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EINLEITUNG

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Zur Geschichte der Gerechtigkeit und der Freiheit gibt es Regale voller Bücher. Keinen eigenen Biografen hat dagegen bisher die Geschichte der Gleichheit gefunden. Wir haben nichts, was mit Platons Über das Gerechte (besser bekannt als Politeia) oder John Stuart Mills On Liberty vergleichbar wäre. Merkwürdig – ist doch die Gleichheit ähnlich bedeutsam wie diese beiden Werte; und das galt niemals so wie heute. Einerseits ertrinken wir in Texten, die uns vor den Gefahren immer tieferer sozio-ökonomischer Gräben warnen, und in Bewegungen, die gegen diese Gräben aufbegehren.1 Andererseits ist das Gegenteil der Gleichheit, nämlich die Diskriminierung, heute nicht nur ein Tabu, sondern muss gar als Druckmittel für alle möglichen glaubwürdigen und unglaubwürdigen Reformen herhalten.

Dabei sind die drei Begriffe so eng miteinander verwoben, dass sie gar nicht zu trennen sind. Wo keine Gleichheit ist, kann es weder Gerechtigkeit noch Freiheit geben. Andererseits ist die Gleichheit nicht frei von Risiken. Wird sie zu weit getrieben, so ist leicht der Punkt erreicht, an dem sie sowohl Freiheit als auch Gerechtigkeit einschränkt oder gar aufhebt. Es dürfte weitgehend Konsens darüber herrschen, dass sowohl Individuen als auch Gemeinschaften, um ein »gutes Leben« führen zu können, eine ausgewogene Mischung aus allen drei Merkmalen benötigen. Ein verständliches Konzept vorzulegen, wie genau diese Mischung auszusehen hat, übersteigt freilich unsere Möglichkeiten. Stattdessen wird dieser Band, immer vor dem Hintergrund der beiden anderen Konstituenten der Begriffstrios, die Geschichte der Gleichheit seit frühester Zeit nachzeichnen. Inbegriffen sind dabei ihr Ursprung, ihre Entwicklung, die verschiedenen Erscheinungsformen sowie Kosten und Nutzen ihrer Umsetzung.

Auf den ersten Blick ist die Gleichheit ein einfaches Konzept – was wäre simpler? Die Wirklichkeit aber sieht ganz anders aus. Um das nachzuvollziehen, braucht man nur den verbalen Schlingerkurs des großen chinesischen Revolutionärs und Reformers Sun Yat-sen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verfolgen. Sun Yat-sen wurde teilweise in Hawaii und im britischen Hongkong erzogen und kam weit in der Welt herum. Zurück in der Heimat, wurde ihm klar, dass der Gleichheitsgedanke für sein eigenes Volk zu weit ging. Besonders problematisch waren insofern die Mitglieder der städtischen, besser gebildeten Klassen, die im Wesentlichen sein Publikum waren. Nur sie konnten annähernd verstehen, wovon er eigentlich sprach, aber zugleich, so merkte er, mussten sie sich davon fast zwangsläufig bedroht fühlen. Dem versuchte er mit allen Mitteln entgegenzuwirken. Die Einführung der Demokratie, so sagte er, würde zu politischer Gleichheit führen: Jedermann hätte das Recht, zu wählen und gewählt zu werden. Dabei aber bleibe es: Das traditionelle chinesische System der »wahren Gleichheit« oder Harmonie, nach der der »Weise« ganz oben auf der sozialen Leiter steht und der »Dumme« und »Niedrigere« ganz unten, bliebe intakt. In Suns bekanntestem Werk, Die drei Prinzipien des Volkes, findet die Gleichheit kaum überhaupt Erwähnung.2

