Читать книгу Gleichheit. Das falsche Versprechen - Martin van Creveld - Страница 8

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Das erste Volk, das sich an die Gestaltung einer Gesellschaft machte, die in gewisser Hinsicht auf Gleichheit basierte, waren die Einwohner im archaischen Griechenland. Leider haben wir über diese Zeit insgesamt nur sehr spärliche Informationen; überwiegend beschränken sie sich auf archäologische Funde und auf die Dichtungen von Homer und Hesiod. Dazu kommen viele Mythen über Götter, Ungeheuer und übernatürliche Heldentaten. Wegen ihres mythologischen Charakters sowie der Tatsache, dass sie erst Jahrhunderte nach den angeblich beschriebenen Ereignissen niedergeschrieben wurden, sind sie freilich in ihrem dokumentarischen Wert problematisch. Schließlich gibt es noch einige zufällige Bruchstücke in den Schriften griechischer Historiker der klassischen Ära. Und dass im so genannten dunklen Frühmittelalter nicht geschrieben wurde, macht die Sache auch nicht gerade einfacher.

Diesen wenigen Quellen zufolge wohnten zwischen etwa 1100 und 700 v. Chr. in Griechenland Gruppen in einem Zwischenstadium zwischen Hordengesellschaften und Häuptlingstümern. In der Ilias heißt der oberste Anführer Agamemnon. Um noch einmal Thersites zu zitieren: »Reich mit Erz sind [Agamemnons] Zelte gefüllt, und Weiber in Menge Sitzen in deinen Gezelten«. Wann immer eine Stadt erobert wurde, beanspruchte er die beste Beute für sich selbst, wie es ihm kraft seines Ranges auch zustand. Er war umgeben von rangniederen Anführern, von denen Odysseus, gemessen an der Anzahl von Kriegern, die er mobilisieren konnte, zu den eher unbedeutenden gehörte. Sie werden als »großzügig« beschrieben; er erhielt »Geschenke« von ihnen, und er besaß eine gewisse Autorität über sie; so viel jedenfalls, dass die anderen Anführer um seinetwillen ihre Heimat verließen, sich ihm an einem vereinbarten Treffpunkt anschlossen und zehn Jahre lang mit ihm Krieg führten, obwohl keiner von ihnen persönlich von den Trojanern behelligt worden war – wirklich keine geringe Leistung.

Dabei war Agamemnon kein Despot. Besonders interessant ist seine Beziehung zu Achilles. Als individueller Krieger war Achilles dem Agamemnon haushoch überlegen, das wussten sie beide. Und doch konnte Agamemnon ihm drohen, er werde notfalls in Achilles Lager einfallen und sein Ehrengeschenk rauben, das Mädchen Briseis. Damit würde er Achilles beibringen, »wie viel höher ich sei als du, und ein anderer zage, gleich sich mir zu dünken und offen zu trotzen ins Antlitz!«1 Schließlich befehligte er mehr Krieger und besaß, um sie zu bezahlen, wahrscheinlich größere Schätze als jeder andere; doch als Achilles sich aus dem Krieg zurückzog, konnte Agamemnon ihn nicht daran hindern. Um ihn zurückzulocken, musste er ihm schmeicheln, Versprechungen machen und wertvolles Eigentum übertragen. Ihre Beziehung beruhte also weder auf Autorität noch auf Gleichheit, sondern auf einem gewissen Interessensausgleich. Zudem ging nach Ende des Krieges jeder Unter-Anführer zurück in seine asty, was sich am treffendsten mit »Zitadelle« übersetzen lässt. Nichts weist darauf hin, dass irgendeiner von ihnen weiterhin Agamemnons Autorität unterstand oder ihm gar Tribut zahlte. Da diese Heimatstädte von Pylos im Westen der Peloponnes und im Osten bis nach Kreta verteilt waren und zudem manche von ihnen nicht nur durch Land, sondern auch durch das Meer voneinander getrennt waren, wäre das auch höchst unwahrscheinlich gewesen.

Die Anführer werden bald als anax, bald als basileus bezeichnet. Über die gesamten Dichtungen hinweg werden die beiden Termini wahlweise verwendet, häufig für dieselbe Person. Allerdings fällt der Titel anax vor allem den mächtigeren Anführern wie Zeus und Agamemnon zu. Sie verdankten ihre Stellung drei Faktoren, nämlich ihrer politisch-militärischen Leistung, ihrem Reichtum und ihrer Abstammung. Dass man sich der Abstammung erinnern muss, erklärt, warum das 2. Buch der Ilias sie in einem so detaillierten Katalog vorführt. Aus diesem Grund werden auch all die Völker genannt, die von ihnen beherrscht wurden, sowie die vielen Schiffe, die jeder von ihnen für seine Kriegszüge aufbringen konnte. Und jedes Mal, wenn ein griechischer Anführer auf dem Schlachtfeld einem Trojaner gegenübersteht, brüsten sich als erstes beide ihrer Vorfahren. Manche von ihnen beanspruchen göttliche Abstammung, obwohl ihnen diese Tatsache an sich offenbar keinen besonderen Vorrang vor den anderen verleiht: Dass etwa Sarpedon Zeus’ eigener Sohn ist, schützt ihn nicht davor, von Patroklos getötet zu werden. Andere, die zwar nicht von Göttern abstammen, werden gleichwohl als »göttergleich« bezeichnet.2

Von Gleichheit, egal ob sozial, ökonomisch, politisch oder vor dem Gesetz, konnte ohnehin nicht die Rede sein. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass sowohl in der Ilias, als auch in der Odyssee abgesehen von Unterhaltungen mit göttlichen Wesen praktisch alle Begegnungen, seien sie friedlicher oder feindlicher Natur, zwischen Aristokraten stattfinden. Das gemeine Volk, das sie so zahlreich anführten, kommt äußerst selten ins Bild. Zwar spielt es eine größere Rolle in der Odyssee als in der Ilias. Das liegt jedoch nur daran, dass der Held, der über Jahre fern der Heimat und fern von anderen Anführern umherreist, stärker von ihm abhängt als das normalerweise der Fall wäre. Wir begegnen so Bauern, Hirten, Handwerkern, Ärzten und Wahrsagern, die das Epos allerdings nur selten beim Namen nennt. Das geschieht nur dann, wenn sie wie im Fall des unseligen Thersites gegen einen Anführer aufbegehren oder ihm helfen wie einige von Odysseus’ Bediensteten nach der Heimkehr von seiner Irrfahrt.

Will man die homerischen Epen als historische Quellen nutzen, so stößt man sich daran, dass sie wie die Sagen und Mythen ihre endgültige Form erst Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen erhielten. In diesen Jahrhunderten verschwand mit der Mykenischen Kultur eine ganze Zivilisation von der Erde. Das Land wurde wiederholt besetzt, und die sozio-politischen Organisationssysteme erfuhren radikale Veränderungen. Von Hesiod, der wahrscheinlich kurz nach Homer lebte, hören wir, dass einige Menschen reich und mächtig waren, andere arm und demütig. Häufig unterdrückten die Reichen die Armen, und in der Tat kann man sein Lehrgedicht Werke und Tage als Protestschrift gegen diese Unterdrückung lesen. Freilich fordert der Dichter nicht, Gleichheit durch- und die Anführer abzusetzen, allerdings verlangt er von letzteren Gerechtigkeit.3 Abgesehen davon liefert er wenige Details über das Funktionieren der Gesellschaft.

Dass es diese Häuptlingstümer einst wirklich gegeben hat, beweist am besten die Tatsache, dass selbst in der klassischen Ära viele Balkanstämme sich noch nicht per synoikismos zusammengeschlossen hatten, der »Zusammenlegung von Haushalten« zu einer einzigen Polis. Völker wie die Illyrer, die Thraker und die Ätolier lebten weiterhin in so genannten ethne, was sich als Volksstamm, Haufen oder Schar übersetzen lässt. Jedem »Volk« stand ein ethnarch vor, was ziemlich genau Stammesfürst, also Häuptling bedeutet. Die städtischen Griechen sahen auf sie herab und befanden sie für rückständig. So bezeichnet Thukydides die Ätolier als streitbares Volk, dem es freilich an befestigten Städten fehle: Sie lebten in offenen Dörfern und hätten nur eine leichte Bewaffnung.4 Und die New Cambridge Ancient History sagt von den Thrakern, sie bildeten ein Häuptlingstum von »quasi feudalem Charakter« samt »Vasallenherrschern«.5 Sie hinterließen allerdings kaum schriftliche Zeugnisse, so dass über sie nur wenig bekannt ist.

