon in Afghanistan. Finger hoch, wer eine Waffe abfeuern kann! Ah ja! Da haste! Aber wie es eben so ist, hast Du ein Maul gestopft, schreit schon der nächste. Geiselnahme im Iran. Puh, das wird langsam lästig. Prompt wird eine geheime Operation mit den besten Kräften gestartet. Ergebnis: ohne eine feindliche Muskete erblickt zu haben, waren drei Hubschrauber kaputt, zwei explodiert, dazu ein ebenfalls explodierter Tankwagen und ein ausgebranntes Großraumtransportflugzeug Marke Hercules. Ein Hubschrauber musste dann zurückgelassen werden und – na ja, das kann passieren – da waren dann auch noch geheime CIA-Dokumente drin. Ganz schön viel Getöse für eine geheime Operation. Ein klassischer Rohrkrepierer, aber was soll’s. Schulle, kann schließlich jedem mal passieren.
England war in Falkland viel erfolgreicher. Nutzte aber auch nichts, da John Lennon erschossen wurde. Da hätte man wohl lieber auf diese Bananeninsel verzichtet. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Trotzdem geriet Margaret Thatcher zur Eisernen Lady. Wer weiß eigentlich, dass sie vorher als Chemikerin das Softeis erfunden hat? Eher eine dunkle Episode Ihrer Karriere, denn soft wollte sie nun gar nicht sein. 15 Jahre Thatcher, 16 Jahre Kohl und da heißt es, Demokratie lebt vom Wechsel. Auch hier wieder: von den Roten lernen heißt Siegen lernen. Da wurde nämlich mehr so langfristig durchgetauscht, wenn auch mit den Füßen zuerst. Wer hat noch nicht, wer will nochmal. Der Posten des Generalsekretärs der KPdSU galt bis dahin eher nicht als eine schnell vorbeiziehende Karrierestation. Auf Breschnew folgte Andrpow folgte Tschernenko folgte Gorbatschow, wobei von einem kommenden Wind of Change bis dahin nicht einmal ein seichter Luftzug zu spüren war. So wundert es denn auch nicht, dass ein einfacher polnischer Werftarbeiter grobschlächtigen Typs eines Morgens aufstand, sich den buschigen Schnurrbart kämmte und beschloss, dass er die Schnauze voll hatte. Es folgten Solidarnosc, die Bürgerbewegungen in der DDR, in Ungarn, der CSSR und so weiter, und irgendwann fielen auch in der Sowjetunion zum ersten Mal die Worte Glasnost und Perestroika. Ähm, könnten Sie das bitte wiederholen, Genosse? Dies jedoch sollte keineswegs heißen, dass der Ostblock dabei war, die sprichwörtlichen Segel zu streichen. Nein, das nicht. Aber es brodelte in den Grenzen der Comecon, des Warschauer Paktes, wobei die Agenten der Geheimdienste in Ost und West nun alle Hände voll zu tun hatten. Und einem solchen Spieler im großen Match der bipolaren Welt saß unser frisch demissionierter Rick Pfeffer nun an jenem Abend gegenüber und überlegte angestrengt, wie er reagieren sollte.
II.
Er blickte sich noch einmal um. Die kleine Kapelle war bis auf den letzten Platz besetzt, an den Wänden hingen Messingkandelaber deren Kerzen die kunstvoll gearbeiteten Facettenfenster kaleidoskopisch beschienen. Wer all diese Männer und Frauen wohl waren, fragte er sich und streifte einige Gesichter in vorüberziehender Bedeutungslosigkeit. Frauen mit spitzenbedecktem Gesicht, ab und an ein Taschentuch unter den schwarzen Schleier führend, Männer allen Alters, deren teils zu eng sitzende dunkle Anzüge wohl immer nur zu traurigen Anlässen aus dem Schrank hervorgeholt worden waren. Blick nach unten, Kopfschütteln, Schluchz. Einige ließen, so wie auch er selbst, ihre Blicke schweifen und blieben immer wieder an dem Sarg hängen, schön aufgebahrt vor dem Altar. Dann wieder Blick nach unten, wieder Kopfschütteln. Nee nee, nu auch er. Vor und neben dem Sarg ein Blumenmeer von Gestecken, dem Anlass entsprechend geschmackvoll arrangiert. Grabgemüse. Darf man das sagen?
Er selbst nun trug einen schwarzen Anzug mit ebenso schwarzer Krawatte. Tagesuniform. Doch ach, herrje, was war denn das? Erst jetzt bemerkte er den kleinen Kaffeefleck am linken Revers. Verflixt und zugenäht, entfuhr es ihm in Gedanken während er darüber rätselte und sich gleichsam zu ärgern begann, wie er dieses kleine Odium hatte übersehen können.
Der Pfarrer, ein untersetzter, gutmütig blickender Mann fortgeschrittenen Alters, hatte gerade noch gesprochen, dabei immer wieder über seinen graumelierten Vollbart gestrichen, und anschließend hatte sie alle gemeinsam „So nimm denn meine Hände“, gesungen. Nun war sein Name genannt worden, und Richard genannt Rick Pfeffer stand auf, straffte sein Jackett und ging gemessenen Schrittes an das Katheder, welches dem fein gearbeiteten Eichensarg zur Seite gestellt worden war. Er legt sein Skript darauf, spürte die auf ihn gerichteten Blicke und Erwartungen, sah auf und begann zu sprechen:
„Ich kannte Joseph Rebschläger nicht!“
Er ließ seine Worte einige Sekunden lang wirken und setzte dabei einen gestochenen Blick auf, den er zwischen den Trauernden in der Kapelle sprungwechseln ließ. Er wartete noch kurz, bevor er fortfuhr.
„Ja, ich kannte Joseph Rebschläger nicht, und doch weiß ich mittlerweile so viel über ihn.“ Er blickte kurz aber theatralisch den Sarg an und lächelte flüchtig nickend, so als wolle er den Verstorbenen nun zum ersten und letzten Mal grüßen.
„Denn sehen wir uns einander an! So viele Menschen sind heute hier versammelt, um sich von ihm zu verabschieden. Um ihm Lebewohl! zu sagen. Freunde, Bekannte, Verwandte und natürlich seine liebe Familie, der mein ganzes Mitgefühl und mein aufrichtiges Beileid gilt.“ Er sah zu der weinenden Witwe hinüber und machte eine betroffene Geste. „So viele Augen, deren Tränen sich heute wohl nicht zählen lassen. Und so viele Erinnerungen, die das Leben von Joseph Rebschläger bei allen hier hinterlassen hat, dass es nicht genügend Tinte auf dieser Welt gibt, um sie alle aufzuschreiben.“ Nicken bei einigen Männern. Eine Frau schluchzte und Rick Pfeffer verbuchte dies als einen ersten Erfolg. Vielleicht fing sie ja gleich an zu heulen. Das wäre der Ritterschlag. Hatte seine Stimme zuvor noch ein leichtes Vibrato gehabt, wurde er nun zusehends sicherer. Er beschloss, jetzt in die erste Plural zu wechseln.
„Ein Schmetterling kann einen Orkan auslösen, heißt es, und ebenso hat das Leben von Joseph Rebschläger bei uns allen etwas hinterlassen, ist dadurch größer geworden und bedeutungsvoller als es ohnehin immer gewesen ist. Wir alle aber, waren ein Teil seines Lebens, und wir alle wissen, dass er ein Teil des unsrigen bleiben wird. Für immer. Wir werden von ihm erzählen, werden seine Fotos betrachten, werden uns an ihn erinnern und an das, was wir mit ihm teilten. Aber er war nicht nur ein Freund. Im Beruf war er erfolgreich, ja das lässt sich sagen. Was aber unser Joseph Rebschläger nach einem Menschenleben hinterlässt, ist mehr, als das, wofür andere wahrscheinlich die sieben Leben einer Katze bräuchten. Mag sein Betrieb auch klein sein, er hat ihn Kraft seiner Hände aufgebaut, ihn auch durch schwierige Zeiten gelenkt und nunmehr an seinen ältesten Sohn Walter übergeben.“ Er deutete auf den jungenhaften Mann in der ersten Reihe. „Aber was ihn vor allem auszeichnete war seine Menschlichkeit. Entlassungen hat es bei ihm nicht gegeben, niemals. Und erinnert sich nicht der ein oder andere an den unbekannten Weihnachtsmann, der auf einmal vor der Tür stand und Geschenke reichte, als das Geld auch mal knapp und die Not groß war?“ Die, die es wussten nickten, einer sagte leise „Jawohl“, und Pfeffer machte erneut eine kleine Pause. Wieder Schluchzen, diesmal schon mehr, deutlicher, und aus den Augen der meisten sprach nun erkennende Zustimmung. Er hatte sie. Jetzt hatte er sie alle. Er spürte die Erleichterung und war nun fast beschwingt.
„Und seine Familie, die er so sehr liebte – keiner soll sagen, er hätte sich nicht gekümmert. Joseph Rebschläger war ein liebender Ehemann, ein gütiger Vater und ein aufopferungsvolles Familienoberhaupt. Es zerreißt mir das Herz in der Brust, wenn ich Sie nun hier ansehe“, er blickte ein wenig übertrieben zu der Witwe und da plötzlich – Jawollja! Sie weinte große Kullertränen! Volltreffer! Besser geht’s nicht. Jetzt nur nicht nachlassen! „Wenn ich Sie ansehe und nicht einmal annähernd Ihren Verlust ermessen kann. Und doch weiß ich eins: so wie ich Ihn kenne, wird er von da, wo er jetzt ist, weiter über Sie wachen und seine Hand schützend über Sie halten. Es mag Sie, es mag uns alle nicht trösten, darum zu wissen, denn für uns ist er fort. Doch lebt er fort, lebt in allem, was uns umgibt weiter. In Seinen Kindern, in seinem Schaffen, in all unseren gemeinsamen Erinnerungen, und wir dürfen nie aufhören, sie dem Vergessen zu entreißen. Nein, ich kannte unseren Joseph nicht. Aber wenn ich heute einen Wunsch frei hätte, dann wünschte ich mir, dass ich ein bisschen so sein könnte wie er. Dass wir alle ein bisschen so sein könnten wie Joseph Rebschläger.“
Er blickte nach unten, strich sich eine Träne aus dem Auge, die gar nicht dort war und ließ wiederum das Gesprochene wirken. Er hatte sie tatsächlich erreicht. So viele Tage hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, so lange an seiner Rede gefeilt, so oft vor dem Spiegel geübt, aber dennoch war ihm beim Anblick der vielen in Trauer aufgelösten Menschen beinahe schlecht vor Angst geworden. Nun jedoch spürte er auf einmal wieder dieses triumphierende Gefühl in sich, es geschafft zu haben, dieses Hochgefühl der Freude über seine Arbeit, dass er seit seinen Tagen beim Weser-Land-Blatt so schmerzlich vermisst hatte. Darüber hinaus gab es ja schließlich auch noch Geld und zwar keinen Pappenstiel, wie Pfeffer erstaunt hatte feststellen müssen, als er das erste Kuvert erhalten hatte.
Er musste plötzlich darüber nachdenken, welch absurde Windungen das Leben doch zu nehmen pflegte. Immer dann, wenn man am wenigsten damit rechnete. Das Schicksal ist eben ein wirrer Stratege, dachte er sich und musste unwillkürlich an jenen Augenblick vor nun gut drei Wochen denken, als der Platz ihm gegenüber im Sattelschlepper auf einmal von einem unbekannten Fremden besetzt worden war. Hatte er ihn eigentlich begrüßt? Hatte er ihm einen guten Abend gewünscht oder ihm ein eher gängiges Moin über den Tisch geworfen? Er konnte sich nicht mehr genau darauf besinnen. Das erste, woran er sich in der Rückschau erinnerte, war jener Satz, den er Zeit seines Lebens nicht mehr vergessen sollte.
III.
„Ich bin vom Bundesnachrichtendienst“, hatte der Unbekannte gesagt. Und er sagte es so ernst und bestimmt, dass Richard genannt Rick Pfeffer sich an seinem tiefen und sonst so geübten Zug Pils verschluckte und laut prustete.
„Wollen Sie mich verscheißern, oder was? Sie sind doch nicht vom BND!“ Pfeffer sagte es mit aller Strenge, um sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Innerlich jedoch rasten seine Gedanken. Hatte er jetzt ein Problem? Was konnten die von ihm wollen? Hatte er mit irgendwas richtigen Mist gebaut? Musste er ins Gefängnis? Ohgottohgottohgott! Bloß nicht ins Gefängnis.
„Nein, das will ich nicht, Herr Pfeffer. Ich bin Oberleutnant Hans Müller, und ich arbeite für den Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland. Und bevor Sie fragen: Nein, natürlich ist das nicht mein richtiger Name.“
„Müller also“, sagte Pfeffer, „Haben Sie irgendeinen Ausweis oder so was? Ich meine, können Sie das beweisen?“
„Wie wäre es damit!“, sagte Hans Müller, zog sein Jackett zur Seite und Pfeffer konnte einen ledernen Pistolenholster mit der darin befindlichen Waffe sehen. Jetzt wurde ihm schlecht. Er hatte noch nie in seinem Leben eine Waffe so nah gesehen, höchstens mal bei den BGS-Leuten während der Rasterfahndung. Aber die wollten ja damals nichts von ihm, die waren ja auf die Meinhof und den Baader mit ihrer Schweinebande aus. Solange Sie nicht auf Dich gerichtet sind, nimmst Du Waffen kaum wahr. Das war auch bei einem Rick Pfeffer nicht anders. Jetzt aber saß ihm jemand gegenüber, der gerade noch ein völlig Fremder war, ihn direkt ansprach und eine Pistole bei sich trug, und das war der Moment in dem Rick Pfeffer echte Angst bekam.
Müller indes musste wohl Pfeffers plötzlichen Stimmungsumschwung bemerkt haben, denn er zog schnell wieder das Jackett vor die Brust während er sagte: „Keine Sorge, Pfeffer, ich werde Sie schon nicht erschießen. Da wäre ich ja schön blöd!“ Er lachte jetzt und klang sanfter.
„Schön blöd?“ Rick Pfeffer war irritiert.
„Schön blöd, weil ich mich ja mit Ihnen unterhalten will. Tote reden nicht, Pfeffer.“ Jetzt schmunzelte er sogar. „Glauben Sie mir, ich muss es wissen.“
Hans Müller trank den Rest seines Bieres in einem Zug aus, stellte das Glas auf den Untersetzter, faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und sah Pfeffer einige Momente in stiller Freundlichkeit an.
„Kann ich Ihnen erst mal einen ausgeben? Auf den Schreck meine ich?“
Pfeffer nickte und trank nun seinerseits das Glas leer.
„Und einen Schnaps dazu“, sagte er noch immer ein wenig abwesend. Der nun nicht mehr ganz so Fremde, der sich ihm als Hans Müller vorgestellt hatte stand auf, ging beinahe übertrieben lässig und schwungvoll zum Tresen und bestellte wie gewünscht. Dann kam er zurück, setzte sich wieder hin, und beide sagten kein Wort ehe nicht die Gläser mit dem frischen, schäumenden Bier von der Bedienung vor sie auf den Tisch gestellt wurden. Und für Rick Pfeffer einen Schnaps nebenbei.
„So, jetzt wollen wir uns erst mal aufwärmen!“ Hans Müller hob sein Glas und deutete Pfeffer zu, anzustoßen. Der hingegen war noch mit dem Schnaps beschäftigt, welchen er ums Neue in einem Zug hinunterkippte, sich kurz schüttelte, das kleine, schwere Glas auf den Tisch stellte und erst dann die Biertulpe anhob und mit seinem Gegenüber anstieß.
Müller trank einen nicht mehr ganz so tiefen Schluck, und während er sich den Schaum noch mit dem Handrücken von der Lippe wischte, entfuhr ihm ein wohliges „Ahhh!“ Er stellte das Glas ab und sah Pfeffer an.
„Ich will nicht lange drum herumreden, Pfeffer. Wir beobachten Sie schon einige Zeit, und uns gefällt, was Sie tun. Also, vielmehr, was Sie getan haben. Einer wie Sie kann in Pullach viel Kredit erwerben.“
„Kann er das?“, raunte Pfeffer, nun schon weniger ängstlich, dafür aber beginnend misstrauisch.
