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ОглавлениеKapitel 2
Belgrader Tage
Wem das Herz hüpft,
dem ist kein Weg zu weit.
(Serbisches Sprichwort)
Kinderträume
Belgrad, im September 1961.
Seit Wochen hängt eine Hitzeglocke über der Stadt. Die Schwüle verwandelt die Stadt in eine Dampfsauna. Ein Moloch, stickig und erdrückend.
„Hängt euch nicht aus der Straßenbahn, ihr Banditen! Das ist gefährlich, verdammt! Und du, du kriegst jetzt deine Strafe!“ Der alte Schaffner hat einen der Bengel, die im Fahren auf seine Straßenbahn aufgesprungen sind, am Hosenzipfel erwischt. Das passiert in dieser Zeit beinahe täglich. Sie kommen aus dem Nichts, verstecken sich, pirschen sich vorsichtig an und springen dann auf. Manchmal kann der alte Schaffner sie fast schon riechen. In der Bahn schreien und hüpfen die Jungs meist besessen hin und her. Jeder will den anderen mit irgendeiner Mutprobe übertrumpfen. Mit nur einer Hand halten sie sich an der Dachkante des Waggons fest, Köpfe und Hände in den milden Belgrader Fahrtwind streckend. Mit der anderen Hand halten sie einen Jutebeutel umklammert.
Es sind stets die gleichen Jungs: Petar, Zoran, Mirko und Dragoslav. Alle sind zwischen zwölf und 14 Jahre alt. Sie stammen aus dem Belgrader Stadtteil Zvezdara, einem der erbarmungslosesten Bezirke in der Donaumetropole. Für viele ist es ein Ghetto.
Auch heute waren sie wieder unterwegs. Möglichst weit vom Elternhaus entfernt haben sie Fußball gespielt. Sie sind in keinem Verein, sie bolzen da, wo sie geduldet werden, auf Hinterhöfen, in Parkanlagen oder einfach auf der Straße. Die Torpfosten bestehen aus ihren Sportbeuteln oder aus Ästen von den Bäumen. Außenlinien gibt es nicht, auch keinen Schiedsrichter. Knifflige Entscheidungen regeln sie zur Not mit den Fäusten.
Der Schaffner hat heute den 13 Jahre alten Dragoslav erwischt. Zur Strafe muss er die 25 Stationen der Linie 7 (Zvezdara – Stadtmitte) mitfahren, hin und zurück. Eine Runde dauert über zwei Stunden. Für Fußball ist es anschließend zu spät, die größte Strafe für die Jungen. Der Schaffner schimpft noch immer vor sich hin, nennt ihn einen streunenden Hund aus Zvezdara, der nichts sei, nichts könne und es im Leben niemals zu etwas bringen werde. Auf die mahnenden Monologe des Schaffners reagiert Dragoslav nicht. Mit seinen kurzen rotblonden Haaren und den reuigen, großen blauen Augen vermittelt er den Eindruck eines Sünders.
Die Bahn rattert derweil durch Belgrad, vorbei an der historischen Altstadt Stari Grad mit ihren Plätzen, Regierungsgebäuden und kleinen Restaurants. Dragoslav sieht in der Ferne die vielen Brücken der Save und hinüber nach Novi Beograd, dem neuen Belgrad. Eine sozialistische „Modellstadt“, die Ende der 1940er Jahre in einer Sumpflandschaft entstanden ist. Architektonische Sündenfälle. Plattenbauten bis zum Horizont, das hässliche Erbe des Stalinismus, entstanden in einer Zeit, als billiger Wohnraum gefragt war und schnell geschaffen werden musste. Das alte Belgrad hingegen war seit jeher eine Brücke zwischen Orient und Okzident. Osmanen, Byzantiner, Habsburger, sie alle haben der Stadt ihre Kultur, Tradition und Architektur hinterlassen. Hier treffen sich die vier Jungs gerne an der alten Zitadelle. Hier sonnen sie sich auf der alten Befestigungsmauer, essen ihre Butterbrote und genießen den Frieden und den Blick auf Donau und Save. Sie sind hier frei und ungezwungen.
Doch beinahe überall bestimmen graue Fassaden und staubige Straßen das Stadtbild. Grau. Die „weiße Stadt“, wie Belgrad übersetzt heißt, ist tatsächlich grau. Die wachsende Industrialisierung fordert ihren Tribut. Belgrad ist in den 1960er Jahren das Zentrum einer Gesellschaft im Umbruch und einer Wirtschaft im Niedergang. Die Veränderungen verschlechtern auch die Lebensbedingungen. Es gibt weniger Arbeit, und diese wird immer schlechter bezahlt. Tausende Menschen verlassen Jugoslawien und suchen anderswo ein besseres Leben – die meisten davon in Deutschland. Denn trotz des vergleichsweise liberalen Klimas steht Jugoslawien wie alle anderen sozialistischen Staaten auch unter dem Einfluss der Sowjetunion. Die vorsichtige Öffnung nach Westen bringt die Gefahr mit sich, in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West unter die Räder zu geraten. Doch der jugoslawische „Dritte Weg“, der Versuch, zwischen Plan und Markt zu operieren, hat Nischen geschaffen.
Während die Bahn weiter durch Belgrad ruckelt, an der Endstation Pause macht, um dann wieder umzukehren, versucht sich Dragoslav mit schönen Erinnerungen abzulenken. An seinen Opa Selemir aus Sibnica, den er in den Ferien immer in seinem kleinen Dorf besucht, rund 40 Kilometer von Belgrad entfernt. Zusammen erkunden sie oft die vielen Zitadellen und Burgen der Umgebung.
Auch zu Weihnachten, nach dem julianischen Kalender der griechisch-orthodoxen Christen Anfang Januar, versammelt sich die Familie in Sibnica. Der kleine Dragoslav liebt die Weihnachtszeit. Heiligabend wird stets das brüchige Mobiliar nach draußen verfrachtet und die große Wohnstube mit Stroh ausgelegt. Der Christbaum wird mit Äpfeln, Nüssen und selbst gebackenen Plätzchen geschmückt. Bevor das Essen beginnt, gehen alle Familienangehörigen in den Stall. Für die Tiere gibt es eine Extraration Futter.
Ein gellendes Quietschen reißt Dragoslav aus seinen Gedanken. Die Bahn ist soeben über eine Unebenheit in den Gleisen gefahren. Sie haben die Save wieder überquert und nähern sich einem mächtigen, mehrstöckigen Bau, einem in grauen Beton gemeißelten Oval. Vier große Masten strecken sich in den Himmel und umrahmen das Gebäude. Dragoslav schaut immer wieder zu dem Monument und rutscht auf seinem Sitz hin und her.
Der Alte bemerkt die Neugierde des Jungen.
„Spielst du Fußball?“, fragt er interessiert.
„Nur manchmal“, schwindelt Dragoslav, ein wenig verängstigt.
„Dann weißt du auch nicht, was da drüben für ein Gebäude entsteht?“
„Das wird das neue Stadion von Roter Stern. Da passen dann über hunderttausend Menschen rein“, erwidert Dragoslav, jetzt schon etwas mutiger. Jeder Junge aus Belgrad weiß, was dort gebaut werden soll!
„Richtig, mein Junge, richtig!“, sagt der Alte begeistert. „Warum weißt du das, wenn du doch gar nicht Fußball spielst?“
„Ich würde so gerne im Verein Fußball spielen, aber meine Eltern lassen mich nicht. Meine Mutter schickt mich ins Heim, wenn sie mich beim Fußballspielen erwischt“, platzt es jetzt aus dem kleinen Fußballerherz heraus. Er schaut den Schaffner treuherzig an und hat für einen Moment das Gefühl, als sähe er eine Träne der Freude in dessen Augen.
„Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft“, verspricht ihm der alte Schaffner.
Das Eis zwischen dem Bahnaufseher und dem Jungen ist gebrochen. „Junge, komm mal her zu mir! Hör mir gut zu! Ich sage dir jetzt eins: Spiele Fußball, melde dich im Verein an, und wenn du dann gut bist, verschwinde möglichst bald von hier. Geh weg aus Belgrad! Spiel Fußball und geh dahin, wo es dir besser geht als hier.“
Sie erreichen endlich die Haltestelle, an der Dragoslav aussteigen darf und wieder in die Freiheit entlassen wird. Der Junge dreht sich noch einmal um. Der Schaffner sieht ihm nach und winkt. Dragoslav hallen die Worte des Alten im Ohr. Wie oft hatte er davon geträumt, ein berühmter Fußballer zu werden und das entscheidende Tor zum Sieg zu schießen!
„Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“ Diese Worte des Alten, den er nie wiedersehen sollte, werden Dragoslav sein Leben lang begleiten.
Teilen, das ist das Motto dieser Zeit. Eine jugoslawische Familie lebt in dieser Zeit in der Regel unter einem Dach. Drei oder vier Generationen, vom Baby bis zum Greis, wohnen in nur ein bis zwei Zimmern. Oft teilen sich mehrere Familien kleine Behausungen von wenigen Quadratmetern, ohne Wasser und Strom. Seit dem Ende der 1950er entstehen immer mehr nehigijenska naselja, also „unhygienische Siedlungen“, illegal errichtet und ohne Infrastruktur: Slums.
Auch die Familie Stepanović lebt Anfang der 1960er Jahre auf nur wenigen Quadratmetern. Zusammen mit einer anderen Familie teilen sie sich zwei Zimmer, Küche, die Toilette draußen im Hof und das heiße Wasser am Badetag, stets ein Samstag.
Dragoslavs Mutter Rosa überzeugt die Mutter der Mitbewohner schnell mit ein paar kräftigen Ohrfeigen davon, der Familie Stepanović den Vorrang beim Baden zu überlassen. Für Dragoslav ist es das Schönste, wenn die Mutter die Badewanne mit heißem Wasser füllt und er nach dem Baden Musik im Radio hören kann: Schlager auf Belgrad 1. Seine liebste Zeit in der Woche.
Unter diesen Verhältnissen sind Konflikte an der Tagesordnung. Mutter Rosa Stepanović verteidigt die Familie besonders aggressiv. Sie kämpft aus Gewohnheit, hatte sie doch weitaus schlechtere Zeiten erlebt.
Der Feuerball über Belgrad hatte den Nachthimmel erhellt. Bis weit in die Provinz hinein war er sichtbar gewesen. Jene Unglücksnächte am 6. und 7. April 1941, in denen die deutsche Luftwaffe Belgrad bombardierte, hatten sich für immer in das Gedächtnis der Überlebenden eingebrannt. Tausende waren in diesen Nächten erstickt, verbrannt, in Fetzen gebombt worden. Es waren bleierne Tage.
Rosa Stepanović war 16, als die deutsche Wehrmacht 1941 in der Stadt einmarschierte. Sofort machten die Truppen Jagd auf Juden, Roma und Partisanen. Viele verschwanden, um nie wieder aufzutauchen. In den Konzentrationslagern von Sajmište und Banjica fanden über 50.000 Menschen den Tod.
Die Alliierten befreiten die Stadt nach drei Jahren des Schreckens. Die nun 19-jährige Rosa aber war gezeichnet vom Überlebenskampf und den Schrecken des Krieges. Die Brutalitäten der Soldaten, die mit der Besatzung verbundenen Erniedrigungen und Demütigungen hatten sie hart gemacht. Für den Rest ihres Lebens sollte es ihr schwerfallen, ihre Gefühle auszudrücken. Niemand hatte sie je weinen sehen. Auch nicht auf der Beerdigung ihres Vaters; nicht auf der ihres Mannes.
Dagegen nimmt sich der Alltag der Familie in den 1960er Jahren beinahe harmlos aus: Vater Zivomir arbeitet in einer pharmazeutischen Fakultät als Haustechniker. Mutter Rosa ist vormittags Köchin in der Mensa eines Studenteninternats, nur 500 Meter von der Wohnung entfernt.
Die Jahre vergehen, die Fußballleidenschaft von Dragoslav wächst. Als er 14 Jahre alt ist, beginnt der Fußball sein Leben zu bestimmen. Rund drei Stunden hat er dafür täglich. Um so viel wie möglich spielen zu können, schwänzt er die Schule. Er isst kaum, sondern spült sein Essen in der Toilette herunter – das spart wertvolle Minuten. Sein Traum: Er will Fußballer werden. Und endlich in einem richtigen Verein spielen, mit anderen trainieren und auf einem richtigen Platz spielen statt auf der Straße. Doch es bleibt vorerst ein Traum, zu hoch sind die Hindernisse.
Dann spricht ihn ein Mann auf dem Schulweg an: Inge Olareveć hatte einen Fußballverein namens „Mladi Proleter“ (junge Arbeiter) gegründet und suchte Spieler für seine Jugendmannschaft. Ein paar Positionen hatte er bereits mit einigen seiner elf Kinder besetzen können. Dragoslav lehnt erst ab, doch als Inge ihn immer wieder abpasst und beharrlich bittet, sagt er schließlich zu. Nur durften seine Eltern nichts davon erfahren! Er läuft die sechs Kilometer zwischen Wohnung und Trainingsplatz hin und zurück zu Fuß. Wenn es mal schnell gehen muss, nimmt Dragoslav auch gelegentlich die Straßenbahn ohne Fahrschein. Für den Bus ist kein Geld da.
Als er wieder mal bei seinem Opa ein paar Ferientage verbringt, erzählt er ihm von seinem großen Geheimnis. Dragoslav hatte ab sofort einen Verbündeten, den er auch dringend brauchte. Das tat gut, richtig gut. Endlich mit jemandem offen über die große Leidenschaft sprechen können, endlich nicht mehr die ganze Last auf den kleinen Schultern tragen müssen. Auch wenn sein Großvater nichts für ihn tun konnte, so war er sich seiner Solaridität und seiner Verschwiegenheit gewiss. Das reichte schon, er war nicht mehr allein damit.
In der Schule bekommt er Probleme mit seiner Musiklehrerin. Dragoslav liebt Musik, aber er kommt nur selten zu den Proben des Schulorchesters, in dem er Akkordeon spielt. Hinzu kommt die Verpflichtung für alle Schüler, die Lehrerin bei Opernbesuchen zu begleiten. Ihr Lieblingskomponist ist Verdi. Eine Qual für Dragoslav – er muss doch Fußball spielen!
Doch zunächst probiert er sich in anderen Sportarten: In der Marija-Bursać-Schule – benannt nach einer jugoslawischen Kommunistin, die als Partisanin im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen die Deutschen ihr Leben verlor – wird er mit elf Jahren zum Sportler des Jahres gewählt. In allen Disziplinen sticht er hervor. In Leichtathletik und beim Handball, der wichtigsten Sportart an der Schule, wird Dragoslav in die Belgrader Stadtauswahl berufen. Fußball aber ist der hohen Verletzungsgefahr wegen verboten. Dies hängt auch mit dem Desinteresse der politischen Führung an dem Sport zusammen: Staatspräsident Josip Broz, eher bekannt als Tito, ist Eishockeyfan – und fördert diesen Sport.
Dessen ungeachtet wächst die Begeisterung des nun 15-jährigen Dragoslav für den Fußball immer weiter. Immer mehr Zeit verbringt er auf den Straßen Belgrads statt in der Schule; stets den Druck im Nacken, bestraft zu werden oder von der Schule zu fliegen, sollte man ihn erwischen. Und immer begleiten ihn die Worte des alten Schaffners: „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“
Erste Liebe
1963 tritt plötzlich die zweite Liebe in sein Leben – in Gestalt der Leichtathletin Jelena Jovanović. Die hübsche Sportlerin, die zweimal die Belgrader Stadtmeisterschaft über die 100 Meter gewinnt, fällt ihm erstmals bei einem gemeinsamen Cross-Lauf über drei Kilometer auf. Damals gewinnt sie den Wettbewerb der Damen souverän. Dragoslav wird neugierig.
Nach dem Lauf nimmt er all seinen Mut zusammen und spricht sie an. An seine Worte kann er sich später nicht mehr erinnern, zu aufgeregt ist er. Jelena reagiert freundlich, aber zurückhaltend. Dragoslav ist begeistert von ihrer bescheidenen Art. Es gelingt ihm, Jelena zu einem Treffen zu überreden. Weitere Verabredungen folgen, bald schon gehen beide regelmäßig miteinander aus.
Ihre Treffen müssen sie jedoch vor Jelenas Eltern geheim halten: Ihre Eltern haben ihr jeden Kontakt zu Jungs verboten, bis sie 18 Jahre alt wird. Also begleitet Dragoslav seine neue Freundin über Monate hinweg auf dem Weg vom Schulbus nach Hause. Kurz vor dem Haus der Jovanovićs muss er sich jedes Mal aus dem Staub machen. Noch drei Jahre lang können die beiden ihr Geheimnis für sich behalten.
So geht es Tag um Tag, Woche um Woche. Jelena weist jeden Annäherungsversuch zurück. Dragoslav ist ob ihrer unzugänglichen Art so frustriert, dass er eines Tages die Beziehung spontan beendet.
