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Über die Grenze

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Die Luft schmeckt nach dem ersten Frost. Sonja schlingt die Arme um sich, horcht in die Stille des Waldes. Wie zwei feindliche Armeen stehen sich die Bäume gegenüber, nur die Landstraße zwischen sich.

Wenn sie wenigstens wüsste, wo sie ist. Ob sie noch französischen oder wieder deutschen Boden unter den Füßen hat. Wie weit es bis nach Hause ist.

Gleichgültig blickt der Vollmond auf sie herab.

Weder auf der Hin- noch auf der Rückfahrt hat sie nach draußen geschaut. Zu sehr waren Erik und sie mit Streiten beschäftigt. Wie die Tage und Wochen davor.

„War das peinlich, wie du einen Cocktail nach dem anderen in dich reingeschüttet hast“, schnaubte Erik. Er hatte rote Flecken im Gesicht.

„Du bist doch bloß sauer, weil ich mich amüsiert habe und du nur herumgestanden hast.“

„Und wie du dich wieder aufgetakelt hast. Du siehst total billig aus.“

„Billig“, äffte sie ihn nach und stieß ein Lachen aus. „Da bin ich doch genau auf deinem Niveau.“

Satz für Satz näherten sie sich der Schmerzgrenze des anderen, waren sich keiner Grausamkeit zu schade und kosteten den Reiz aus, zu weit zu gehen.

Bis Erik anhielt. Sich über sie beugte, die Beifahrertür aufstieß und brüllte: „Dann steig doch aus, wenn ich so unerträglich bin. Na los!“

Sie tat es. Weil sie sein schuldbewusstes: „Nun komm wieder rein“ erwartete, was sie zur Siegerin des heutigen Wortgefechts gekürt hätte. Weil man eine moralische Linie überschritt, wenn man Frauen nachts um zwei aus dem Auto warf, im dünnen Partykleid, ohne Handy und dazu auf einer Landstraße mitten im Wald, irgendwo im Elsass.

Erik hatte es getan.

Provoziert hatten sie es beide.

Zweige knacken. Sonja fährt herum. Hält den Atem an. Etwas raschelt zwischen den Bäumen.

Ein Tier, vielleicht ein Reh, denkt sie. Wölfe gibt es hier doch nicht. Oder?

Aus der Dunkelheit schälen sich die Umrisse eines Menschen. Ein Licht flammt auf. Ein Mann starrt Sonja an, kaum größer als sie, eine Taschenlampe in der Hand.

Ihr Herz hämmert.

Der Mann steht da wie ein Standbild. Fixiert sie.

Als wüsste er nicht, was er tun soll. Mit ihr?

Oh nein.

Er geht ein paar Schritte auf sie zu. Das Licht seiner Lampe kriecht über ihren Körper, von unten nach oben, bis zu ihrem Gesicht.

„Also, um die Zeit sollten Frauen nicht allein auf einsamen Waldstraßen rumlaufen.“

Sie weicht zurück, stolpert in den verdammten Stiefeln.

„Vorsicht.“ Er schnellt vor und packt sie, bevor sie fällt.

„Und was machen wir jetzt mit dir?“

Sie zittert so sehr, dass ihre Zähne klappern. Er knöpft seine Jacke auf, zieht sie aus und legt sie ihr um die Schultern. Sie riecht nach Erde und nassem Tier, aber sie wärmt.

„Noch zwei, drei Kilometer, dann kommt die Grenze. Bis zu den ersten Häusern ist es dann nicht mehr weit. Du bist doch Deutsche, oder?“

Sie nickt zaghaft.

Er dreht sich um und geht ein paar Schritte. „Na los“, ruft er über die Schulter.

Sie rührt sich nicht.

„Wär besser, du würdest mitkommen.“

Langsam setzt sie sich in Bewegung. Erik kommt bestimmt zurück. Gleich.