„Ja, das kann er. Sehen Sie, die Expansion des Kommunismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unser Land, Pfeffer, Sie als Journalist sollten das wissen. Die UdSSR ist kein nach Innen gerichtetes System mehr wie in den zwanziger oder von mir aus dreißiger Jahren. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Kommis immer weiter an Boden gewonnen. Haben Sie das von Gorbatschow gelesen? Diesen ganzen Unfug über Glasnost und Perestroika? Seit er letztes Jahr angetreten ist, versucht er, dem Westen in die Manteltasche zu springen. Wenn Sie mich fragen, ist das alles nur wieder eine abgekartete rote Masche. Bei Stalin oder Chrustschow, da wusste man, woran man war. Aber heute ...!“ Er machte eine abschätzige Handbewegung. „Seit Breschnew abgenippelt ist, geht es im Politbüro zu wie in einem Wanderpuff. Erst Andropow, dann Tschernenko, jetzt Gorbatschow – was weiß ich denn, wer da nächstes Jahr im Sessel sitzt. Wenn Sie mich fragen, steht denen seit Afghanistan das Wasser bis zum Hals, und bevor die Genossen dicke Backen machen, versprechen sie Dir lieber erst mal das Blaue vom Himmel. War doch schon immer so. Und während das alles läuft, hat der kleine Bruder in Berlin mittlerweile wer weiß wie viele Spione hier im Westen. Das ist ein echtes Problem. Ein reales Problem. Und es ist vor allem ein deutsches Problem. Wissen Sie, wie schwierig es für die Russen ist, einen Sowjet-Agenten in den USA zu tarnen? Ihn überhaupt da hin zu bringen? Mann, Pfeffer, ich kann Ihnen sagen, die Russen bauen in Sibirien ganze Dörfer aus dem mittleren Westen der USA nach, um ihr Personal da zu schulen. Lassen die Frauen da Kinder kriegen, damit die von Geburt an englisch sprechen, Pepsi trinken und so weiter. Aber hier“, er nahm einen Schluck Bier und zündete sich eine Zigarette an „hier schicken Sie einfach einen Stasi-Mann mit Passierschein über den Checkpoint Charly und wir geben dem auch noch Hundert Mark zur Begrüßung.“ Er lachte bitter und betrachtete die feine Rauchsäule, die nun über seiner Zigarette aufstieg.
Rick Pfeffer blinzelte. Noch immer konnte er nicht erkennen, was er mit der ganzen Sache zu tun haben sollte, aber Hans Müller wurde ihm langsam sympathisch.
„Wissen Sie, was Brandt gemacht hat?“, fuhr Müller fort und ohne eine Antwort abzuwarten: „Der hatte ein sogenanntes Journalistenabteil, ganz hinten am Kanzlersonderzug. Das Teil war aber nicht voll mit Journalisten, sondern mit Journalistinnen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Stecken Sie einfach eine blonde Spionin mit prallen Möpsen in einen Rock und schon sind Sie im Sicherheitsbereich des Bundeskanzleramtes. Um Gottes Willen, so einfach war das damals. Wer wäre da auf Guillaume gekommen?“ Er lachte laut auf und drückte die Zigarette kopfschüttelnd aus. „Wir tun unser Bestes, Pfeffer, das können Sie mir glauben. Aber auch wir können nicht überall sein. Und dann auch noch die ganze Scheiße mit der RAF! Wir haben gedacht, dass sich das alles mit der Aktion in Stammheim erledigt hätte, aber jetzt sind schon wieder die Nächsten unterwegs und ballern rum wie Räuber Hotzenplotz mit der Pfefferpistole. Das hat der alte Gehlen nicht geahnt, dass seine „Fremden Heere Ost“, auf einmal quasi aus den eigenen Reihen kommen. Kurz und Gut:“, er atmete tief ein und wieder aus „Die Bundesrepublik braucht dringend loyales Personal, Pfeffer. Und da kommen Sie ins Spiel.“
„Und das heißt?“ Pfeffer spürte nun eine innere Anspannung.
„Das heißt, dass ich Ihnen einen Job anbiete, Pfeffer. Nichts Großes zwar, und berühmt werden Sie damit auch nicht, glauben Sie mir. James Bond gibt es nur in Hollywood. Aber Sie können etwas für uns tun. Sie können etwas für Ihr Land tun.“
Pfeffer nickte, während in ihm die Aufregung wuchs. Als er einen Schluck aus seinem Glas nehmen wollte, bemerkte er sogar, dass seine Hände angefangen hatten zu zittern.
„Wie gesagt, wir können nicht überall sein. Deshalb brauchen wir Leute wie Sie, die immer Augen und Ohren offen halten, Pfeffer. Sie haben in Bremen ganz schön was ins Rollen gebracht, wissen Sie das eigentlich?“
Nicht ohne Stolz, aber immer noch ein wenig zu zaghaft für einen wahren Pfeffer antwortete dieser „Na ja, man tut was man kann. Aber das waren ja keine Kommunisten! Das waren eigentlich alles nur Sozis!“
„Was denken Sie denn, was die Sozis vorhaben, Pfeffer? Was glauben Sie, warum die den Schmidt abgesägt haben? Wissen Sie, was bei Marx und Engels steht? Der Sozialismus kann nur bestehen als Weg zum real existierenden Kommunismus! So! Und was glauben Sie denn, wer drüben im Politbüro sitzt? In der SED? Das waren vorher auch mal alles Sozialdemokraten, die hoch und heilig geschworen haben, mit der KPD nie gemeinsame Sache zu machen, und jetzt reichen die sich gegenseitig die Wodkagläser und sagen aber mal laut Nastrovje! Nein, nein Pfeffer, Rot bleibt Rot, egal wie die es nennen. Und nach allem, was ich von Ihnen gelesen habe, sehen Sie das doch genauso, oder irre ich mich da etwa?“
Sympathisch, der Mann. Pfeffer machte nun die Leinen los.
„Für mich sind das alles Bolschewiken!“ Jawoll! Wird man ja wohl noch sagen dürfen! „Ich habe denen in Bremen das auch gesagt. Immer wieder! Da ist der allerletzte Filz am laufen, und Moskau ist die ganze Zeit am Telefon dabei. Ich war einer der wenigen, die alles ausgesprochen haben. Aber Sie sehen ja, wohin mich das gebracht hat“, er deutete auf das Enterieur des Sattelschlepper. Die Bedienung verstand es fälschlicherweise als neue Bestellung und begann schon wieder, den Zapfhahn zu bedienen. Rick Pfeffer wehrte sich nicht dagegen.
„Wir wissen, dass Sie für die Roten Brüder einen ganz guten Riecher haben, Pfeffer. Alles, was wir wollen, ist, dass Sie Ihre Antennen ausgefahren lassen und uns über alles Bericht erstatten, was Sie so aufschnappen. Auch das, was vielleicht die Gerüchteküche mitunter so hergibt. Wie hört sich das für Sie an?“
„Das ist alles?“
„Wenn Sie es wollen, ja“, sagte Müller, während Pfeffer erneut Bier und Schnaps vorgesetzt wurden. „Ich hätte aber auch noch ein anderes Angebot für Sie.“
„Und das wäre?“ Pfeffer kippte den Schnaps herunter. Er bemerkte, dass er jetzt doch einen leichten Schwips hatte.
„Sie könnten uns hin und wieder einen Gefallen tun. Nichts Großes, keine Bange, nur ... na ja ... Gefallen eben.“
„Ja, aber was wären das denn für Gefallen?“, fragte Pfeffer, vom Alkohol mittlerweile jeder Furcht beraubt.
„Das kann man in unserem Geschäft nie vorher sagen. Kleinigkeiten eben. Und es wäre nicht Ihr Schaden.“
„Wie soll ich das denn jetzt verstehen?“, wurde Pfeffer hellhörig.
„Nun, sie haben doch keinen Job mehr, oder?“
Hatte er nicht.
„Und wie sieht es mit dem lieben Geld aus?“
Schlecht. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht mal wie er hier im Sattelschlepper die immer länger werdende Rechnung bezahlen sollte.
„Sehen Sie, und ich kann Ihnen beides geben. Wir machen das immer so. Sie bekommen einen unauffälligen Job, der keine Vorkenntnisse erfordert, erhalten einen sehr anständigen monatlichen Sold, bar natürlich, und halten sich ansonsten bereit, bis wir uns bei Ihnen melden. Augen und Ohren offen halten versteht sich von selbst!“ Er machte eine Pause und blickte Rick Pfeffer in die Augen. „Was sagen Sie, Pfeffer, sind Sie dabei? Ach so, und als kleiner Vorschuss geht hier natürlich alles auf mich!“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Natürlich war er dabei. Hand drauf, eingeschlagen, Bruderkuss. Ups, das dann vielleicht doch nicht. Man besiegelte alles mit einer weiteren Runde, ehe Pfeffer es ganz genau wissen wollte.
„Und was muss ich machen? Also die unauffällige Arbeit meine ich.“
Müller sah in an und sagte „Sie sind doch Journalist. Das heißt, Sie können schreiben, oder?“
„Kann ich!“ Die Worte kamen aus ihm herausgeschossen und voll übermütigen Stolzes knallte er sein Glas etwas zu fest auf den Tisch.
„Gut. Und können Sie auch reden?“
„Kann ich auch!“, log Pfeffer und merkte, dass er schon erheblich lallte, da sich der letzte Satz beinahe wie „Kaiauch“, anhörte. Das Vereinsilbigen war ein untrügerisches Anzeichen für einen sich bedenklich verschlimmernden Vollrausch. Hans Müller jedoch schien völlig nüchtern zu sein.
„Gut mein lieber Pfeffer, dann haben Sie ab Montag einen neuen Job!“
IV.
Als Rick Pfeffer am nächsten Tag schwer verkatert in den Briefkasten sah, fand er dort einen Umschlag, in welchem neben 5.000 Mark in bar ein Zettel mit der Adresse eines Beerdigungsinstitutes steckte. Als er das Geld sah, erschrak er regelrecht und sah sich wie ertappt vor der Haustür um. Augen links, Augen rechts. Lieber nochmal links. Nichts zu sehen. Er ging wieder ins Haus, schloss sich im Badezimmer ein, nahm das Geld aus dem Umschlag und ließ es wie einen Stapel Skatkarten gefällig am Daumen vorbeiblättern. Es fühlte sich gut an, sehr gut sogar. Er roch daran und bemerkte den typischen, unverwechselbaren Geruch des Geldes, der schon so viele andere vor ihm in Verlegenheit gebracht hatte. Aber was ... aufgemerkt. Er tat es für die gute Sache! Schön war’s trotzdem. Dann sah er sich noch einmal den Zettel mit der Adresse an. Ein Beerdigungsinstitut. Er dachte nach. Was sollte er wohl in einem Beerdigungsinstitut machen? Hoffentlich keine Leichen waschen oder ihnen die Haare schneiden oder etwas anderes Abartiges in der Richtung. Ihm wurde plötzlich wieder mulmig, und als er den vergangenen Abend noch einmal im Geiste vorbeiziehen ließ, begann er sich zu ärgern, dass er so leichtfertig eingeschlagen hatte. „Verdammter Alkohol!“, sagte er lauter zu sich als er es gewollt hatte. Es lag alles so unwirklich hinter ihm, nur wie durch einen Schleier konnte er sich an das Gespräch erinnern. Das Geld allerdings fühlte sich echt und, wie gesagt, sehr gut an. Er klopfte sich mit dem Bündel Scheine bedächtig auf die Handfläche, während er seine Optionen durchspielte. Letztlich kam er zu dem Schluss, dass er das Geld wohl gut gebrauchen konnte. Außerdem, wie sollte er es auch zurückgeben? Und was würde dann mit ihm passieren? Also beschloss Rick Pfeffer an jenem Morgen um viertel nach Zehn auf seinem Toilettendeckel sitzend, zu jenem Beerdigungsinstitut zu fahren und seine erste geheimdienstliche Tätigkeit aufzunehmen.
Und dann war alles ganz schnell gegangen. Es schien, als ob der Inhaber schon auf ihn gewartet hatte. Er stellte keinerlei Fragen, zumal keine unangenehmen, sondern begrüßte ihn direkt mit Namen.
„Richard Pfeffer, richtig?“
„Derselbe. Aber sagen sie ruhig Rick.“
„Was? Wie auch immer. Ich hatte ehrlich gesagt später mit Ihnen gerechnet, aber so ist es natürlich noch besser. Hat man Ihnen schon erklärt, was Sie hier tun sollen?“, fragte er, während er ihn zum Büro führte.
„Ehrlich gesagt nein. Hat es was mit den Toten zu tun? Muss ich ... also, muss ich die anfassen?“
Der Inhaber lachte laut. „Nein, mein Lieber. Wir sagen hier übrigens Verstorbene. Und die überlassen Sie mal schön mir. Sie werden eher mit den Lebenden zu tun haben.“
Und dann erklärte er Ihm, wie genau sein neuer Job als Miet-Grabredner aussehen würde, und dass es zwar Miet-Grabredner hieß, er ihm aber leider nichts bezahlen könnte. Aber – man wisse ja – es gebe noch andere Arrangements, Bargeld auf die Hand oderwassonstnoch und eigentlich wolle er davon auch ansonsten lieber nichts wissen. Aber anständig leben muss man ja auch und vor allem wenn man den ganzen Tag vom Tod umgeben ist. Das letzte Hemd hat keine Taschen und so weiterundsofort.
Und nun, knappe drei Wochen später, hatte er bereits seine dritte Grabrede gehalten, stand vor der trauernden Gemeinde und ließ den letzten Satz seiner Rede noch ein wenig nachwirken, bevor er sein Skript zusammenklopfte, es übertrieben sorgsam faltete, um sich anschließend wieder auf seinen Platz zu begeben. Die Zeremonie folgte der von den Angehörigen bestimmten Liturgie und anschließend wurde Joseph Rebschläger, den Rick Pfeffer nicht gekannt hatte pietätvoll unweit eines kleinen Birkenhains beigesetzt. Pfeffer kondolierte als einer der ersten und wurde von der Witwe zum anschließenden Leichenschmaus eingeladen.
„Sie haben das gut gemacht, Herr Pfeffer. Ehrlich. Joseph hätte es gefallen. Kommen Sie doch auch mit in die Kate und essen etwas mit uns, ja?“ Er nahm an.
In der Kate, die eigentlich Bauernkate hieß, saß Pfeffer dann in seinem schwarzen Anzug still am Tresen und trank sein Bier. Kaffee hatte er nicht gewollt, da er den hinterhältigen Fleck am Revers noch nicht vergessen hatte. Wie Du mir und so fort. Hin und wieder sprach ihn jemand an und bedankte sich für die „lieben Worte“, oder die „schöne Rede“. Ein sehr dicker Mann mit Glatze kam auf ihn zugewankt, schlug ihm für seine Statur viel zu leicht anmutend mit der flachen Hand auf die Schulter, ließ diese dort kurz verweilen, nickte anerkennend und wankte wieder davon. Einfache Menschen, einfache Gesten. So war das wunderschöne Landleben nun mal. Und so ging es weiter, etwa eine halbe Stunde lang und Richard genannt Rick Pfeffer war die ganze Zeit stumm geblieben. Was auch hätte er über den Verstorbenen sagen können, dass er nicht schon vorhin in der Kapelle gesagt hatte. Hatte er sich ja auch nur aus der Nase gezogen. Taschenspielertricks. Und indem er all die Menschen beobachtete, die gekommen waren, um Joseph Rebschläger die, wie es so schön hieß, letzte Ehre zu erweisen, begann Pfeffer zu sinnieren, wer wohl zu seiner eigenen Beerdigung mal kommen würde. Kinder hatte er keine, auch die Verwandtschaft war rar gesät und mit den meisten hatte er sich ohnehin schon vor Jahren überworfen. Seine Frau, ja, die würde wohl kommen. Vorausgesetzt, sie hätte ihn nicht selbst umgebracht, dann dürfte es schwierig werden. Grund genug hatte sie wohl, das stand mal fest. Ja, Freundschaften zu schließen war nie seine Paradedisziplin gewesen und wozu auch. Die meisten die er kennenlernte waren entweder schmierig oder neidisch. Oder beides. Oder totale Kulturbratzen, Kobolde und dumme Fritten. Er hatte es nie lange mit denselben Leuten ausgehalten und sie auch nicht mit ihm. So war er eben. Hard to handle, easy to hate. Das war doch aus irgend so’nem Song ... Aber dass er nicht den einen, echten, richtigen Kameraden hatte, das war schon traurig. In gleichem Schritt und Tritt, mein guter Kamerad. Einmal gab es einen, der hätte es werden können. Er hatte ihn damals in Bremen beim Joggen getroffen. Das war in der Zeit, als er bei der Polizei-Pressestelle gearbeitet hatte. Alles dort hatte ihn fasziniert und er bewunderte, wie die uniformierten Männer jeden Tag auf die Straße gingen, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Was los hier? Erstma Ausweis zeigen, junger Mann! Als er dann selbst mit dem Gedanken zu spielen begann, Polizist zu werden, wurde ihm sehr schnell klar, dass er sich hierfür vor allem körperlich in Form würde bringen müssen. Keine Zigaretten mehr, kein Alkohol, keine Eskapaden. Und fit musste er werden. Daher hatte er angefangen, jeden Tag ein wenig an der Weser zu laufen und an einem dieser Tage war ihm dann dieser Kerl begegnet. Er versuchte sich zu erinnern, wie er geheißen hatte. Er hieß ... er hieß ... Ach verflixt, es war zum Mäusemelken, aber ihm wollte der Name einfach nicht einfallen. Blöd sowas. Jetzt würde ihn diese Sache den ganzen Tag lang verfolgen. Einmal konnte er die halbe Nacht nicht schlafen, weil ihm der Vorname von Strauß nicht eingefallen war. Oh je, nein soweit sollte es dieses Mal nicht kommen. Der hieß, warte, gleich hab ich es ... Nein. Er konnte sich nicht erinnern. Weil er das aber nun für ein Ding der Unmöglichkeit hielt, und weil er schon ein bisschen betrunken war, machte er die Augen zu, umklammerte das Bierglas mit beiden Händen und dachte noch schärfer nach. Er hieß ... er ... hieß ... er ...