Jelena ist am Boden zerstört. Sie hat noch nie einen Jungen geküsst und fürchtet sich davor. Dragoslav hat sie das nie gesagt, aber sie vertraut sich einer Cousine an. Die wiederum klärt Dragoslav über Jelenas Verhalten auf. Als sich die beiden erneut treffen, gesteht ihm Jelena unter Tränen, dass sie noch nie einen Jungen geküsst habe.
Jetzt muss Dragoslav lächeln. Vorsichtig nimmt er Jelenas Gesicht in beide Hände, beugt sich zu ihr vor und drückt ihr einen ersten, sanften Kuss auf die Lippen. Damit ist das Eis gebrochen. Und doch irritiert Dragoslav Jelenas Ablehnung, wenn das Gespräch auf Familie und Kinder kommt. Er weiß nicht, dass sie sich geschworen hat, niemals im Leben zu heiraten und Kinder zu haben.
Dragoslavs große Liebe: Jelena Jovanović mit 18 Jahren.
Jelena hasst das beengte Leben, das sie lebt. Als Älteste von drei Geschwistern hat sie das Privileg, zur Schule gehen zu dürfen. Ihre beiden jüngeren Schwestern müssen im Haushalt helfen. In der Schule gehört sie zu den Besten, sehr zur Freude ihres Vaters, der seine Tochter bereits als erfolgreiche Ärztin sieht. Nach der Schule muss sich Jelena um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Freizeit hat sie kaum. Sie wohnt mit ihrer Großfamilie unter einem Dach. Um diesem Leben einmal entfliehen zu können, will sie unabhängig bleiben und keine eigene Familie gründen.
Dragoslav weiß nicht, was in Jelena vorgeht. Er versteht ja kaum, was in ihm selbst vorgeht. Er spürt zum ersten Mal, dass es neben seiner Liebe zum Fußball noch eine weitere Kraft gibt, die es zu entdecken gilt. Das Erwachsenwerden verwirrt ihn. Er zieht sich zurück. Die Prügel seiner Eltern, das ständige Versteckspiel für den Fußball belasten ihn mehr und mehr. Geborgenheit, Sicherheit und Freiheit findet er nur beim Fußball. Und nun ist da auch noch Jelena.
Die Schatten der Schule werden in dieser Zeit länger und länger. Dragoslav hat nachmittags Schule, schwänzt aber immer häufiger, um auch diese Stunden für Fußball nutzen zu können. Die für ihre Strenge bekannte Direktorin hat seit Langem den Verdacht, dass ihre Schüler nicht zur Schule kommen, sondern ihre Zeit mit Fußball verschwenden. Sollte sie jemanden auf frischer Tat ertappen, würde sie ihn von der Schule verweisen. Dragoslav braucht für seine Abwesenheiten in der Schule endlich eine gute Erklärung.
Die Lösung ist ein alter Stempel. Jelena findet ihn eines Tages in der Klinik, in der sie ein Praktikum absolviert, bevor sie nachmittags in die Schule geht. Der Stempel gehört einer inzwischen längst verstorbenen Ärztin. Sie füllt gleich einen ganzen Block mit Attesten für Dragoslav aus, die sie unterschreibt und stempelt. Damit kann sich Dragoslav in der Schule offiziell als krank entschuldigen. Ein hohes Risiko für Jelena, die bei Auffliegen des Schwindels für diese Urkundenfälschung von der Schule verwiesen worden wäre. Ihren Traum, Ärztin zu werden, hätte sie dann aufgeben müssen.
In Ermangelung eines besseren Planes drückt Dragoslav weiterhin die Schulbank. Er will so schnell wie möglich seinen Abschluss machen, um endlich nur noch Fußball spielen zu können. Die Prüfungen besteht er zur Überraschung seiner Lehrer mit Bravour. Seine Arbeit zum Thema „Heiztechnik“ schreibt er jedoch nicht selbst. Dies erledigt ein Fan des OFK Belgrad (Omladinski Fudbalski Klub, zu Deutsch: Jugend-Fußballklub), einem der großen Fußballvereine der Stadt, der zugleich Heizungsingenieur ist. So ist denn Dragoslav ausgebildeter „Sanitarni tehnicar“ (Sanitärtechniker) geworden, Spezialgebiet Umweltbelastungen hinsichtlich Wasserverschmutzungen. „Und so nannte man uns damals auch Gesundheitspolizei“, erinnert er sich.
Das Ende der Schulzeit kommt für Dragoslav dann trotzdem etwas plötzlich. Ihm stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Eine Lehre, der Wunsch seines Vaters, kam für ihn nicht in Frage. Er steht vor der bislang größten Herausforderung seines Lebens: Wie kann er Fußballprofi werden?
Endlich Fußballer
Belgrad ist Fußball, und Fußball ist Belgrad. Trotz des Desinteresses der politischen Führung. Drei große Vereine hat die Stadt: Roter Stern, Partizan und OFK. Roter Stern ist der erfolgreichste der drei Vereine, in Sachen Popularität dicht gefolgt von Partizan. Beide Klubs befinden sich in einem dauerhaften Konkurrenzkampf, dem „večiti derbi“ (ewiges Derby), immer unterstützt von einer leidenschaftlichen Fangemeinde. Der OFK steht im Schatten von Roter Stern und Partizan, trotz seiner großen Erfolge in den 1950er und 1960er Jahren.
Dragoslav ist Fan von Partizan Belgrad, solange er denken kann. Obwohl er schon von Kindesbeinen an dem Leder hinterherjagt, bekommt er erst im Alter von 17 Jahren die Chance, ein Spiel im Stadion zu sehen. März 1966: Partizan steht im Rückspiel des Viertelfinals im Europapokal der Landesmeister gegen Sparta Prag. Das Hinspiel hatten die Jugoslawen mit 1:4 verloren. Jetzt muss ein Wunder her, um das Halbfinale noch zu erreichen.
Das Spiel ist an einem Nachmittag; statt wie sonst 100.000 Zuschauer sind diesmal nur 45.000 Menschen im Stadion von Partizan. Für Dragoslav ist das günstig: Er kann den Stadionbesuch seinen Eltern verschweigen und ein Treffen mit Freunden vorschieben.
Dem Spiel war ein einschneidendes Ereignis vorausgegangen: Eine Woche zuvor hatte er den Schritt gewagt und sich in der Jugendabteilung von Partizan Belgrad angemeldet. Die drei Tage Probetraining endeten damit, dass man Dragoslav wieder nach Hause schickte. Befund: zu wenig Talent. Der Junge ist sehr enttäuscht, dies beflügelt aber umso mehr seinen Ehrgeiz.
Einen Vorteil jedoch hatte das Training: Alle Jugendspieler von Partizan erhielten Freikarten für das große Spiel. Dragoslav hat zwar kein Anrecht mehr auf eine Karte, doch ein Ordner, der ihn beim Probetraining gesehen hat, hält ihn für einen Stammspieler der Mannschaft – und lässt ihn ins Stadion.
Die Partie gegen Sparta Prag verläuft furios: Partizan wirbelt derart durch die Reihen der Prager, dass sie am Ende mit 5:0 gewinnen. Im Halbfinale schaltet Partizan dann Manchester United aus, unterliegt aber im Endspiel im Brüsseler Heysel-Stadion den „Königlichen“ von Real Madrid mit 1:2. Der junge Dragoslav ist von dem Spiel wie berauscht. Und obwohl Partizan „sein“ Verein ist, bleibt es sein Traum, einmal im Stadion von Roter Stern zu spielen. Der alte Schaffner und seine Worte kommen ihm wieder in den Sinn: „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“
Fußball im Verein – für Dragoslav ist das wie Weihnachten. Das Kicken im Hinterhof ist eine Sache, bei einem Verein organisiert Fußball zu spielen eine andere. Doch damit wächst auch die Gefahr, von den Eltern entdeckt werden. Das bedeutet Stress. Also fasst Dragoslav einen Entschluss. Er ist nicht länger bereit, sich zu verstecken. Er riskiert es, er will es so sehr.
Zivomir Stepanović holt aus. Dragoslav ist darauf vorbereitet, er weicht flink aus und packt seinen Vater am Kragen. Er ist 17 Jahre alt, rund 182 cm groß und ein Athlet. Sekunden vorher hat er seinem Vater mitgeteilt, dass er in einem Fußballverein spiele und Profi werden wolle. Er hat ihm auch gesagt, dass sein Vater ihn nie mehr schlagen solle.
