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Die Schuhe

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Als hätten sie Marie Antoinette gehört: lavendelfarbene Seide mit Lilienmuster, die Schnallen verziert mit filigranen Spangen, silbern wie die hohen Absätze. Sich ihrer Schönheit und Extravaganz bewusst, thronen die Schuhe auf einem kleinen Podest und blicken würdevoll auf den Hofstaat aus Sandalen, Ballerinas und Pumps.

Nie zuvor hat Helen solche Schuhe in einem Laden gesehen. Wie gut hätten sie zu den Kleidern gepasst, die sie früher trug: pflaumenblaue oder schwarze Ballonröcke mit Spitzenborte, Gehröcke oder Schößchenjacken aus Samt, Rüschenblusen mit Manschetten. Aufgestöbert auf Flohmärkten und in Second Hand-Läden. Sie erinnert sich an die Blicke ihrer Freundinnen, ihre entzückten, schrillen Ausrufe: „Das würde ich mich nie trauen anzuziehen.“

Jan hatte ihre Kleidung auch gefallen. Ihr Stil sei so individuell. Kapriziös. Bis er ihm, kurz nach ihrer Hochzeit, zu auffällig wurde und sie anfing, Jeans und Shirts zu tragen wie alle anderen. Jan wirkt seither gelangweilt, wenn er sie anschaut, aber beruhigt. Seit der Kleine auf der Welt ist, meidet Helen ihr Spiegelbild. Und niemand betrachtet sie mehr mit Interesse, bis auf ihr Kind.

Sie schiebt den Gedanken weg, an den Rand des Bewusstseins, wo es schattig ist und alles an Klarheit verliert. Und an Schmerzpotenzial.

Sie betritt den Laden.

Die Schuhe passen. Ihre Füße sind schmal geblieben. Die Seide umschließt sie wie eine Liebkosung. Helen bewegt sich in ihnen so sicher, als hätte sie die Schuhe schon oft getragen. Als wäre sie jemand anderes. So wie früher.

Heute Abend trifft sie ihre Freundinnen. Als Teenager waren sie unzertrennlich. Ewig ist das her.

Helen hat sie öfter mal angerufen. Manchmal lief der Anrufbeantworter, und sie lauschte auf ihre Stimmen, vertraut und fremd zugleich. Über ein Jahr haben sie sich nicht gesehen. Nahezu drei Monate hat es gedauert, bis sie sich auf einen Termin geeinigt haben. Die anderen sind beruflich sehr erfolgreich. Ihr Zeitbudget ist knapp. Kinder haben sie keine.

„Ich nehme die Schuhe“, hört Helen sich sagen, und nur mit Mühe kann die Verkäuferin ihre Freude wegblinzeln, als sie die beiden Hunderter entgegennimmt.

Zu Hause versteckt Helen die Tüte im Wäscheschrank. Aus der untersten Schublade holt sie die Schmuckschatulle, in der sie Münzen und Scheine aufbewahrt, die sie sich vom Haushaltsgeld abzwackt. Sie nimmt vier Fünfzigeuroscheine heraus und schiebt sie in ihre Geldbörse.

Jan wird nichts merken. Er hat noch nie etwas gemerkt.

Es ist schon spät. In einer Viertelstunde kommen Jan und Mika, und sie hat noch nichts zu essen gemacht. Sie denkt die ganze Zeit an die Schuhe. Plump sehen ihre Füße in den Gesundheitstretern aus, die sie im Haus trägt.

Beinahe brennt ihr der Grießbrei an.

Feuchtwarmer Gewittergeruch schwappt in die Wohnung, als Jan und Mika die Tür öffnen. Mika fällt der Turnbeutel aus der Hand. Er blickt zu Jan hoch, aber der starrt auf die Post, die Helen ihm immer auf das Tischchen im Flur legt.

Beim Anblick des Grießbreis zieht Jan die Augenbrauen hoch. Was sie den ganzen Vormittag angestellt habe, dass es zu nichts Vernünftigem gereicht habe?

Er braucht es nicht auszusprechen. Sie hat seine Mimik zu lesen gelernt.

Mika sucht ihren Blick. Sie steht auf und öffnet ein Fenster, obwohl sie fröstelt.

Wie glatt sich die Schuhe angefühlt haben. Gut aufgehoben an ihren Füßen. An ihren Füßen!

Was werden ihre Freundinnen sagen, wenn sie Helen mit den Schuhen sehen? „Wie früher“, werden sie sagen, und ein Funken neidischer Bewunderung wird in ihren Augen aufblitzen, der all die Jahre überlebt hat.

Wie früher. Helen lächelt in sich hinein.

Jans Stuhl quietscht über den Boden.

„Musst du schon …“

„Ich hab verdammt viel zu tun Helen. Verdammt viel.“

Ob ihm die Worte genauso bitter schmecken, wie sie sich anhören?

„Denkst du bitte an heute Abend?“ Sie dreht sich zu ihm um, obwohl sie ihn nicht anschauen will.

„Ja. Ja, natürlich denke ich an heute Abend.“ Er blickt auf die Uhr.

„Was ist heute Abend?“ Mika sieht sie mit aufgerissenen Augen an.

„Mama trifft sich mit Freundinnen, obwohl sie weiß, dass sie keine mehr sind.“

Helen will etwas erwidern.