Ein weiterer Hinweis sind die Namen der untergeordneten Volksabteilungen (Phylen), die in vielfältiger Form in vielen klassischen Stadtstaaten, auch in Sparta und Athen, noch Jahrhunderte nach deren Herausbildung weiter existierten. Diese Gruppen hießen Stämme, Geschlechter, Abstammungsgruppen und Gattungen. Wie egalitär oder unegalitär diese Gemeinschaften und ihre Mitglieder waren, bevor sie sich zusammenschlossen und zu einer polis verschmolzen, lässt sich unmöglich feststellen. Ihre tatsächliche Rolle in der Polis verschob sich ständig und ist schwer nachzuvollziehen. Doch wie auch immer sie organisiert waren, ursprünglich bestanden sie jedenfalls offenbar aus Anführern und deren Gefolge. Ein moderner Forscher versuchte nachzuweisen, dass sie nicht ausschließlich aus Verwandten bestanden, und übersetzte das Wort phylon mit Führergruppe. Damit meinte er eine temporäre Vereinigung, die ein Anführer willkürlich formte, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.6

Wie schafften es die griechischen Häuptlingstümer vor diesem wenig vielversprechenden Hintergrund, sich nicht zu noch ungleicheren bürokratischen oder feudalen Staatswesen weiterzuentwickeln – dieser Prozess nämlich war, wie wir sehen werden, das übliche Schicksal zahlloser ähnlicher Gesellschaften weltweit. Sicher ist, dass die Idee der Gleichheit mit all ihren komplexen sozio-ökonomisch-politischen Implikationen jedenfalls nicht aus dem Orient nach Griechenland gelangte. Dabei war der Nahe Osten in dieser Zeit in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht sehr viel weiter fortgeschritten als das kleine und relativ arme Griechenland. Wir wissen auch, dass zumindest seit 1200 vor Christus Waren und Ideen in beide Richtungen ausgetauscht wurden. So importierten die Griechen etwa das Alphabet, das sie wohl im Lauf des 8. Jahrhunderts vor Christus erreicht haben dürfte. Aber was sich aus dieser Quelle lernen ließ, war doch begrenzt. Bereits seit dem 3. Jahrtausend waren sowohl Ägypten als auch Mesopotamien von einem der ungleichsten, hierarchischsten Despotismen unterjocht, die es auf der Welt je gab. Um sich das klarzumachen, braucht man nur die Pyramiden zu betrachten. Wenn die Macht der Pharaonen oder auch der assyrischen, babylonischen und persischen Könige irgendwelche Grenzen kannte, dann waren sie nur technischer und keinesfalls gesetzlicher Natur. Noch die Griechen selbst bezeichneten den persischen Herrscher als »Großkönig«. Zumindest bis zu Alexander dem Großen und seinen Nachfolgern hatten sie selbst nichts Vergleichbares vorzuweisen.

Womöglich spielte die Geografie mit den vielen durch Bergketten voneinander abgetrennten Tälern eine Rolle dabei, dass Griechenland nicht auch unter einer solchen imperialen Herrschaft geeint wurde. Allerdings sind andere Teile der Welt mindestens genauso gebirgig; einige, wie das präkolumbische Peru, waren trotzdem unter einer ebenso hierarchischen und absoluten Zentralmacht geeint wie fast alle Reiche in der Alten Welt. Andere Regionen wie Tahiti blieben in eine Vielzahl von Häuptlingstümern zersplittert. Und wenn Völker in ausgedehnten Ebenen lebten wie die australischen Aborigines oder die nordamerikanischen Ureinwohner, führte das nicht unbedingt von sich aus zur Entstehung von Imperien. Der Jahrtausende dauernde Widerstand der Mongolen gegen die chinesische Herrschaft zeigt schließlich, dass große offene Räume genauso gut dazu genutzt werden konnten, einer Zentralmacht zu entkommen wie sie einzurichten. Kurz, die Topografie und die dazugehörige Biosphäre kann viel erklären; doch sie allein begründet nicht, warum einige Gesellschaften sich in eine gewisse Richtung entwickelten und andere nicht.

Städte, also permanente Siedlungen mit einem erheblichen Bevölkerungsanteil, der nicht von der Landwirtschaft lebt, sondern von Industrie und Handel, entwickelten sich an verschiedenen Orten der Erde. Doch abgesehen von den phönizischen Städten, über die wir nur sehr wenig wissen, und denen in Italien, auf die wir später zu sprechen kommen, herrschten dort nur unbedeutende Könige. Ihre soziale und politische Struktur war mindestens so ungleich wie die der Häuptlingstümer. Viele von ihnen waren keineswegs unabhängig, sondern standen im Zentrum eines hoch entwickelten Häuptlingstums. In der griechischen Welt gab es zumindest eine solche und sehr bedeutende Stadt, nämlich Pella, Hauptstadt der makedonischen Könige, die am Ende in ganz Griechenland einfielen.7 Die Aussage eines Historikers: »der [griechische] Stadtstaat entstand aus Spannungen innerhalb einer landwirtschaftlich geprägten Welt heraus« und sein Aufkommen »wurde wohl erheblich durch die andauernde Schlichtheit ökonomischer Muster und durch immer noch primitive Sozialstrukturen der Epoche ermöglicht«, hilft da auch nicht wirklich weiter.8

Es wurde versucht, die Entstehung der klassischen Polis im Laufe des 7. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Kriegsführung mit Hopliten in Verbindung zu bringen.9 Diese Kriegsführung in eng geschlossenen Formationen erforderte eine sehr gute Zusammenarbeit unter ähnlich bewaffneten, ähnlich geschulten Infanteristen in schwerer Rüstung, die im Gleichschritt manövrierten. Nicht einmal die Anführer traten mehr in gesonderten Duellen gegeneinander an wie noch in der Ilias, sondern kämpften häufig wie alle anderen.10 Damit vergrößerte sich die Macht der Gemeinschaft, während die der Anführer abnahm. Problematisch an dieser Interpretation ist die Tatsache, dass Phalanx-ähnliche Kampfformationen, die von den Monarchen oder ihren Vertretern organisiert, bezahlt und vermutlich auch kommandiert wurden, sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien zumindest seit dem 3. Jahrtausend vor Christus verbreitet waren. Schließlich erfordert es keine allzu große intellektuelle Anstrengung zu erkennen, dass im geeigneten Gelände vereinte, disziplinierte Truppen bestimmte Aktionen durchführen können, die bloßen Einzelkämpfern unmöglich sind. Bis hin zu ihren Symbolen wirkten solche Truppen als Instrumente der königlichen Macht. Dabei waren sie weit davon entfernt, den Weg zu Gleichheit oder Demokratie zu ebnen.

Andere versuchten, das Aufkommen der griechischen Demokratie in einen Zusammenhang mit der Monogamie zu stellen.11 Dass griechische Männer nur eine Frau haben durften, so ihre Argumentation, bedeutete, dass mehr von ihnen heiraten konnten. Das wiederum bewirkte weniger ungleichmäßige Reproduktionsraten und größere Gleichheit unter den Bürgern. Wie bereits erwähnt, ignoriert diese Erklärung jedoch, dass in der Praxis Anführer wie Agamemnon und Odysseus so viele Frauen haben konnten (und hatten) wie sie wollten. Die Römer waren nicht weniger monogam als die Griechen, und in der Republik nicht strenger als im Kaiserreich. Trotzdem konnte das nicht verhindern, dass das Modell, das am Tiberufer als Stadtstaat begonnen hatte, sich allmählich zu dem am stärksten hierarchisch organisierten Imperium der gesamten Geschichte entwickelte. Überdies bildete der Untergang Roms die Grundlage für den europäischen, also christlichen Feudalismus. Dabei verlangte das Christentum immer, dass jeder Mann und jede Frau zu einem Zeitpunkt nur einen legitimen Ehepartner hat. Und doch ähnelte der christliche Feudalismus dem römischen Kaiserreich insofern, als es absolut kompatibel war mit den krassesten Formen der Ungleichheit, ja sich sogar auf diese gründete.

Eine dritte, in der Literatur nur selten genannte Erklärung ist ein Wandel in der religiösen Organisation. Wir haben bereits festgestellt, dass die Religion, also eine Art Anspruch auf Nähe zu den Göttern, möglicherweise die früheste Grundlage für Ungleichheit und daraus folgernd für Herrschaft gewesen ist. Das aber gilt nicht für die Welt, wie sie sich in den homerischen Epen darstellt. Vielmehr präsentiert uns die Ilias zwei Priester, Chryses (der Vater der Chryseis) und Kalchas. Beide dienen den Göttern, beten zu ihnen und erhalten gelegentlich Antwort auf ihre Gebete. Keiner von beiden ist freilich göttlicher Abkunft, und keiner von ihnen herrscht über irgendwen oder irgendetwas. Mit seinem Flehen, Agamemnon möge ihm seine Tochter zurückgeben, gibt insbesondere Chryses eine geradezu klägliche Figur ab. Die homerischen Heerführer dagegen, und das gilt auch für die, die angeblich von Göttern abstammen oder göttergleich sind, begründen ihren Herrschaftsanspruch keineswegs explizit mit dieser Tatsache. Genauso wenig verhalten sie sich als ihre eigenen Hohepriester. Ihre Autorität ist weltlich, nicht religiös.