Dragoslav lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es ihm ernst ist. Fest gepackt hält er seinen Vater am Kragen und mit seinen langen Armen auf Distanz. Die Schläge des Vaters können ihn nicht mehr treffen, sie gehen ins Leere. Dragoslav hält seinen Vater nur auf Distanz, schlägt nicht zurück. Plötzlich hört Zivomir Stepanović auf. Schweigend verlässt er den Raum.
Danach sollte er seine Hand gegenüber seinem Sohn nie wieder erheben. Nie wieder wurde darüber gesprochen.
Der Aufstieg
Partizan ist der Verein seines Herzens, bei Roter Stern will er einmal spielen. Im Winter 1965 aber nimmt Dragoslav auf Einladung eines Freundes an einem Probetraining bei der Jugendmannschaft des OFK Belgrad teil.
Belgrader Winter sind kalt, vor allem in diesem Jahr. Der Schnee türmt sich auf dem Platz. Die Nachwuchsfußballer spielen dennoch standesgemäß in kurzen Hosen und dünnen Trikots. Die Kälte zieht allen durch die Glieder, auch Dragoslav zittert bereits während des Spiels am ganzen Körper. Nur die Aussicht auf eine heiße Dusche nach dem Training lässt ihn durchhalten. Endlich! Es ist vorbei, Dragoslav eilt in die Kabine. Da packt ihn jemand von hinten am Ärmel.
„Heute ist kein Duschen“, sagt der Zeugwart. „Wir haben heute nur kaltes Wasser. Der OFK hat die Gasrechnung nicht bezahlt.“
„So ein berühmter Klub und nicht mal heißes Wasser. Das kann doch nicht wahr sein“, denkt Dragoslav und bittet mit einem Grinsen den verdutzten Platzwart, den Zugang zu den Duschräumen zu öffnen.
Nach der Winterpause wird das Buhlen um ihn heftiger. Der OFK bittet ihn mehrfach, wieder zum Training zu kommen. Bald ist Dragoslav offiziell Spieler der OFK-Jugend.
Bei seinem ersten Training fragt ihn sein Trainer, wie er heiße.
„Dragoslav“, antwortete dieser.
„Nein, nein, nein. Ich meine deinen Spitznamen. Dragoslav ist zu lang. Auf dem Platz brauche ich was Kürzeres. Dragi vielleicht?“
„Nein, bitte nicht. Nennen Sie mich lieber Stepa.“
„Okay, dann bist du ab sofort der Stipe.“
Der junge Dragoslav traute sich nicht, den Trainer zu korrigieren. Obwohl es eigentlich ein kroatischer Vorname war, sollte er in seiner Belgrader Zeit für die Fußballwelt immer der „Stipe“ bleiben. In der Schule nannte man ihn „Stepa“, nun „Stipe“. Für Jelana ist er derweil der „Liebling“ oder das „Schatzi“. Bis er zum „Stepi“ wird, soll es noch eine Weile andauern.
Mittlerweile ist Dragoslav 18 Jahre alt und entwickelt sich zunehmend zu einer tragenden Säule in der zweiten Mannschaft. Aufmerksam beobachtet der Verein seine Entwicklung, auch die Profiabteilung. Im Sommer 1966 lädt ihn die Belgrader Stadtauswahl zu einem Turnier nach Nürnberg ein. Zum ersten Mal in der Geschichte des jugoslawischen Fußballs nimmt ein Spieler des OFK an einem solchen Turnier teil.
Während Dragoslav in Nürnberg ist, wird in Jugoslawien der zweitmächtigste Mann im Staat, Innenminister und Polizeichef Aleksandar „Leka“ Ranković, von seinen Ämtern enthoben. Die Stimmung im autoritären Jugoslawien ist kurz vor dem Explodieren. Aufgrund dieser Spannungen wird die Mannschaft in Nürnberg unter Beobachtung des jugoslawischen Geheimdienstes gestellt, um eine Flucht der Spieler ins kapitalistische Ausland zu verhindern. Auch das Hotel durften die Spieler nicht verlassen.
Kurz nach dieser Episode ist Dragoslav so weit, und er wird in die erste Mannschaft von OFK Belgrad befördert. Im Pokalendspiel 1966 schlägt der OFK Dinamo Zagreb vernichtend mit 6:2. Unmittelbar nach dem Sieg verlassen 14 Profis den Verein und gehen ins Ausland. Damit steht der OFK mit einem Mal beinahe ohne Spieler da. Der Vorstand muss sofort handeln.
Jetzt schlägt die Stunde von Dragoslav. Wenige Tage später feiert er seine langersehnte Premiere bei den Profis. Es ist ein Vorbereitungsspiel gegen Kruševac. Stolz steigt er in den Bus der ersten Mannschaft. Auf der Fahrt kommt er erstmals dazu, die Ereignisse der letzten Tage, seinen rasanten Karrieresprung zu verarbeiten. Er nimmt sich vor, alles ihm Mögliche zu geben, seine Chance zu nutzen.
In der Gästekabine von Kruševac riecht es so muffig wie in der ganzen Stadt. Die Trikots haben einen V-Ausschnitt, der bei den jungen OFK-Spielern beinahe bis zum Bauchnabel reicht. Das Spiel findet auf einem alten Aschenplatz statt. Die Mannschaft von Kruševac besteht aus alten Haudegen, die mit allen Wassern gewaschen sind. Die frischgebackenen Profis aus Belgrad haben einen schweren Stand. Dragoslav wird gefoult und rutscht dann mit der Brust über die Aschenbahn. Er blutet, kann vor Schmerz nächtelang kein Auge zutun. Der OFK verliert das Spiel.
Die Saison 1966/67 bestreitet der OFK mit den verbliebenen Nachwuchsspielern inklusive Dragoslav. Die „jungen Wilden“ kämpfen von Anfang an gegen den Abstieg, verlieren viele Spiele unglücklich, am Ende landet der OFK dann tatsächlich auf einem Abstiegsplatz. Aber die Glücksgöttin ist dem Traditionsklub hold. Die Liga wird von 16 auf 18 Vereine aufgestockt, so dass sich der OFK in einem Relegationsspiel gegen Priština (heute die Hauptstadt des Kosovo) durchsetzen kann.
Einige Monate zuvor, im April 1967, rasselt in der Wohnung der Stepanovićs das Telefon. Der OFK-Geschäftsführer Milorad Lisanin ist am Apparat: „Komm sofort ins Klubheim, du musst unterschreiben!“ Klick.
Dragoslav macht sich sofort auf den Weg. Sein Herz hüpft. Die Möglichkeit, seinen großen Traum wahr werden zu lassen, ist endlich da. Mit seiner Unterschrift unter seinen ersten Profivertrag verpflichtet er sich für vier Jahre beim OFK. Sein Gehalt beträgt monatlich 250.000 Dinar, ca. 200 Euro. Der Vertragsabschluss wird mit Jelena ausgiebig in einem der vielen Bootshäuser an der Save gefeiert. Beide Elternteile sind nicht anwesend, denn immer noch verweigern sie Dragoslav den Respekt und die Anerkennung seiner sportlichen Leistungen.
Unmittelbar nach seiner Beförderung in den Profikader beginnt der kometenhafte Aufstieg des Dragoslav Stepanović. Rasch ist er in ganz Belgrad als aufstrebender Nachwuchsspieler bekannt. Nur Jelena sollte stets behaupten, sie habe den Aufstieg ihres Freundes nicht wahrgenommen. Doch eines Tages hält ihr der Vater – Abonnent der Zeitung Politeka – einen Spielbericht unter die Nase: „Dein Freund ist ja Fußballspieler beim OFK!“
Jelenas komplette Familie ist Fan von Roter Stern Belgrad. Vater Jovanovićs Vorbehalte gegenüber Fußballern im Allgemeinen – und denen vom falschen Verein im Besonderen – erschweren das Verhältnis zu Dragoslav weiter: „Der hat doch nur Mädchen im Kopf, ist nicht treu und lässt den Star raushängen!“ Insgeheim hat der Vater Angst, seine begabte Tochter könnte durch Dragoslav ihr geplantes Medizinstudium aus den Augen verlieren.
