Читать книгу Ein wahrer Gentleman - Martina Lode-Gerke - Страница 6
Pramousquier, Cote d'Azur, August 1902
ОглавлениеDas Chateâu, das Madeleines Bruder bewohnte, war noch etwas größer und luxuriöser als Madeleines. Madeleines Schwägerin Marie-Ange war eine ebenso perfekte und charmante Gastgeberin wie Madeleine, konnte ihr aber, was Aussehen und Intelligenz betraf, nicht im Entferntesten das Wasser reichen. Dennoch schienen die beiden Frauen sich gut zu verstehen und hatten die Männer, nachdem Jean-Pièrre Richard in sein Arbeitszimmer gebeten hatte, um ihm seine Cognac-Sammlung zu zeigen, ziehen lassen. Richard ahnte, dass Jean-Pièrre ihn noch einmal unter die Lupe nehmen wollte und rüstete sich entsprechend.
Zwei Abende zuvor hatte Madeleine seinen Antrag, den er von London aus auch brieflich mehrfach noch einmal bekräftigt hatte, angenommen, nicht, ohne ihn vorher auf eine Sache hinzuweisen, die ihr am Herzen lag.
Er hatte den Verlobungsring, den er ein Jahr zuvor gekauft hatte, demonstrativ auf den Tisch gelegt, als sie sich zum Diner auf der Terrasse niederließen. Madeleine war bei seinem Anblick aufgestanden.
„Du möchtest eine Antwort“, hatte sie gesagt.
„Ich denke, dass ich jetzt eine verdient habe, Madeleine. Ich habe ein Jahr gewartet, und ich werde nicht länger warten. Wenn du einwilligst, mich zu heiraten, werden wir das in den nächsten Wochen tun, ob hier oder in London, bleibt dir überlassen, wenn du 'nein' sagst, reise ich morgen ab.“
Richard hatte forscher geklungen, als er es beabsichtigt hatte, deshalb fügte er rasch hinzu: „Ich habe ein Jahr gewartet, ich möchte nicht noch länger warten, schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.“
„Bevor ich dir eine Antwort gebe, solltest du etwas wissen“, hatte sie verkündet und ihn ins Haus und geradewegs zu ihrer Schlafzimmertür geführt. Richard wurde ziemlich heiß, weil er nicht ahnte, was sie vorhatte, doch er folgte ihr in ihr Allerheiligstes.
„Setz' dich“, befahl sie und wies auf eine bequeme Chaiselongue, die mitten im Raum stand.
Richard gehorchte und sah sich verstohlen um. Das Schlafzimmer war mit prachtvollen weißen Möbeln, die mit Blattgold verziert waren, ausgestattet, Tapeten und Vorhänge waren rosa, und es duftete nach Mimosen und Lavendel. Ob dieser Zurschaustellung opulenten weiblichen Geschmacks wurde ihm noch heißer. Und er geriet vollends ins Schwitzen, als er beobachtete, wie sie zu ihrem Bett ging und den rechten Schuh auszog. Kurz darauf warf Madeleine ihr Strumpfband auf das Bett und er fragte sich, was das werden sollte, wobei er seinem Herzen ständig befahl, doch bitte nicht so wild zu klopfen. Nachdem Madeleine ihren rechten Strumpf herabgerollt und ausgezogen hatte, bat sie ihn, zu ihr zu kommen.
Richard erhob sich und trat voller Erwartung, aber doch zögernd, zu ihr.
„Komm, setzt dich bitte zu mir.“
Richard gehorchte und ließ sich neben ihr auf der seidenen Tagesdecke – ebenfalls rosa – nieder.
„Ich wollte, dass du das hier vorher siehst“, sagte sie und streckte ihm ihr rechtes Bein entgegen.
Was er sah, ließ Richard schlucken. Der halbe Unterschenkel wie der Fuß waren von mehreren Narben bedeckt.
„Ich wollte, dass du das weißt, bevor ich dir eine Antwort gebe“, sagte sie und wollte beginnen, den Strumpf wieder anzuziehen.