Es gibt Gleichheit vor Gott und Gleichheit hier auf Erden. Es gibt natürliche Gleichheit und die Sorte Gleichheit, die erst die menschliche Gesellschaft hervorbringt. Manch einer fordert Gleichheit sogar auch für Tiere und Pflanzen. Es gibt körperliche Gleichheit und geistige Gleichheit. Es gibt ökonomische Gleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Es gibt bürgerliche Gleichheit, politische Gleichheit, Chancengleichheit und Gleichheit im Tod. Es gibt Gleichheit unter Individuen und Gleichheit unter Gruppen, Nationen und Rassen. In Aldous Huxleys Schöne neue Welt gilt als selbstverständlich, dass beim Menschen (und zwar bei Mann und Frau, wenngleich Huxley das nicht ausdrücklich sagt) Gleichheit in Bezug auf die physikalisch-chemische Substanz besteht, sonst aber in keiner Hinsicht.3 Und damit ist die Liste noch lange nicht zu Ende. Daher lässt sich die Gleichheit schlicht nicht definieren – und statt mich in dieser hoffnungslosen Mission zu versuchen, habe ich mich entschieden, ihre Geschichte zu schreiben.

Um ganz vorne zu beginnen: Ist Gleichheit in irgendeinem Sinn »natürlich«? Falls nein, wann, wo und warum kam der Gedanke dann auf? Welche Formen nahm die Gleichheit an? Welche Rolle spielte sie in der menschlichen Geschichte? Wie interagierten Theorie und Praxis? Nähern wir uns allmählich einem Zustand der Gleichheit an? Worin liegen ihre Versprechungen? Worin ihre Risiken? Zur Beantwortung dieser Fragen werden wir uns zunächst der Tierwelt zuwenden, allerdings nicht allen Arten von Geschöpfen, die Gegenstand der Zoologie sind. Wäre es wirklich sinnvoll, uns mit Skorpionen oder Goldfischen zu vergleichen? Vielmehr begrenzen wir die Diskussion auf Säugetiere und unsere nächsten Verwandten, die Primaten. Als nächstes darf eine Betrachtung der einfachsten bekannten menschlichen Gemeinschaften nicht fehlen, der so genannten Hordengesellschaften oder – bei einer geringfügig stärkeren Organisationsform – akephalen (herrschaftsfreien) Gesellschaften. Wie sich herausstellen wird, herrscht selbst dort innerhalb wie außerhalb der Familie keineswegs absolute Gleichheit. Wie schon der Name sagt, waren Häuptlingstümer, bis vor gar nicht so langer Zeit weltweit die häufigste Form politischer Organisation, noch deutlich weniger egalitär als akephale Gesellschaften. Vieles deutet darauf hin, dass vor und noch lange nach der Einführung des Begriffs ›Gleichheit‹ durch die modernen Imperialisten die Bevölkerungen der meisten Häuptlingstümer nicht einmal die Bedeutung des Wortes ›Gleichheit‹ erfassen konnten.

Das erste Volk, das Staatswesen entwickelte, die auf einer Form von Gleichheit beruhten, waren unserer Kenntnis nach die antiken Griechen ab etwa 650 vor Christus. Warum, wann und wie der Gedanke dort aufkam, ist unklar. Das Experiment, das mehrere verschiedene Formen annahm, lief in relativ kleinem Maßstab ab und dauerte insgesamt etwa dreihundert Jahre. Für die nächsten beinahe zweitausend Jahre blieb es praktisch einzigartig. Vergessen wurde es freilich nie, und seine Auswirkungen auf die moderne Welt waren überwältigend. Bis heute vergeht kaum ein Monat ohne die Publizierung einer neuen Abhandlung über seine Entstehung und seinen Verlauf. Daher werden auch wir es etwas detaillierter betrachten und sowohl die Vor- als auch die Nachteile diskutieren, wie sie von zeitgenössischen und nachträglichen Kritikern genannt werden.

Als zu Beginn des hellenistischen Zeitalters die Unabhängigkeit der griechischen Stadtstaaten zu Ende ging, schloss sich der Vorhang wieder. Von der römischen Republik an existierte Gleichheit in den meisten politischen Systemen vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht einmal als Ideal, geschweige denn in der Realität. Wo immer sie sich auch nur andeutungsweise bemerkbar machte, galt sie als Gefahr, gar als lebensbedrohend für die Grundlagen der sozialen Ordnung. Jeder Versuch, sie zu verwirklichen, musste mit den brutalst möglichen Mitteln unterbunden werden, was auch nicht selten geschah; und dies sowohl in zentralisierten Systemen wie den imperialen Reichen in all ihren Spielarten, als auch in dezentralisierten Feudalsystemen. Man könnte sogar behaupten, dass ungeachtet aller Unterschiede zwischen diesen beiden Organisationsformen gerade die Ungleichheit die große Gemeinsamkeit darstellte.