Doch Dragoslav und Jelena lassen sich von der Ablehnung ihres Vaters nicht beirren. Im April 1969 heiraten sie. Im kommunistischen, serbisch-orthodoxen Belgrad sind kirchliche Trauungen Mitgliedern der kommunistischen Partei streng verboten und auch für Normalbürger äußerst ungern gesehen, doch Dragoslav möchte seine Jelena unbedingt auch in einer Kirche heiraten. Selbst die nahezu unverhüllte Drohung, ihn aus der Nationalmannschaft zu werfen, bringt ihn nicht von diesem Ziel ab. Da Dragoslav in Belgrad bereits einen Prominentenbonus genießt, wird schließlich eine in anderen Ostblockländern undenkbare Ausnahmegenehmigung erteilt, so dass die Liebenden auch vor Gott in den Stand der Ehe treten dürfen. Sein tiefverwurzelter Glaube an Gott und seine Hartnäckigkeit haben hier förmlich Berge versetzt. Auch als man Dragoslav bittet, wenigstens darauf zu verzichten, sich beim Betreten des Rasens vor einem Spiel öffentlich zu bekreuzigen, und dieses Ritual in der Kabine zu vollziehen, lautet seine strikte Antwort: „Kommt nicht in Frage!“ Sein unerschütterliches Bekenntnis zu seinem Glauben macht auch jungen Menschen aus Belgrad Mut, sich zur Kirche zu bekennen und selbst einmal vor den Traualtar zu treten.
Jelena ist zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger. Getreu dem serbischen Sprichwort: „Wer früh aufsteht und früh heiratet, macht nie einen Fehler“, hat Dragoslav sie geheiratet und damit der Familienehre Genüge getan.
Die Hochzeit ist ein rauschendes Fest, eine wilde Feier aus Musik, Tanz und Sliwowitz. Auf jedem Tisch steht eine Flasche des serbischen Nationalgetränks, man trinkt aus großen Gläsern. Spät in der Nacht, die Band spielt, die Gäste singen aus voller Kehle, tanzen und trinken, setzt sich die Sängerin der Band plötzlich auf Dragoslavs Schoß und flirtet ihn ungeniert an. Der Bräutigam selber findet das amüsant; bis seine frisch Vermählte einschreitet und unmissverständlich klarstellt, wer Frau Stepanović ist. Das Showgirl macht sich von dannen, und bis heute passt Jelena auf ihren Dragoslav auf – seit nunmehr über 43 Jahren.
Auch beim Fußball ist Dragoslav im Aufwind. Doch der Erfolg fällt ihm nicht einfach zu, er muss hart dafür arbeiten. Dragoslav ist kein Überflieger, sein Körper noch nicht athletisch genug. Aber er hat eine riesige Ausdauer, die seine Gegner immer wieder in die Verzweiflung treibt. Willenskraft, Disziplin und Kampfeslust sind seine mächtigsten Verbündeten. Seine technischen Defizite verhindern jedoch, dass man ihn im offensiven Mittelfeld einsetzt, seiner Lieblingsposition. In seinen Träumen kickt er in einer Liga mit Pelé, Eusébio und Dragan Džajić; in der Realität ackert er in der Verteidigung.
Kurz nach der Hochzeit tritt der OFK in der jugoslawischen Liga gegen den Favoriten Partizan Belgrad an. Vor 50.000 Zuschauern schlägt der OFK seinen Erzrivalen mit 2:1 nach Rückstand. Dragoslav schießt den Ausgleichstreffer. Vater Zivomir und sein Bruder Dragomir springen jubelnd auf. Partizananhänger bedenken die beiden lautstark mit unflätigen Gesängen. Als Dragoslav später stolz nach Hause kommt, um mit seiner Familie zu feiern, schreit ihn sein Vater an: „Hast du auch gehört, wie sie deine Familie beschimpft haben?“
Auf dem Standesamt. Mutter Rosa, Schwiegervater Mihajlo, Jelena & Dragoslav, Schwiegermutter Doris, Vater Zivomir.
Damit ist Dragoslav ein Shootingstar geworden. Mit einem Mal ist er gesellschaft sfähig und für die Medien interessant geworden. Man lädt ihn zu Partys ein, will sich mit seiner Anwesenheit schmücken. Doch Dragoslav interessieren Glamour und rote Teppiche nicht. Lieber feiert, singt und tanzt er weiterhin mit seinen Freunden. Oft sieht man ihn mit dem Akkordeon in der Hand. Musik, seine dritte Liebe nach Jelena und dem Fußball. Die Nächte nach Siegen des OFK sind besonders lang.
Inzwischen ist auch der Spitzenklub Roter Stern Belgrad auf den Defensivspezialisten aufmerksam geworden. Dem OFK ist das nicht entgangen, will man Dragoslav doch mit allen Mitteln halten. Da ist es günstig, dass Dragoslav nach seiner Hochzeit eine eigene Wohnung für sich und seine Frau sucht – aber keine findet. Denn Wohnungen sind rar Ende der 1960er Jahre in Belgrad. Immer mehr Migranten ziehen im Zuge der Industrialisierung auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt. Zehntausende Wohnungen fehlen, also quartieren sich die Neuankömmlinge in den Waschküchen, Kellern und teils sogar den Fahrstuhlkabinen der neu gebauten Hochhäuser ein. Die wenigen vorhandenen teilt das Politbüro nur ausgewählten Bürgern zu. Selbst ein bekannter Fußballer wie Dragoslav Stepanović hat da keine Chance.
Der OFK nutzt seine Notlage und bietet ihm eine Wohnung an, sollte er seinen Vertrag um weitere vier Jahre verlängern. Dragoslav unterschreibt. Doch erst nach 15 Versuchen erhält er endlich den Schlüssel für die erste eigene Wohnung. Sie liegt im 17. Stock eines Plattenbaus in der Belgrader Vorstadt Konjarnik, mit einem unverbaubaren Blick auf die Autobahn direkt vor dem Haus.
Einige Monate später, Dragoslav und Jelena kommen gerade vom Besuch eines Spiels der jugoslawischen Basketballmannschaft zurück in ihre Wohnung, setzen bei Jelena die Wehen ein. Am 1. Dezember 1969 um 13:15 Uhr wird Sohn Vladimir geboren. Dragoslav ist stolz: ein Sohn! Den Neid und die Anerkennung der Mannschaftskollegen hat er sicher, denn sie haben alle Töchter. Mit Freunden feiert er drei Tage lang die Geburt. Dann erst macht er sich auf zu seinem Schwiegervater, um diesem zu seinem Enkelsohn zu gratulieren. Hier trifft er auf Skepsis, denn auch Mile Jovanović hatte man einst zu einem Sohn gratuliert, der sich dann als Jelena entpuppte.
Dragoslav und der knapp ein Jahr alte Vladimir.
In den kommenden Jahren kämpft sich Dragoslav immer weiter nach oben. Nach zwölf Spielen in der Juniorenauswahl beruft man ihn sogar in die A-Nationalmannschaft . Sein Debüt gibt er am 8. April 1970 beim 1:1 in Sarajevo gegen Österreich. Zuvor hatte sein serbischer Trainer im Verein Gojko Zec seine guten Kontakte zu Nationaltrainer Rajko Mitić spielen lassen und Dragoslav eindringlich empfohlen.
Als er sich in der Kabine zum ersten Mal in seinem Leben das blaue Trikot mit dem Stern überstreifen darf, wird ihm ganz mulmig zumute. Der große Traum hat sich erfüllt. In diesem Moment muss er kurz an den alten Herrn Olaveveć denken, wie er ihn damals von der Straße auf den Fußballplatz gezogen hatte. Warum gerade ihn – er wusste es nicht. Er beginnt zu zittern, und seine Gefühle, die er beim Abspielen der Nationalhymne verspürt, will er für immer bewahren und in seinem Herzen tragen.
Blaue Träume – endlich im Dress der Nationalmannschaftt
Bei einer seiner Reisen mit der A-Nationalmannschaft kommt Dragoslav mit dem westlichen Kapitalismus in Berührung. Anlässlich des Länderspiels am 9. Mai 1973 im Münchner Olympiastadion gegen Deutschland (u.a. mit Beckenbauer, Hoeneß und Overath) wurde die jugoslawische Mannschaft im fränkischen Herzogenaurach einquartiert.
Ausrüster der jugoslawischen Mannschaft ist Adidas. In Nürnberg fängt ein Vertreter der Konkurrenz von Puma die Spieler ab – und bietet jedem 300 Mark, wenn sie das Länderspiel in Puma-Schuhen bestreiten, genauer: wenn der weiße Puma-Streifen zu sehen ist. 300 Mark sind für die damalige Zeit viel Geld, und so entscheiden sich die Spieler, die drei Streifen von ihren Adidas-Schuhen zu entfernen und anschließend das Puma-Emblem mit weißer Farbe aufzumalen.
Auswahltrainer Vujadin Boškov erfährt davon erst auf dem Weg ins Stadion – und tobt vor Wut. Er befiehlt seinen Spielern, das aufgemalte Logo mit schwarzer Schuhcreme abzudecken. Die Spieler tun wie befohlen, wischen während des Aufwärmens jedoch die Schuhcreme wieder von ihren Schuhen. Beim Abspielen der Nationalhymne stehen alle Spieler dann in Schuhen mit einem weißen Puma-Logo auf dem Platz.