„Machen Sie so was öfter?“
Die zarte Frauenstimme riss ihn jäh aus seinem kläglichen Versuch sich zu erinnern. Er schlug die Augen auf und konnte zunächst nur die verschwommene Kontur einer Brünetten neben sich erkennen. Dann nahm er die Brille ab, rieb sich einige Sekunden bei wieder geschlossenen Augen den Nasenrücken beidseitig der Wurzel mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und sah noch einmal hin.
„Entschuldigung. Wie bitte?“ Das war zunächst alles, was er herausbrachte.
„Na, ob Sie so was öfter machen? Grabreden halten bei Leuten, die Sie nicht gekannt haben. Ich meine, das kann doch nicht Ihr Beruf sein, oder?“
Jetzt besah er sich sein Gegenüber etwas genauer. Er schätzte sie auf Anfang dreißig, mittellange gelockte Haare, wahrscheinlich Dauerwelle aber immerhin kein Minipli, wie sie ihn gerade alle trugen. Feste füllige Beine, aber eine dafür recht schmale Taille. Sein Blick glitt über Beine und Taille weiter nach Oben – auch alles fest und füllig, wie er fachmännisch feststellte. Ihr Gesicht schien trotz der verblassenden Jugend nicht verbittert, sie trug keine Brille. Puh, gut! Obwohl er selbst Brillenträger war, stellte Rick Pfeffer immer wieder fest, wie wichtig ihm dieser Punkt bei Frauen war. Vierauge, Nasenfahrrad, Brillenschlange – das sollten die Streber schön unter sich ausmachen. Aber mit der hier – mit der würde er sich wohl schon ganz gerne mal in die Erste Plural begeben. Das Auskundschaften der Frauen erfolgte bei Richard genannt Rick Pfeffer nach festgelegt taxierendem Maß in einer Geschwindigkeit, die im Übrigen jeden Kenner in Erstaunen versetzen musste. Überdies hatte er die seltene Gabe, es so zu tun, dass die Beobachteten nichts von der Vermessung mitbekamen. Zumindest glaubte Pfeffer das. Der ganze Vorgang hatte also, seit sie ihn erneut gefragt hatte, nur einige Sekunden in Anspruch genommen, so dass er ohne auffällige Verzögerung antworten konnte:
„Nein, nein, gnädige Frau. Das mache ich nur aushilfsweise. Eigentlich bin ich Journalist. Aber wenn mal Not am Mann ist, also ich meine bei Bestattungen, dann übernehme ich das. Ist mir eine Herzensangelegenheit. Außerdem sollte man da nicht jeden Stümper ranlassen. Man bringt schließlich einen Menschen unter die Erde, da gehört es sich, den Rhythmus im Takt des Anstandes zu spielen. Das kann nicht jeder, wissen Sie? Aber man kann ja auch nicht erwarten, dass jeder eine so fundierte und professionelle Ausbildung hat wie ich.“ Den Rhythmus im Takt des Anstandes spielen, dachte er sich und war auf einmal richtig stolz auf diese Schöpfung. Solche poetischen Phrasen fielen ihm sonst nie so spontan ein. Es musste wohl an dieser bezaubernden jungen Frau liegen, die schon verhalten kicherte, als er sie „gnädige Frau“, genannt hatte. Oder am Alkohol. War aber auch gleichgültig, denn Rick Pfeffer dachte nur noch: „Volltreffer!“
„Und wenn Sie Journalist sind, also wenn Sie das hier nicht machen“, sie zeigte rücklings mit dem Kopf auf die Trauergesellschaft, „für wen schreiben Sie? Und schreiben Sie Sport oder Kultur? Oder ganz langweilig Politik?“
„Also, wissen sie, momentan ist das Ganze äußerst schwierig zu erklären. Ich meine, ich bin quasi ein freier Mitarbeiter. Im Grunde selbständig. Ich..“
„Sie sind arbeitslos!“, prustete sie fast und lächelte dann einigermaßen verlegen. Das war Pfeffer jetzt doch unangenehm, denn eigentlich hatte sie Recht.
„Das kann man so nicht sagen. Ich mache jetzt nur, sagen wir, etwas anderes.“ Das gefiel ihm schon besser und ihr auch, wie er nun bemerkte.
„Na, was denn?“, fragte sie ehrlich interessiert.
„Etwas anderes halt. Ich kann nicht so richtig darüber sprechen, Sie verstehen schon.“
„Nein, tue ich nicht.“
„Na ja, etwas über das man nicht spricht. Nicht öffentlich zumindest. Ich helfe gewissermaßen mit, für den Frieden, also ... ich kann wirklich nicht darüber reden.“
„Dann kommen Sie mit. Wir gehen irgendwo hin, wo Sie es können“, sagte sie und begann, ihn am Ärmel hinter sich her zu ziehen. Nun war die Bauernkate aber rappelvoll mit Trauernden, so dass sich einfach kein ruhiger Ort finden wollte. Irgendwann wurde es der hübschen Unbekannten dann zu bunt. Sie öffnete die Tür zur Garderobenkammer und zog Pfeffer hinein.
„So. Heimlich genug? Jetzt sagen Sie schon: was machen Sie denn nun so geheimnisvolles?“
„Ich bin vom Bundesnachrichtendienst!“, imitierte Pfeffer Hans Müller gekonnt und hoffte damit ebenso großen Eindruck zu schinden, wie es Müller bei ihm gelungen war.
„Ach Quatsch, Mann. Erzähl doch keine Märchen, Bundesnachrichtendienst. Das denkst Du Dir doch jetzt aus, weil wir hier in der Rumpelkammer stehen, und Du mich abschleppen willst!“
„Nein, das ist kein Witz. Sieh’ mal“, er war jetzt auch ins „Du“, gewechselt, „die Expansion des Kommunismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unser Land. Hast Du das von Gorbatschow gelesen? Über Glasnost und Peres..“, weiter kam er nicht, denn sie hatte auf einmal stürmisch seinen Kopf gepackt und fing an ihn direkt auf den Mund zu küssen. „Was denn.“, entfuhr es ihm noch, aber ihre Zunge ließ seiner keine Zeit, zu fragen. „Gorbatschow hat.“, stammelte er an ihren Lippen vorbei und sie sagte ganz ordinär: „Halt’s Maul und mach’s mir einfach, ja? Ich will heute zumindest einmal etwas Schönes erleben!“
Er hörte einen aggressiven Ton in ihrer Stimme, was ihm jedoch egal war, weil sie in eben diesem Moment ihren Gürtel öffnete, die Hose im Umdrehen herunterstreifte und ihn beinahe unmittelbar von hinten gewähren ließ. Sozusagen. Hüstel. Sie wissen schon. Oh Mann. Und Rick Pfeffer? Der hatte nun auch die Hose unten, verrichtete ungelenk das Verlangte und fing sofort an zu schwitzen. So, dass er merkte, wie ihm bei jeder Bewegung dicke Schweißperlen erst über die Stirn und dann auch unter seinem Hemd am Rücken hinunterliefen. Auf einmal rutschte seine Brille von der Nase und fiel zu Boden. „Scheißegal!“, dachte er, der schon gar nicht mehr wusste, wo er war. Aber wild entschlossen, jawohl, das war er und der Trieb hatte ihm denselben Befehl gegeben, wie seine unverhoffte Liaison. Schnauze halten und die Sache durchziehen. Und sei es eben im Blindflug.
Doch dazu kam es nicht.
Denn gerade als Pfeffer sich dem seligsten Punkt dieser unerwarteten Intimität näherte, gerade als ihm ein leises Krächzen die Kehle hinaufschlich, als er die Augen fest zusammenkniff und den Gipfel erwartete, gerade da wurde die Tür der Garderobe geöffnet. Nein, nicht geöffnet. Aufgerissen. Pfeffer spürte, wie der Schreck und das peinliche Entsetzten seinen Pulsschlag noch einmal steigerten, zumal er ohne Brille nicht einmal erkennen konnte, wer sie in diesem denkbar ungünstigsten Moment ertappt hatte. Er sollte es aber postwendend herausfinden.
„Mama!“, schrie die ihm noch immer Unbekannte, und zog rasend schnell ihre Hose wieder hoch. „Scheiße, was soll das?“ Pfeffer verstand die Welt nicht mehr. Unter der Gürtellinie noch immer völlig nackt, bückte er sich erst einmal, um seine Brille zu suchen, wobei er den sich vor der Garderobe sammelnden Menschen seine unbedeckte Kehrseite zuwandte.
„Ziehen Sie sich was an, Mann. Das ist ja ekelhaft!“, hörte er einen Mann brüllen. Und Pfeffer unterbrach seine Suche, um genau das zu tun, denn der Mann klang wirklich, wirklich wütend. Pfeffer zog also blitzschnell die Hose hoch und schnallte mit gelernter Bewegung den Gürtel zu, wobei er aus Versehen mehr Löcher übersprang als gut für ihn war. Sofort spürte er das Kneifen an der Taille und wurde wiederum kurzatmig. Pfff pfff ging sein Atem, aber er konnte noch immer nichts sehen und ein klarer Durchblick war jetzt wichtiger als seine Atemnot. Er bückte sich also abermals, wobei sich der Hosenbund wie Stacheldraht in sein Bauchfleisch schnitt. Er suchte suchte suchte und gerade als die Peinlichkeit nicht mehr auszuhalten war, fand er zu seinem Erstaunen dann doch die Brille und setzte sie auf. Und dann?
„Scheiße“, sagte er, denn vor ihm stand die Witwe. Nur, dass sie jetzt gar nicht mehr traurig wirkte, sondern eher rasend vor Wut. Neben ihr standen außerdem der Fettsack von vorhin sowie einige andere Männer. Und es wurden zusehends mehr. Über ihre Schultern hinweg erkannte Pfeffer, dass sich im Saal Unruhe breit zu machen begann. Er wollte etwas sagen, irgendetwas, aber er brachte einfach nichts heraus. Schließlich war es die Witwe, die sich allerdings an die unbekannte Schönheit wandte und nun endlich das Schweigen brach. Jetzt weinte sie wieder, während sie die andere anschrie. „Wie kannst Du nur!“ Sie ohrfeigte die Unbekannte. Und noch mal „Wie kannst Du nur! Michaela, wirklich!“
„Aha“, dachte Pfeffer, „Michaela also!“
Aber die Witwe war noch nicht fertig.
„Dein Vater ist noch nicht mal eine Stunde unter der Erde. Und Du ... Du machst hier so was. Vor all den Leuten!“
Au Backe! Das konnte auch nur einem Rick Pfeffer passieren.
„Du bist Rebschlägers Tochter. Warum hast Du denn nicht bei den anderen in der ersten Reihe gesessen?“, entfuhr es ihm vor lauter Erstaunen in einer ähnlichen Lautstärke, wie jene, in der zuvor die Witwe geklagt hatte.
Die Frau, die nun Michaela hieß, patzte in einem Tonfall, der wohl eher ihrer Mutter galt: „Weil mich die ganze Scheiß-Familie am Arsch lecken kann!“, woraufhin sie sich noch eine schallende Ohrfeige von der Witwe einfing. Dies blieb jedoch beinahe unbemerkt, hatte sich doch die Aufmerksamkeit der umherstehenden Menge nach ihrem Ausruf Pfeffer zugewandt. Der Dicke machte den Anfang. Er konnte also doch sprechen.
„Ich glaube, Sie sollten hier mal schön die Schnauze halten und zusehen, dass Sie Land gewinnen. So eine verlogene Sau! Erst übern Jupp so rumschwafeln und ne halbe Stunde später fällt er über seine Tochter her!“ Und bei diesen wenigen Sätzen hatte sich der Dicke so in Rage geredet, dass er nicht mehr zu bremsen war. Sein ganzer beleibter Körper schien ihm Schwung zu verleihen als er ausholte und Pfeffer mitten eins in die Schnauze haute. Peng, voll auf die Zwölf. Das Nasenbein war hin, soviel war sicher. In Sekunden schossen ihm Tränen in die Augen und beraubten ihn abermals der Sehkraft. Außerdem sah er tatsächlich Sterne. Wer hätte das gedacht. Die Brille? Knirsch, Knack und nicht mehr zu gebrauchen.
„Heinz!“, herrschte die Witwe den Dicken an „jetzt mach das alles nicht noch schlimmer!“ Sie packte Pfeffer am Arm und sprach ihm direkt ins Ohr. „Und Sie verschwinden jetzt hier. Sofort. Und eins können Sie sich merken: das hier wird für Sie ein Nachspiel haben!“
Das hatte es.
Er hatte der Witwe nicht widersprochen und zugesehen, dass er möglichst schnell möglichst viele Kilometer zwischen sich und die Bauernkate brachte. Handschuhfach, Reservebrille, Vollgas. „Mann, Mann, Mann, da habe ich ja schön was angerichtet!“, sagte er im Auto zu sich selbst. Je weiter allerdings die zurückliegende Entfernung maß, die hinter ihm lag, desto mehr amüsierte ihn die ganze Angelegenheit. „Die Tochter. Ich hab’ echt die Tochter auf der Beerdigung von Ihrem Alten ... oh Mann!“ Und als er zu Hause ankam, war er bereits in ein herzerwärmendes Gelächter verfallen. Nur die Nase, die tat noch immer weh!
Das mit dem Gelächter änderte sich, als er am nächsten Morgen, noch bevor er sich anziehen konnte, einen Anruf aus dem Beerdigungsinstitut erhielt, in welchem der Inhaber ihm mitteilte, dass man sich aufgrund der Vorkommnisse bei der Bestattung Joseph Rebschlägers von ihm trennen müsse. Es tue ihm leid, aber sicher verstehe Pfeffer, dass gerade in einer emotional so intensiv aufgeladenen Branche ein solches Vorgehen nicht entschuldbar war. Wieder stellte der Inhaber keine unangenehmen Fragen und teilte Pfeffer alles in sachlichem und teilnahmslosem Duktus mit. Dann legte er auf. Pfeffer war nun auf einmal doch ziemlich konsterniert. Der Job war ihm völlig egal, aber was würde Müller machen, wenn er davon erfahren würde. Und er würde davon erfahren, da war sich Pfeffer ganz sicher. Wenn ein Geheimdienst eine Sache konnte, dann Dinge erfahren. Da machte denen keiner was vor. Und dann? Was wäre dann? Müsste er das Geld zurückzahlen? Würde Müller streng zu ihm sein? Eigentlich konnte er doch gar nichts dafür. Er war hier das Opfer! Diese Frau, Michaela, hatte ihn doch quasi abgeschleppt. Und dann hatte er auch noch eins auf die Nase bekommen. Obwohl das Nasenbein dann doch nicht gebrochen war, dafür aber in schönstem grün und violett schimmerte. Zugegeben, er hatte sich hinreißen lassen, aber wie es aussah, war er da doch in so etwas wie eine Familienfehde reingezogen worden. Außerdem hatte der Fette ihm – wie gesagt – einen ganz schönen Schwinger verpasst. Ob man dafür eigentlich Schmerzensgeld einklagen könnte? Und überhaupt: er hatte seiner Frau deswegen eine ganz schöne Räuberpistole auftischen müssen, damit sie nicht misstrauisch wurde. Was konnte er denn schon dafür? Er hatte seinen Job wahrscheinlich einfach mal wieder viel zu gut gemacht. Genau wie damals in Bremen.
Da er ja nun frei für heute hatte, ließ er das im Hausflur stehende Telefon zurück, um erst einmal ganz in Ruhe zu frühstücken. Danach würde er dann überlegen, was zu tun war. Wahrscheinlich sollte er Müller alles ganz sachlich erzählen. Von Mann zu Mann. Der würde schon Verständnis haben. Er ging vor die Haustür zum Postkasten, um die Morgenzeitung zu holen, das Weser-Land-Blatt natürlich, welches so drastisch an Qualität verloren hatte, seit er nicht mehr das Ruder in der Hand hielt. Neben der Zeitung allerdings lag ein einzelner Zettel, auf welchem nur stand:
„Sattelschlepper, 19:00 Uhr. HEUTE! H.M.“
„Das ist nicht gut.“ Sagte Pfeffer leise. Nun wurde ihm doch ein wenig flau.
V.