Der Mann geht dicht neben ihr, sodass ihre Arme sich fast berühren. Das Licht der Taschenlampe leckt an seinen schlammverschmierten Wanderschuhen.

Was hat er hier zu suchen, um diese Uhrzeit?

Plötzlich nimmt er ihre Hand. Seine Haut ist trocken und warm.

„Bist ja immer noch ganz kalt.“

Sie will ihre Hand zurückziehen. Aber er hält sie fest.

„Wie bist du eigentlich hierher gekommen? War nicht geplant, oder?“

Sein Blick hinterlässt eine heiße Spur auf ihrem Körper.

„Naja, ne Nachtwanderung wolltest du wahrscheinlich nicht machen. In dem Fummel.“ Er lacht heiser. „Egal. Hast du nen Freund?“

Wieso will er das wissen? Erik. Wo bleibt er nur?

„Der Kerl muss ein Arschloch sein, wenn er so schlecht auf dich aufpasst. Ich würd ihn in die Wüste schicken.“

Wieder stößt er ein raues Lachen aus.

Sonja beißt sich auf die Lippen.

„So“, sagt er, „wir sind bald da, und ich kenn deinen Namen gar nicht. Ich heiß übrigens Tino.“

Will er nur nett sein? Ihr die Angst nehmen?

Oder spielt er ein Spiel? Eins, das schlimm endet, wenn sie falsch spielt?

„Ist bestimmt altmodisch, dein Name. Also, ich mein das nicht bös, aber Mädchen wie du haben oft solche alten Namen. Ich mag die ganz gern. Henriette oder so.“

Sie muss mitspielen. Ein altmodisch klingender Name ...

„Charlotte“, ist der Erste, der ihr einfällt.

Er grinst. „Charlotte und Tino. Nachts auf der Flucht. Wär ein cooler Filmtitel.“ Er drückt sanft ihre Hand.

„Von so nem Roadmovie, weißt du? Bräuchten wir nur noch ein Auto. Nen alten Amischlitten, in Kaugummigrün.“

Er kichert in sich hinein.

Sonja wagt einen Seitenblick. Er sieht harmlos aus, fast kindlich mit dem fein geschnittenen Gesicht, dem langen Haar, das ihm in die Stirn fällt, den vollen Lippen, dem Wollpulli, der um seinen Oberkörper schlackert.

Niemand, vor dem man Angst haben muss.

„Hab meinen Hund gesucht“, sagt er unvermittelt. „Ist mir vorhin abgehauen. Hat Wild gewittert, und weg war er.“

Es könnte stimmen. Die Wanderschuhe. Die Jacke. Der Tiergeruch.

„Was hast du für einen Hund?“ Ihre Stimme balanciert auf einem schmalen Stück Mut.

„Schäferhund-Collie-Mix. Schlauer Kerl. Vielleicht ist er schon nach Hause gelaufen.“

Er bleibt stehen. „Glaubst du mir? Oder denkst du, ich bin so ein Irrer, der Jagd auf Frauen macht?“

Er sieht sie an, mit hochgezogenen Augenbrauen und schiefem Lächeln.

„Lass mich überlegen“, fährt er fort. „Was könnte man so machen, im Dunkeln, hier in der Pampa? Vielleicht Beute von nem Banküberfall verbuddeln? Oder die vergiftete reiche Omi? Oder abhauen, weil man seinen Vater gekillt hat und die Polizei hinter einem her ist?“

Er kichert.

Dann erstirbt sein Lachen. Er tritt näher an sie heran.

„Aber … man muss schon aufpassen. Du glaubst, du packst das nicht. Jemanden umzubringen. Dass da eine Mauer ist zwischen Gut-Sein und Böse-Sein, die dich stoppt. Aber das stimmt nicht. Du machst einen Schritt: und bist drüber.“

Sonja schnappt nach Luft. Sie will ihre Hand aus seiner ziehen, aber sein Griff ist zu stark.