Adidas kann diese Aktion nicht auf sich beruhen lassen und lädt die Jugoslawen in die Zentrale nach Herzogenaurach ein. Der Puma-Vertreter bekommt Wind von der Sache – und fängt die Mannschaft auf dem Weg erneut ab. In der Puma-Zentrale, ebenfalls in Herzogenaurach gelegen, bekommen alle Spieler einen kompletten Puma-Dress. Zurück im Hotel – das wiederum zu Adidas gehört –, sorgt das Auftreten der Jugoslawen im Puma-Dress für Sprachlosigkeit.
Trainer Boškov jedoch ist sauer. Er sorgt dafür, dass die Mannschaft zum nächsten Länderspiel gegen Polen wieder komplett in Adidas-Schuhen auftritt.
Wenigstens ihn hatte Adidas überzeugen können.
Auch gleich zum Anfang seiner Länderspielkarriere ging es gegen Deutschland. Am 13. Mai 1970 fand in Hannover das Vorbereitungsspiel der Deutschen für die WM in Mexiko statt. Dragoslav sah sich Stürmern wie Uwe Seeler, Gerd Müller und Stan Libuda gegenüber. Für Dragoslav, der auf der ungewohnten Innenverteidigerposition spielen musste, lief es nicht optimal. Zum einen ging das Spiel mit 1:0 verloren, zum anderen war er nicht ganz unbeteiligt, denn ein klassisches Missverständnis zwischen ihm und der jugoslawischen Torwartlegende Enver Marić führte nach einem Eckball zum Siegtreffer der Deutschen durch einen Kopfball Uwe Seelers. „Als der Ball in den Strafraum segelte, haben wir beide gleichzeitig gerufen: ,Nimm du ihn!‘, und der eine hat sich auf den anderen verlassen. Uwe hat unsere Unentschlossenheit ausgenutzt und Danke gesagt“, erinnert sich Dragoslav. Insgesamt spielte er dreimal gegen Deutschland, am 18. November 1970 gewannen die Jugoslawen mit 2:0 in Zagreb gegen Netzer und Co.
1970 und 1971 stehen die Qualifikationsspiele für die EM 1972 in Belgien an. Gegner der jugoslawischen Elf in der Gruppe sieben ist neben den Mannschaften der DDR und Luxemburgs das aufstrebende niederländische Team um Superstar Johan Cruyff. Nach einem hart umkämpften 1:1 in Rotterdam setzen sich die Jugoslawen im April 1971 in Split mit 2:0 durch. Dragoslav Stepanović zeigt in beiden Spielen eine überragende Leistung, die Johan Cruyff, einem der weltbesten Fußballspieler dieser Zeit, folgende Lobeshymne abverlangte: „Wir haben in Holland sehr viele Džajić, wir bräuchten nur einen einzigen Stepanović.“
1971. Dragoslav ist jetzt 23 Jahre alt. Im gleichen Jahr wird er von den 18 Kapitänen der ersten jugoslawischen Liga zum „Fußballer des Jahres“ gewählt. Welch eine Ehre – für die Fußballer in Jugoslawien zählen die Stimmen der Kollegen ein Vielfaches mehr als die Pressemeinung. Er befindet sich auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Fähigkeiten und erreicht den Zenit seiner aktiven Laufbahn. Beim OFK Belgrad avanciert er zum Star.
„Nie war ich besser als in diesem Jahr“, stellt er später fest.
Im Juli 1971 verkündet Nationaltrainer Vujadin Boškov, der schon die Belgrader Stadtauswahl in Nürnberg betreut hatte, seinen Mannen, dass bald eine Länderspielreise nach Brasilien anstehen wird. Als Boškov die verdutzten Augen seiner Spieler sieht, erklärt er: „Männer, wir fahren nach Rio und bestreiten dort das Abschiedsspiel von Pelé.“
Boškov führt weiter aus, dass Pelé sich speziell die Jugoslawen als Gegner gewünscht hatte, da er sie als „Brasilianer des Balkans“ ansah. Die Aufregung ist natürlich groß, alle reden wild durcheinander. Viele Spieler würden am liebsten sofort und zu Fuß an den Zuckerhut eilen. Für Dragoslav bedeutet dies die Chance seines Lebens, um sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Es sollen einmalige und unvergessene Tage werden, und das nicht nur fußballerisch, denn über das verhängte Ausgehverbot wird großzügig hinweggesehen.
Die Jahre 1970 bis 1973 sind für Dragoslav die erfolgreichsten seiner Spielerkarriere. Er hat nur das Pech, dass die jugoslawische Nationalmannschaft in den 1970er Jahren nicht mehr an die erfolgreichen Zeiten der 1950er und frühen 1960er anknüpfen kann. 1966 und 1970 kann sich die Elf nicht für die Weltmeisterschaft qualifizieren.
Der Terminus „Nationalmannschaft“ ist in diesen Jahren eher ein Paradoxon: Zwar repräsentieren die Spieler eine Nation – den Vielvölkerstaat Jugoslawien –, doch für die Plavi (die Blauen) laufen Spieler verschiedener Ethnien auf, insbesondere Serben, Kroaten, Bosnier und Slowenen. Ihre historischen, kulturellen und religiösen Hintergründe sind derart unterschiedlich, dass der Balkan schon seit Jahrhunderten als Pulverfass gilt. Allein dem autoritären Führungsstil Josep Titos ist es geschuldet, dass diese gesellschaftliche Klammer schon über Jahrzehnte hielt.
Dragoslav liebt sein Land. Hier herrscht – im Gegensatz zu den anderen Ostblockstaaten – ein vergleichsweise liberales Klima. Politik und Gesellschaft sind hier offener und lockerer, was auch an den vielen Völkern und Religionen liegt, die sich alle unter dem Dach der Volksrepublik Jugoslawien vereinen. Belgrad wird zu einer Kultstätte für Künstler aus aller Welt: Laurence Olivier, Vivien Leigh, Richard Burton, Elizabeth Taylor kommen häufig zu Besuch.
Dragoslav sieht aber auch die Widersprüchlichkeiten des sozialistischen Systems, schmunzelt über die immer wiederkehrenden Parolen und Aufrufe zur „Brüderlichkeit und Einheit der Volksgenossen“. Auch die wirtschaftlichen Probleme sind unübersehbar. Er sieht, wie Tito beharrlich versucht, den „jugoslawischen Weg“ des Sozialismus voranzutreiben, immer in Gefahr, zwischen den beiden großen politisch-militärischen Blöcken zerrieben zu werden. Ein Balanceakt im Kalten Krieg, ein Tanz auf dem Vulkan. Dragoslav beschließt, sich aus der großen Politik rauszuhalten, er hat sich dem Fußball verschrieben. Und hier ärgert er sich immer häufiger darüber, dass man ihn nicht ins Ausland ziehen lässt.
Auf internationalem Terrain
Im UEFA-Pokal 1972/73 spielt Dragoslav eines der besten Spiele seines Lebens. Im ausverkauften OFK-Stadion tritt seine Mannschaft in der Rückrunde gegen Feyenoord Rotterdam an. In der Hinrunde hatten die Niederländer den OFK in „De Kuip“ mit 4:3 geschlagen. Dragoslav ist Verteidiger auf der linken Außenbahn. Unter ohrenbetäubenden Lärm macht Dragoslav den entscheidenden Siegtreffer zum 2:1. Als der Ball die Torlinie überquert, will er die ganz Welt umarmen. Der OFK schafft es bis ins Viertelfinale, wo er vom FC Twente Enschede geschlagen wird.
Das Spiel gegen Feyenoord wird von Talentsuchern in aller Welt aufmerksam beobachtet. Wenige Tage nach dem Spiel meldet sich dann ein Vertreter Feyenoords bei Dragoslav und will ihn abwerben. Er ist verwundert ob der Anfrage der Holländer, schon lange wartet er auf einen Anruf von Roter Stern Belgrad. Der Haken: Zur Zeit des Sozialismus dürfen jugoslawische Nationalspieler, die jünger als 28 Jahre sind, das Land nicht verlassen. Andernfalls droht ihnen eine zweijährige Sperre für den neuen Verein und die Nationalelf, das will Dragoslav natürlich vermeiden. Für einen Wechsel ist er also zu jung, und das Ausland muss warten.
Weitere Angebote folgen. Auch die Funktionäre von Partizan Belgrad, die ihn nach dem Probetraining einst als untalentiert abgelehnt hatten, buhlen nun um seine Gunst. Das Thema beschäftigt wochenlang die Sportgazetten der Stadt.