Wo immer und solange also diese Staatsformen existierten, konnte Gleichheit stets nur isoliert, vorübergehend und/oder als Ideal existieren. Besonders in Europa kam es durchaus zu einzelnen Erhebungen, Aufständen und Kriegen mit dem erklärten Ziel, eine Art von Gleichheit herzustellen oder zumindest die Ungleichheit zu mildern. Praktisch all diese Experimente wurden jedoch binnen Tagen, Wochen oder Monaten niedergeschlagen. Wie in George Orwells Farm der Tiere waren am Ende selbst die, die eine Zeitlang durchhielten, tendenziell zum Scheitern verurteilt. Häufig hatten die Anführer, einmal an die Macht gelangt, nichts Eiligeres zu tun, als sich auch zum Nachteil ihrer Anhänger erhebliche Privilegien zu sichern. Und selbst wenn das nicht der Fall war, sahen sie sich meist gezwungen, zur Repression zu greifen, also zu ungleich ausgeübter Gewalt, um die Gleichheit zu erhalten, die sie selbst eingerichtet hatten. Ein Zustand, der der Gleichheit nahekommt, ließ sich lediglich in den Klöstern finden – und das nicht nur in Europa –, oder aber in Utopien. Beides werden wir hier, wenn auch recht kurz, untersuchen.

Die nicht geringe Ehre, als erster eine politische Ordnung entworfen zu haben, die sich auf die Annahme gründet, dass jeder gleich geboren ist und niemand über mehr Rechte verfügt als jeder andere, kommt Thomas Hobbes mit seinem Leviathan (1651) zu. Ausgehend davon breitete sich der Gedanke bei verschiedenen Denkern der Aufklärung aus, die innig hofften, sie könnten in ihren eigenen Staaten Gleichheit erreichen. Allerdings mit einem Unterschied: Hobbes’ Bürger waren gleich in dem Sinn, dass keiner von ihnen über irgendwelche Rechte verfügte; das erachtete er als wesentlichen Aspekt, um sein Hauptziel zu erreichen, nämlich den Erhalt von Gesetz und Ordnung. Für seine Nachfolger hingegen war die Gleichheit eine Vorbedingung für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie wollten die Privilegien der Oberklassen aufheben, damit Angehörige der Mittelklasse wie sie selbst so schnell und so weit vorpreschen konnten wie möglich. Aus diesem Grund wird ihre Version der Gleichheit häufig als liberale Gleichheit bezeichnet. Allesamt hätten sie unterschrieben, was der bekannte Historiker Lord Acton im Cambridge des späten 19. Jahrhunderts sagte: »Macht [das heißt eine Situation, in der einige Menschen ungleiche Macht über andere ausüben] verdirbt, und absolute Macht verdirbt absolut.«4

Manch einer könnte hier vielleicht einwenden, dieses Buch sei zu eurozentrisch angelegt. Es stimmt, dass gelegentlich auch in anderen Teilen der Welt Gleichheitsträume geträumt wurden; mit einigen davon werden wir uns auch kurz befassen. Doch noch einmal: Abgesehen von Klöstern und Aufständen war vor 1776 der einzige Ort, an dem diese je in reale Systeme umgesetzt wurde – und auch das nur in relativ kleinem Maßstab und nur für etwa dreihundert Jahre –, das antike Griechenland. Hobbes selbst war Europäer (auch wenn die Briten das weiterhin nur ungern eingestehen), ebenso die übrigen Propheten der liberalen Gleichheit. Obwohl der Kolonialismus sehr große Ungerechtigkeit schuf, ist es gerade ihm zu verdanken, dass sich diese liberale Gleichheit von Europa und dem europäisch besiedelten Nordamerika in weitere Weltteile ausbreiten konnte. Wie sagte einer meiner Lehrer gerne: Jahrhundertelang wussten die Menschen in den so genannten »Entwicklungsländern« nur nicht, dass auch sie gleich sind. Doch in den 1960er Jahren, und vor allem dank der Erfindung des kleinen Transistorradios, hatte die Botschaft auch sie erreicht – und sie schlug zurück.