Von irgendwo nähert sich ein Geräusch. Ein Auto.

Erik?

Blitzschnell presst Tino seine Hand auf ihren Mund.

„Charlotte.“ Zärtlich spricht er ihren falschen Namen aus.

„Wir nehmen ne Abkürzung. Du willst doch nach Hause.

Oder?“

Er zerrt sie von der Straße in den Wald hinein. Die Bäume scheinen auseinander zu weichen, als wären sie seine Komplizen.

Das Motorengeräusch ist ganz nah.

Sonja hält den Atem an. Ein Röhren und Knattern. Wie bei alten Autos mit kaputtem Auspuff.

Eriks neuer Kleinwagen klingt ganz anders.

Er kommt sie nicht holen.

Tino reißt an ihrer Hand. Ihre Beine folgen ihm, als hätte ihr Körper auf Autopilot geschaltet. Dornengestrüpp zerreißt ihre Haut.

Wo bringt er sie hin? Wie soll man sie finden, wenn er sie hier …

Tino stoppt.

Jetzt, denkt sie, jetzt. Tränen fließen über ihre Wangen.

Er streckt die Hand aus. Seine Finger streichen über ihren Mund. Ihr Kinn. Den Hals. Gleiten tiefer.

Sonja steht still. Sieht ihn an. Und er sie.

Der Moment gefriert.

Nach einer Sekunde oder einer Ewigkeit taut er wieder auf.

Und vergeht.

Tino senkt den Blick. „Komm“, sagt er leise und zieht sie weiter, durch Dickicht und Dunkelheit.

Nach einer Weile lichtet sich der Wald. Tino bleibt stehen.

„Guck mal da.“

Sie blickt in die Richtung, in die seine Lampe leuchtet. In der Ferne ein paar Lichter. Ein Dorf.

Gleich sind sie über der Grenze. Noch ein bisschen durchhalten.

Er schweigt, bis sie die ersten Häuser erreichen. Sein Daumen streicht über ihre Finger.

„Da vorn ist ne Telefonzelle.“ Er kramt ein zerknitterte Scheine aus der Hosentasche.

„Reicht hoffentlich für ein Taxi.“

Zögernd nimmt sie das Geld.

„Okay. Machs gut.“

Er hebt die Hand, als wollte er sie berühren. Seine Lippen zucken.

Jäh wendet er sich um. Sie starrt ihm hinterher, bis ihn die Nacht verschlungen hat.

Sonja stolpert zur Telefonzelle, ruft ein Taxi. Dann packt sie Schwindel. Ihre Beine sacken weg. Schluchzend kauert sie sich auf den Boden.

So findet sie der Taxifahrer. Glücklicherweise stellt er keine Fragen, auch nicht, als sie Tinos Jacke auszieht und neben die Telefonzelle wirft.

Erst zu Hause, als das Taxi abgefahren ist, fällt ihr heiß ein, dass sie keine Schlüssel hat.

Doch vor der Tür sitzt Erik, ihre Tasche auf dem Schoß. Er blinzelt sie an. Sein Gesicht glänzt fiebrig.

„Warum bist du nicht zurückgekommen?“, stößt sie hervor.

Er hält eine Wodkaflasche hoch. „Sorry, ich … nach unserem Streit …“

„Hau ab und komm nie wieder!“ Sie packt ihre Tasche, zittert den Schlüssel heraus, schließt auf und taumelt in die Wohnung.

In der Küche sackt sie auf einen Stuhl.

Auf dem Tisch vor ihr liegt die ungelesene Zeitung vom Morgen. Grellrot erzwingt die Schlagzeile ihre Aufmerksamkeit: „Nach Mord an Stiefvater auf der Flucht“.

Darunter ein Foto.

Tino grinst ihr entgegen.

Das Bild verschwimmt vor ihren Augen. Und wird schwarz.

Leichtgewichte

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