Wann, warum und wie die homerischen Anführer ihre besonderen Bindungen an die Götter aufgaben und ihre weltliche Herrschaft nicht länger mit göttlichem Rückhalt rechtfertigten, ist völlig unbekannt. Eindeutig aber war es ein Schritt, und zwar ein sehr wesentlicher Schritt, hin zum klassischen Stadtstaat und der Art von Gleichheit, die dort manchmal vorherrschte. Die Amtsträger, die die Stadtstaaten regierten, verdankten ihre Stellung in der Regel nicht den Göttern. Und griechische Priester wiederum waren meist Amtsträger wie alle anderen.12 Die Liste der Erklärungsversuche für die Entstehung der Polis ist damit noch lange nicht vollständig, doch keiner ist so überzeugend, dass er jedem Widerspruch standhalten würde. So sollten wir denn die Polis, den selbstverwalteten Stadtstaat, als gegeben nehmen und daran die Natur und die Entwicklung unseres Themas Gleichheit nachzeichnen.

In der Praxis konzentrieren wir uns dabei auf zwei von mehreren hundert Stadtstaaten: Sparta und Athen. Sparta, weil dort in gewissem Sinn die Gleichheit weiter vorangetrieben wurde als irgendwo sonst – eine Leistung, für die es neben der viel gefeierten militärischen Stärke in ganz Griechenland berühmt war; und Athen, weil relativ umfassende Zeugnisse zugänglich sind und weil es in seinen eigenen und in den Augen anderer häufig als »Schule von Hellas« galt. Außerdem verstand man schon in der Antike die beiden Städte als radikal unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Systeme und Lebensformen. Eine Untersuchung beider Städte ist das beste Mittel, sie auch beide zu verstehen.

Sowohl in Athen als auch in Sparta bestand der große Schritt in Richtung Polis vor allem im plötzlichen oder auch nur schrittweisen Abbau früherer, auf Abstammung beruhender Organisationsformen. An ihre Stelle trat eine einzige Regelung auf Grundlage von geografischer Lage und Bürgerschaft. In Sparta wurden diese Reformen angeblich von Lykurg durchgeführt. Ob er wirklich existiert hat und wenn ja, wann, ist völlig unklar. Obwohl aristokratischer Abstammung, war er kein Herrscher; Plutarch, der etwa 800 Jahre nach den Ereignissen wirkte, erklärt: »in ihm aber erkannten sie die echte Führernatur und die Fähigkeit, die Menschen zu leiten.«13 Über das Leben in Sparta vor Lykurg wissen wir ebenfalls sehr wenig. Herodot und Thukydides deuten beide an, um die Mitte des 7. Jahrhunderts habe es eine Zeit der Unruhe und des Bürgerzwists gegeben; Herodot zufolge war Sparta vor der Reform»die am schlechtesten regierte Stadt ganz Griechenlands«.14

Was die Gründe dafür angeht, verfügen wir über das Zeugnis des Thukydides, eines gut informierten Realisten ersten Ranges. Er erklärt: »von je war ja in Sparta der Sinn fast aller Maßnahmen die Sicherheit vor den Heloten«, also jener halb versklavten Volksgruppe, die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Christus in der Folge der Kriege gegen eine andere peloponnesische Stadt, Messenia, entstanden war. Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert, die geknechteten, misshandelten Heloten in Sparta »lauern gewissermaßen ständig auf deren Unglücksfälle«.15 Um sie an dem Versuch einer Selbstbefreiung zu hindern, machten die Spartaner ihre Stadt zu einem einzigen Wehrlager. Sie müssen sich ganz zurecht gefühlt haben, als säßen sie auf einem Pulverfass.

Immer noch nach Plutarch, dessen Bericht bei Weitem am detailliertesten ist, bestand der kritischste Punkt zur Gleichstellung der homoioi (»die sich gleichen«) oder Spartiaten darin, allen privaten Landbesitz zu enteignen und dem Staat zu übergeben. »Denn da eine furchtbare Ungleichheit bestand, viele besitz- und erwerbslose Menschen dem Staat zur Last fielen und der Reichtum in ganz wenige Hände zusammengeflossen war, so ging er daran, Übermut, Neid, Verbrechen, Schwelgerei und die noch bedeutsameren und größeren Gebrechen eines Staates, Reichtum und Armut, auszutreiben. Er überredete die Bürger, den gesamten Grund und Boden zur Verfügung zu stellen und ganz neu aufzuteilen, um danach alle gleich unter gleichen Lebensbedingungen zu leben und einen Vorrang nur durch Tüchtigkeit zu erstreben, da kein Unterschied und keine Ungleichheit unter ihnen bestehen sollte außer derjenigen, welche der Tadel schlechter und das Lob guter Taten bewirkt.«16 Jedes Flurstück war groß genug, um einen Mann und seine Frau zu ernähren, aber mehr auch nicht.

Zu jedem Flurstück kam eine Anzahl von Heloten, die für ihren spartiatischen Herrn das Land bebauten. Damit konnten die Spartiaten ihr Leben vollständig dem militärischen Training widmen. Sie lernten das Vorrücken, den Rückzug und den besten Einsatz ihrer Waffen und wurden damit »die größten, bewährtesten Meister in allen Künsten des Krieges«.17 Da Lykurg sich nicht mit halben Sachen zufriedengab, ließ er auch beweglichen Besitz sammeln und umverteilen. Um die Rückkehr der Ungleichheit durch Handel und Vorratshaltung zu verhindern, wurden Gold und Silber verbannt. Fortan mussten die Spartaner eine eiserne Währung verwenden, die unhandlich und nur für die kleinsten Käufe verwendbar war. Außerhalb Spartas war sie wertlos und wurde dort auch bald mit Hohn und Spott bedacht. Mit der Abschaffung des Grundeigentums, so Plutarch, verschwand auch jede Art von Laster. Nicht nur Genusssucht, sondern auch Wegelagerei, Hurerei, Täuschung durch Wahrsager und andere Gesellschaftslaster waren im Nu Vergangenheit.

Lykurgs Gleichheitsstreben führte zudem direkt zu einer weiteren, »erlesenen« Reform: nämlich der Einrichtung von Tischgemeinschaften (syssitia) oder, um einen Begriff aus der modernen Anthropologie zu verwenden, von Männerhäusern. Hier nahmen die Spartiaten ihre Mahlzeiten ein und verbrachten die Nächte. Diese Gewohnheit mussten sie sogar nach ihrer Hochzeit noch eine Zeitlang beibehalten und ihre Frauen also heimlich besuchen. Voraussetzung für die Aufnahme in die Syssitien und allgemein für die Anerkennung als Vollbürger war die Absolvierung eines langjährigen Erziehungssystems, der so genannten agoge. Sie begann im Alter von sieben Jahren und dauerte bis etwa zwanzig. Dort ging es so rau und beschwerlich zu, dass Aristoteles befand, diese Zucht eigne sich eher für Tiere als für Menschen. Um die eigene Tischgemeinschaft zu unterstützen, musste jedes Mitglied seinen Nahrungsbeitrag leisten. Männer, die aus dem einen oder anderen Grund ihr Flurstück verloren hatten und nichts mehr beitragen konnten, fielen aus dem System heraus. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie ihren Status als Spartiat verloren.

Lykurg erachtete die Gleichheit für so wichtig, dass er sie sogar auf den Tod anwendete. Er verbot nicht nur die Bestattung jeglicher Gegenstände bei ihrem Eigentümer, sondern auch die namentliche Kennzeichnung der Gräber. Einzige Ausnahmen von dieser Regel waren Männer, die in der Schlacht getötet worden waren, und Frauen, die den Tod im Wochenbett gefunden hatten. Seine sozio-ökonomischen Reformen ergänzte Lykurg auch durch politische. Sparta, so Plutarch, war lange von zwei basileis beherrscht worden. Doch »die Könige, so meinten [die Spartaner], hatten ja vor der Menge nur den Namen und die Ehre, sonst nichts voraus« und erlagen derselben menschlichen Schwäche.18 Daher neigte die Stadt bald zu den Exzessen der Tyrannei, bald zur Instabilität der Demokratie. Um dieses Problem zu beheben, richtete Lykurg einen Ältestenrat ein, dem achtundzwanzig Männer über sechzig Jahren auf Lebenszeit angehörten. Wenn einer von ihnen verstarb, bestimmte die Volksversammlung, also alle männlichen spartanischen Vollbürger, per Akklamation einen neuen. Sie sollte stabilisierend auf das Staatsschiff wirken, es in ruhiger Fahrt halten.