Im Sattelschlepper kam er pünktlich wie der sprichwörtliche Maurer an und bestellte diesmal einen Kaffee, obwohl er sich dereinst geschworen hatte, niemals nach 15:00 Uhr noch Kaffee zu trinken. Es machte ihn unruhig, und manchmal konnte er dann die ganze Nacht nicht schlafen. Außerdem schwitzte er auch so schon genug. Da er aber ohnehin schon unruhig und völlig durchgeschwitzt war und weil er außerdem nüchtern sein wollte, wenn er sich mit Oberleutnant Müller traf, verstieß er nun ausnahmsweise gegen seine Gewohnheiten. Er trank seinen Kaffee und bemerkte, dass er zitterte. Folge der Aufregung, dachte er sich. Oder des Alkoholismus. Oder beides. Oder etwas ganz anderes, von dem er lieber nichts wissen wollte. Er hatte andere Sorgen, da musste alles weitere hinten anstehen. Was würde er Müller sagen? Oder würde der ihn gar nicht reden lassen? Würde er wütend sein? Bestimmt würde er wütend sein! Es war noch gar nichts passiert und Pfeffer hatte schon die allererste Geschichte voll in den Sand gesetzt, weil er einfach nicht die Hose zulassen konnte. Oh Mann. Müller allerdings ließ erst einmal auf sich warten, was wiederum die Anspannung in Pfeffer noch vergrößerte. Tick-Tack-Tick-Tack machten die Zeiger seiner Armbanduhr und es kam ihm vor als würde sie bereits anfangen, rückwärts zu gehen, da kam der verspätete Agent endlich durch die Tür. Zwanzig Minuten nach der Zeit, das hätte er sich mal erlauben sollen. Pah. Und sowas ist ein Staatsdiener. Wahrscheinlich A13 oder sogar höher, dieser ... Pfeffer ärgerte sich, da fiel ihm ein, dass er gerade eben noch eher ängstlich gewesen war. Wieso noch gleich? Ach ja, wegen dieser anderen Sache. Also die Flak wieder heruntergekurbelt und Hundeblick aufgesetzt. Mit diesem sah er nun Oberleutnant Hans Müller zu, wie er sich langsam dem Tisch näherte und – Überraschung, Überraschung – so gar nicht aufgebracht oder missgünstig wirkte. Er lächelte sogar. Freundlich? Ja, ja, freundlich. Ganz der Konfident trug er exakt dieselbe Kleidung wie bei ihrem vorherigen Treffen, als er zu Pfeffer an den Tisch trat (das war ebenfalls derselbe wie beim letzten Mal), Mantel und Hut ablegte und sich zu ihm setzte. Keine Begrüßung, kein Händeschütteln. Gleich in die Vollen.
„Na Pfeffer, da haben Sie aber ordentlich die Sau rausgelassen. Mann, Mann, Mann, und das auf einer Beerdigung, alle Achtung!“ Er winkte die Kellnerin heran und bestellte ein Glas Wasser ohne Sprudel.
„Ich..“ Pfeffer wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Irgendwie war sein Gesprächskonzept durch Müllers Heiterkeit völlig implodiert. „Ich ... Es tut mir leid, ich glaube, das habe ich wirklich verbockt, so wie es aussieht.“
„Machen Sie sich nicht in die Hose, Pfeffer. Wir sind deswegen nicht böse auf Sie. Wir sind ja schließlich auch alle nur Männer. Ich habe mir die Kleine übrigens angesehen, gar nicht so schlecht!“ Er zwinkerte anerkennend.
„Angesehen? Waren Sie da?“ Pfeffer war irritiert.
„Natürlich nicht, was soll ich denn auf der Beerdigung von einem völlig Fremden? Nein, Michaela Rebschläger hat eine Akte beim Verfassungsschutz. Nichts Weltbewegendes, ein bisschen roter Brigantismus. Ist einmal bei einer Demo gegen den Doppelbeschluss verhaftet worden, weil Sie einen Polizisten als Fascho-Schwein beschimpft und angespuckt hat. Ich glaube, das ist aber eher so ein familiäres Ding. Opa Rebschläger war nämlich in der Partei.“ Müller bekam jetzt sein Wasser.
„CDU?“, fragte Pfeffer ungläubig.
„NSDAP, Sie Idiot! Vierstellige Mitgliedsnummer, das will schon was heißen. Hat aber nach dem Krieg irgendwie einen Persilschein bekommen und dann, na ja, das Übliche halt.“
Pfeffer war erleichtert und überlegte, ob er jetzt nicht doch ein Bier bestellen sollte. Müller hingegen sprach weiter.
„Entschuldigen Sie übrigens, dass ich mich ein wenig verspätet habe, heute ist der Teufel los. Ich habe auch nicht allzu lange Zeit, deswegen lassen Sie uns gleich zum Punkt kommen.“ Er schlürfte einen Schluck aus dem Wasserglas und man sah im den Ärger deutlich an, als er feststellte, dass die Bedienung ihm nun doch karbonisiertes Wasser gebracht hatte.
„Also Pfeffer, das mit dem Beerdigungsinstitut ist natürlich eher unschön, aber was soll’s. Wir hätten Sie da jetzt wahrscheinlich ohnehin abgezogen. Es hat sich nämlich spontan etwas anderes ergeben.“
„Etwas anderes?“
„Etwas anderes. Genau. Ich kann Ihnen noch keine weiteren Details geben, wir sind sozusagen noch in der Planung, aber Sie sollten schon mal wissen, dass Sie sich bereit zu halten haben. Von daher war es gut, dass Sie noch mal die Sau raus gelassen haben, mein Lieber. Ab jetzt sollten Sie nämlich auf Ausfälle vorübergehend verzichten.“
„Sie sind hergekommen, um mir das zu sagen?“, beinahe war Pfeffer empört. Müller entging dies nicht und er reagierte mit väterlichem Ernst.
„Nein, ich bin hergekommen, um Ihnen dienstliche Anweisungen zu geben.“ Er machte eine kurze Pause. „Sie werden uns einen Gefallen tun. Nicht Großes, aber da Sie zum ersten Mal richtig aktiv werden, sollten Sie ein paar Dinge beachten. Erstens: Sie machen eine Woche Urlaub und erholen sich vernünftig. Allein! Kein Alkohol, keine Weibergeschichten, haben Sie das verstanden? Am besten, Sie fahren irgendwo an die Nordsee und lassen mal die Seele baumeln. Amrum soll doch schön sein. Außerdem sollten Sie zum Arzt gehen und sich einmal komplett durchchecken lassen. Blutbild, EKG, das volle Programm. Wir können niemanden gebrauchen, der mit heißem Gepäck an der Grenze einen Herzkasper bekommt. Drittens ...“
Einen Moment mal. Hatte er gerade? Ja, er hatte gerade!
„Wie, was? An der Grenze? An welcher Grenze? Was soll das heißen?“ Pfeffer war sichtlich erschrocken.
„Grenze?“, fragte Müller streng, „kein Mensch hat hier was von Grenze gesagt, Pfeffer. Also, drittens: Sie kaufen sich einen vernünftigen Anzug und ein anderes Auto. Und dann sehen wir uns in anderthalb Wochen wieder. Aber nicht hier, wir waren jetzt schon zu oft hier.“
Und Schwups war das Wort Grenze von seinem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis gewandert und dort geendlagert. Auto? Neu? Was für eine Unverschämtheit!
„Wieso denn ein anderes Auto? Was ist denn mit meinem nicht in Ordnung?“ Richard genannt Rick Pfeffer brauchte die Empörung nicht zu spielen, sie kam aus der Tiefe seiner Seele.
„Sie sollen Ihr Auto ja nicht verkaufen. Aber Sie brauchen ein Fahrzeug, das, na ja, das ein bisschen weniger auffällig ist.“ Müller versuchte sanft zu klingen.
„Ich kann mir aber kein zweites Auto leisten.“ Pfeffers Protest klang schon wieder ab, aber die Empörung war geblieben.
„Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Sie haben doch schon Geld von uns bekommen. Fünftausend, wenn ich nicht irre.“
Empörung weg. Hallo Scham, alter Freund!
„Das ähm ...“ Stammel, stammel. „Ich habe das schon alles ausgegeben.“
„Ausgegeben?“ Müller klang nicht überrascht.
„Eher investiert, würde ich sagen. Also, das war so eine ganz verrückte Sache ...“
„Mir ist es egal, wofür Sie Ihr Geld ausgeben, Pfeffer. Sie werden dieselbe Summe noch einmal erhalten. Versprechen Sie mir nur, dass Sie sich davon angemessene Kleidung und einen normalen“, er machte in der Luft mit den Fingern Anführungszeichen „PKW kaufen. Haben Sie sonst noch Verbindlichkeiten, die Sie begleichen müssen?“
„Nein, nichts“, log Pfeffer.
„Dann ist es ja gut. Also: Sie gehen zum Arzt, Sie entspannen sich, und Sie sorgen für ein unauffälliges Äußeres. Und das alles in den nächsten zehn Tagen. Haben Sie das verstanden, Pfeffer?“
„Völlig verstanden“, sagte Pfeffer tonvoll und nun wieder selbstsicher.
„Wirklich? Keine Affären. Keine Exzesse. Kein Casino. Wenn Sie glauben, dass Sie das nicht durchhalten, dann sagen Sie es lieber jetzt gleich.“
„Ich fahre ans Meer und mache eine Saftkur oder was auch immer. Zufrieden?“
„Gut. Ich werde Sie rechtzeitig informieren, wo und wann wir uns treffen. Sie kümmern sich um alles, wie besprochen. Und Pfeffer:“, er hob jetzt den Zeigefinger vor die Brust „Nochmal, Pfeffer: keine Eskapaden bis dahin. Das meine ich wirklich ernst. Und vergessen Sie nicht: wir beobachten Sie!“
Oberleutnant Hans Müller trank sein Glas aus, stand auf, zog Mantel und Hut wieder an und verabschiedete sich mit einer förmlichen Herzlichkeit von Pfeffer. Noch schnell – klingeling – Zwei Mark für das Wasser auf den Tisch gelegt, dann ging er zur Tür hinaus und war weg. Rick Pfeffer blieb wie zurückgelassen auf seinem Platz sitzen und wusste, dass er sich in diesem Moment über alles Mögliche Gedanken machen sollte. Hatte Müller nicht Grenze gesagt? Und was sollte das für ein Gefallen sein, den er ihm tun sollte? Den er dem BND tun sollte? War es gefährlich? Ja, ja, über all das hätte er sich Gedanken machen sollen. Machte er aber nicht. Richard genannt Rick Pfeffer machte sich Gedanken über die Zahl Fünftausend und er machte sich Gedanken darüber, was er mit so viel Geld so alles anstellen könnte.
Den Auftrag aber, welchen Müller ihm gegeben hatte, diesen Auftrag nahm er sehr ernst. Reisepläne. Seiner Frau erzählte Pfeffer, die CDU habe ihn nach Kiel gebeten, dort sei ja bald Wahlkampf und man wollte seine Meinung zu ein paar Dingen hören. Inoffiziell versteht sich, um keinen unnötigen Staub aufzuwirbeln. Tuschel, Tuschel, Decke drüber. Aber da ein Experte wie er nun mal gefragt sei in diesen Zeiten und es ja außerdem um Deutschland ginge, hätte er nicht Nein sagen können. Darüber hinaus würden die für alles sorgen, ihn sogar mit dem Taxi direkt vor der Tür abholen lassen, eine Woche Vollpension Fünf Sterne, dazu Getränke frei und so weiter. Staatsfinanzen, Budget, Geld spielt keine Rolle. Man kennt das ja. Steuergelder, ja na klar, aber was wäre wenn die Roten? Da wollen wir lieber mal gar nicht dran denken. Seine Frau hatte nur genickt und ihm wahrscheinlich kein Wort geglaubt, aber wenn er ehrlich war, war es Pfeffer eigentlich auch gleichgültig.
Ein Taxi holte ihn dann aber tatsächlich ab, der restliche Reiseplan wich von der offiziellen Ehegeschichte jedoch erheblich ab. Der echte Plan sah vor, zunächst zum Bahnhof zu fahren, dann den Zug nach Hamburg zu nehmen, von dort weiter – ebenfalls per Bundesbahn – nach Flensburg, von wo aus wiederum ein Zug über Niebüll und den Hindenburgdamm nach Sylt ging. Hier wieder ein Taxi bis nach List ganz im Norden der Insel und dann mit der Fähre rüber nach Rømø, die dänische Insel, auf der Pfeffer für eine Woche ein kleines Ferienhaus direkt am Strand gemietet hatte. Dort wollte er dann auch ein Auto kaufen, mit dem er später zurück nach Deutschland fahren würde. EG, EWG, barrierefrei, innereuropäisches Grenzregime, alles kein Problem. Auf dem Rückweg würde er dann in Flensburg halten, wo er bereits einen Termin zur „Allgemeinen ärztlichen Untersuchung“, vereinbart hatte, für den er, ganz der Lebemann, als Grund angegeben hatte, er wolle eine Lebensversicherung in nicht unbeträchtlicher Höhe abschließen und bräuchte dafür ein ärztliches Zeugnis. Er hatte sich überlegt, diese Untersuchung lieber nicht in Bremen machen zu lassen. Die Hälfte der Ärzte dort wusste nämlich um seinen zweifelhaften Lebenswandel, und die andere Hälfte hatte ihn deswegen schon krankschreiben müssen, wenn er wieder mal einen seiner großen Abstürze hatte. Weil es ihm aber jedes Mal in Nachhinein peinlich war, wenn er völlig zerknittert nach einer langen Nacht beim Arzt erscheinen musste, hatte er die Praxen immer alterierend gewechselt, so dass er nach einigen Jahren medizinisch nirgendwo mehr ein unbeschriebenes Blatt sein konnte. Ach ja, der Pfeffer. Na, wieder Genosse Vollski getroffen? Ja, ja, können mich alle am Arsch lecken. Aber hin zu diesen Ärzten, um sich durchchecken zu lassen – das ging dann doch zu weit. Der Trost war immerhin, dass es ja nie wirkliche Krankheiten waren, weswegen er sich hatte arbeitsunfähig schreiben lassen. Er konnte morgens nur einfach die Augen nicht aufkriegen und fuhr mächtig Karussell. Wie sollte man denn auch in einem solchen Zustand arbeiten? Also gelben Schein her, Du Quacksalber! Wie auch immer, er hatte jedenfalls keinen Grund, sich wegen der nun anstehenden Untersuchung in Flensburg Gedanken zu machen.
Die Woche auf der dänischen Insel verbrachte er tatsächlich in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit. Er hatte sich einige Bücher eingepackt, zweimal Konsalik, zweimal Brecht, da er meinte, beide Seiten der Waage müssten gleich gefüllt sein. Er verbrachte die Tage ohne einen Tropfen Alkohol, nicht einmal seinen kleinen Flachmann, der ihm über die Jahre ein treuer Weggefährte geworden war, hatte er dabei. Und an etwaige Eskapaden war auf dem verlassenen Eiland sowieso nicht zu denken. Schon nach wenigen Tagen stellte Rick Pfeffer fest, dass er sich so gut fühlte, wie schon lange nicht mehr. Die Bücher hatte er nach wenigen Tagen ausgelesen, er war völlig klar und fühlte sich so frisch wie der Wind, der ihm bei seinen morgendlichen Strandspaziergängen um die Nase wehte. „Der Müller weiß, wovon er redet“, sagte er ein ums andere Mal zu sich und verspürte dabei eine ehrliche innere Dankbarkeit für diesen Aufenthalt. Als die Woche vergangen war, fühlte er sich wie neugeboren. Wie einmal runderneuert. Hallo. Ebenfalls Hallo. Was darf’s denn sein? Lohnt eine Generalinspektion noch? Ist ein älteres Modell. Ja, sie lohnte noch und er war in herausragender Form, als er seinen Urlaub beendete und die Heimreise antrat. Jetzt machte er sich noch weniger Gedanken wegen des Arzttermins und erwog sogar, ihn gänzlich abzusagen. Ginge schon. Andererseits: Befehl war nun einmal Befehl. Und er konnte es gleichzeitig als Möglichkeit nutzen, bei Müller endlich einmal zu punkten. Hier, Herr Oberleutnant. Kerngesund und alles erledigt. Toll gemacht! Oder so ähnlich. Jetzt musste nur noch ein Auto her, und dieser vermeintlich leichte Teil des Plans erwies sich als der erheblich schwierigere. Auf der ganzen Insel gab es keinen Autohändler und von Privat hätte er nicht kaufen können wegen der Zulassung, der Nummernschilder und so weiter. Also musste er noch einmal Geld tauschen, eine Zugverbindung nach Flensburg auskundschaften und dort zuschlagen. Das ärgerte ihn. Nicht, weil er Zeit und Geld verlor, sondern, weil er nicht daran gedacht hatte, zu überprüfen, ob es überhaupt einen Autohändler vor Ort gab. Grimmig nahm er die Bahn nach Flensburg, stieg am Bahnhof aus, suchte sich ein Taxi und ließ sich zum erstbesten Gebrauchtwagenhändler der Stadt fahren, wo er schließlich doch noch sein Auto finden sollte. Und es musste natürlich ein Mercedes sein. Er kaufte einen 77er Mercedes 350SL. Der war zwar zehn Jahre alt und ziemlich kaputt, aber bei einem Mercedes-Cabriolet, das über 200 fährt und nur viertausend Mark kostet, konnte man schließlich nicht viel verkehrt machen. Außerdem war das Auto weiß, und wenn schon nicht Gold, so dachte sich Pfeffer, sollte es wenigstens weiß sein.