Auch privat geht es weiter aufwärts: Jelena bekommt im Frühjahr 1973 das zweite Kind. Beide sitzen gerade auf dem Sofa und schauen ein Fußballspiel im Fernsehen an, als die Wehen einsetzen. Jelena und ihre Mutter, die zu Besuch ist, drängen Dragoslav zum Aufbruch. Doch dieser denkt nicht daran, wird das Spiel doch immer spannender. Seiner Frau teilt er mit, dass sie wohl noch 20 Minuten durchhalten könne, bis das Spiel vorbei sei.
„Du Idiot, fahr endlich los! Mir ist gerade die Fruchtblase geplatzt!“ Jelena schreit hysterisch, es fallen jede Menge serbischer Schimpfwörter. Der Blick der Schwiegermutter ist tödlich. Die Nachbarn rufen von nebenan. Eine Szene wie im Theater. Dragoslav springt auf wie von der Tarantel gestochen und bugsiert Jelena ins Auto. Unterwegs hält er weder an roten Ampeln noch kümmert er sich um Tempolimits. Rechtzeitig erreichen sie das Hospital, wo sie Tochter Ivana nach drei Stunden stolz in den Händen halten.
Einige Monate später, Dragoslavs Vertrag beim OFK läuft bald aus, stehen neue Verhandlungen an. Der OFK sucht nach neuen Wegen, seinen Jungstar für weitere vier Jahre an sich zu binden. Sie laden Dragoslav zu den Verhandlungen ins Vereinsheim ein. Der Tisch dort ist reich gedeckt, Whisky und Wodka in rauen Mengen vorhanden, im Hintergrund spielt eine serbische Folklorekapelle. Genau, wie er es liebt. Was vor fünf Jahren noch zum Erfolg geführt hätte, lockt diesmal jedoch nur noch ein Grinsen hervor. Es hindert Dragolav aber nicht daran, bis in den frühen Morgen mit dem Vereinsvorstand zu feiern. Um fünf Uhr in der Früh schließlich zieht der Präsident den neuen Vertrag aus der Tasche. Dragoslav muss nur noch unterschreiben. Er lehnt ab. Bald darauf verletzt sich Dragoslav schwer. Bei einem Spiel der Nationalmannschaft zieht er sich einen Schaden am Innenmeniskus zu. Er fällt für Monate aus. Nun erst gibt ihn der OFK frei. Dragoslav wechselt zu Roter Stern Belgrad.
Endlich Roter Stern Belgrad
„Wenn du da spielst, dann hast du es geschafft!“
Die Worte des Schaffners klingen noch immer in seinen Ohren. Dragoslavs großer Traum ist wahr geworden. 1973: Er spielt bei Roter Stern Belgrad. Er hat es geschafft. Endlich darf er das rotweiß gestreifte Trikot überziehen. Anfang der 1970er Jahre steht der Verein auf einer Stufe mit Real Madrid oder Ajax Amsterdam.
Trainer ist Miljan Miljanić, die Trainerlegende von Roter Stern Belgrad. In den vergangenen sieben Jahren hat er viermal die Meisterschaft und dreimal den Landespokal mit den Rot-Weißen geholt. Seit Sommer 1973 ist er zugleich Trainer der jugoslawischen Nationalmannschaft. Miljanić will Dragoslav unbedingt haben, hatte schon zwei Jahre um seine Gunst gebuhlt.
„Unglaublich, ich spiele bei Roter Stern. Ob sich Mama freut, ob sie stolz auf mich ist?“, fragt sich Dragoslav. Er sollte nie eine Antwort darauf bekommen, warum seine Mutter immer gegen den Fußball war. Im Moment seines großen Triumphes muss er auch an Jelena denken. Eigentlich hatte sie ja Medizin studieren wollen, um später einmal als Ärztin arbeiten zu können. Sie hatte auf ihren Traum verzichtet und auch ihre Interessen für Dragoslav zurückgestellt. Wie eine Löwin hatte sie jeden Tag für die kleine Familie gekämpft, sie war ihr heilig. Jelena ist es, die ihm immer den Rücken freihielt und bis heute freihält und dadurch seine Karriere förderte. Er sollte sich ganz auf den Fußball konzentrieren und unbeschwert aufspielen können.
Für ihn war es wie für die meisten Männer: Er sah es lange als selbstverständlich an, dass sich die Frau um den Haushalt und die Kinder kümmert. Viel zu beschäftigt war er mit sich und dem Fußball. Aber er bewunderte sie und war stolz auf sie. „Was für eine tolle Frau“, dachte er.
Sein erster Besuch bei Roter Stern führt ihn in das ruhmreiche Vereinsmuseum, er hat schon viel von dem Museum gehört. Dort trifft er auf die stadtbekannte Milena Pavlović, die seit Jahrzehnten die Trophäen von Roter Stern Belgrad hegt und pflegt. Als Dragoslav eintritt, ist sie gerade dabei, einen der großen Pokale zu säubern. Sie lacht ihn an, erkennt den neuen Star sofort.
„Hallo, schön zu sehen, dass Sie sich für die Geschichte unseres Klubs interessieren“, begrüßt sie ihn. Sie führt ihren Besucher durch das Museum. Dragoslav staunt, als ihn Frau Pavlović erzählt, dass der Verein kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges im März 1945 von Mitgliedern einer antifaschistischen Vereinigung gegründet wurde. „Als Zeichen des Sieges des Sozialismus über den Faschismus habe man den roten Stern als Vereinssymbol gewählt“, erzählt ihm die Museumsleiterin. Sie deutet auf die Vitrine, in der die vielen Pokale stehen. Dragoslav erkennt erst jetzt, wie deutlich seine Rot-Weißen den jugoslawischen Fußball der 1950er und 1960er Jahre dominiert haben. Zusammen mit Partizan Belgrad, Dinamo Zagreb und Hajduk Split gehörte der Klub zu den großen Vier des jugoslawischen Fußballs. Dragoslav bekommt eine Gänsehaut, ist stolz, nun ein Teil dieses ruhmreichen Traditionsvereins zu sein. Der Verein ist in ganz Serbien die Nummer eins. Dreiviertel aller Fußballfans in Belgrad sind „Delije“, die „Mutigen“ bzw. „Helden“, wie sich die Fans vom Roten Stern nennen.
„Und das ist Rajko Mitić!“, sagt Dragoslav zu Frau Pavlović und schaut auf ein großes Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand. „Ja, das ist er, unser größter Sohn!“ Jetzt erzählt sie Dragoslav von den über 570 Spielen, in denen Mitić von 1945 bis 1958 unglaubliche 262 Tore für Roter Stern Belgrad erzielt hatte. Bevor Dragoslav das Museum verlässt, wünscht Frau Pavlović ihm viel Glück. Sie umarmen sich.
Dragoslav ist immer noch verletzt, aber fest entschlossen, sich zurückzukämpfen. Im Winter 1973 sieht man ihn im Trainingsanzug durch das schneebedeckte Belgrad laufen. Er trainiert bei jeder Witterung. Er ist ehrgeizig. Die Ärzte warnen ihn davor, nicht zu früh zu viel zu wollen. Trotz Schmerzen macht er weiter. Er will unbedingt zurück.
Kaum von seiner Meniskusverletzung genesen, zieht sich Dragoslav neue Blessuren zu. Diesmal so schwer, dass er eine langwierige Reha absolvieren muss, die sonst nur bei schwer verunglückten Bergleuten angewendet wird.
Roter Stern ist im Frühjahr 1974 im Europapokal der Landesmeister bis ins Viertelfinale vorgestoßen, nachdem man zuvor den FC Liverpool aus dem Wettbewerb geworfen hatte. Im März steht das Hinspiel gegen Atlético Madrid im heimischen Stadion an. Der Rekonvaleszent kämpft und tut alles dafür, um dabei sein zu können, er will unbedingt auf die große Bühne zurückkehren. Es gelingt nicht. Sein Team scheidet aus dem Wettbewerb aus. Aber Dragoslav kämpft sich langsam zurück.
Sein größtes Ziel ist nun die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland. Ab 1972 konnte Dragoslav alle Qualifikationsspiele zur WM absolvieren. Nach den Gruppenspielen lagen Jugoslawien und Spanien gleichauf, es musste ein Entscheidungsspiel her. Dieses findet am 13. Februar 1974 in Frankfurt statt. Jugoslawien qualifiziert sich durch ein 1:0, ohne den verletzten Dragoslav. Das gesamte Land jubelt.