„Du gehst weg?“ Mikas Stimme ist ganz klein.

„Nur kurz. Papa fährt mit dir ins Kino. Morgen ist doch schulfrei.“

Jan fixiert sie. Kino war nicht besprochen, funkeln seine Augen.

„Okay“. Mika lächelt nicht. Er hat seinen vernünftigen Blick. Viel zu vernünftig für einen Achtjährigen. Er trägt seinen halb vollen Teller in die Küche.

„Mann, schon wieder so spät.“ Jan küsst zum Abschied Helens rechten Mundwinkel.

Mika bleibt den ganzen Nachmittag in ihrer Nähe. Er legt ein Puzzle nach dem anderen. Am Esszimmertisch, dabei unterhalten sie sich. Über alles, nur nicht über das Kino am Abend. Er hasst Puzzles.

Helen sehnt sich nach einer Zigarette. Obwohl sie in der Schwangerschaft mit dem Rauchen aufgehört hat.

Als Jan gegen achtzehn Uhr nach Hause kommt, steht Mika auf und räumt die Puzzles weg. Er schließt so konzentriert die Schachteln, dass Helen wegsehen muss.

„Bist du fertig?“, fragt Jan und lockert mit einem Ruck seine Krawatte.

„Muss nur noch kurz ins Bad“, murmelt Mika und drückt sich an Jan vorbei.

„Na, wie war’s?“, fragt Helen.

„Wie soll es schon gewesen sein. Anstrengend“, knurrt er.

Sie schluckt. „Du, wenn du zu müde bist, kann ich den anderen auch …“

„Nein, nein. Geh nur. Es liegt dir doch viel daran.“

„Mika und du …“

„Wir werden schon unseren Spaß haben. Auch ohne dich. Jetzt guck doch nicht so.“

Sein Mund lacht. Nur der Mund.

Eine Viertelstunde später gehen sie.

„Tschüss, Mami“, sagt Mika und folgt Jan, der am Auto steht und mit den Fingern auf die Kühlerhaube trommelt.

Für einen Moment möchte sie ihren Sohn festhalten. Sich in seine Kinderwärme, seine bedingungslose Zuneigung hineinkuscheln. Seinen Geruch atmen, eine Mischung aus Seife und Vanilleplätzchen.

Ich gehe nur kurz mit meinen Freundinnen aus, denkt sie. Und er kommt wieder. Mit Jan.

Die Schuhe!

Sie hastet nach oben und holt sie aus ihrem Versteck. Streicht vorsichtig darüber, stellt sie in die Mitte des Schlafzimmers, während sie ihren Kleiderschrank nach etwas zum Anziehen durchforstet. Außer der festlichen Schwarzen hat sie keine anderen Hosen als Jeans. Sie wählt diejenige, in denen sie sich am schlanksten findet, dazu den anthrazitfarbenen Blazer. Es wird ohnehin jeder auf ihre Füße sehen.

„Um sieben hole ich dich ab“, hat Sandra gestern am Telefon gesagt. „Liegt doch auf meinem Weg.“

Es ist zehn nach sieben.

Helen eilt nach unten. Sandra müsste jeden Moment kommen. Helens Hände sind feucht, als hätte sie gleich ein Vorstellungsgespräch.

„Wir gehen zum Inder“, hat Sandra gesagt. „Was, den kennst du nicht? Sorry, es klopft jemand an. Also, bis dann.“

Sandra war früher blond und ist heute brünett. Sie war die Beste in Mathe und Sport, liebte Kitschromane und mochte Eissorten wie grüner Apfel und Wassermelone. Es hatte eine Zeit gegeben, da trafen sie sich fast jeden Tag. Rauchten die erste Zigarette zusammen. Wussten alles voneinander. Teilten jeden Kummer. Niemand hatte Helen näher gestanden.

Halb acht.

Sandra ist Versicherungsagentin. Leiterin einer Zweigstelle.

Da wird es oft spät.

Vier Minuten vor acht.

Irgendetwas muss passiert sein. Helens Hände zittern. Sie vertippt sich zweimal, bis sie die richtige Nummer eingibt, dann meldet sich Sandra sofort. Ihre Stimme muss sich behaupten gegen Stimmengewirr und fremdländische Musik.

„Helen!“

Im Hintergrund bricht abrupt ein Kichern ab.

„Helen, oh, Mann, waren wir … wollte ich dich abholen? Sag nicht, dass ich dich abholen wollte.“

Helen schweigt, weil sie nichts zu sagen weiß.

„Ich wollte dich abholen. Oh, verdammt.“

„Ach“, presst Helen hervor, „nicht schlimm, ich muss ohnehin absagen. Bauchkrämpfe …“

„Oh je. Du, da kann ich dir einen tollen Tee empfehlen. Schreib ich dir auf. Demnächst. Okay?“ Sandra redet immer schneller. „Also mach’s gut und ach, Moment, Grüße von den anderen. Ciao.“

Langsam lässt Helen das Telefon sinken. Sie setzt sich auf die Couch und schaut nach draußen. Es dämmert bald. Der

Sommer ist vorbei.

„Ciao“, sagt sie leise.

In einer Stunde kommen Jan und Mika.

Die Schuhe drücken, und sie zieht sie aus.

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