Richard hinderte sie daran und zog ihren Fuß an seine Lippen.
„Hast du befürchtet, dass mich das stört?“ fragte er, nachdem er einen Kuss auf den Fuß gehaucht hatte, „dass mich das von meinem Entschluss, dich zu heiraten, abbringen könnte?“
„Ich dachte einfach nur … du solltest es vorher wissen.“
„Ich danke dir, dass du ehrlich bist, aber es stört mich nicht im Geringsten. Woher … ?“
Doch sie antwortete nicht. Nachdem er ihr einen Moment in die Augen geschaut hatte, sagte er mitfühlend: „Das muss furchtbar weh getan haben.“
„Es sind Narben von Brandwunden. Und ja, es hat sehr weh getan, es ist vor vielen Jahren passiert ... wie genau, erzähle ich dir vielleicht später einmal. Ich habe damals Morphium gegen die Schmerzen bekommen.“
Dass sie damals süchtig geworden war und was die wahre Ursache des Brandes gewesen war, verschwieg sie – Ehemänner, vor allem zukünftige, mussten nun doch nicht alles wissen.
„Darf ich dir den Ring jetzt anstecken?“ fragte er schüchtern.
Madeleine strahlte ihn an.
„Ja.“
„Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt.“
Hastig nestelte er an seiner Fracktasche und zog das Kästchen mit dem Ring hervor.
„Er ist zu groß“, stellte er enttäuscht fest, nachdem er ihr den Ring über den Ringfinger gestreifte hatte.
„Steck ihn auf den Mittelfinger“, sagte Madeleine, „wir können ihn später einmal kleiner machen lassen.“
Richard tat, wie ihm geheißen und nahm Madeleine in seine Arme.
„Wie Sie sicher vermuten, wollte ich Sie allein sprechen, Lord Fairfax“, eröffnete Jean-Pièrre das Gespräch.
„Selbstverständlich habe ich damit gerechnet. Ich stehe Ihnen Rede und Antwort. Ihre Schwester hat mir schon gesagt, dass Sie nach dem Tode Ihrer Eltern so etwas wie die Vaterstelle bei ihr vertreten.“
Jean-Pièrre führte Richard an ein Regal, auf dem in teilweise verstaubten Flaschen geschätzte hundert verschiedene Cognacs darauf warteten, verkostet zu werden. Jean-Pièrre griff zielsicher nach einer Flasche und goss von der klaren dunkelbraunen Flüssigkeit großzügig etwas in zwei prachtvolle Kristallgläser.
Der Cognac war über siebzig Jahre alt, wie das Etikett verriet, und schmeckte vorzüglich. Genießerisch sog Richard zuerst den Duft ein und ließ dann das Getränk, das lange vor seiner Geburt hergestellt worden war, zuerst im Glas hin- und herkreisen und dann im Mund hin- und herwandern, bevor er es die Kehle hinabrinnen ließ.
„Ich sehe, ich habe es mit einem Kenner zu tun“, bemerkte Jean-Pièrre zufrieden.
„In der Tat interessiere ich mich für Wein und auch Cognac. Wir Engländer sind nicht solche Banausen, was kulinarische Dinge betrifft, wie in Frankreich immer behauptet wird.“
„Ich kann Ihnen versichern, dass ich diese Auffassung meiner Landsleute nie geteilt habe – Madeleine übrigens auch nicht.“
Richard ahnte, dass sie nun beim eigentlichen Thema angekommen waren und wartete ab.
„Meine Bedenken bezüglich Ihres – Verzeihung – Alters hatte ich Ihnen bereits mitgeteilt. Aber wenn es Madeleine nicht stört, sollte es mich auch nicht stören, wie Sie damals richtig bemerkt haben.“
„Was ist es dann?“ fragte Richard angriffslustiger, als er es beabsichtigt hatte.
