Читать книгу Der Tyrannenkinder-Erziehungsplan - Martina Leibovici-Mühlberger - Страница 5

Оглавление

Eine Mutter mit Sohn ist mir angekündigt. »Es sei wirklich äußerst dringend«, setzt meine für Erstkontakte und Terminplanung zuständige Assistentin hinzu und zieht dabei ihre Augenbrauen zur Unterstreichung hoch. Susanne ist extrem erfahren und wenn sie so tut, ist es immer dringend. Diese Klientin ist bereit, grundsätzlich jeden angebotenen Termin zu akzeptieren, nur bald, möglichst sofort, solle es sein. Und das, obwohl sie und ihr Sohn aus der Gegend zwischen Graz und Klagenfurt anreisen.

Zwei Tage später öffne ich um 20.30 Uhr die Eingangstür meiner Praxis. Eine zierliche Frau knapp über 45 steht mir gegenüber. In ihrem Blick liegt jene dauerhafte Erschöpfung, die nur jahrelange, kontinuierliche Alltagsüberlastung einem Gesicht einzumeißeln vermag.

Hinter ihr ragt ein Menschengebirge auf.

Auf meine einladende Geste hin tritt sie durch den einen vergleichsweise schmalen, geöffneten Flügel der Altwiener Doppeltür herein.

Ihr Sohn muss sich mit Anstrengung hindurch winden, um endlich in meinem Vorzimmer zu landen.

Ich beobachte dieses ungleiche Paar, wie es sich durch mein langes Vorzimmer auf meinen Praxisraum zubewegt: die raschen, wie eine Nähmaschine trippelnden Schritte der zielstrebigen Mutter und den in ihrem Schlepptau weit seitlich ausschwankenden, sich wiegend und rollend dahinschiebenden Sohn, der kaum eine Chance hat, mit ihr Schritt zu halten. An meiner Praxistür wiederholt sich dasselbe Schauspiel wie vorhin an meiner Eingangstür. Die Mutter flitzt durch, während der Sohn mit Seitwärtsdrehung und schraubender Bewegung, deutlicher körperlicher wie logistischer Anstrengung nachfolgt. Er nimmt dann auch gleich den richtigen Platz auf meiner Couch ein. Seiner Mutter überlässt er einen der beiden dunkelgrünen Lederfauteuils, in dem sie zu verschwinden droht. Ich nehme den anderen, der ihrem gegenübersteht. Wie viele, die unter hohem Druck stehen, braucht auch sie als Einladung nicht mehr als einen offenen Blick meinerseits. Daraufhin bricht die Geschichte jahrelangen Leidens hervor, als wäre ihr endlich die Erlaubnis erteilt, alle Kraftanstrengungen eines Niederkämpfens fallen zu lassen. Auf eine kurze Vorstellung oder auch nur Nennung ihres Namens verschwendet sie keine Zeit. Sie liebe ihren Sohn über alles, ist es ihr wichtig eingangs klarzustellen, so als könnte dies in Frage stehen. Markus ist ein absolutes Wunschkind von ihr gewesen. Aber jetzt weiß sie einfach nicht mehr weiter. Sie kann vor Panik kaum noch schlafen. Die letzte Aussage des Internisten, der Markus seit mehreren Jahren wegen seines Bluthochdrucks und seiner prädiabetischen Stoffwechsellage kontinuierlich betreut, hat ihr den Rest zur schon bestehenden Misere mit seiner sozialen Isolation gegeben. Wenn es so weitergehe mit Markus, werde er seinen dreißigsten Geburtstag nicht mehr feiern können, hat der Internist in Aussicht gestellt, nachdem Markus wieder an Gewicht zugelegt hatte. Der Herr Professor ist äußerst ungehalten gewesen. Seine Ablehnung und sein Unverständnis, dass sie es als Familie so weit haben kommen lassen, ist deutlich spürbar gewesen. Sie als Mutter hat sich unter seinem abschätzigen Blick wie eine Versagerin gefühlt. Markus hat vor lauter Scham gleich seinen flammenroten Ausschlag bekommen. In ihr ist dieses Gefühl von Ohnmacht und auch von ungerechter Behandlung aufgestiegen, denn sie haben beide alles Mögliche versucht, soweit es in ihrer Macht stand. Sie hat Markus zu allen Programmen und Therapien überredet und ihn immer ermuntert durchzuhalten.

Innerlich seufze ich. Geht es hier um eine Opfergeschichte? Unsensible Ärzte, die nur Laborwerte in den »grünen Bereich« geschoben haben wollen und diese Mutter samt ihrem Sohn traumatisiert hätten. Ich spüre, wie ich mich versteife. Wäre nicht das erste Mal, dass mich jemand für einen absurden Schadenersatzprozess zu instrumentalisieren trachtet. Heute ist einfach alles möglich und Eigenverantwortung wird zunehmend zu einem Fremdwort. Mein Blick streift Markus. Während seine Mutter die Krankengeschichte ausrollt, nickt er angedeutet. An ihm erscheint sonst alles verhalten, gedämpft und dabei überdimensional. Auf der breiten, ausladenden Couch mit ihrem lila Samtbezug wirkt er wie ein trauriger, gestrandeter Seeelefant. Er nimmt so viel Platz ein, dass neben ihm links und rechts höchstens noch zwei filigrane Dreijährige Platz hätten. Ein beständiges nervöses Wippen durchläuft seinen rechten Oberschenkel, dessen Dimensionen dem Körperumfang seiner Mutter gleichkommen. Und ich denke mir gerade ohne jeden Anflug von unangebrachtem Humor, dass es wohl keine schlechte Idee sein wird, den Hausarbeiter meines Instituts zu bitten, nach diesem schwerwiegenden Besuch die Gelenkverbindungen der Beine der Couch zu überprüfen, um vor zukünftigen unliebsamen Überraschungen gefeit zu sein. Die ganze Veranstaltung hier ist Markus offenbar extrem unangenehm. Dass er überhaupt hier ist, beruht wahrscheinlich auf einem Machtwort seiner Mutter. Gegenwärtig betet er ganz sicher um ein Unsichtbarkeitscape, wie es ein unbekannter Gönner Harry Potter zukommen ließ.