Schließlich setzte Lykurg oder einer seiner Nachfolger – in dieser Hinsicht sind die Quellen uneins – die Ephonten oder Aufsichtsbeamten ein. Die fünf Männer wurden jährlich gewählt und hatten zur Aufgabe, die Könige zu kontrollieren. Ältestenrat und Könige besaßen das alleinige Recht, die Volksversammlung einzuberufen und dort Anträge einzubringen. Versuchten sie freilich, Themen zu behandeln, die die Ephoren nicht billigten, so konnten diese die Volksversammlung vertagen. Die größten Abweichungen von der Gleichheit bestanden insgesamt darin, dass Privatpersonen nicht individuell vor der Volksversammlung sprechen konnten, dass nur alte Männer in den Rat gewählt werden konnten und dass die Königswürde weiterhin erblich war und lediglich den Mitgliedern zweier Geschlechter offenstand, den Agiaden und den Eurypontiden. Als Lykurg einmal hierzu befragt wurde, kanzelte er den Frager in typischer »lakonischer« Kürze und Prägnanz ab: »Führ du erst mal in deinem Hause die Demokratie ein!«.19 Wichtig ist hier festzuhalten, dass laut Platon die tatsächliche Macht bei den Ephoren lag. Sie wurden zwar jährlich demokratisch gewählt, doch ihre Herrschergewalt hatte ein »erstaunlich tyrannisches Gepräge«. Die Könige, so Platon, waren eher Generäle.

Viele moderne Historiker sind der Ansicht, dass die Reformen nicht von einer Einzelperson, sondern schrittweise über einen viel längeren Zeitraum hinweg durchgeführt und erst im Nachhinein Lykurg zugeschrieben wurden. Selbst falls dieser tatsächlich gelebt hat, musste er mit Sicherheit beträchtlichen Widerstand überwinden und konnte nicht alles auf einmal durchsetzen. Für unsere Belange ist aber viel wichtiger, dass die Gleichheit unter den Spartiaten nur auf Kosten der Heloten erreicht werden konnte. Diese waren nicht nur versklavt, sondern überdies erklärten ihnen die Beamten noch Jahr für Jahr formal den Krieg. Daraufhin lauerte die spartiatische Jugend ihnen mit Dolchen bewaffnet auf und tötete, wen sie wollte. Auch auf vielfache andere Weise wurden sie gedemütigt, wobei alles von fest verankerten Gesetzen gedeckt war, die beinahe als heilig galten. Die Heloten waren einer so schlimmen Behandlung ausgesetzt, dass Plutarch einmal bezweifelte, ob die betreffenden Gesetze wirklich von Lykurg selbst eingerichtet worden sein konnten; er meinte, sie müssten später hinzugefügt worden sein.

Ebenfalls nicht gleichgestellt waren die perioikoi oder Periöken, wörtlich »die um das Haus herum wohnen«. Sie waren frei, aber nicht gleichberechtigt; zwar dienten sie im Heer und später auch zu Schiff, aber sie durften weder Vollbürger heiraten noch besaßen sie politische Rechte.20 Doch damit noch nicht genug: In mehreren Kriegen errang Sparta im Lauf des 6. Jahrhunderts schrittweise die Herrschaft über die gesamte Peloponnes. Wahrscheinlich über ein System unterschiedlicher Abkommen, wie es später auch die Römer nutzten, um zunächst Latium und dann Italien insgesamt zu beherrschen, wurde es zum Zentrum des Peloponnesischen Bundes. In unseren Quellen, die überwiegend aus dem mit Sparta verfeindeten Athen stammen, werden die Spartaner gemeinhin als Lakedämonier bezeichnet. Offenbar bezog sich dieser Begriff unterschiedslos auf Vollbürger, Periöken und abhängige Bundesgenossen. Gelegentlich umfasste er sogar einige der Heloten, die als Träger und sonstige Zivilisten im Heer dienten.

Die Peloponnesische Gesellschaft war also als Pyramide mit sehr steilen Seiten und flacher Spitze organisiert. Von allen Mitgliedern der Hierarchie waren nur die Spartiaten, die diese Spitze stellten, in gewissem Sinne »gleich«. Und selbst bei ihnen implizierte Gleichheit, wie Lykurg selbst betonte, keine wirkliche Demokratie, also das Recht zur gleichen Mitwirkung an der Regierung. Wiederum nach Plutarch gab es ursprünglich 9000 Spartiaten und 30 000 perioikoi. Zählt man noch die abhängigen Bundesgenossen und die Heloten hinzu – ganz abgesehen von Frauen und Kindern –, so zeigt sich, dass die »Gleichen« nur einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtzahl stellten, nämlich gerade einmal drei bis vier Prozent. Außerdem war das der Anfang der Geschichte und nicht ihr Ende. Herodot zufolge war zu Beginn der Perserkriege 490 bis 480 vor Christus die Anzahl der Spartiaten auf 8000 gefallen.21 Plutarch berichtet, dass Lykurg vorsah, jedes neugeborene männliche Kind von den »Ältesten der Gemeindegenossen«, zu denen sein Vater gehörte, untersuchen zu lassen. Wurde es für gesund befunden, durfte es weiterleben und bekam eines der 9000 Flurstücke zugewiesen.22 Um die Anzahl der Spartiaten stabil zu halten, hätte durchschnittlich jeder Vater genau einen Sohn hinterlassen müssen. Ob das tatsächlich Lykurgs Absicht war und wie diese gegebenenfalls in die Praxis umgesetzt wurde, wissen wir nicht einmal im Ansatz.

Um die Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus beschleunigte sich das Tempo, in dem die Zahl der Spartiaten abnahm. Zitieren wir wieder den unverzichtbaren Plutarch: »Aber unter der Regierung des Agis [König Agis, gestorben 401 v. Chr.] strömte zuerst wieder das Geld nach Sparta hinein, und mit dem Gelde kam Habsucht und Streben nach Reichtum ins Land durch die Schuld des Lysandros [des spartanischen Feldherrn, der die Athener besiegte und den Peloponnesischen Krieg beendete], der zwar selbst unbestechlich war, aber das Vaterland mit der Gier nach Reichtum und Üppigkeit versuchte dadurch, dass er Gold und Silber aus dem Kriege heimbrachte.«23 Neben der Kriegsbeute kam zusätzliches Geld aus Persien. Damals subventionierte das persische Reich Sparta, und das machte es möglich, dass Gelder vom Staatshaushalt in private Taschen wanderten. Wer auf diese Weise reich wurde, konnte seinen Mitbürgern deren kleroi (Flurstücke) abkaufen und machten damit die einstigen Besitzer zu einem Proletariat ohne Landbesitz, womit ihnen auch die Bürgerrechte entzogen wurden. Die andauernden Kriege mit ihren vielen Todesopfern machten die Dinge noch schlimmer. Aristoteles zufolge konzentrierte sich in Sparta der Landbesitz zunehmend in der Hand reicher Witwen.

Zur Zeit von Aristoteles (384–322 v. Chr.) waren weniger als 1000 Spartiaten übrig. Laut Plutarch bestand das Heer der Lakedämonier in der Schlacht bei Leuktra 371 vor Christus aus 11000 Soldaten. Stimmt das, dann bildeten die Spartiaten selbst innerhalb des Heeres nur mehr eine kleine Minderheit. Bei Regierungsantritt von König Agis IV. im Jahr 244 vor Christus war die Zahl auf nur 700 gesunken. Im Verlauf des 3. Jahrhunderts wurden mehrere Versuche unternommen, diesen Niedergang aufzuhalten. Zu diesem Zweck wurden Periöken und Heloten emanzipiert, das Land beschlagnahmt und unter den Vollbürgern neu aufgeteilt. Doch wie unschwer zu erahnen, fanden diese Reformen nicht überall Zustimmung; einer von Agis’ Nachfolgern, Nabis (der von 207 bis 192 v. Chr. regierte), ließ sogar die letzten verbliebenen Mitglieder der beiden traditionellen Königsgeschlechter hinrichten. Zudem zwang er die Frauen in Sparta, die neu emanzipierten Männer zu heiraten.24 Doch das war zu wenig und zu spät.

