Читать книгу Nachtdenken - Martina Bengert - Страница 8

Dunkle Nacht

Оглавление

Kein anderer hat wohl wie der Mystiker Johannes vom Kreuz (1542–1591) den Topos der noche oscura in der spanischen, aber auch der europäischen Literatur geprägt. Ist in einem literarischen Werk von der dunklen Nacht die Rede, verweisen die Kommentatoren bis heute zumeist auf sein Bild der noche oscura.1 Die Rezeption seiner Schriften war unter den französischen Intellektuellen Mitte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Blanchot weist in seinem Briefwechsel mit Pierre Madaule darauf hin, dass er von den Gedichten des Heiligen Johannes vom Kreuz (San Juan de la Cruz im Spanischen) sogar eigene Übersetzungen angefertigt habe.2 Aber auch Jacques Lacan zählt zu den Lesern San Juans, wenn er in seinem séminaire die noche oscura eine nennt, „que tout le monde lit et personne ne comprend.“3 Dieses Nicht-Verstehen-Können begründet sich ganz wesentlich in San Juans Versuch, das Unsagbare zu umkreisen und damit in einen Raum der (mystischen) Erfahrung vorzudringen, der sich dem logischen Erkennen entzieht. Auf Basis einer solchen grundlegenden Unmöglichkeit des Begreifens wird sich meine Arbeit in die dunkle Nacht und mit dieser in die andere Nacht wagen.

Dabei gäbe es scheinbar einen einfacheren und geführten Zugang zum Dunklen: In Dante Alighieris Divina Commedia findet sich der Ich-Erzähler zu Beginn des 1. Gesangs inmitten eines dunklen Waldes (selva oscura) wieder.4 Diese Metapher wurde meist als Beschreibung eines Krisenzustandes geistiger und intellektueller Dunkelheit und Orientierungslosigkeit interpretiert. Der Protagonist steht am Anfang eines Läuterungsweges, der ihn durch die verschiedenen Kreise der Hölle, des Fegefeuers bis hin ins Empyreum führen wird.

Anders als bei Dante, doch auch mit einem Läuterungsweg verbunden, verhält es sich mit der Thematik der noche oscura des heiligen Johannes vom Kreuz. In dem gleichnamigen Gedicht, vor allem in den von Johannes vom Kreuz selbst verfassten Prosakommentaren,5 ist der Weg eine Flucht, die in Überschreitung etlicher literarischer wie gesellschaftlicher Konventionen von einem weiblichen, sehnsuchtsvoll liebenden Subjekt ausgeführt wird. Die selva oscura wird ersetzt durch eine noche oscura, welche gleich mehrmals (im Sinne einer Umnachtung der Sinne und des Geistes) durchschritten werden muss, um zur Vereinigung mit dem Geliebten zu finden. Bemerkenswert vor dem Hintergrund der abendländischen Theologie und Philosophie ist die Anerkennung der Nacht als Erkenntnisgrund bzw. Erkenntnismöglichkeit, die sich gerade aus ihrem Negations- und Subversionscharakter ergibt. Aus diesem Grund scheint es angebracht, mit Bezug auf die noche oscura von einer „Nachterfahrung sui generis“ zu sprechen.6 Wie schon beispielsweise Teresa de Ávila oder Fray Luis de León vor ihm, stellt Johannes vom Kreuz den Weg hin zu Gott und die Vereinigung mit Gott als einen Stufenweg dar, der von jedem Menschen allein bewältigt werden muss und der vor allem aus einem schmerzhaften Entwerden des Ichs besteht. Doch deutlicher als bei allen anderen vor ihm und nach ihm steht die Nacht explizit im Zentrum dieses Weges.7

Das Gedicht „Noche oscura“, 1577 während einer neunmonatigen Kerkerhaft in Toledo verfasst, ist die Beschreibung eines Hinaustretens der Gott suchenden Seele in vollkommene Dunkelheit, Unwissenheit und Verlorenheit. Es schildert die Überwindung einer ersten, ‚gewöhnlichen‘ Nacht, die Johannes vom Kreuz in der Subida del Monte Carmelo, einem Prosakommentar zum Gedicht, als Finsternis identifiziert, in der die weltlichen Dingen verhaftete menschliche Seele lebt.

Das Durchleben der zweiten Nacht hingegen, der dunklen Nacht, bildet eine weitaus extremere Nachterfahrung der Seele, die einem Gefühl der vollkommenen Geworfenheit und Einsamkeit entspricht. Sie ist nicht als romantisch zu verstehen, d.h. nicht als erstrebter Einsamkeitszustand, der Erhabenes verspricht, sondern als (dreifache) absolute Negation der Sinne und des Geistes, die in ihrer Gewaltigkeit und Präsenz den erlebenden Menschen mit Angst erfüllt. Das weitere Durchschreiten dieser Negation bis zu ihrem Höhepunkt in der absoluten Leere, führt in ein Oxymoron: zur Erfahrung von Präsenz Gottes gerade in der absoluten Abwesenheit.

Als eine mögliche Spur einer unbeschreiblichen göttlichen Präsenz könnte die unerklärte plötzliche Wunde der Sprecherin des Gedichts betrachtet werden, die ihr paradoxerweise ein Windhauch zufügt und all ihre Sinne suspendiert.8 In der Kulmination des Gedichts klafft sie unvermittelt am Hals des lyrischen Ichs und manifestiert sich als Spur eines Geschehens, das selbst nicht dargestellt wird. Der Text zeigt hierin möglicherweise – in Anlehnung an Paul de Mans Auslegung der Allegorie als ein selbstreferentielles Zeichen, das auf das Scheitern jeglicher sprachlicher Ausdrucksform verweist – seine eigene Verletzlichkeit, nämlich die der Uneinholbarkeit des Sinns durch die (Nachträglichkeit und Begrenztheit der) Sprache.

Johannes vom Kreuz hat als erster spanischer Schriftsteller und Philosoph den grundlegend allegorischen Charakter der Nacht (und der Schrift) quasi als Vordenker der (Post)moderne literarisch umgesetzt, indem er in der Rede seines Gedichtes „Noche oscura“ durch mystisches Sprachspiel, wie auch in Korrelation mit dem Textkommentar, mannigfaltige Allegorien auf eine unsichtbare und unbegreifliche Nacht kreiert. Die dunkle Nacht des Johannes vom Kreuz scheint in Martin Heideggers Begriff des Existenzials wiederzukehren. Er beschreibt die Erfahrung des In-der-Welt-Seins als eine Erfahrung des „Hineingehaltenseins der Existenz in die Nacht“,9 die, so meine These, in der französischen Rezeption Heideggers und ganz besonders in Blanchots Thomas l’Obscur umgedeutet wird in ein Hinausgehaltensein der Existenz in die Nacht. In der Betonung der Nacht als gänzlich andere, jenseits einer möglichen Innerlichkeit und oppositionellen Beziehung zum Tag, denkt Maurice Blanchot die andere Nacht.

Nachtdenken

Подняться наверх