„Coupe wäre auch nicht schlecht gewesen, aber was soll’s! Nette Kabriolette!“ Er war zufrieden mit seinem Kauf und das Auto machte schon nach wenigen Sekunden richtig Spaß. So, nun aber weiter. Es gab schließlich noch viel zu tun.
VI.
Er hatte sich die Adresse der Klinik aufgeschrieben und fuhr nun erst zur Tankstelle und dann quer durch die Stadt, bis er auf einem großen Parkplatz vor dem geklinkerten achtstöckigen Gebäude seinen neuen Mercedes abstellte.
Richard genannt Rick Pfeffer musste einige Zeit suchen, aber schließlich fand er in dem verschlungenen Gebäude endlich eine Art Rezeption, von wo aus man ihn an die Innere Medizin verwies. Auch diese fand er nach einiger Zeit und meldete sich ordnungsgemäß bei einer der Schwestern an.
„Guten Tag schöne Frau, ich begrüße Sie.“ Pfeffer ließ seinen bekannten Charme spielen.
„Ich grüße Sie auch“, sagte die Schwester lächelnd. „Kann ich etwas für Sie tun?“
Pfeffer überlegte kurz, ob er dies mit einer schlüpfrigen Geste bejahen sollte, entschied sich aber, seriös zu bleiben. Dienst ist schließlich Dienst und Schnaps Schnaps.
„Ich befürchte nicht“, sagte er mit in Falten gelegter Stirn. „Ich habe einen Termin beim Doktor. Um 14 Uhr, zum Durchchecken, wegen meiner Lebensversicherung, wissen Sie. Pfeffer, Richard Pfeffer. Aber sagen Sie ruhig Rick.“
Die Schwester schlug einen Terminkalender mit biblischen Ausmaßen auf und fuhr mit dem Finger die Eintragungen ab, schaute dabei mäßig angestrengt und sagte schließlich „Hier haben wir Sie, Herr Pfeffer. Und pünktlich ist er auch noch. Na, dann kommen Sie mal mit.“ Noch während sie sprach, war Sie ihm schon einen Schritt voraus und Rick Pfeffer ging direkt hinter ihr her. Folgsam und brav. Eigentlich wie ein Labrador. Nur dass er nicht an Ihrem Hinterteil schnüffelte. Obwohl ... Husch, weg mit diesen Gedanken! Er stellte fest, dass das Inselleben endgültig vorbei war und sagte Guten Tag zu den Schlüsselreizen der Zivilisation. Verdammt auch! Aber eins nach dem anderen. Sie gingen einen endlosen, leeren Gang hinunter, der sich scheinbar über die ganze Etage zog. Pfeffer kam es vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, als sie endlich vor einer Tür standen und die Schwester diese öffnete.
„Nehmen Sie schon mal Platz, Herr Pfeffer. Dr. Bartholdy kommt dann gleich für die Anamnese zu Ihnen.“
Sie hielt ihm die Tür auf, während er sich bedankte und eintrat. Er fand sich allerdings nicht in einem Behandlungszimmer wieder, wie er es erwartet hatte. Offenbar war dies das Büro des besagten Dr. Bartholdy und offenbar hatte dieser Geschmack. Der Raum war stilvoll eingerichtet, wobei sich das klinische Weiß harmonisch ins Lichtgrau der Möbel mischte. Hell alles. Strahlend und einnehmend. Zentrum des Raumes war ein asketischer, ebenfalls weißer Schreibtisch, hinter welchem ein teuer aussehender Ledersessel geparkt war. Davor – ebenfalls mit Leder bezogen – zwei Stühle, deren Design an Clubsessel angelehnt war, deren Größe und Schwung jedoch die Hierarchie in dem Ensemble deutlich unterstrichen. An den Wänden hingen neben verschiedenen Diplomen auch die Approbationsurkunde, das Promotionszeugnis und die amtliche Urkunde zum bestellten Amtsarzt. Vor den Fenstern, in geräumigen Abständen, standen getopfte Pflanzen, die Pfeffer noch nie zuvor gesehen hatte. Waren die echt? Mit zwei Fingerspitzen an die Blüte gegrapscht. Echt. Jawohl. Und nun kaputt. So ein Mist. Er rupfte das beschädigte Blütenblatt heraus und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Was noch? Alle Sinne waren im Suchmodus. Er stand vor dem Schreibtisch und wollte sich gerade setzen, dann entschied er sich aber doch dazu, die Entdeckungsreise durch das Büro fortzusetzen.
Musste wohl ein doller Typ sein, dieser Doktor. Mann, Mann, Mann, da muss man schon sagen. Und überhaupt. Zu seiner Linken fiel ihm eine Tür auf. Untersuchungsraum war darauf zu lesen. „Aha, da drin geht’s dann gleich zur Sache mit mir und dem Doktor“, dachte Pfeffer und hatte pubertäre Doppeldeutigkeiten völlig ausgeblendet. Er war viel zu sehr mit Sehen beschäftigt. Genauer: Staunen. Ehrlicher: Neiden. Zu seiner Linken erstreckte sich über beinahe die ganze Länge des Raumes ein in der Konstruktion schlichtes Bücherregal. Auch wieder weiß. Nur die Bücher darin, die meisten in einem Ledereinband, brachten Farbe und eine gewisse Asymmetrie in dieses geometrische Gesamtkonstrukt, das vom Boden bis unter die Decke reichte. Er ging zu dem Regal und las die Namen der Autoren auf den Buchrücken. Er kannte keinen davon.
Dann aber plötzlich: „Hah! Caesar! Kenn’ ich!“, er hatte dies laut gesagt und in seiner Stimme schwang ein gewisser Triumph mit, verlieh es ihm doch endlich mal ein bisschen Ebenbürtigkeit in diesem Raum. Er zog das Buch aus dem Regal, schlug die erste Seite auf und las. „Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae..“, weiter kam er nicht.
„Mist“, dachte er sich, „Latein!“, und stellte das Buch wieder zurück in das Regal, wobei er sich beinahe ebenso peinlich ertappt fühlte wie damals beim doppelten Bernd bezüglich seines nicht vorhandenen Hebraeicums.
Er suchte weiter die Buchrücken ab. „Cicero! Der aber!“, doch dann wieder: „Si quis vestrum, iudices, aut eorum qui adsunt, forte miratur me ...“ „Verdammt noch mal, auch Latein“, sagte er, stellte auch dieses Buch zurück und suchte nun umso akribischer. Er fuhr die Buchrücken der Reihe nach mit dem Finger ab und wurde fündig.
„Thomas Mann! Na also! Der wird jawohl wenigstens noch deutsch schreiben, oder was!“ Er nahm das Buch heraus und las den Titel „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Huch. Was war das denn? Irgendwie fühlte er sich schon wieder ertappt, obwohl er gar nicht genau wusste, warum. Er kannte das Buch nicht, beschloss aber, es irgendwann zu lesen und stellte es sorgsam zurück. In diesem Moment öffnete sich vorwarnungslos die Tür und ein Mann trat ein. Pfeffer war sich aus zwei Gründen sofort sicher, dass es jener Mann sein musste, dem der Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches gehörte. Erstens und ganz banal: wer sollte es sonst sein. Aber zweitens: Herein kam ein Mann, etwa seine Größe, ein wenig jünger vielleicht, aber mit einer deutlichen Präsenz. Vielleicht Charisma? Bestimmt Charisma. Passte auf jeden Fall zum Büro, der Typ. Er hatte eine schmalgliedrige Statur, fast ein wenig leptosom, leicht schütteres Haar und durch die feine, randlose Brille traf Pfeffer ein wacher Blick. Der weiße Kittel mit dem Pieper und den vielen Stiften war natürlich beeindruckend und Pfeffer merkte, wie er sofort Haltung annahm.
„Na, haben Sie etwas Interessantes gefunden?“, sprach ihn der Arzt nun jovial an, während er auf ihn zuging und ihm die Hand reichte.
„Ich verstehe nicht, ich ...“ Pfeffer fühlte sich schon wieder ertappt.
„Na, die Bücher! Haben Sie was gefunden, das Sie interessiert?“, er war mittlerweile ganz nah und schüttelte ihm die Hand.
„Bartholdy, Clemens Bartholdy, angenehm“, sagte der Arzt und ohne, dass er überlegte, entfuhr es Pfeffer:
„Sind Sie kein Doktor?“
Der Arzt musste lachen.
„Ich bin sogar Doktor Doktor! Aber das können Sie ruhig weglassen, das sind nur Titel.“
Jetzt holte Pfeffer seinerseits die Begrüßung nach.
„Pfeffer. Rick, also Richard Pfeffer. Freut mich auch, Herr Doktor, sehr angenehm. Ich habe das wegen der Lebensversicherung, also, ich muss ... Was ich meine ist: Dass Sie überhaupt noch so einen einfachen Check-Up für mich machen, das ist aber aller Ehren wert, Herr Doktor. Oder sagt man Herr Doktor Doktor? Also, ich, ich bitte um Entschuldigung.“ Pfeffer merkte plötzlich, dass er versuchte, dem Arzt zu schmeicheln. Das war ihm peinlich. Und auch sein Gestammel.
„Ach was, hören Sie auf. Auch der Zimmermannsmeister muss ab und an mal wieder einen Nagel durch den Balken treiben, nicht? Sonst verlernt er noch am Ende sein Gewerk! Wie sagten Sie, heißen Sie gleich noch?“ Er besah das Klemmbrett, das er mit sich hereingebracht hatte.
„Richard Pfeffer.“
Dr. Bartholdy schaute ihn an, und da plötzlich ... nein, doch nicht. Pfeffer war so, als würde sich gerade etwas von der Präsenz und dem Charme des Doppeldoktors verabschieden. Dann aber war er von einer Sekunde auf die andere wieder völlig hergestellt. Merkwürdig. Aber wahrscheinlich eine Sinnestäuschung. Immerhin hatte Rick Pfeffer nun schon seit sieben Tagen keinen Alkohol getrunken. Er beschloss, dass er wohl halluziniert hatte. Kann schon mal passieren, wenn man nüchtern ist. Nun aber wieder der Arzt.
„Und weswegen genau sind Sie hier bei mir?“
Naaa ... Doch. Doch, da war was. Er hatte nicht halluziniert. Eigentlich eine gute Nachricht. Irgendetwas schien den Arzt zu beunruhigen. Pfeffer setzte sich auf einen der Stühle frontseits des Schreibtisches.
„Ich möchte mich durchchecken lassen. Für eine Lebensversicherung“.
Die Augen des Arztes verrieten eine Mischung aus Skepsis und Verunsicherung. Und bei Pfeffer: Jagdinstinkt. Fährte aufgenommen. Wie in den guten alten Zeiten. Was war hier los? Was stimmte hier nicht? Hatte er etwas Falsches gesagt? Oh Gott, womöglich etwas Schwules? Grübel grübel. Nein, definitiv nichts Schwules. Es musste also etwas anderes sein. Hatte es mit den Büchern zu tun? Kam ihm der Arzt nicht irgendwie bekannt vor? Ein Sozi vielleicht? Aus Bremen? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Wirkung vor Deckung. Wie in der guten alten Zeit.
„Haben Sie mal in Bremen praktiziert, Herr Doktor?“
„In Bremen?“ Bartholdy wurde jetzt tatsächlich nervös „Nein, nie in Bremen. Wieso wollen Sie das denn wissen?“
„Ich weiß auch nicht. Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Waren Sie sonst schon mal irgendwann in Bremen?“ Pfeffer war jetzt ganz im Suchmodus des Redaktionspfadfinders.
„Nun, gut möglich, ja, mit Sicherheit war ich schon einmal dort. Vielleicht bei einem Kongress. Aber was soll denn diese Fragerei, Herr Pfeffer. Eigentlich ist das doch meine Aufgabe, oder? Ich meine, deswegen sind Sie doch hier. Also. Wollen wir loslegen?“ Er versuchte verkniffen zu lachen und stand auf, wohl um die Untersuchung nun beginnen zu lassen. Pfeffer jedoch ließ nicht locker, und jetzt war er sich sicher. Irgendwo hatte er diesen Arzt schon einmal gesehen. Aber wo? Und wann? Ärzte, Ärzte, Ärzte. Verflixt noch eins, es wollte ihm nicht einfallen. Er hatte nie mit Ärzten zu tun gehabt. Also abgesehen von den Krankschreibungen wegen schweren Vollrauschs. Aber wenn Bartholdy nie in Bremen praktiziert hatte, dann konnte er ihn schwerlich daher kennen. Bartholdy, Bartholdy, komischer Name. Den hätte er sich bestimmt gemerkt. Nein, es musste irgend etwas anderes sein. Also nochmal die Lupe raus und ganz genau hingesehen. Statur, Gesicht, Augen, Kinn, Frisur, da war doch was, da war doch was da war ... DAS WAR ES! Die Trauerfeier. Rebschläger. Eins auf die Nase. Rückwärts, rückwärts. Komm schon Pfeffer, weiter zurückspulen. Besenkammer, Tresen. Zack! Der Name. Der Name, den er so angestrengt gesucht hatte. Der erste Gedanke: Hab ich Dich! Der zweite: Jetzt aber auch voll auskosten! Erstmal Kreuzverhör. Ach, das wird ein Fest! Er stand auf und ging langsamen Schrittes durch den Raum, während er sprach.
„Sie waren also nie in Bremen.“
„Sagen Sie, was soll denn das?“, entgegnete Bartholdy nun merklich angespannt.
„Und Ihr Name ist Dr. Dr. Clemens Bratholdy.“ Pfeffer stand nun wieder vor dem Bücherregal.
„Ja natürlich, wie sollte er denn sonst sein? Wissen Sie was, Ihre Spielchen können Sie allein spielen. Ich glaube, Sie sind hier bei mir falsch. Am besten sollte ich Sie wohl rüber in die Psychiatrie schicken. Guten Tag!“ Bartholdy wollte gerade zur Tür gehen, da riss Pfeffer das Caesar-Buch aus dem Schrank, knallte es effektvoll auf den Schreibtisch und sagte ganz ruhig: „Tun Sie mir einen gefallen, Bartholdy. Lesen Sie vor, was da steht!“
Bartholdy nahm das Buch, schlug es auf und sagte „Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber wenn Sie dann endlich gehen, von mir aus. Gallia est omnis divisa in partes tres ...“
„Auf Deutsch, verdammt!“ Pfeffer bemerkte, dass er laut geworden war. Das musste nun auch nicht sein.
Bartholdy hielt das Buch noch einige Momente aufgeklappt in der Hand, schlug es dann zu, warf es achtlos auf den Tisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch.
„Hast Du mich gleich erkannt, oder wie habe ich mich verraten?“, fragte er resigniert.
„Du bist es, oder? Du bist Gert! Gert Briefke! Mann, das fasse ich ja gar nicht. Du bist es wirklich, oder?“ Pfeffer hatte ihn ertappt, aber noch nicht vollständig begriffen, was gerade geschehen war.
„Ach Richard.“ Bartholdy alias Gerd Briefke ließ den Kopf in den Nacken fallen und sah zur Decke. Jetzt war Pfeffer vollkommen sicher. Niemand sonst hatte ihn je Richard genannt.
„Was machst Du denn hier, Gert? Und wieso bist Du jetzt Clemens Bartholdy mit Doppeldoktor und einem schicken Büro und überhaupt? Ich denke, Du bist Postbote! Das war doch immer der Knaller, wegen Briefke und den Briefen und so!“
Nun, da er die Brille abgenommen hatte, war er dem alten Bekannten aus Bremer Zeiten auch wieder deutlich ähnlicher, selbst wenn er seit Ihrem ersten Treffen beim Joggen noch ein bisschen hagerer geworden war. Wie hatte er nur seinen Namen vergessen können, so gut wie sich die beiden damals auf Anhieb verstanden hatten. Pfeffer konnte es noch immer kaum glauben, sein Gegenüber aber war nur noch ein Häufchen Elend.
„Gert, jetzt im Ernst! Was soll das hier alles?“ Pfeffer bemühte sich, sehr streng zu klingen und seine Wiedersehensfreude zugunsten eines väterlich ermahnenden Tons zu verdrängen.
„Ich kann Dir das jetzt nicht erklären, Richard. Nicht hier. Tu mir einen Gefallen und verrate mich nicht, ja? Ich versichere Dir, dass es für all das eine gute Erklärung gibt. Nur bitte verrate mich nicht!“
„Auf die Erklärung bin ich aber mal gespannt!“, erwiderte Pfeffer prompt.
„Was hältst Du davon, wenn wir uns heute Abend treffen? Bei mir. Privat. Dann erzähle ich Dir alles. Von Anfang bis Ende. Versprochen.“
Pfeffer brauchte nicht lange zu überlegen. „Sag mir einfach wann und wo.“
Als Richard genannt Rick Pfeffer nur wenige Stunden später vor der Haustür des vermeintlichen Doktor Bartholdy stand und klingelte, hatte dieser bereits seine Fassung wiedergewonnen und öffnete in gewohnter Pose, einstudiert und herrschaftlich. Der weiße Kittel war einem Cord-Anzug gewichen und mit einladender Geste bedeutete er Rick Pfeffer hereinzukommen.