Setzen wir den Zeitpunkt der wichtigsten Reformen etwa um 650 vor Christus an, so währte die Gleichheit in Sparta, soweit davon eben die Rede sein kann, bis gegen Ende des Peloponnesischen Krieges, also etwa 250 Jahre. Von da an begann ihr Niedergang. Einerseits kam neue Ungleichheit auf; andererseits hatte die Beibehaltung der Gleichheit, ohne die Zahl der homoioi zu erhöhen, fatale Auswirkungen auf die Macht des Staates. Am Ende war von der berühmten spartanischen Tapferkeit nichts übrig als eine Handvoll Jugendlicher. In einer eigenen, von Touristen besuchten Zeremonie ließen sie sich zu Tode peitschen.

Blicken wir jetzt von Sparta nach Athen. Hier stellen wir fest, dass die Gleichheit, die so genannte isonomia (wörtlich »Gleichheit vor dem Gesetz«), erst gegen Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus zu greifen begann. Wir assoziieren sie vor allem mit den Namen zweier berühmter Reformer, Solon (etwa 638 bis 558 v. Chr.) und Kleisthenes, der kurz vor Ende des 6. Jahrhunderts aktiv gewesen sein muss. Wie bei Lykurg betrafen Solons Reformen sowohl die Wirtschaft als auch die Politik – in unserem Kontext beides hochinteressant.

Die Reform, die damals wie später am meisten von sich reden machte, war die seisachtheia, wörtlich die »Lastenabschüttelung«.25 Was die Phrase bedeutet, ist nicht zur Gänze geklärt, doch scheint sie sich auf Landbesitz zu beziehen. Zuvor war Grund und Boden dem Athener Gesetz zufolge unveräußerlich, musste also im Besitz der Männer jedes Stammes bleiben. Ein ähnliches Arrangement wird im alttestamentarischen Buch Numeri beschrieben.26 Das Ergebnis war, dass Schuldner, die ihre Ländereien weder verkaufen noch verpfänden konnten, mit ihren Gläubigern eine Art proto-feudales Verhältnis eingehen oder gar sich und ihre Familien als Sklaven verkaufen mussten. Genau diese Praxis wurde wahrscheinlich durch die seisachtheia verboten. Ausstehende Schulden wurden erlassen, und wer bereits eine der genannten Beziehungen eingegangen war, wurde rückwirkend davon entbunden. Freilich wurde damit nicht etwa die Sklaverei abgeschafft. Sowohl die Athener als Einzelne als auch der Staat konnten weiterhin Sklaven besitzen und taten das auch. Neu war lediglich, dass diese Sklaven keine Athener Bürger mehr sein konnten. Von diesem Zeitpunkt an waren also alle Athener per Definition frei.

Damit extreme wirtschaftliche Ungleichheit gar nicht wieder aufkommen konnte, erließ Solon eine Reihe von Luxusgesetzen, nach denen die Reichen ihr Vermögen nicht offen zur Schau stellen konnten. Noch bedeutender war die Maßnahme, die Landfläche zu begrenzen, die ein Einzelner besitzen durfte. Dennoch bestand weiterhin die Gefahr einer urbanen »Lumpenproletarisierung« derer, die zwar jetzt frei waren, aber doch ihr Land verloren hatten. Offenbar aus diesem Gedanken heraus bemühte sich Solon, die Wirtschaft neu aufzustellen, und förderte Industrie, Handel, Schiffsverkehr und den Umlauf von Geld. Einige Althistoriker schreiben ihm auch die erste Einführung von Münzgeld zu. Das ist so wahrscheinlich falsch; doch um mit Aristoteles zu sprechen, es besteht kein Zweifel, dass ohne ungefähre wirtschaftliche Gleichheit und ohne eine starke Mittelklasse weder die griechische Demokratie noch die Polis selbst möglich gewesen wären.27

Die genauen Details sind umstritten, für uns aber nicht sonderlich relevant. Vor Solon war die wichtigste Institution der Areopag, ein Adelsrat, der wie der römische Senat alle ehemaligen Beamten vereinte. Die tägliche Regierungsarbeit oblag neun Archonten oder Herrschern. Sie dienten ein Jahr lang und wurden nach dem Stand ihrer Geburt und/oder ihres Reichtums ausgewählt. Wer freilich die Auswahl vornahm und die Prüfung durchführte, der die Archonten sich bei Beendigung ihrer Amtszeit zu stellen hatten, ist unklar. Offenbar war aber alles darauf ausgelegt, dass die wahre Macht beim Areopag und den »wohlgeborenen« Adligen blieb. Solon aber entzog dem Areopag die Kontrolle über die Archonten und übertrug sie der Volksversammlung. Möglicherweise verlieh er sogar den untersten Klassen das Stimmrecht, ganz gesichert ist das aber nicht. Außerdem richtete er ein neues Organ ein, den so genannten Rat der 400, der die Debatten und Abstimmungen der Volksversammlung vorzubereiten hatte. Auch ob hier die Angehörigen der niedrigsten Klassen vertreten waren, ist unklar.

Durch diese Maßnahmen wurde insgesamt die Regierungsbasis verbreitert – ein klarer Schritt in Richtung Gleichheit; allerdings wird auch argumentiert, dass Solons wirkliches Ziel der Erhalt der Ungleichheit war, weshalb er einigen Forderungen der unteren Klassen nachgab.28 Dazu unterteilte er die Bürger nach ihrem Besitz in vier Klassen. Je reicher jemand war, in desto höhere Ämter konnte er gewählt werden; damit waren die niedrigeren Klassen weiterhin ausgeschlossen. Nach seinen Reformen – die er wahrscheinlich nicht alle auf einmal durchführte – verließ Solon ganz wie vor ihm Lykurg seine Heimat. Kurz danach kam es zu inneren Unruhen, in deren Folge schließlich der Tyrann Peisistratos, ein Verwandter Solons, an die Macht kam. 527 starb Peisistratos nach 19jähriger Herrschaft und seine Macht ging auf seinen Sohn Hippias über. 514 wurde dieser von den zwei jungen Männern Harmodios und Aristogeiton ermordet. Eine zeitgenössische Inschrift rühmt sie dafür, das Land »isonomisch« gemacht, also die Gleichheit vor dem Gesetz eingeführt zu haben.29 Ein athenisches Trinklied, das bei einem sehr viel späteren Historiker überliefert ist, erklärt, den beiden, die Athen zu einem Ort der isonomia gemacht hätten, werde ewiger Ruhm zuteil werden.30

Einige moderne Historiker argumentieren, isonomia habe damals nicht mehr bedeutet als Gleichheit unter Adligen.31 Doch selbst in diesem Fall entwickelte sich das Konzept bald parallel zur Demokratie. Den nächsten wichtigen Schritt in dieser Richtung unternahm Kleisthenes. Mit ihm betreten wir die große Ära der Athener Geschichte und seine unvergleichlich großartigen Leistungen in allen Lebensbereichen. So wie die Solon zugeschriebenen Reformen wahrscheinlich mit dem Aufkommen des Hoplitenkampfes zusammenhingen, verdankten die Reformen des Kleisthenes viel der Entwicklung der athenischen Flotte und ihrer berühmten Kriegsschiffe, den Trieren. Für den Antrieb der Trieren wurden Tausende Ruderer gebraucht. Rekrutiert werden konnten diese nur unter denen, die dem Staat nichts zu bieten hatten außer ihre Muskelkraft. Als Gegenleistung mussten sie das Stimmrecht erhalten und in die Volksversammlung zugelassen werden – wenn das nicht bereits Solon so eingerichtet hatte. Auch die Gesetze, nach denen die Mitglieder der unteren Klassen keine Ämter übernehmen durften, wurden über Bord geworfen.32

Durch eine neue Gliederung der Bevölkerung nach Wohnort statt nach Phylenzugehörigkeit förderte Kleisthenes auch den Prozess, in dem alle Bürger zu einem einzigen Verband verschmolzen. Der Areopag verlor weiterhin an Macht zugunsten des Rats, dessen Mitgliedszahl Kleisthenes auf 500 erhöhte. 462 vor Christus, also vierzig Jahre nach Kleisthenes’ Reformen, verlor der Areopag auf Betreiben des radikal demokratischen Politikers Ephialtes schließlich fast alle seine noch verbleibenden Funktionen. Wohlgemerkt geschah das alles weder in einem Zug noch unwidersprochen; vielmehr waren die Reformen von heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen den »konservativen« Adligen und den »progressiven« Demokraten begleitet. Eines der Opfer dieser Kämpfe war Ephialtes, der 461 vor Christus ermordet wurde.