Zwischenzeitlich bauen sich die Verzweiflungskaskaden seiner Mutter zum großen Wasserfall begründeter Angst um ihres Sohnes Existenz auf. Wenn ein Staudamm bricht, kann man sich nicht entgegenstellen. Unter heftigem Weinen beschreibt sie die bereits bestehende Befundlage ihres Sohnes: Plattfüße, degenerative Schäden an der Wirbelsäule, namhafte Anzeichen von Gelenksabnützungen in beiden Sprung- und Kniegelenken, stark erhöhter Blutdruck mit zeitweise beängstigenden Spitzenwerten, eine Herzvergrößerung, immer wieder, besonders in der warmen Jahresperiode aufflammende nässende Entzündungen irgendwo in einer der Falten in der Fettschürze seines Bauchs oder auch im Schrittbereich, ausgedehnte Krampfadern an beiden Beinen, Atemnot bereits bei geringer körperlicher Anstrengung; nicht zu vergessen ist noch, dass eine manifeste Blutzuckererkrankung sprungbereit hinter der nächsten Ecke lauert und dass ihr Sohn einen Gefäßstatus hat, der, wie es der Internist nach der Ultraschalluntersuchung der großen Gefäße genannt hat, bei einem schweren Raucher jenseits der sechzig zu erwarten wäre. Einen Schlaganfall oder Herzinfarkt hat der Herr Professor ihrem Sohn binnen der nächsten zehn Jahre als mehr als wahrscheinlich in Aussicht gestellt, wenn eine drastische Umkehr nicht sofort erfolgt. Stattdessen hat sein Gewicht bei der letzten Untersuchung die Sturmmarke von 170 Kilogramm überschritten. Jetzt muss einfach wirklich Schluss sein! Markus ist seit zwei Wochen für eine Magenbandoperation angemeldet.

Während seine Mutter referiert, bohrt Markus seinen Blick so vollkommen starr ins Muster des knapp vor seinen Füßen endenden Perserteppichs, als müsste er es später aus dem Gedächtnis zeichnen können. Auch sein Oberschenkel wippt nicht mehr. Nur als sie sein Gewicht nennt, geht ein merkliches Zucken durch seine riesige Gestalt, so als würde er damit nicht nur entblößt, sondern gleichzeitig gezwungen, einer vor sich selbst verschleierten Realität ins Auge zu blicken.

Verdammt, der Junge tut mir echt leid! Wie kann ein 19-Jähriger nur in eine solche Situation geraten? Gleichzeitig wird mir immer unklarer, was Markus’ Mutter mit diesem Besuch gemeinsam mit ihrem Sohn eigentlich bezweckt. Was soll hier abgehen? Was will diese verzweifelte Mutter von mir? Ich bin zwar auch Ärztin und vermag das Puzzle seiner verschiedenen Befunde zu einem schlüssigen Bild zusammenzusetzen. Doch bewegt sich alles, was seine Mutter berichtet hat, außerhalb meiner medizinischen Fachgebiete. Meine Ausbildung als praktische Ärztin liegt lange zurück und im fachärztlichen Bereich bin ich in erster Linie Gynäkologin und nicht Internistin. Außerdem ist das hier eine psychotherapeutische Praxis. Warum eröffnet sie gerade mir das alles?

Noch bevor ich zu einer entsprechenden Rückfrage komme, wird sie dahingehend konkreter. »Das mit dem Magenband klingt ja jetzt wie eine Lösung!«, meint sie, doch ihr Tonfall hat etwas kämpferisch Herausforderndes, so als würde sie die zuvor getätigte Ansage nun in Frage stellen wollen. »Ich habe mich genau erkundigt. Es ist kein unbedingt kleiner Eingriff, aber, wie es scheint, trotz der Nebeneffekte unvermeidbar. Und natürlich nehmen dann auch alle, die so etwas bekommen, drastisch ab. Wobei auch Fälle beschrieben sind, bei denen es nur vorübergehend zu einer Gewichtsabnahme kommt.« Ihr Blick sucht jetzt den meinen, um für das, was jetzt kommen wird, Bestätigung zu finden. »Wissen Sie«, setzt sie im Unterschied zu ihrer vorigen sehr emotionalen Beschreibung der Situation ihres Sohnes nun bedeutend gefasster fort, »Markus’ Gewichtsproblem ist in Wirklichkeit nur die Spitze des Eisbergs, die Gestaltwerdung einer schwer beeinträchtigenden Entwicklungsproblematik.« Sie hält inne. Kurz ist es seltsam ruhig im Raum. Ein Moment gespannter Konzentration entsteht ganz unvermittelt, jene situative Einfrierung des Kommunikationsflusses, die wie ein Anhalten des Atems andeutet, dass das Folgende besondere Aufmerksamkeit verdient.

Der Tyrannenkinder-Erziehungsplan

Подняться наверх