„Wenn ich ehrlich bin, vermutlich einfach der Gedanke, dass meine kleine Schwester nicht mehr in meiner Nähe sein wird, ich nicht mehr auf sie aufpassen kann.“
Richard lächelte. „Das wird ab jetzt meine Aufgabe sein, denke ich. Und: England ist nicht aus der Welt … Sie und Ihre Gattin sind uns jederzeit herzlich willkommen. Außerdem musste ich Madeleine versprechen, dass wir jeden Sommer hier verbringen.“
Jean-Pièrre lächelte. „Lassen Sie mich einige Dinge über meine Schwester sagen“, begann er. „Dass ich damals auf Ihr Alter angespielt habe, hat einen gewissen Grund. Sie sind genau das, was man sich unter einem englischen Gentleman vorstellt: distinguiert, aus bester Familie, reich, mit einem gewissen Standesbewusstsein. Und mit erheblichem politischen Einfluss.“
Richard blickte auf.
„Ja, mein lieber Richard, ich habe meine Hausaufgaben gemacht und gebe zu, dass ich Erkundigungen über Sie eingezogen habe, äußerst diskret natürlich. Sie sind, wie man so schön sagt, eine sehr gute Partie. Worauf ich aber hinauswill ist die Tatsache, dass meine kleine Schwester nicht einfach ist. Sie hat Ihren eigenen Kopf und ist sehr selbstständig. Andere würden sagen: kapriziös. Ich fürchte, sie wird sich nicht viel von Ihnen sagen lassen, auch wenn Sie ihr Ehemann sind. Sie ist vielleicht nicht so, wie sich ein Mann Ihrer Generation und Ihres Standes eine Ehefrau vorstellt ...“
„Jean-Pièrre, was ich mir seit dem Tod meiner ersten Frau wünsche, ist erneut eine Partnerin an meiner Seite, kein dekoratives seidenes Sofapüppchen, das man bei offiziellen Gelegenheiten hervorholt, um damit anzugeben und es bewundern zu lassen, um es ansonsten in den Wänden des Hauses einzumauern oder in eine Vitrine zu stellen. Ich bin, wenn ich das so sagen darf, ein erfahrener Ehemann, und ich weiß, dass es in jeder Ehe auch Schwierigkeiten geben kann. Auch mit meiner ersten Frau habe ich bisweilen … diskutiert.“
„Das werden Sie mit Madeleine vermutlich sehr häufig tun müssen. Sie ist sehr selbstständig, und sie hat lange allein gelebt. Sie hat mehr oder weniger immer genau das getan, was sie wollte.“
„Ich werde damit umzugehen wissen“, sagte Richard im Brustton der Überzeugung und genoss den letzten Schluck von dem herrlichen Cognac.
„Sagen Sie nachher bitte nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Ach ja, da ist noch eine Sache ...“
Richard blickte zu seinem zukünftigen Schwager und wartete ab.
„Ich kann Ihnen nicht garantieren ...“
„Was?“
„Dass … äh … dass sie noch Jungfrau ist“, brachte Jean-Pièrre schließlich ein wenig verlegen hervor.
„Nun ... das habe ich auch nicht erwartet, sie ist immerhin über dreißig und eine sehr schöne Frau. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich ihr erster Verehrer bin, wenn ich es einmal so formulieren darf.“
„Dann ist es ja gut. Ich möchte nur nachher keine … Reklamationen.“
Da sprach der Geschäftsmann und Jean-Pièrre merkte an Richards Blick, dass diese Bemerkung eher unpassend war. Er versuchte, es zu überspielen, indem er Richard noch einen Cognac anbot.
„Dann darf ich wohl als Älterer meinem neuen Schwager das Du anbieten“, sagte Richard, um ebenfalls die etwas peinliche Situation zu überspielen. Jean-Pièrre und er stießen an, und nachdem sie den Cognac schweigend genossen hatten, bemerkte Richard: „Wir sollten die Damen nicht länger warten lassen.“
„Nein, das sollten wir nicht. Madeleine ist zuzutrauen, dass sie hier hereinplatzt, wenn es ihr zu lange dauert.“
Gemeinsam gingen sie in den Speisesaal zurück, wo Madeleine und ihre Schwägerin Marie-Ange bereits zum Kaffee übergegangen waren.