Ephialtes’ Nachfolger wurde der große Perikles. Unter seiner etwa dreißig Jahre andauernden Führung nahm die Athener Demokratie ihre klassische Form an. Ein Hinweis darauf war neben der isonomia (von iso, gleich, und nomos, Brauch, Sitte, Gesetz) das Aufkommen mehrerer eng miteinander verknüpfter Konzepte. Das waren unter anderem die isogeria, also das gleiche Rederecht aller Bürger vor den verschiedenen politischen Gremien; isopsephos, gleiches Stimmrecht für alle; und isokratia oder Gleichheit der Macht. Die isonomia selbst lässt Herodot einen persischen Adligen als »den schönsten aller Namen«33 bezeichnen. Demokratie war nie zuvor versucht worden. Und über viele, viele Jahrhunderte hinweg sollte dieser Versuch auch der einzige bleiben.

Der Souverän war die Volksversammlung. Nur sie hatte die Macht, Gesetze zu verabschieden, Bündnisse zu schließen, Krieg oder Frieden zu erklären und die wichtigsten Beamten zu bestellen (die übrigen wurden per Los bestimmt, so dass jeder männliche Bürger die Chance hatte, an der Regierung mitzuwirken). Alle Beamten dienten ein Jahr lang und mussten bei Amtsende vor der Versammlung Rechenschaft ablegen. Um sicherzustellen, dass die Mitwirkung in der Regierung wirklich allen offenstand, wurden die Beamten und Richter aus dem öffentlichen Haushalt bezahlt. Doch mehr noch -, die Athener verstanden die isonomia explizit auch als Gleichheit vor dem Gesetz. Sowohl zuvor als auch danach galten in den meisten Staatswesen für verschiedene Volksschichten auch verschiedene Gesetze; die Mächtigsten, ob Könige, Kaiser oder Tyrannen, waren sehr häufig an gar kein Gesetz gebunden. Nicht aber im klassischen Athen: Dort wurde absolute Gesetzestreue ohne Unterschied von allen gefordert.

Um die isonomia noch weiter zu treiben, durften keine Anwälte mehr verpflichtet werden. Zwar konnte niemand daran gehindert werden, sich seine Reden von anderen schreiben zu lassen, aber vor Gericht musste man für sich selbst sprechen. Dass das Gericht selbst unparteiisch und unbestechbar blieb, garantierte schon allein die große Zahl von Richtern, die jeden Fall begutachteten – nämlich 500 oder bei den wichtigsten Fällen sogar 1000. Auch sie wurden per Los bestimmt, wozu auch eine eigens zu diesem Zweck entwickelte raffinierte Losmaschine zum Einsatz kam. Alles das wirkte ganz nach Plan zugunsten der Gleichheit und einerseits gegen Vetternwirtschaft, andererseits gegen Korruption. Laut Thukydides kam so jeder Einzelne an sein »ebenmäßig Stück um Stück«.34

Damit gründeten sich also sowohl Sparta als auch Athen jede auf ihre Weise auf die Gleichheit. Dennoch, das zeigt allein schon die unterschiedliche Terminologie, die in den beiden Städten in Gebrauch war, waren sie alles andere als ähnlich. Die homoioi einerseits und die der isonomia Unterstellten andererseits entwickelten zwei radikal unterschiedliche politische, ökonomische, soziale und kulturelle Systeme. Der Kontrast durchdringt das gesamte Werk des Thukydides und insbesondere die Reden, die er verschiedenen Leitfiguren auf beiden Seiten in den Mund legt. Die bei weitem wichtigste davon ist die Gefallenenrede des Perikles, gehalten relativ früh im Peloponnesischen Krieg, in den er Athen führte und der in einer Niederlage endete.35 Gemeinsam zeichnen die Reden ein klares, wenn auch vielleicht allzu überzogenes Bild beider Systeme. Die Spartaner waren spezialisiert auf Kampf und Gewalt, die Athener dagegen vielseitig (obwohl auch selbst im Kampf keineswegs zu unterschätzen). Die Spartaner schotteten sich ab und lebten in relativer Isolation im Zentrum ihrer Halbinsel, während Athen Fremden aus aller Welt offenstand. Die Spartaner waren konservativ, die Athener immer auf der Suche nach Neuem. Die Spartaner waren zurückhaltend und diszipliniert, die Athener risikofreudig. Die Spartaner waren stur und abwartend, die Athener waren berühmt für ihre zupackende Auffassungsgabe. Obwohl die Athener tapfer und zur Kriegsführung durchaus in der Lage waren, war ihre Stadt alles andere als ein Heerlager. Vor allem aber, so Perikles, bestand die Athenische Demokratie anders als jede andere Polis aus freien Männern, die unter ihrer eigenen Herrschaft lebten. Das garantierte nicht nur allen Bürgern gleiches Recht, sondern ermöglichte es zugleich auch allen, die es wollten, dem Staat so weit zu dienen, wie es ihren Fähigkeiten entsprach.

Nehmen wir als wirklichen Startpunkt die Reformen des Kleisthenes kurz vor 500 vor Christus, so dauerte abgesehen von einer kurzen Phase um 400 die Athenische Demokratie und die isonomia, auf der sie beruhte, bis 338. In diesem Jahr geriet die Stadt unter die Herrschaft der Makedonier und büßte ihre Unabhängigkeit ein, blieb aber noch über Jahrhunderte ein Zentrum von Bildung und Kultur. Sowohl die spartanische als auch die Athener Version der Gleichheit wurde bereits von den Damaligen und wird bis heute ausführlich erforscht. Was dabei herauskam, wollen wir nun betrachten.

In den letzten rund 2500 Jahren fand Sparta allgemein und im Besonderen die Form der Gleichheit, die seinen Bürgern zustand, eine sehr gemischte Presse. Für Xenophon, einen Athener, der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts eine Zeitlang in Sparta lebte, war Lykurg »ein äußerst weiser Mann«, der mit seinen Gesetzen »seine Vaterstadt zu außerordentlichem Glück« führte;36 besonders begeisterte ihn das Militärsystem. Um 400 bewunderte auch Platon die Stadt, freilich weniger für ihre militärische Stärke als für ihre Form sozio-ökonomischer Gleichheit unter den homoioi, in der er eine Voraussetzung sowohl für Stabilität als auch für Gerechtigkeit sah. Daher nutzte er sie gar als Modell für das Staatswesen, das er in seinem größten Meisterwerk, der Politeia, entwarf. Auch Plutarch scheint Spartas Niedergang zu bedauern. Das zeigt sich nicht nur in seiner Lykurg-Vita, sondern auch in den vielen exemplarischen Aussprüchen »wahrer« Spartaner und Spartanerinnen in seinen Moralia.

Andere waren kritischer. Um ein paar der bekannteren Historiker zu nennen: Herodot stieß die Macht der beiden Könige auf, die ihre Stellung – ungewöhnlich für die griechischen Stadtstaaten – ererbten. In einer Passage, in der bereits die Gleichheitskritik unserer heutigen Zeit steckt, erwähnt er auch den »Despotismus« des Gesetzes, das nötig ist, um die Gleichheit durchzusetzen und zu erhalten.37 Ähnlich lässt sich Polybios, der griechische Historiker aus dem 2. Jahrhundert vor Christus, über die Verbrechen des Königs Nabis aus, als der versuchte, in Sparta wieder Gleichheit herzustellen und dafür reihenweise Menschen umbrachte.38 Etwa 1700 Jahre später befand Machiavelli, die Hauptschwäche Spartas im Vergleich zu Rom habe in seiner selbst nach griechischen Standards extremen Ablehnung gegen die Aufnahme Außenstehender in die Bürgerschaft bestanden. Gleichzeitig war Machiavelli aber klar, dass der Ausschluss von Fremden eine unbedingte Voraussetzung dafür war, die Gleichheit, wie sie zwischen den homoioi bestand, aufrechtzuerhalten. Sparta ruhte also auf einem Widerspruch, der nur in seinem Niedergang enden konnte – wozu es schließlich auch kam.39

Während der Aufklärung lehnten die meisten französischen und britischen Denker Spartas Militarismus ab. Wie Herodot (und Thukydides) vor ihnen verwiesen sie auf die Unterdrückung des Individuums durch den Staat, seine vollständige Unterordnung unter dessen Ansprüche und damit den Verlust der Freiheit sowie die Tendenz, Literatur und Kunst zu vernachlässigen. Natürlich war alles das zugleich Ursache und Folge der berühmten spartanischen Kombination von Genügsamkeit und Gleichheit, insbesondere auch der materiellen Gleichheit.40 Angesichts seines späteren Rufs als Urvater von Kommunismus wie Faschismus mag es vielleicht erstaunen, dass unter den Angreifern der spartanischen Version der Gleichheit auch der große Philosoph Georg Friedrich Hegel (1770–1831) war. Für ihn zerstörte sie die »freie Individualität«, die oberstes Ziel jedes Staatswesens war oder sein sollte.41