„Schön, dass Du da bist Richard, komm’ rein. Ich habe uns schon eine Flasche Bordeaux dekantiert. 1982er. Ganz vorzüglich. Hast Du gut hergefunden?“
Aber Rick Pfeffer war so gar nicht nach Smalltalk zumute. Den ganzen Nachmittag lang hatte er sich überlegt, wie er dieses Gespräch führen sollte und war doch zu keinem vernünftigen Schluss gekommen. Das Problem war zweischneidig. Sein alter Kumpel Briefke, der Postbote, gab sich offenbar als Arzt aus und das war – gelinde gesagt – eine Ungeheuerlichkeit. Dazu ein falscher Name. Das machte es nicht besser. Andererseits aber, ja, wie nur hatte er das geschafft? Wie? Gert Briefke hatte es offenbar hinbekommen, alle zu täuschen. Er, der Briefträger. Sie, die Geneppten. Behörden, Oberärzte, Krankenschwestern, Patienten. Wie zum Kuckuck konnte er das nur fertiggebracht haben? Aber dann saß da auch wieder das Engelchen auf der anderen Schulter: Er arbeitet mit Menschen! Er kann ihnen schaden. Ihnen wehtun. Er tut etwas Illegales. Und letztlich immer wieder ein Argument, das nicht zu schlagen war: ER IST KEIN ARZT! Er hatte nicht studiert, kein Praktikum gemacht, gar nichts. Wie nur hatte er soweit kommen können, ohne jemals einen Hörsaal von Innen gesehen zu haben? Letztlich was es also ganz einfach. Sein Gegenüber musste über ein Höchstmaß an Einfallsreichtum, aber auch krimineller Energie verfügen. Das war die eine Seite. Die andere war, dass er selbst, Rick Pfeffer, nun einmal von Haus aus Journalist war. Ein Berufsstand, der nur der Wahrheit verpflichtet ist. Also meistens zumindest. Oder immerhin sollte es so sein. Oder ... ach verdammt, immer diese verschwimmenden Grenzen. Und außerdem und nebenbei und vielleicht nicht so ganz unwichtig in diesem Zusammenhang: Bei rechtem Licht betrachtet, war Richard genannt Rick Pfeffer ja auch kein richtig echter Journalist. Also im engeren Sinne, wenn man es ganz genau nimmt. Noch weniger Trennschärfe zwischen Richtig und Falsch. Oh je, wo sollte das noch enden? Und überhaupt und andererseits: wenn Dr. Bartholdy alias Gert Briefke Menschen geschadet hätte, dann wäre er ihm wohl kaum heute Vormittag begegnet. Dann hätte man ihn doch längst angezeigt, und er wäre aufgeflogen. Gericht, Urteil, Knast. Oder noch Schlimmeres.
Es waren Rick Pfeffer also viele Fragen im Kopf herumgegangen und das noch bis vor wenigen Sekunden. Aber in dem Moment, als er den Klingelknopf an der Haustür Briefke/Bartholdy drückte und es schellen hörte, schloss er seinen inneren Monolog und Zerwurf mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner ab, den diese Sache für ihn bringen mochte: man konnte von diesem Gert Briefke auf jeden Fall einiges lernen.
Und wieder vorgespult.
„Hast Du gut hergefunden?“
„Ja, ja.“ Er folgte Briefke in das Innere seines Hauses. Geschmackvoll auch hier alles, ganz wie im Büro in der Klinik. Anders natürlich. Eher rustikal. Klassisches Ambiente. Landhausstil. Am ehesten. Der Fußboden des Vestibüls war mit schwarzem Granit gefliest, der Rest der Pfeffer durch Blick zugänglichen Wohnräume mit nicht zu dunklem Kassettenparkett ausgelegt. An den Wänden massive Eichenschränke und –anrichten, zumeist Biedermeier. Bisschen zu barock vielleicht. Was war eigentlich Barock? Egal, weiter geschaut. Vereinzelt ein paar Gemälde. Welche? Klimt, Sperrl, Rembrandt. Konnte Pfeffer zwar nicht wissen, Bartholdy – oh Verzeihung – Briefke aber schon. „Alles Drucke.“ Sagte dieser. Klar, Fälschungen waren eher Briefkes Ding. Nicht die Originale. Dann das Wohnzimmer, genannt Salon! Und auch hier: dominantes Bücherregal, vollgestopft mit Ledereinbänden und Leinenbeschlag. Dieses Mal jedoch machte sich Pfeffer nicht die Mühe, es nach ihm bekannten Werken abzusuchen sondern nahm gleich auf einem der Clubsessel Platz, zu denen sich beide, von Briefke geführt, mittlerweile begeben hatte. Immerhin: hier nun echte Clubsessel. Ohne mobiliare Hierarchie! Das war auch schon mal was. Auf einem Beistelltisch stand dort auch schon der angekündigte Dekanter mit Rotwein nebst zwei Gläsern, die Briefke nunmehr gekonnt füllte. Seine Versuche, das Gespräch zu eröffnen wirkten etwas umständlich.
„Setz Dich ruhig Richard. Na, da hast Du mir ja heute einen schönen Schrecken eingejagt.“ Briefke spielte in der rechten Hand mit einer Pfeife. „Obwohl ich ja eigentlich auch selbst schuld bin. Normalerweise mache ich solche Routinegeschichten gar nicht mehr. Ich habe mich eher auf so psychiatrische Angelegenheiten spezialisiert, weißt Du. Mittlerweile. Gutachten schreiben. All sowas. Ich hatte gerade einen Fall abgeschlossen, ganz tragisch im Grunde. Ein junger Mann, der in die Geschlossene gesteckt werden sollte. Das ging ganz schön an die Substanz. Und ich habe mir gedacht, ich mache mal ein bisschen Klinikalltag hinterher. Und dann kommst Du, und über mir schlägt quasi die Flut in Wellen zusammen. Aber ich kann Dir sagen, so ist das eben, wenn man sich dafür entscheidet, Arzt zu werden, da weiß man nie, was morgen ist.“
„Du bist kein Arzt, Gert“, sagte Pfeffer mit einer Ruhe und Bestimmtheit, die ihn selbst überraschte.
„Hmm“, raunte Briefke. „Stimmt und stimmt nicht“, erwiderte Briefke. „So ist das Leben, nicht wahr? Kein Gelaber ohne Aber. Warum genau warst Du eigentlich bei mir?“
„Ich brauchte eine Untersuchung für eine Lebensversicherung“, log Pfeffer.
„Ja, nein, ich meine, warum warst Du bei mir? Du wohnst doch in Bremen. Warum kommst Du da extra nach Flensburg, um zum Arzt zu gehen? Du hättest doch alles in Bremen erledigen können.“
Volltreffer. Aber Pfeffer war an diesem Abend ein gedankliches Maschinengewehr und blieb eisern bei der Geschichte, die er sich nach dem Treffen mit Oberleutnant Müller ausgedacht hatte. Zumindest teilweise. Also grob und eher so im Großen und Ganzen, aber das spielte ja zum Glück auch überhaupt keine Rolle. Denn nicht er war es, der hier auf der Anklagebank saß. Allerdings hatte Bartholdy, verdammt, Briefke eine zugegeben charmante Art an sich, und Pfeffer fiel es schwer, sachlich und vor allem besorgt zu bleiben. Trotzdem: noch war Zusammenreißen angesagt und von seinen Verbindungen zu Müller durfte Gert Briefke auf keinen Fall etwas erfahren.
„Ich war eine Woche in Dänemark und habe ein Auto gekauft. Da lag Flensburg im Grunde auf dem Weg. Nach so einer Woche an der See, also, ich sage Dir, entspannter und frischer kann man gar nicht in so eine Untersuchung gehen. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste.“
„Aber, aber“, fing Briefke an zu schmeicheln „Du bist doch topp in Schuss! Ach und übrigens, bevor ich es vergesse, ich habe ja noch etwas für Dich.“ Gert Briefke stand auf, verließ nur Sekunden den Raum und kam mit einem großen Kuvert zurück, welches er Pfeffer überreichte.
„Hier, das hast Du heute in der ganzen Aufregung wohl vergessen.“
„Was soll das sein?“, fragte Pfeffer, während er irritiert den Umschlag öffnete und die zusammengehefteten Seiten herauszog.
„Das ist der ärztliche Untersuchungsbericht, den Du brauchst. Und wie gesagt: Du bist absolut topp in Schuss. Das wusste ich doch gleich, als ich Dich gesehen habe, alter Jogging-Kamerad. Auch Deine Blutwerte: alle hervorragend.“
„Aber Du hast mich doch gar nicht untersucht.“ Das gedankliche Maschinengewehr hatte offenbar Ladehemmungen bekommen, und Gert Briefke quittierte dies mit einem süffisanten Blick.
„Ahh, verstehe“, sagte Pfeffer, schob die Seiten wieder in den Umschlag und verstand tatsächlich. „Das ändert aber nichts daran, dass Du kein Arzt bist, Gert. Ich bin Journalist. Ich bin der Wahrheit verpflichtet. Mich kann man nicht mit einem gefälschten Gutachten bestechen!“ Sein Ton hatte jetzt wieder die ruhige Bestimmtheit. Innerlich spürte er das Eis allerdings schon brechen. Gerade in diesem Moment knackte es schon sehr angenehm, wie in einem frisch gefüllten Whiskey-Glas.
„Journalist?“, fragte Briefke. „Ich denke, Du warst damals bei der Polizei?“
„Ja. Also nein. Also ...“, verdammt, das hatte er ja schon ganz vergessen. „Also damals war ich bei der Polizei, als wir uns kennen gelernt haben. Ja, das stimmt. Eigentlich wollte ich auch Polizist werden. Mein Vater war ja Kripo-Chef bei uns in Lüdinghausen, ist ja auch egal, das hat irgendwie alles nicht geklappt. Ich bin da ja jetzt auch schon lange nicht mehr. Ich bin jetzt Journalist. Eigentlich. Also im Grunde bin ich eher selbständig momentan.“
„Du bist arbeitslos“, attestierte Briefke amüsiert.
„Ich bin nicht arbeitslos. Ich bin nur ein wenig aus der Schusslinie gegangen, weil ich in Bremen einiges umgegraben habe, und dabei sind Sachen ans Licht gekommen, die einigen Leuten nicht gefallen haben. Da bin ich zum Wohle des Verlags und zum Wohle der Partei ...“
„Du bist rausgeflogen, weil Du erst Deine Zeugnisse und dann Deine Artikel gefälscht hast.“
Rums Bums. Einschlag. Das Maschinengewehr hatte einen Volltreffer kassiert. Pfeffer war so bass erstaunt und peinlich berührt, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Das übernahm nun allerdings Briefke, der dies sichtlich genoss.
„Ich bin auch aus Bremen, schon vergessen? Ich habe noch immer sehr gute Kontakte dort, außerdem hat man als Amtsarzt so seine Möglichkeiten. Ärzte unter sich nehmen das mit der Schweigepflicht nicht ganz so genau. Und dann, na, Du weißt ja wie das läuft. Der kennt den, und der spielt mit einem Parteichef Golf, und so weiter.“
Es machte keinen Sinn mehr, jetzt noch weiter an der Fassade zu mauern, also beschloss Pfeffer, mit offenen Karten zu spielen. Was konnte ihm schon passieren? Man hatte ihn vielleicht rausgeschmissen, obwohl auch das nicht so richtig stimmte, da er ja freiwillig gegangen war. Zumindest offiziell. Vielleicht hatte er es auch mit der Wahrheit nicht immer so genau genommen. Aber sein Gegenüber war schließlich ein Briefträger, der sich als Arzt ausgab, und somit hatte Pfeffer ihn in der Hand. Er war sich sicher, dass Briefke keine Gefahr für ihn darstellte. Und wenn doch, dann musste man halt mal mit einem Oberleutnant Müller sprechen. Der wüsste schon, wie man mit so jemanden fertig werden würde. Also Offensive. Wirkung vor Deckung. Pfeffer schickte die Sturmtruppen los.
„Ja, Du hast Recht, tut mir leid. Eigentlich lief es gut, es war alles in Ordnung, Ich war Chefredakteur. Ich habe die Auflage verzehnfacht, die Werbeanzeigen etatmäßig verfünffacht, da war es immer egal, ob alles haarklein stimmte, was auf der Titelseite stand. Und das mit den Zeugnissen ist auch erst aufgefallen, als ich diese Schlampe von den Sozis fertiggemacht habe.“
„Fertig gemacht?“
„Prozess läuft noch. Man wird sehen.“
Beide nahmen einen Schluck Wein.
Dann fragte Briefke: „Welche Methode hast Du benutzt?“
„Methode?“
„Na welche Methode? Als Du die Zeugnisse gefälscht hast. Welche Methode hast Du da benutzt? Hast Du Dir einen Kartoffelstempel geschnitzt oder hast Du die gute alte Gekochte-Eier-Roll-Technik angewendet?“
Pfeffer war über die Offenheit Briefkes geradezu verdutzt, antwortete aber wahrheitsgemäß.
„Die Eier-Rolle. War alles wie im Original. Ich habe mir ein Zeugnis von einem Gymnasium in Bad Bentheim besorgt. Vom Missionsgymnasium, da kommt doch niemand drauf. Dann habe ich mit dem Skalpell die entsprechenden Stellen ausgeschnitten und alles wieder so geflickt, dass es mein Abitur-Zeugnis wurde. Am Schluss noch ein paar astreine Kopien vom Ganzen und gut. Das war idiotensicher. Selbst die vom Gymnasium haben gesagt „Jawoll, das ist ein Zeugnis von uns!“, außerdem war das richtig viel Arbeit. Ich habe fast sechs Stunden darüber gesessen, bis alles perfekt war. So habe ich es auch mit den anderen Sachen gemacht. Hat aber nichts genützt, wie Du weißt.“
„Und warum nicht?“ Briefke hatte die Frage so provozierend gestellt, dass es Pfeffer schon wieder irritierte.
„Warum nicht? Na ja, weil ich eben nie da war!“
„Genau!“, sagte Briefke und stellte sein Glas ab. Pfeffer erkannte nun ein hintersinniges Funkeln in Briefkes Augen und als sich dieser ein wenig zu ihm herüberbeugte, hatte sein Tonfall eine Mischung aus Konspiration und professoraler Gelehrtheit. „Es ist nur aufgeflogen, weil Du eben nie da warst. Auch die raffinierteste Fälschung wird Dich nicht in ein Klassenzimmer in Bad Bentheim teleportieren. Mach Dir nichts draus. Ist ein klassischer Anfänger-Fehler! Wenn Du ein Zeugnis von irgendeiner Schule fälschst, aber nie da warst, wird es immer ein überprüfbarer Punkt bleiben. Und damit ein Risikofaktor. Irgendwann wird dann einer von diesen Maulwürfen heiß und gräbt es aus, da hast Du keine Chance. Du musst immer versuchen, möglichst viele Risikofaktoren auszuschließen. Und zwar von vornherein.“
„Ja klar, aber was soll ich machen? Ich habe nun mal kein Abitur!“
„Ja und? Ich habe auch kein Abitur, und ich bin immerhin Arzt!“
„Du bist kein Arzt“, sagte Pfeffer erneut, Briefke jedoch überging es ganz sachlich und dozierte einfach weiter.