Ebenfalls diskutieren müssen wir den Gleichheitsbegriff verschiedener Schulen von Sozialisten und Kommunisten. Diese gepaarten Bewegungen, aufgekommen im 19. Jahrhundert, spielten im 20. eine ganz entscheidende Rolle. Während der Kommunismus praktisch verschwunden ist, ist der Einfluss einiger Formen des Sozialismus in vielen Ländern weiterhin zu spüren und könnte sogar im Aufstieg begriffen sein. Auch die Frage der Rasse können wir nicht unbeachtet lassen. Wie eine der ersten wichtigen Arbeiten zum Thema, Arthur de Gobineaus Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (1853-1855), schon im Titel zeigt, sollte der Rassismus insbesondere die Überlegenheit einiger Menschen über andere nachweisen. Dass dieser Versuch in wissenschaftlicher Hinsicht gescheitert ist, muss kaum erwähnt werden. Doch paradoxerweise hatte auch die Bewegung, die die Rassendoktrin übernahm und als theoretische Grundlage für einige der furchtbarsten Verbrechen der Geschichte nutzte, zum Thema Gleichheit einiges zu sagen. Wer diese Tatsache ignoriert, verkennt sowohl die Natur des Nationalsozialismus als auch einige der Gründe, weshalb er eine Zeitlang so erfolgreich war. Und zugleich übersähe man damit einige der bedeutendsten Entwicklungen in der Welt nach 1945.

Ein eigenes Kapitel untersucht die Gleichheit der Frau sowie die von Minderheiten wie sexuell andersorientierten oder behinderten Menschen. Hier lässt sich nicht bestreiten, dass es einigen Fortschritt gegeben hat. Problematisch ist freilich, dass diese »Minderheiten« inzwischen zu einer Mehrheit angewachsen sind. Zunehmend begegnet die Gesellschaft der Minderheit, die in den entwickelten Ländern des Westens aus gesunden heterosexuellen weißen Männern besteht, mit Benachteiligungen. Und wie so oft in der Geschichte lässt sich Gleichheit für manche nur herstellen, indem alle anderen diskriminiert werden. Zu untersuchen ist auch, wie der Fortschritt von Wissenschaft und Technik die Gleichheit womöglich in Zukunft beeinflusst. Und schließlich braucht es ein Kapitel über die Gleichheit im Angesicht des größten aller Gleichmacher: nämlich des Todes und seiner Folgen.

Der oben erwähnte Lord Acton musste sein Vorhaben, eine Geschichte der Freiheit zu schreiben, aufgeben, weil das Sujet, so ausführlich er es zu behandeln gedachte, ganz einfach zu umfangreich war. Auf die Gleichheit trifft das bestimmt nicht weniger zu. Alles zu lesen, was je zum Thema geschrieben wurde, übersteigt die Möglichkeiten eines Einzelnen bei weitem, wie fleißig und langlebig er auch wäre. Doch als ich erst auf den Gedanken gekommen war, wollte ich dieses Buch ganz einfach schreiben. Eigentlich fing es fast von selbst an, sich zu schreiben. So wie Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs und die meisten Historiker vor Mitte des 19. Jahrhunderts einschließlich Lord Actons, hätte ich mich dafür entscheiden können, auf extensive Literaturangaben zu verzichten. Genauso gut hätte ich das Gegenteil tun können, was wahrscheinlich zu 25 Seiten Fußnoten zu jedem Satz geführt hätte. Am Ende habe ich mich für einen Kompromiss entschieden. Ich habe versucht, so viel zu lesen, wie ich für nötig hielt, um die Materie so gut zu verstehen, wie mein Vorhaben es verlangte, und meine Hauptquellen nach bewährter akademischer Manier zu nennen. Ich kann nur hoffen, dass mir das gelungen ist.

Gleichheit. Das falsche Versprechen

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