Doch diese Ansicht war keineswegs Gemeingut. Für Abbé Gabriel Bonnot de Mably (1709–1785), einen weiteren bekannten Autor der Aufklärung, sollte die von Lykurg auferlegte wirtschaftliche Gleichheit freie Menschen schaffen; natürlich nicht in dem Sinn, dass sie frei von den Forderungen des Staates waren, sondern frei von dem Streben nach Reichtum und damit offen für das Streben nach Tugend.42 Am bekanntesten freilich war Mablys Zeitgenosse Rousseau. Er benutzte Sparta als Waffe in seinem lebenslangen Kampf gegen die Ungleichheit, die er als typisches Merkmal der modernen Welt verstand. Die kraftvollen, scharfen Worte und Taten der Spartaner, schrieb er, seien dem Geschwätz der Athener eindeutig vorzuziehen.43

In einer Rede vor der Nationalversammlung im Mai 1794 würdigte sogar Robespierre das alte Sparta. Vor einem historischen Hintergrund aus Ungleichheit, Egoismus und Gier, so Robespierre, scheine Sparta »hell wie ein Stern«.44 Zwei Monate später wurde Robespierre abgesetzt und hingerichtet. Für das 19. Jahrhundert könnte die Liste der Publizisten, die ihrer Bewunderung für Sparta Ausdruck verliehen, unendlich weitergehen. Für viele Militaristen beidseitig des Rheins war die Gleichheit, wie sie in der Stadt herrschte, eine notwendige, wenn auch unter modernen Bedingungen impraktikable Voraussetzung für die Erlangung ihrer außergewöhnlichen militärischen Schlagkraft. Besonders in Frankreich hielten auch viele republikanische Radikale sie hoch in Ehren. In direkter Nachfolge Rousseaus sahen sie in Sparta den Inbegriff der bürgerlichen Tugend. Allzu häufig ließen sie sich dabei freilich nicht von der Tatsache stören, dass die Gleichheit erzwungen und das gesamte Leben bis ins Kleinste reglementiert war.

Wie so oft fügten die Nationalsozialisten der Sache ihre ganz eigene Note bei. Für sie war die Athener Version der Gleichheit, besonders in Begleitung der Demokratie, verweichlicht und unmännlich. NS-Historiker erklärten die Spartaner zu nordischen »Doriern« und behaupteten, sie hätten ihre Gleichheit und damit auch ihre Größe für die Zeit ihrer Blüte dadurch gesichert, dass sie die Angehörigen niederer Rassen ausschlossen und sich weigerten, sich in irgendeiner Form mit ihnen zu mischen.45 Für sie waren die homoioi also ein Vorbild. Die Heloten verdienten es, wie Hunde behandelt, versklavt, ausgenutzt, gar getötet zu werden. Bei all dem standen die Nationalsozialisten auf der ganz anderen Seite als Machiavelli. Tatsächlich bescherten sie ihrem Land das gleiche Schicksal wie Sparta, indem sie es in einen Krieg gegen die ganze Welt führten; und den konnten sie, so hervorragend ihre Wehrkräfte auch sein mochten, wegen ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit nicht gewinnen.

Im Fall Spartas werden Kritiken an den homoioi, ihrer Lebensführung und dem Preis, den sie dafür bezahlten, häufig von der Haltung bestimmt, die ihre Autoren zum Militarismus und der Kampfkraft des Stadtstaates einnehmen. Ob wir uns einig sind oder nicht, dass die Stadt von eunomia, also »guten Gesetzen« gelenkt wurde – die Gleichheit in Sparta war die, die normalerweise in Heerlagern herrscht. Persönliche Freiheit gab es nicht. Jeder wurde auf einen gemeinsamen Nenner erhoben oder, je nach Gesichtspunkt, erniedrigt. Das eröffnete ganz sicher keinen Weg in Richtung Demokratie; politisch gesprochen gab es keine gleichen Rechte. Bewertungen der Gleichheit in Athen dagegen lassen sich immer schwer trennen von der Bewertung der dortigen Demokratie. Schon bei Herodot werden die beiden häufig in eins geblendet und sogar miteinander verwechselt. In Athen führte die Gleichheit zu einer impliziten Demokratie, während die Demokratie wiederum die Gleichheit beförderte.

Lange vor Anatole Frances Ausspruch von »der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen«, kritisierten mehrere antike Autoren, die Athenische Gleichheit gehe nicht weit genug. Besonders prominent waren dabei Phaleas von Chalkedon und Hippodamos von Milet. Beide schrieben in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts vor Christus. Phaleas, den wir nur von Aristoteles kennen, wies darauf hin, es sei zwar eine gewisse bürgerliche und politische Gleichheit erreicht, sozio-ökonomische Gräben aber dadurch nicht geschlossen worden. Eine Ungleichheit auf diesem Gebiet sei das unvermeidliche Ergebnis einer Gesellschaft, die die Landwirtschaft und das System aufgab, nach dem jedermann sein eigenes Stück Land besaß und für seine eigene Familie aufkam, um stattdessen Industrie und Handel zu betreiben. Er schlug daher vor, alle Handwerker zu öffentlichen Sklaven zu machen, womit sie auch aus der Bürgerschaft ausscheiden würden. Vervollständigt wurde sein Entwurf durch zwei weitere Reformen: erstens die graduelle Umverteilung von Landeigentum durch die neue Regel, dass Mitgiften von Armen nur empfangen und von Reichen nur gespendet werden durften; und zweitens – vielleicht eine Anleihe aus Sparta – die gleiche Erziehung für alle.46 Dafür freilich seien alle anderen Arten von Gleichheit belanglos.

Viel bekannter als Phaleas war Hippodamos von Milet, ein Architekt, auf den die Anlage von Städten mit einem nach Rasterlinien verlaufenden Straßenverlauf zurückgeführt wird. Bis heute kann man seine Arbeit in den Straßen des Athener Vororts Piräus besichtigen. Wie in vielen modernen amerikanischen Städten spiegelte der Plan den Wunsch nach einer Art von Gleichheit zwischen den Einwohnern wider. Auch Hippodamus wollte das sozio-politische Ungleichgewicht durch die Einführung einer Art kommunalen Besitzes korrigieren. Der Unterschied war, dass die Bürgerschaft und damit das Recht sowohl auf Bürgerrechte als auch auf politische Teilhabe unberührt bliebe. Land, das weiterhin als bedeutendste Ressource galt, war stets Gemeinschaftsbesitz. Ein Teil davon sollte den Göttern gewidmet werden, ein zweiter die Soldaten ernähren, ein dritter die Bauern.47 Aristoteles wandte dagegen ganz zurecht ein, dass Hippodamus vergessen hatte zu sagen, wer das Land der Soldaten bebauen sollte. Zudem könne eine funktionale Aufspaltung von Soldaten und Bauern nie funktionieren. Der Plan sah nichts vor, um zu verhindern, dass Erstere die Bauern unterdrückten.

Auch in der Schule der Kyniker (von kynos, Hund) hoffte man im 4. Jahrhundert, Gleichheit herzustellen, indem man Besitz abschaffte. Allerdings handelte es sich dabei um die Gleichheit von Armen und Bettlern, die nichts besaßen und nichts zu verlieren hatten. Einer von ihnen war Diogenes, der Philosoph, der in einer Tonne lebte und Alexander den Großen bat, ihm aus der Sonne zu gehen; er sagte, die Menschen sollten sich durch nichts anderes voneinander unterscheiden als allein durch ihre Tugend.48 Das Unternehmen hätte zu einer Zerlegung der Polis oder jeglicher organisierten Staatsform geführt. Den Kynikern war das klar, sie freuten sich gar darauf.49 Noch andere Kritiker, insbesondere Thukydides, schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Für sie war das Problem an Demokratie und isonomia–wie gesagt weitgehend Synonyme –, dass sie viel zu weit reichte. Plutarch prägte die vortreffliche Metapher, der Fehler an Athen sei vor allem, dass es ihm an einem stabilisierenden Anker mangele. Ohne ihn schwanke die Volksversammlung, in großen Teilen Besitzlose, die sich leicht von Demagogen beeinflussen ließen, bald in die eine, bald in die andere Richtung. Ständig drohe sie in das eine oder andere Extrem zu fallen. Wie sich an vielen Ereignissen vor allem im Peloponnesischen Krieg zeige, sei es sehr schwer, ja vielleicht unmöglich, eine gesunde, ausbalancierte, kontinuierliche Politik zu entwerfen und auf Kurs zu halten.

