Читать книгу "Lebbe geht weider" - Martin Thein - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
Versprochen
ist versprochen
O Pelé envia abraços e deseja boa sorte.
(Empfange Umarmungen von Pelé, und viel Glück)
Höllenlärm. Trommeln dröhnen, Trompetenstöße zerreißen die Luft. Die Luft ist feucht und dicht und getränkt vom Schweiß der Menschen. 182.000 Zuschauer drängen sich an diesem 18. Juli 1971 im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, unter ihnen ist auch der Staatspräsident Brasiliens. Überall tanzen fröhliche Menschen, Gruppen von Frauen und Männern. Die Stimmung ist ausgelassen, wie beim Karneval. Transparente mit dem Konterfei ihres Superstars werden in die Höhe gehalten. Viele Menschen haben monatelang gespart, um sich eine Eintrittskarte leisten zu können. Reporter aus aller Welt mit ihren Kameras und Mikrofonen bevölkern den Rasen, sie alle umringen einen einzigen Mann: Pelé.
Pelé, der größte Stürmer aller Zeiten: dreifacher Weltmeister, mehr als 1.000 Tore, Weltfußballer des 20. Jahrhunderts. Er zelebriert heute sein letztes Spiel für die brasilianische Nationalmannschaft. Als Gegner hat er sich das Nationalteam Jugoslawiens gewünscht, die in seinen Augen besten Fußballer der Welt, natürlich nach den Brasilianern.
In den Reihen der Jugoslawen steht ein athletischer junger Mann mit kantigem Gesicht und entschlossenem Blick. Die Nummer 3 des Teams zupft an ihren roten Stutzen und versucht sich zu konzentrieren. Es ist Pelés Abschiedsspiel für die brasilianische Nationalmannschaft, aber für ihn ist es der Höhepunkt seiner Karriere als Fußballer: Wie oft spielt man schon gegen den größten Stürmer aller Zeiten? Der Name des jungen Jugoslawen ist Dragoslav Stepanović.
Die Blaskapelle stimmt die jugoslawische Nationalhymne an. Mit ihren blauen Trikots und weißen Hosen stehen sie eng nebeneinander aufgereiht: Radomir Vukčević, Mladen Ramljak, Blagoje Paunović, Dragan Holcer, Dragoslav Stepanović, Miroslav Pavlović, Branko Oblak, Jovan Aćimović, Ilija Petković, Zoran Filipović und Dragan Džajić.
Anpfiff. Der deutsche Schiedsrichter Kurt Tschenscher eröffnet die Gala der Superstars. Auf Seiten der Brasilianer spielen all die Helden wie Félix, Everaldo, Rivelino und Gérson, die 1970 die Weltmeisterschaft in Mexiko gewonnen haben. Ihr Coach ist weiterhin Mário Zagallo.
Die Brasilianer legen los, spielen mit großer Freude, versuchen immer wieder, Pelé in Szene zu setzen. Sie wollen den Fußball an diesem Tag zelebrieren, Pelé zu Ehren. Ihr Gegner dagegen ist verbissen. Sie fühlen sich geehrt, als „Balkan-Brasilianer“ eingeladen worden zu sein. Diesem Anspruch wollen sie gerecht werden.
Dragoslav Stepanović nimmt seine Aufgabe als Verteidiger auch in diesem Freundschaftsspiel sehr ernst. Als Rivelino auf ihn zustürmt, will er ihn stoppen – doch da ist der schon an ihm vorbei, nachdem er Stepanović den Ball lässig, fast schon arrogant durch die Beine geschoben hatte. Höchststrafe. Im weiteren Spielverlauf kommt dies nicht mehr vor, die Weltpresse wird nach dem Spiel Lobeshymnen auf den jungen Verteidiger verfassen.
Zur Halbzeit, es steht 1:1, verabschiedet sich Pelé unter tosendem Applaus der 182.000 Zuschauer endgültig von der internationalen Bühne der Nationalmannschaft. Alle wollen ihn jetzt berühren, küssen und umarmen. Sie erdrücken ihn fast. Neben Blumen und Pokalen gibt es auch Fernseher und Toaster für ihn, der schon alles hat. Dass das Spiel 2:2 endet, interessiert niemanden mehr.
73. Minute: Rivelino spielt gerade zu Gérson, da wird der Bildschirm schwarz. Stepi, der in seinem breiten Fernsehsessel sitzt, starrt überrascht auf die Mattscheibe. Er kontrolliert den DVD-Spieler und die Anschlüsse: nichts. Er startet die DVD noch einmal – wieder bricht die Übertragung in der 73. Minute ab. Nichts. Er seufzt. Da war er so lange dem Filmmaterial hinterhergejagt, und jetzt das. Nicht einmal eine vollständige Aufzeichnung vom Spiel seines Lebens hatte er bekommen. Dabei hatte Pelé nach dem Spiel in Rio de Janeiro hoch und heilig versprochen, dass alle Spieler ein Video davon erhalten würden. Nur hatte Pelé nie eines geschickt.
Also hatte Stepi sich selber darum gekümmert. Im Jahr 2005 kam Pelé wieder einmal nach Deutschland, im Rahmen des Confederations Cup. Brasilien gastierte als amtierender Weltmeister in Frankfurt. Am Vortag des Endspiels zwischen Argentinien und Brasilien kam Pelé am Frankfurter Flughafen an. Stepi hatte trotz fehlender Akkreditierung sämtliche Sicherheitsschleusen passieren können – hier in Frankfurt kannte ihn schließlich jeder.
Als Pelé eine schwarze Limousine bestieg, in der bereits Franz Beckenbauer und Joseph Blatter saßen, hechtete Stepi ans Fenster und wollte mit Pelé sprechen. Seine Bitten wurden erhört, auf Einladung von Beckenbauer sollte Stepi am selben Abend ins Frankfurter Hotel Hyatt kommen.
Wenige Stunden später hatte er Pelé dann getroffen. „Hello, my good friend, how are you?“, hatte Pelé freundlich gefragt und ihn umarmt. Stepi fragte den Brasilianer, wann er das 1971 versprochene Video bekomme. Pelé war die Verblüffung anzumerken, er versprach aber die prompte Lieferung.
Bis heute ist keine Post aus Brasilien gekommen. Doch der bei dem Gespräch anwesende HR3-Reporter Rudi Schmalz-Göbels besorgte Stepi eine Aufzeichnung aus den Archiven des SWR. Stepi hatte endlich sein Video.
Als er nun in seinem Sessel in seinem Haus in Bergen-Enkheim sitzt, werden die Erinnerungen an seine aktive Zeit als Fußballer, seine schönsten und aufregendsten Stunden geweckt, und er hört wieder den Lärm im Stadion von Rio, atmet die feuchte und stickige Luft, spürt die eigene Aufregung und den beschleunigten Herzschlag.
Schön war es gewesen, und gut gespielt hat er auch. Dann schlief er ein.