Bei einem der letzten Saisonspiele des Roten Sterns in Mostar wird Dragoslav brutal gefoult. „Nicht schon wieder, und das so kurz vor der Weltmeisterschaft“, denkt er. Sein Innenmeniskus wird in mehr als 300 Teile zerfetzt. Dragoslav ist am Boden zerstört. Der nächste Traum ist ausgeträumt, er muss seine Teilnahme an der Weltmeisterschaft absagen.
Als er vom ärztlichen Befund hört, wirft es ihn um. Ständig diese Verletzungen, und das mit gerade einmal 26 Jahren. Immer wieder hatte er sich zurückgekämpft. Was wäre eigentlich, wenn er nicht mehr Fußball spielen könnte? Eine Rückkehr in seinen erlernten Beruf als Gesundheitspolizist konnte er ausschließen.
Gerade die Weltmeisterschaft 1974 hätte sein Turnier werden sollen. Dafür hatte er alles getan und vielleicht seinem Körper zu viel zugemutet. Auf der Bühne der ganz Großen zu gastieren, das wäre es gewesen. Alle international angesehenen Klubs hatten dort ihre Späher, die nach guten Spielern Ausschau hielten. Er dachte an Real Madrid, Juventus Turin oder den AC Mailand.
„Was ist denn mit dir los? Wie siehst du denn aus?“, fragt Jelena. „Wie soll es jetzt weitergehen?“ Sie macht sich Sorgen um ihren Dragoslav. „Ist nichts passiert, meine Liebe“, antwortet er nach einer längeren Pause. „Wir haben es bis hierher geschafft, und wir werden weiter kämpfen. Ich werde wieder gesund, und dann gehen wir ins Ausland. Hinter den Wolken scheint die Sonne“, sagt er und nimmt Jelena in den Arm.
Just am Tag des WM-Spiels Jugoslawien gegen Brasilien (0:0) liegt er in Belgrad auf dem Operationstisch. „Wenn du 40 oder 50 Jahre alt bist, wirst du unheimliche Schmerzen bekommen. Aber du wirst bald wieder Fußball spielen können“, sagt ihm der Chirurg kurz vor der Narkose. Schon elf Tage nach der Operation beginnt er wieder mit dem Lauftraining.
Die WM verfolgt er vom Krankenbett aus. Dass sich niemand von den Spielern bei ihm meldet, enttäuscht ihn. Aber hatte er sich bei ihnen gemeldet, Ihnen alles Gute gewünscht?
Nach der WM erholt sich Dragoslav und kann endlich wieder schmerzfrei Fußball spielen. Doch seine Ära bei Roter Stern steht unter keinem guten Stern.
Im Sommer 1975 erhält Dragoslav seine Einberufung zum Militär. Auch für Profifußballer gibt es im Sozialismus keine Ausnahme. Er wird auf einen Posten in der Nähe des bosnischen Trebinje versetzt, in die Einöde zu Wölfen und Bären, fernab von jedem Fußballplatz. Über ein Jahr muss er dort verbringen. Alle kennen den Nationalspieler von Roter Stern Belgrad. In der Kaserne ist er der Star. Der Koch widmet ihm spezielle Gerichte, die er diskret in der Küche zu sich nimmt. Der Kommandant der Einheit, ein Mitglied von Roter Stern, diskutiert bei Sliwowitz über Fußball und ist großzügig, wenn es um Heimaturlaub geht.
Im gleichen Jahr wird Ante Mladinić neuer Nationaltrainer. Dragoslav weiß, was das für ihn bedeutet. Mladinić kann ihn nicht leiden, was er ihn auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren lässt. Im Kader für die anstehende Europameisterschaft 1976 im heimischen Jugoslawien bleibt die Position des Linksverteidigers unbesetzt. Eine Demütigung für den stolzen Dragoslav. Auf Nachfrage erklärt Mladinić der entsetzten Belgrader Presse, dass er Stepanović aufgrund einer angeblich geschwänzten Spielersitzung kurzfristig aus dem Kader suspendiert hatte. Dragoslav ist fassungslos, denn niemand hatte ihn über die kurzfristig anberaumte Mannschaftssitzung informiert. Während Ante Mladinić zwei Stockwerke tiefer seine Mannschaftssitzung abhält, sitzt Dragoslav nichtsahnend bei Kaffee und Kuchen in seinem Zimmer.
Am 24. Februar 1976 bestreitet Dragoslav Stepanović in Algier gegen Algerien sein 34. und gleichzeitig letztes Länderspiel.
Der Ruf des Westens
1976, Dragoslav ist inzwischen 28 Jahre alt. Alt genug, um ins Ausland wechseln zu können. Von seinem Manager Kalicanin erfährt er, dass Eintracht Frankfurt Interesse am Verteidiger hat. Als Eintracht-Trainer Dietrich Weise nach zwei Pokalsiegen in den Jahren 1974 und 1975 den Verein im Sommer 1976 verlässt, sucht der neue Trainer Hans-Dieter Roos einen Verteidiger. Kalicanin kann für Dragoslav ein Probetraining in Frankfurt vereinbaren. Bei der Übungseinheit lässt Roos Dragoslav gegen den jungen Hoffnungsträger der Eintracht, Ronald „Ronny“ Borchers, antreten.
Roos schießt einen Ball in die Luft und fordert die beiden Spieler auf, sich diesen im Zweikampf zu erobern. Diese 1:1-Übung zieht sich fast eine gute halbe Stunde hin, bis Dragoslav Roos in gebrochenem Deutsch zurief: „Du weißt, dass ich Nationalspieler bin?“ Roos lacht, beendet daraufhin das Training – und Dragoslav Stepanović ist der Wunschkandidat.
Ronny Borchers, damals gerade aus der A-Jugend der Eintracht in den Profikader aufgestiegen, kann sich noch gut erinnern, „dass der Dragoslav mit seiner Erfahrung vieles wettgemacht hat, obwohl ich wirklich schnell war. Er hatte eine gute Übersicht und blieb in brenzligen Situationen ruhig.“ Nach dem Training war er „herzlich und hat nicht den Star gegeben. Wir haben uns auf ihn gefreut“, so Borchers.
Die Eintracht macht ihm ein Angebot, und man wird sich einig. Geschäftsführer Jürgen Gerhardt reist nach Rotterdam, um den Vertrag mit Dragoslav am Rande eines Freundschaftsspiels von Roter Stern gegen Feyenoord unter Dach und Fach zu bringen. Die Ablösesumme steht fest, nach dem Spiel soll Dragoslav unterschreiben. Doch dann funkt Vujadin Boškov dazwischen.
Der ehemalige Nationaltrainer Jugoslawiens, der emsige Adidas-Verfechter von 1970, ist mittlerweile Trainer bei Feyenoord Rotterdam und hat ebenfalls starkes Interesse an seinem Landsmann. Kurz vor dem Spiel macht er Dragoslav heimlich ein attraktiveres Angebot als die Eintracht. Sowohl die Ablösesumme als auch das Spielergehalt liegen deutlich über dem, was die Frankfurter bieten.
Dragoslav soll sich schnell entscheiden. Plötzlich flüstert ihm sein aus dem Nichts aufgetauchter, ehemaliger (und 1995 verstorbener) Trainer Gojko Zec, der die Buschtrommeln gehört hat und weiß, um was es geht, im Vorbeigehen etwas ins Ohr: „Ein Serbe steht zu seinem Wort.“ Punkt. Ein Mann, ein Wort. Eine Änderung seiner getroffenen Entscheidung steht für Dragoslav nicht zur Debatte. Er unterschreibt bei Eintracht Frankfurt und verzichtet dadurch auf mindestens 100.000 Mark.
Nach 231 Spielen für den OFK sowie Roter Stern Belgrad bricht Dragoslav kurz vor dem Ende der Hinrunde 1976/77 seine Zelte in Belgrad ab und geht ins Ausland.
Es war ihm nicht vergönnt, die verdienten Früchte zu ernten. Am Ende der Serie werden die Belgrader zum zwölften Mal jugoslawischer Meister, nachdem sie zuvor eine für diesen erfolgsverwöhnten Klub ungewöhnlich lange vierjährige Durstrecke ohne Titelgewinn hatten zurücklegen müssen.
Kurz vor seinem Wechsel, beim 2000. Spiel des Roten Stern, erwies ihm Gojko Zec, der ab der Spielzeit 1976/77 Roter Stern trainierte und somit sein erster und letzter Trainer in Belgrad war, die Ehre, ein einziges Mal als Kapitän die Mannschaft auf das Spielfeld zu führen.
Am nächsten Tag ging es nach Frankfurt.