Die schärfste Kritik schließlich kam von Platon. Er unterschied sich insofern von den anderen, als er die Frage von beiden Seiten betrachtete. Einerseits teilte er die damals weit verbreitete Meinung, ökonomische Ungleichheit würde zwangsläufig zu Konflikten oder gar zum Bürgerkrieg führen, weshalb er für ihre Beseitigung plädierte. Sein Wächterstand sollte alles, auch Frauen und Kinder, als Gemeinschaftsgut betrachten, so dass die Unterscheidung zwischen »mein« und »dein« verschwände. Nur so ließe sich eine wahrhaft geeinte Stadt errichten. Doch Platons Wächter sind scharf zu trennen sowohl von den Arbeitenden unter ihnen und den Philosophenherrschern, die über ihnen standen. Wie auch die Dinge genau eingerichtet werden sollten – das ist alles andere als klar –, sollte es ganz offensichtlich Gleichheit weder für Rechte, für Pflichten, noch für Funktionen geben. Die ganze Sache sollte vielmehr auf einer »durchaus wohlgemeinten Lüge« beruhen: dass nämlich die Aufteilung in Stände nicht künstlich, sondern natürlich sei.50 Der lupenreine Aristokrat Platon stimmte Thukydides auch in seiner Kritik an der Kehrseite der Demokratie bei. Das betraf ihre »Fiebrigkeit«, ihre Förderung des ungebremsten Wettbewerbs zwischen individuellen (und gleichen) Bürgern, sowie ihre Unfähigkeit, auf stabilem Kurs zu bleiben. Er verglich den Herrscher in einer Demokratie mit einem Dompteur, der sich um ein großes, gefährliches Untier zu kümmern hat. Um nicht gefressen zu werden, muss er sich für immer jeder Laune des Untiers beugen.51

Wir können hier nicht alles nachzeichnen, was seit der Antike und bis heute über die griechische Version der Gleichheit gesagt wurde. Hinweisen wollen wir aber darauf, dass die antiken Kritiker sich vor allem dafür interessierten, was die Gleichheit mit denen machte, die sie besaßen. Entweder ging sie ihnen nicht weit genug oder sie brachte bestimmte Probleme auf oder beides. Die moderne, vor allem die liberale und sozialistische Kritik dagegen konzentrierte sich auf die Exklusivität der griechischen Gleichheit. In Sparta stellten die homoioi lediglich einen kleinen und obendrein schwindenden Anteil der Bevölkerung. In Athen kamen wahrscheinlich mehr Menschen in den Genuss der Gleichheit – vielleicht 50 000 bzw. 10 Prozent bei einer geschätzten Bevölkerung von einer halben Million. Weder in Sparta noch in Athen (noch in irgendeinem modernen Staat) hatten dort ansässige Fremde politische Rechte. Sowohl private als auch staatseigene Sklaven hatten überhaupt kaum Rechte. Zwar tat Solon viel dafür, Athen egalitärer zu machen, aber er brachte auch ein Gesetz ein, nach dem Sklaven keine Gymnastik praktizieren durften.52 Frauen unterlagen fortgesetzt der Vormundschaft; von ungebundenen Witwen und Kurtisanen abgesehen, konnten sie nur unter männlicher Protektion leben.

Was Sklaven angeht, so kennen wir keinen Vorschlag eines antiken Autors, die Ungerechtigkeit dieser Situation anzuerkennen und Sklaven in die Bürgerschaft aufzunehmen. Falls es dazu doch kam, und das nicht nur in Sparta, sondern auch in anderen Städten, geschah das aus reiner Notwendigkeit; und zuweilen brachte es die betreffenden Staatswesen an den Rand des Bürgerkriegs. Bei Frauen dagegen lag die Sache anders. Verschiedentlich wurde die Möglichkeit diskutiert, Frauen gleiche Rechte zuzugestehen. Einen Beitrag leistete etwa der große Komödiendichter Aristophanes. In seiner Ekklesiazousai oder »Weibervolksversammlung« entwarf er eine imaginäre Polis unter der von Frauen bestellten Herrschaft von Frauen. Eigentum wäre dort stets Gemeinschaftsbesitz, die ökonomische Arbeit würde wie in Sparta von Sklaven geleistet. Innerhalb der Bürgerschaft würde sexuelle Exklusivität abgeschafft, so dass auch die hässlichsten Vertreter beider Geschlechter gleiche Chancen hätten, mit den bestaussehenden Individuen des anderen Geschlechts ins Bett zu gehen. Wahrscheinlich wollte Aristophanes mit diesem Stück die Idee der Gleichheit einschließlich der Gleichheit der Frau kritisieren, indem er sie bis ins Absurde überzeichnete. Auch Platon diskutierte recht ausführlich die Emanzipation der Frauen. Um es den Frauen zu ermöglichen, die Staatsangelegenheiten gleichberechtigt mitzugestalten und selbst als Wächterinnen mitzuwirken, schlug er vor, ihnen die gleiche Erziehung zukommen zu lassen wie den Männern. Wie so viele Feministinnen nach ihm wollte auch er sie von der Pflicht »befreien«, sich um die Kinder zu kümmern. Wahrscheinlich erschienen ihm diese Vorstöße gerecht, nützlich, ja sogar wesentlich, aber leider utopisch. Letzten Endes erklärte jedenfalls keine griechische Polis je die Frauen zu Vollbürgern oder dehnte den Begriff der Freiheit so weit, dass Frauen den Männern gleichgestellt gewesen wären.

Sowohl in Sparta als auch in Athen war die Gleichheit, in welcher genauen Form auch immer, stets exklusiv. Innerhalb jeder Polis galt sie nur für einen recht kleinen Teil der Bevölkerung. Nach außen hin wurde sie sorgsam gehütet, so dass es für Fremde extrem schwierig war, Zugang und Teilhabe daran zu erhalten. In Athen wurde das mit der Zeit sogar schwieriger statt einfacher. Gelegentlich gab es Versuche, den Kurs zu wechseln, die aber regelmäßig scheiterten.53 Im Hellenismus bildeten einzelne Städte lose Bündnisse und gestanden den Bürgern der Bündnispartner eingeschränkte Rechte zu. Wie heute die Europäische Union, kamen sie aber einer gemeinsamen Bürgerschaft nie auch nur nahe. Die Bürger verstanden sich nie nur als zufällig zusammengewürfelte Gruppe, sondern sprachen sich irgendeine Form einer gemeinsamen Abstammung zu.54 Die heilige Aufgabe jeder Polis bestand darin, dieses Erbe zu verteidigen, das ihr Kernstück darstellte, sie von den anderen unterschied und ihre Existenz rechtfertigte. Als Aristoteles seine Schüler aussandte, um die »Verfassungen« oder politeiai von nicht weniger als 158 Städten zu sammeln, meinte er damit nicht nur die jeweilige politische Struktur, sondern auch die Organisation ihres sozialen, kulturellen und selbst religiösen Lebens. Wäre das Material erhalten geblieben, so hätte es ein unvergleichliches Bild aller Aspekte der griechischen Zivilisation in allen signifikanten Städten ergeben – doch leider besitzen wir nur noch den Band über Athen.

Die interne Exklusivität bedeutete, dass innerhalb jeder Polis nur ein Teil der Bevölkerung gleiche Rechte genoss. Auch handelte es sich nicht um eine Demokratie nach heutigem Verständnis. Sowohl in der Antike als auch später gingen manche noch weiter und erklärten, der bestehende Grad an Gleichheit sei auf Kosten der Freiheit (in Sparta) und der Stabilität (in Athen) gegangen. Für andere war sie ohnehin nur eine Täuschung; nämlich lediglich ein Instrument, über das eine relativ kleine Gruppe von Menschen – erwachsene männliche Bürger – alle anderen beherrschte. Externe Exklusivität dagegen hieß, dass es strenge Grenzen gab, wie groß eine Polis werden konnte, ohne sich selbst preiszugeben. Diese Exklusivität ist ein wichtiger Aspekt, um zu erklären, warum die Stadtstaaten in außenpolitischen Belangen und im Krieg nur begrenzten Erfolg hatten und schließlich anderen, größeren und mächtigeren Staatsformen wichen. Die Gleichheit war hier erstmals in der Geschichte als bewusstes und in gewissem Ausmaß auch umgesetztes Ideal aufgetaucht, doch am Ende geriet diese Flamme ins Flackern und erlosch. Völlig vergessen aber wurde sie nie, und ihre Wirkungsmacht ist bis heute omnipäsent.

Gleichheit. Das falsche Versprechen

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