„Weißt Du, was Du machen musst? Du erfindest es einfach. Du erfindest einfach alles! Pass auf: Du bist meinetwegen bis dann und dann zur Schule gegangen, hast aber kein Abitur gemacht. Das ist nicht gut, aber Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden, nicht? Du schreibst also in Deinen Lebenslauf: Schule da und da bis dann und dann und legst Deine echten Zeugnisse dazu. Wenn Du dann aber ein Abitur dazudichtest, musst Du Dir was einfallen lassen. Einfach ein Skalpell kaufen und ein Ei kochen, das kann jeder, das reicht nicht aus. Du musst den ganzen Werdegang erfinden, mein Lieber. Was denkst Du, was passiert wäre, wenn Du folgendes gesagt hättest. Schule bis dann und dann, also die echte, dann sind wir nach Kanada gezogen. Du denkst Dir irgendein Kaff aus, das keiner kennt und sagst Du hast da Abitur gemacht. In Sasquatchovia von mir aus, keine Ahnung.“
„Gibt es das wirklich?“
„Oh Gott, das ist doch scheißegal. Hauptsache es steht oben auf Deinem Zeugnis!“
Pfeffer konnte dem falschen Doktor noch nicht so ganz folgen. „Aber das zählt doch ganz anders als das deutsche Abitur.“
„Siehst Du? Ganz genau! Kein Mensch wird sich dafür interessieren, ob Du ein Abitur hast oder nicht, niemand wird da anrufen und fragen, ob mal irgendwann irgendein Deutscher namens Ricki-Ficki da sein Abi gemacht hat. Außerdem gibt es die Schule ja gar nicht. Was sollen die denn machen, wenn am anderen Ende der Leitung „Kein Anruf unter dieser Nummer“, kommt? Da hinfahren? Wegen eines Schulabschlusses? Wohl kaum. Als nächstes entwirfst Du Dir Dein eigenes Zeugnis mit allem drum und dran. Du kannst Dir sogar selbst ein Wappen ausdenken und einen Stempel machen lassen! Alles ganz offiziell, verstehst Du? Und wenn einer nach der Anerkennung in Deutschland fragt, sagst Du so was wie, dass es ganz und gar nicht einfach war, und dass es am Ende, Gott sei Dank, unbürokratisch gelöst wurde, Du willst da aber nicht näher drauf eingehen, um keine schlafenden Hunde zu wecken, und so weiter und so fort. Außerdem wäre es nicht so wichtig gewesen, weil Du ja im Ausland geblieben bist!“
„Im Ausland geblieben?“
„Na klar! Auslandserfahrung macht sich immer gut! Ich war zum Beispiel zwei Jahre forensischer Psychologe im Zentralklinikum von Johannesburg!“
„Im Ernst?“ Pfeffer war jetzt wieder völlig elektrisiert von der mitreißenden Dynamik des Dr. Bartholdy, „Du warst in Südafrika?“
„Natürlich nicht, Richard! Aber wer soll das wissen? Kein Mensch kann das jemals wirklich nachprüfen, und außerdem: keiner hat dazu Lust! Im Gegenteil. Die finden es alle richtig geil, wenn sie erzählen können, dass Ihr Oberarzt schon in Südafrika praktiziert hat. Verstehst Du? Wenn Du wirklich so ein Ding durchziehen willst, dann musst Du es mit dem ganz großen Plan machen, dann musst Du am ganz großen Rad drehen!“
Pfeffer war nun ehrlich erstaunt. So hatte er das alles noch nie betrachtet. Aber hatte er nicht eine ähnliche Aktion mit den Firmen gehabt, bei denen er vorgegeben hatte, gearbeitet zu haben? Er berichtete Briefke davon und dieser klopfte ihm mit anerkennender Geste auf die Schulter „Na also, sag ich doch! Dann ist ja bei Dir doch noch was zu retten! Noch mehr Wein?“
Natürlich noch mehr Wein.
„Verstehst Du jetzt, Richard? Je größer das Rad ist, an dem Du drehst, desto weniger wird den Leuten auch nur der geringste Verdacht kommen, dass irgendetwas daran faul sein könnte. Und wenn der Damm doch mal einen Riss zeigt, dann erfindest Du halt irgendeine noch größere Sauerei, die davon ablenkt. Du kannst aber auch einfach irgendwelchen Quatsch machen, um die Leute zu beeindrucken. Die glauben einfach alles. Weißt du, was ich mache? Ich schalte manchmal Anzeigen in irgendwelchen Zeitungen. Nur so zum Spaß.“
„Und was steht da drin?“
„Keine Ahnung, alles mögliche. Sachen halt. Jetzt zum Beispiel habe ich gerade..“, er nahm eine Zeitung von einem der Beistelltische, blätterte darin herum, und legte Pfeffer schließlich einen Artikel mit der Überschrift „Flensburger Arzt erneut ausgezeichnet“, vor, „das hier, das habe ich gerade als letztes gemacht. Ich schicke denen immer einen Brief, da sind dann tausend Mark drin, außerdem ein Foto, so wie das hier, und der vorgefertigte Artikel. Die drucken das immer. Immer! Und das Beste ist: die überprüfen gar nichts. Von wegen Journalisten und nur der Wahrheit verpflichtet. Was für ein Quatsch! Aber man muss aufpassen, dass man es nicht zu bunt treibt. Der hier, der war schon hart an der Grenze. Hier, lies mal.“
Und Pfeffer las: „Die Professor-Bürger-Prinz-Stiftung hat dem aus Bremen stammenden Arzt und Wissenschaftler Dr. Clemens Bartholdy den diesjährigen Hauptpreis verliehen für seine Arbeit „Die Pseudologia Phantastica am Beispiel der literarischen Gestalt des Felix Krull.“2 Pfeffer lies die Zeitung sinken. „Das ist das Buch, das bei Dir im Büro steht!“
„Ja, genau!“ Briefke war so vergnügt, dass er die Beine im Sessel bis vor die Brust zog und vor Freude in seiner Wipp-Bewegung jauchzte. „Verstehst Du? Felix Krull, Pseudologia Phantastica, das ist so bescheuert, dass es knallt, aber die drucken einfach ALLES! Und das kannst Du Dir dann alles in Deinen Lebenslauf schreiben, solange Du zwei Regeln beachtest: Erstens: veröffentliche niemals so etwas in der Stadt, in der Du lebst und arbeitest oder in ihrem Umfeld. Und Zweitens: behalte es erst ein, zwei Jahre im Schrank, bevor Du es jemandem zeigst, oder in Deinem Lebenslauf verwendest. Es darf nie aktuell in Umlauf kommen, sonst sind die Leute, auch die anerkennenden, so scharf darauf, dass sie womöglich noch Nachforschungen anstellen! Wenn Du Dich an ein paar Regeln hältst, dann kannst Du so gut wie alles machen! Ich habe es sogar zum Papst gebracht!“ „Zum Papst? Jetzt hör` aber auf, Gert!“
„Nein ehrlich! Ursprünglich wollte ich Priester werden. Als wir uns damals, ich meine wir beide, als wir uns in Bremen im Park getroffen haben, war ich ja noch bei der Post, aber andererseits auch gerade dabei mein Abitur-Zeugnis zu erstellen. Ich habe es übrigens genau so wie Du gemacht und erst viel später professionell korrigiert. Aber egal, ich bin dann erst mal Rechtspfleger geworden, aber das war einfach nur langweilig. Als ich mal den Papst im Fernsehen gesehen habe, fand ich das eigentlich ganz gut. Das hatte schon Schneid mit dem ganzen goldenen Pomp, und wie sie ihn alle angehimmelt haben und so weiter. Das war noch, bevor sie auf ihn geschossen haben. Na ja sei’s drum, auf jeden Fall – ich war ja jung – dachte ich mir, dass ich ja wohl auch einen ganz guten Papst abgeben würde und habe mich an der Uni für Theologie eingeschrieben. Irgendwann haben dann die Jesuiten in Mainz eine Audienz vermittelt und ich war dabei. Da bin ich zum Papst, habe ihm die Hand geschüttelt und gesagt: Wissen Sie, Euer Heiligkeit, Ihr Stuhl, der wird mal mir gehören!“
„Und was hat der Papst gesagt?“
„Der hat gemeint, es sei der Stuhl des Herren und er sei nur der Platzhalter auf Erden und dieser ganze Quatsch. Ich bin dann auch nicht mehr lange dabei geblieben. Vor allem, weil an der Uni total viel Wert auf Latein und alles gelegt wurde. Das war doch ein bisschen zuviel. Deswegen auch der Entschluss, Arzt zu werden. Und hier bin ich nun!“
„ABER DU BIST KEIN ARZT!“, prustete Pfeffer heraus.
Briefke setze erneut sein Glas ab und steckte sich mit langsamen Bewegungen eine Pfeife an. „Ich will Dich mal was fragen Richard: Hast du ein Abitur?“
„Was soll das! Nein! Das weißt Du doch!“, knurrte Pfeffer und zündete sich nun seinerseits eine Zigarette an.
„Und warst Du jemals auf einer Journalistenschule?“
„Nein, war ich nicht!“
„Hast Du sonst irgendeine Ausbildung gemacht, die Dich zum Redakteur qualifiziert hätte?“
„Nein.“
„Und trotzdem warst Du, trotzdem bist Du Journalist!“
„Ja.“
„Na eben! Und jetzt ganz im Ernst: Glaubst Du, dass Du ein schlechter Journalist bist?“
„Nein, das glaube ich nicht!“
„Ganz genau! Du hast kein Abitur, keinerlei journalistische Ausbildung, und trotzdem bist Du Chefredakteur geworden und hast in Bremen mit Deinen Artikeln für einigen Wirbel gesorgt. Du hast die Auflage verzehnfacht. Die Einnahmen verfünffacht. Das hast Du alles ganz allein geschafft. Eigentlich, wenn man so will, bist Du noch viel mehr Journalist als alle anderen mit Ihren anständigen Lebensläufen, Laufbahnen, Ihren tollen Zeugnissen und Abschlüssen. Jetzt stell Dir nur mal vor, was aus Dir geworden wäre, wenn Du auch noch die entsprechenden Ausbildungen erhalten hättest. Nicht auszudenken. Aber jemand wie Du, Richard ... Menschen wie wir beide brauchen diese Ausbildungen gar nicht. Wir müssen keine Diplome verliehen bekommen, um zu wissen wie es geht. Das ist es, was uns von der ganzen tumben Masse abhebt, die Ihr Leben lang irgendwelchen Auszeichnungen und Titeln hinterher hechelt, anstatt sich lieber auf das Ziel zu konzentrieren! Wir brauchen das alles nicht, Richard. Und weißt Du, warum nicht? Weil es uns im Blut liegt, weil wir dazu geboren sind. Frag’ mal meine Patienten, da wirst Du nur Gutes über mich hören. Keine Kunstfehler, keine falschen Behandlungen, immer astreine Arbeit! Es gab in der ganzen Zeit, in der ich praktiziere nicht eine einzige Beschwerde gegen mich. Und der Mensch an sich ist ohnehin immer bereit, genau das zu glauben, was er sich wünscht. Wenn man die entsprechende Leidenschaft und Intuition mitbringt, wenn man bereit ist, für das was man liebt, alles zu geben, dann braucht man diese ganzen Schriftstücke gar nicht, auf die diese abgehalfterte deutsche Bürokratie so viel Wert legt. Man muss dafür geboren sein. Das können Dir noch so viele Jahre an Schulen und Universitäten nicht geben. Nimm zum Beispiel Adolf Hitler. Der hatte nicht einmal einen Führerschein! Und was war der?“
„Führer“, sagte Pfeffer.
„Quod erat demonstrandum!“, rief Briefke und warf seinen Oberkörper vor Lachen mit einem triumphalen Ausdruck in die Lehne des Sessels, nahm sein Weinglas und hielt es Pfeffer zum Prosit entgegen. Pfeffer konnte zwar nur erahnen, was dieses „Quod erat demonstrandum“, bedeutete, aber es reichte ihm, um zu verstehen, was Gert Briefke, was Dr. Clemens Bartholdy versucht hatte ihm zu erklären. Seinerseits nahm er nun sein Glas und stieß mit Briefke klirrend an.
„Ach und übrigens“ Gert Briefke schien noch eine Kleinigkeit vergessen zu haben, „von wegen Eier-Roll-Methode und so. Weißt Du, wie ich das mittlerweile mache?“
Pfeffer hatte keine Ahnung.
„Pass auf, das ist der absolute Oberknaller, besser geht es überhaupt gar nicht. Ich bin drauf gekommen, als ich mal ein paar beglaubigte Zeugnisse abliefern musste, eine Approbationsurkunde und so. Wenn Du da was selbst Gebasteltes ablieferst, merken die das sofort. Die sehen jeden Tag so ein Zeug. Aber dann kam mir die Idee: ich habe in Berlin angerufen, bei irgendeiner größeren Stempelfirma, aber nicht zu groß. Ich habe dann gesagt, ich bin Oberstaatsanwalt Dr. von Berg und dass ich Beauftragter der Materialverwaltung beim Bundeszentralregister bin. Da war der Typ von der Stempelfirma schon so fickerig, der hätte alles gemacht, weil der schon den fetten Auftrag gerochen hat. Ich dann so: Es ist hier an der Zeit, ein paar Dinge neu zu organisieren, und dass wir mit unserem bisherigen Lieferanten total unzufrieden sind und so weiter, also kurz und gut, wir bräuchten einen neuen Generallieferanten und eben seine Firma sei in der engeren Auswahl. Es muss nur noch geprüft werden, ob die Qualitätsansprüche mit seinen Stempel in Einklang gebracht werden können. Du hättest mal sehen sollen, wie schnell der mir einen Termin gegeben hat. Ich bin dann da hin, habe ihm zehn verschiedene Stempel auf irgendwelchen offiziellen Papieren als Probe hingelegt und gesagt, ich brauche von jedem Exemplar erst mal einen Probestempel. Und was glaubst Du? Zwei Tage später hatte ich alle offiziellen Stempel der Bundesrepublik! ORIGINAL! Geil, oder?“
Briefke war so zufrieden mit sich selbst, dass er die Weingläser erneut füllte und Rick Pfeffer doppelt zuprostete, bevor die beiden sich eine kurze Weile einem genüsslichen Schweigen hingaben.
„Und sag’ mal“, begann Pfeffer nach dieser kurzen Weile und einem langen Schluck von dem Rotwein, „was machst Du denn jetzt? Also ich meine, wie hast Du Dir das alles vorgestellt? Wie soll das weitergehen? Willst Du das für immer so durchziehen?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Briefke und machte eine wegwischende Handbewegung in den Raum hinein. „Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, bis zur Rente hier in Flensburg zu versauern. Vielleicht gehe ich noch mal woanders hin. Momentan überlege ich, ob ich mir vielleicht noch einen Dr. phil. zulege. Diese ganze Amtsarzterei ist einigermaßen mühsam, wie Du Dir vorstellen kannst. Na ja, wie gesagt. Ich weiß noch nicht, mal sehen!“
„Aber ist das nicht anstrengend? Ich meine, die ganze Zeit zu lügen?“
Briefke schien entsetzt! „Ich muss doch nicht lügen, Richard. Ich bin Dr. Clemens Bartholdy. Ich trage nicht nur seine Schuhe oder so, ich bin es! Das ist doch keine Lüge! Ich will Dir mal was über Lüge und Wahrheit erzählen, Richard. Kennst Du Dich mit dem Herzen aus?“
„Es geht, nein eigentlich nicht. Ich befürchte, ich habe einige gebrochen, aber mehr auch nicht!“
„Casanova! Aber wie auch immer, das Herz ist die zentrale Versorgungsstelle des Körpers, eine leistungsfähige Pumpe, Blut strömt rein, Blut strömt raus. Ein absolut neuralgischer Punkt und neben Darm und Hirn eine der drei Schaltzentralen unseres Körpers. Ohne Blut, könnten wir nicht existieren, aber auch Blut wäre nutzlos, wenn es nur so in den Venen und Arterien herumdümpeln würde wie das Brackwasser in der Bremer Förde. Also pumpt das Herz fleißig im Rhythmus zu Systole und Diastole, das sind die beiden Vorgänge: Systole – Blut strömt raus, Diastole - Blut strömt rein. Und könnte es etwas Gegensätzlicheres geben als das? Der eine Vorgang füllt das Herz mit Blut, mit Leben, mit Vitalität, nur damit der andere Vorgang es ihm nur eine halbe Sekunde später schon wieder entzieht. Welch tantalusischer Vorgang, nicht wahr? Immer nur für den Bruchteil einer Sekunde bekommt das Herz seinen Treibstoff, die Essenz seiner teleologischen Existenz zu Gesicht, nur um es dann gleich wieder verabschieden zu müssen. Es wird geschenkt, und im selben Moment bereits wieder entzogen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen! Nun könnte man sagen: das ist ja furchtbar, wie gemein! Aber als Fachmann, als Mediziner weißt Du, dass es nicht aus Niedertracht geschieht, sondern weil etwas viel Größeres, Bedeutenderes damit am Leben erhalten wird, nämlich der Organismus, den das Herz versorgt. Der Körper, die Krone der göttlichen Schöpfung! Systole und Diastole dienen, obwohl grundverschieden und absolut gegensätzlich, demzufolge beide derselben Sache. Sie stellen sich in den Dienst von etwas Größerem und werden dadurch untrennbar miteinander verbunden, wie die beiden sprichwörtlichen Seiten ein und derselben Medaille, ja, sie sind sogar vollständig abhängig voneinander, da gibt es nicht gut oder schlecht. Genau so wie bei der Wahrheit und der Lüge. Wenn alles Wahrheit wäre und nichts mehr Lüge, dann verliert die Wahrheit zwangsläufig jedwede Bedeutung. Oder ums es ganz poetisch zu sagen, mein lieber Richard: Wahrheit und Täuschung liegen wie Systole und Diastole immer nur einen Herzschlag weit auseinander!“
Nachdem Briefke im letzten Teil des Gesagten noch eine bedeutungsschwangere Pause eingelegt hatte, bevor er auf den poetischen Herzschlag zu sprechen kam, lehnte er sich mit dem Selbstverständnis des Wissenden abermals in seinem Clubsessel zurück, nahm einen Schluck Wein und stopfte sich erneut seine Pfeife, die er kurz darauf entzündete. Pfeffer indes war nunmehr, wie es schien, vollständig in den Bann des Dr. Bartholdy geraten und nachhaltig beeindruckt von seinem Gegenüber. Ganz weggewischt waren mittlerweile all die Zweifel, mit denen er das Haus betreten hatte. Und so kam es, dass er sich zu einem Ausdruck der Bewunderung hinreißen ließ, der einem Rick Pfeffer sonst nicht so leicht über die Lippen zu kommen pflegte.
„Gert, Du bist ein Genie!“
„Ach was Genie, Richard. Ich liebe das, was ich tue. Und genial muss man gar nicht sein, nein, nein. Weißt Du, hier in Deutschland schlägt sich die Bedeutung von Menschen in Titeln und Gehaltsgruppen nieder. Deswegen meine ganzen Auszeichnungen und der Doktor-Titel. Aber wenn Du wie ich mit einer Behörde arbeitest, als Amtsarzt, ich sage Dir, dann musst Du nicht genial sein. Gerade in der Politik und auf den Behörden kannst Du mit einer gewissen Kenntnis der Hierarchien und einem gesunden psychologischen Einfühlungsvermögen optimale Wirkungen erzielen. Die ganze Amtsbürokratie ist total subaltern. Da sind Aktenvermerke und Dienstanweisungen die beste Sprache, die die Mitarbeiter verstehen. Gib Befehle, und die Leute befolgen sie, weil Sie annehmen, dass nur der Befehle gibt, der dazu befugt ist. Das wird gar nicht hinterfragt. Wie bei einer Köpenickade, verstehst Du? Genau so mit meinen Gutachten. Wenn einer ein Gutachten vorlegt, dann fragt keiner, ob derjenige überhaupt dazu befähigt ist. Und wenn Du daneben liegst, ist es auch nicht per se falsch, sondern Du bist dann eben offiziell einer anderen medizinischpsychologischen Auffassung. So ist das! Die größten Erfolge sind für mich, wenn irgendein namhafter Gutachter zur selben Erkenntnis kommt wie ich, ohne mein Gutachten zu kennen. Dann weiß ich, dass ich den richtigen Beruf ergriffen habe. Man muss sich halt nur trauen!“
„Weißt Du was, Gert? Du solltest das alles aufschreiben. Ja, Du solltest ein Buch darüber schreiben, halb Enthüllungs- halb Entwicklungsgeschichte. Das würde laufen wie geschnitten Brot, das schwöre ich Dir!“
„Habe ich schon dran gedacht. Aber soll ich Dir was sagen? Mittlere Reife, Lesen und Schreiben gerade eben ausreichend!“, schmunzelte Briefke über den Tisch zu Pfeffer.
„Im Ernst? Aber Du sprichst wie ein Professor!“
„Ich habe mir vieles angewöhnt, und einige Sachen brauchst Du jeden Tag. Das ist im Grunde reines Auswendiglernen. Aber eins kannst Du mir glauben, ich bin froh, dass ich einen Beruf ergriffen habe, der sich viel darauf einbildet, dass seine Egiden alles immer nur so hinkritzeln. Schön geschmiert. Kein Mensch kann solche Rezepte lesen. Bei uns gilt die Devise: Je unlesbarer die Schrift, desto mehr Arzt bist Du. Und in der Klinik diktiere ich sowieso fast alles. Aber ein Buch? Na ja, meine Talente in allen Ehren, aber dazu wird es wohl nicht reichen.“ Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Weinglas, derweil Richard genannt Rick Pfeffer die zündende Idee kam.
„Ich aber. Ich kann sowas!“
„Was?“
„Na schreiben! Ich war immerhin Chefredakteur, schon vergessen? Pass auf, wir machen das so: Wir treffen uns und unterhalten uns ganz normal, so wie jetzt. Nebenbei lasse ich das Diktiergerät laufen. Dann erzählst Du alles, genau so wie eben gerade, und ich mache dann hinterher einen fertigen Text daraus! Was hältst Du davon?“
Briefke wirkte ehrlich angetan und ein sichtbarer Ausdruck der Begeisterung machte sich in seinem Gesicht breit!
„Das ist die beste Idee des Tages!“
Aber Pfeffer war sogar schon einen Schritt weiter. „Hast Du einen Stift und ein paar Blätter? Schnell, ich habe schon eine Idee!“
Gert Briefke alias Dr. Clemens Bartholdy hatte beides schnell zur Hand und Pfeffer begann zu schreiben:
„Die Abenteuer des Dr. Clemens Bartholdy! Vorwort: Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg! Auf Erfolg und lebendige Wirkung in den Menschen, der den Namen des Betruges gar nicht verdient, sondern nichts anderes ist, als die Ausstattung einer vorhandenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, deren sie bedarf, um von der Welt anerkannt und gewürdigt zu werden. Und in diesem Sinne ist mein Tun eben doch die Wahrheit, so seltsam es klingen mag, zugegebenermaßen. Das Reich der Freiheit ist eben das Reich der Täuschung!“3
Er reichte es Briefke über den Tisch. „Und?“, fragte Pfeffer, „Was sagst Du?“
„Ich muss Dir das Kompliment zurückgeben, Richard!“
„Welches?“
„Nicht ich, Du bist genial!“
„Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft!“, sagte Pfeffer noch, bevor die beiden Genies vor Lachen laut losprusteten und sich abermals einschenkten. Und so ging es dann noch etliche Stunden weiter, in denen sich beide mit ihren jeweiligen Kabinettsstückchen zu überbieten suchten und in denen, während noch so manche Flasche Wein geleert wurde, mehrfach die geflügelten Sätze fielen, wonach eine Hand doch die andere wasche und man sich im Leben immer zweimal träfe.
Jenes Buch im Übrigen sollte Richard genannt Rick Pfeffer später übrigens tatsächlich für Gert Briefke alias Dr. Clemens Bartholdy schreiben, doch diese Geschichte wollen wir ein andermal erzählen. Zumal Rick Pfeffer einige Tage später noch eine weitere, sehr wichtige Verabredung einzuhalten hatte.
VII.
Als Richard genannt Rick Pfeffer am darauf folgenden Dienstag erwachte, sich ankleidete und so tat, als würde er zur Arbeit gehen, fand er ein Päckchen Zigaretten in seiner Manteltasche, das dort eigentlich nicht sein sollte. Und dann auch noch Marlboro. Seine Marke war HB: Er betrachtete das Päckchen kurz und ließ es sogleich wieder schnell in seiner Manteltasche verschwinden, als er hinter sich seine Frau hörte. Er ging nun flugs aus der Haustür, sperrte seinen goldfarbenen Mercedes auf, fuhr etwa 100 Meter weit und hielt dann direkt wieder an, um das Zigaretten-Päckchen einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Hierbei fand er schnell unter der Zellophan-Folie einen gefalteten Kassiber auf welchem Name und Adresse einer Gaststätte nebst einer Uhrzeit standen. Darunter nur das Wort „Parkplatz“. Er blickte hoch zur kleinen Uhr, die in das mit Wurzelholz verblendete Armaturenbrett des Mercedes eingelassen war. Noch knapp zwei Stunden bis dahin. Er besah den kleinen Zettel mit der sachlichen Handschrift erneut. Er musste ihm wohl gestern von jemanden in der Kneipe zugesteckt worden sein, in der er mittlerweile seine Tage verbrachte, damit daheim nicht aufflog, in welcher Lage er sich befand. Offiziell – und damit war seine Frau gemeint – war er ja noch Grabredner. So wurde denn auch seine Verwunderung über die geheimnisvolle Zigarettenschachtel schamvoll abgelöst von der ihn nun beinahe täglich heimsuchenden Plage der mittleren Verzweiflung über seinen wenig zielführenden Zustand des Dahinschweifens, der nur durch eine unpräzise Mischung aus dunkler Ahnung und kindlicher Gespanntheit unterbrochen wurde, wenn er an die Worte von Oberleutnant Müller dachte, er solle dem BND schon bald einen „Gefallen“, tun, und „aktiv“, werden. Pfeffer freute sich über das geheimnisvoll klingende Spionage-Deutsch und dachte fortwährend darüber nach, um was für einen Gefallen es sich wohl handeln möge. Allein, der Gedanke aktiviert zu werden, löste in ihm schon das wohlige Gefühl aus, nun nicht länger tatenlos seine Zeit in Brasserien und Wirtshäusern vergeuden zu müssen. Auch wenn er den gelegentlichen Schluck über den Durst so gar nicht scheute, ärgerte es ihn, dass er im Grunde seit seiner Demission beim Weser-Land-Blatt überhaupt nichts Sinnvolles mehr getan hatte. Er fühlte sich ungebraucht und schlicht jedem Nutzen entrissen. Die Episode mit seinem alten Freund Briefke war ihm da eine willkommene Abwechslung gewesen, doch auch dieses Aufeinandertreffen hatte ihm klar gemacht, dass er wieder loslegen, eben aktiviert werden müsse. Briefke hatte ihr Gipfeltreffen ebenfalls sichtlich genossen und die beiden hatten sogar schon wieder telefoniert, nur Stunden, nachdem Pfeffer nach seiner Reise zu Hause angekommen war, aber dennoch: Briefke war immerhin Arzt, er hatte zu tun und wurde gebraucht, während Pfeffer wieder in der Kneipe landete und die Zeit totschlagen musste.
Er war also im Grunde guter Dinge und höchst erregt, als er seinen Wagen auf jenem Parkplatz eines Großkrämers parkte, auf welchem er seinen neuen weißen Mercedes abgestellt hatte, umstieg und weiterfuhr, nur um eine halbe Stunde später auf einem anderen Parkplatz zum Stehen zu kommen. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er noch etwa eine Stunde Zeit bis zum Treffen hatte und er beschloss, zunächst eine Zigarette zu rauchen. Er stieg aus, lehnte sich rücklings gegen den Kotflügel des Mercedes und rauchte, wobei er zwischendurch ein paar kleinere Schlücke aus dem wehrmutgefüllten Sterling-Flachmann nahm, um den trockenen Geschmack der Aufregung zu überdecken. Leicht beschwingt und mit einem kleinen Dusel setzte er sich wieder auf den Fahrersitz des Wagens, überzeugte sich noch einmal, dass Adresse und Name der Gaststätte mit den Angaben der Nachricht übereinstimmten und schlief zu seiner eigenen Überraschung sofort ein.
Es war ein süßer, alkoholgeschwängerter Schlaf der Erschöpfung, noch vertieft durch Zecherei und falsche Ernährung, und der überdies bemerkenswert traumreich war. Und so ärgerte er sich gründlich, als er durch ein lautes Klopfen geweckt wurde, das durch die Fensterscheibe hindurch direkt auf seine Schädeldecke zu hämmern schien. Nach dem ersten Sekundenschreck beschloss er daher, das Klopfen einfach zu ignorieren und drehte den Kopf demonstrativ in Richtung Beifahrersitz. Als aber das Klopfen zurückkehrte und sich mit einer Stimme verband, die ihn anschrie, erschrak er plötzlich so heftig, dass er das Gefühl hatte, ihm würde einige Sekunden lang das Herz stehen bleiben.
„Wachen Sie auf Mann! Haben Sie mal auf die Uhr gesehen?“, Oberleutnant Hans Müller war sichtlich ungehalten und als Rick Pfeffer erst auf die Uhr im Armaturenbrett und dann auf die an seinem Handgelenk sah, wusste er auch, weshalb. Er hatte satte anderthalb Stunden geschlafen! Donnerwetter! Schnell zog er die Türverriegelung auf und öffnete die Fahrertür.
„Tut mir leid“, begann Pfeffer noch einigermaßen schlaftrunken. „Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?“
„Bleiben Sie sitzen, das können wir uns jetzt sparen. Machen Sie die andere Tür auf.“ Pfeffer tat es. Müller ging um das Fahrzeug herum, öffnete die Tür und stieg ein.
„Guten Tag!“, sagte Pfeffer und hielt dem Oberleutnant die Hand hin, in welche der verärgerte Spion allerdings nicht einschlug.
„Geht so! Hören Sie, wenn wir verabredet sind, müssen Sie pünktlich sein. Wir sind hier nicht auf der Kirmes.“
„Ich war überaus pünktlich!“, entgegnete Pfeffer, und eigentlich stimmte das ja auch.
„Sie sind eingeschlafen. Und außerdem haben Sie schon wieder getrunken, das rieche ich doch. Mann, Pfeffer, ich hatte doch gesagt keinen Alkohol!“
„Aber das galt doch nur für den Urlaub, ich habe, also das waren nur so ein paar Schlücke, weil ich ... es geht mir nicht gut. Ich bin ein bisschen aufgeregt.“
Müller überhörte Pfeffers Entschuldigung, sah ihn an, dann wieder durch die Frontscheibe. Er schüttelte kurz den Kopf und redete nun ganz ruhig. „Sie sollten nicht trinken, Pfeffer. Alkohol enthemmt den Menschen und macht ihn gefügig. Dadurch werden Sie angreifbar. Abgesehen davon ist es verboten wenn Sie fahren. Irgendwann erwischt man Sie, und wenn Sie dann im Auftrag unterwegs sind, kann das üble Folgen haben. Für uns beide. Verstehen Sie? Wenn Sie das an der falschen Stelle kompromittiert, oder wenn Sie in einer Zwangssituation ... „, und plötzlich stockte Müller und schien erschrocken. Er drehte sich abrupt auf dem Sitz um und sah in den sportlich schmal geschnittenen Fonds des Mercedes. Dann ließ er den Blick langsam und aufmerksam über den Innenraum bis zur Frontscheibe schweifen, sah Pfeffer in die Augen und sagte: „Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?“
„Was?“
„Na das hier! Das soll das Auto sein, das Sie besorgt haben?“
„Jahaa!“ Pfeffer klopfte mit dem Handteller dreimal auf das Lenkrad und sagte nach einer Sekundenpause mit stolzgeschwängerter Stimme: „Das war gar nicht so leicht, so einen Wagen zu finden. Wissen Sie, ich war also erst mal in Dänemark, als ich ...“
„ICH HATTE DOCH GESAGT UNAUFFÄLLIG!“
Warum nur mussten die Leute immer schreien? Und es ging weiter. „Ist das hier unauffällig? Ein weißer Mercedes? Und dann noch ein Cabrio? So eine Proletenschüssel nennen Sie unauffällig? Das ist doch ein reiner Milieuwagen, Mann!“, Müller hätte verärgert sein sollen, aber irgendwie wirkte er eher entsetzt und schockiert.
„Na ja, also, der ist schon etwas rostig, und außerdem funktioniert das Verdeck nicht mehr richtig. Es ist also im engeren Sinne nicht wirklich ein Cabriolet, wenn Sie so wollen.“
„Das ist skandalös, Pfeffer, wirklich. Skan-da-lös! Sie machen mich fertig, wissen Sie das eigentlich? Sie machen mich wirklich echt fertig. Wie viel hat das den Steuerzahler gekostet?“
„Das ist das allerbeste. Der hat nur 4.000 Mark gekostet. Dabei fährt er über 200 Sachen, habe ich schon ausprobiert. Mein Goldstück ist zwar schneller, aber ich kann Ihnen sagen, als ich die A7 runtergedonnert bin ... man sitzt ja viel tiefer in einem SL. Das war wie in Hockenheim! Hatten Sie schon einmal einen SL?“
„Pfeffer!“ Müller herrschte ihn an. Er atmete mehrmals tief durch, sammelte sich. Man konnte ihm ansehen, wie viel Mühe es ihn kostete, sich zusammenzureißen. Er blickte Pfeffer ernst an. „Wir wollen, dass sie etwas für uns erledigen, Pfeffer. Und wir wollen, dass Sie dabei nicht auffallen. In meinem Job fährt man nicht wie ein Zuhälter vor, man versucht, nicht aufzufallen. Sie dürfen nicht auffallen, bei dem, was Sie für uns tun sollen.“
Nun war es Rick Pfeffer, den eine gewisse Unruhe befiel, und tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Oh Mann, das war ja schließlich der Geheimdienst, Müller konnte alles möglich von ihm verlangen, sogar ...
„Ich..“, stammelte Pfeffer, „ich muss doch niemanden umlegen, oder?“ Pfeffers Unruhe hatte sich nun spontan in echte Angst verwandelt, Müller hatte sich indessen wieder gefasst und war zu seinem gewohnten Tonfall zurückgekehrt.
„Umlegen? Nein, nein Pfeffer, ich kann Sie beruhigen, Sie sollen niemanden umlegen. Dafür haben wir qualifiziertere Leute. Für Sie haben wir etwas anderes, aber dafür ist dieses Fahrzeug viel zu spektakulär! Da hätten Sie ja auch gleich mit einer rollenden Bratwurst hier vorfahren können. Deswegen hatte ich Ihnen ja auch ausdrücklich gesagt, Sie sollen sich ein unauffälliges Fahrzeug besorgen.“
Beruhigung. Erstmal. Pfeffer hatte noch immer die Hoffnung, Müller und das Cabrio miteinander zu versöhnen.
„Ja, na ja, aber ich habe mal gezählt. Allein, als ich die A7 runtergepflügt bin, habe ich insgesamt 34 Mercedes überholt, acht davon waren weiß. So auffällig ist das Auto also gar nicht.“
„Da, wo Sie hinfahren werden, Pfeffer, ist dieses Auto sehr auffällig, das verspreche ich Ihnen!“ Müller sah Pfeffer jetzt wieder direkt in die Augen, während dieser, nun doch wieder erheblich unsicherer geworden, fragte „Und wo bitteschön soll das sein?“
„Sie fahren in die DDR!“