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Kapitel 1: Die Ankunft London, August 1902
Оглавление„Sie kommen. Alle in einer Reihe aufstellen. Sind Ihre Schuhe geputzt, Alfred?“ Der Hausdiener nickte. Dem strengen Blick des Butlers entging leider nichts.
„Es muss alles perfekt sein, wenn die neue Herrin kommt“, dozierte Arthur Hotchkins, „der erste Eindruck ist der entscheidende. Wir wollen uns von unserer besten Seite zeigen, das sind wir unserem Herrn schuldig.“
„Nun ja, eine französische Landadlige, die wird keine so großen Ansprüche haben.“ Mrs. Pemperton, die Köchin, schnaufte ein wenig verächtlich, „außerdem halte ich nicht viel von den Franzosen, die haben keine Moral und so.“
„Wir werden abwarten und uns nicht schon vorab ein Urteil bilden, was uns, nebenbei bemerkt, auch nicht zusteht.“ Die Stimme von Hotchkins rutschte eine wenig in die Höhe, wie immer, wenn er sich genötigt sah, einen der ihm Untergebenen zu ermahnen.
„Hoffentlich kann sie Englisch“, bemerkte Hillary, das Küchenmädchen, „sonst kann man sich mit ihr gar nicht unterhalten.“
„Du wirst sie ganz sicher äußerst selten zu Gesicht bekommen, mein Kind, denn dein Platz ist in der Küche“, wies Mrs. Pemperton das stets ein wenig schmuddelig wirkende magere Mädchen zurecht. Hillary senkte den Blick, denn die Köchin nahm jede Gelegenheit wahr, sie darauf hinzuweisen, dass sie an unterster Stelle in diesem Haushalt stand – nun ja, vielleicht eine winzige Stufe höher als die Scheuerfrau, die einmal in der Woche kam, um die Böden im Souterrain und die Treppenstufen vor dem Haus zu schrubben.
„Ich höre das Automobil, sie kommen!“ Hotchkins postierte sich hinter die Haustür, um sie sofort aufzureißen, sobald die Schritte der Herrschaft auf den oberen Stufen zu hören waren. Richard trug, wie stets am frühen Nachmittag, einen eleganten Cut. Madeleine hatte das Londoner Wetter ein wenig zu kühl eingeschätzt und über das lindgrüne, raffiniert geschnittene, elegante Reisekleid eine weiße Nerzstola gelegt. Gekrönt wurde das Arrangement von einem großen, in der Farbe des Reisekleides gehaltenen Hut, der mit einer großen weißen Satinschleife garniert war. Mrs. Pemperton und die anderen weiblichen Hausangestellten sogen bei diesem eindrucksvollen Auftritt ihrer neuen Herrin hörbar Luft ein.
Natürlich hatte es im Vorfeld, nachdem der junge Herr, David Fairfax, das Personal darüber informiert hatte, dass sein Vater überraschend in Frankreich geheiratet habe, Spekulationen darüber gegeben, wie die neue Mylady wohl sein würde. Lady Margaret, die erste Frau von Lord Fairfax, von der der noch im Elternhaus lebende Sohn und auch eine in Australien lebende verheiratete Tochter stammten, war eine schöne, schlanke, hochgewachsene blonde Patrizierin mit überaus aristokratischen Gesichtszügen gewesen, die leider vor einigen Jahren an einer schweren, kurzen Krankheit verstorben war. Nun war eigentlich davon auszugehen gewesen, dass der Herr sich eine ähnlich schöne Frau in seinem Alter erwählt hatte. Man hatte natürlich auch gehofft, dass die neue Herrin des Hauses der englischen Sprache mächtig sein würde, worüber der junge Herr den Butler aber bereits beruhigt hatte.
„Die adligen Familien in Frankreich haben meistens englische Gouvernanten, so dass die Kinder unsere Sprache sehr früh lernen“, hatte er Mr. Hotchkins wissen lassen.
Diskret, aber einige auch mit unverhohlener Neugier, betrachteten die Dienstboten nun die elegante Erscheinung, die graziös an der Seite ihres Ehegatten die Treppe zur Haustür hinaufschritt. Vor der Tür hielt der Hausherr seine frisch Angetraute zurück.
„Moment, Madeleine“, sagte er und lächelte. Dann reichte er dem Butler Gehstock und Zylinder und schlang den rechten Arm um ihren Oberkörper, nahm mit dem linken ihre Beine und trug sie über die Schwelle. Die Bediensteten mussten lächeln, wagten aber sonst keine Gefühlsäußerung.
Als Richard Madeleine im Vestibül wieder absetzte, konnten die Angestellten sie genauer betrachten: eine Schönheit, zweifellos, aber ganz anders, als man erwartet hatte. Dass sie ihrem Ehegatten gerade einmal bis zur Schulter reichte, war das, was am wenigsten überraschte. Denn auch ansonsten war sie das genaue Gegenteil von Lady Margaret: Im Gegensatz zur ersten Ehegattin, die über einen weißen, fast durchsichtigen Teint verfügt hatte, hatte Lady Madeleines Haut eine eher bräunliche, beinah in den Olivton gehende Farbe, was mit Sicherheit der in Südfrankreich glühenden Sonne geschuldet war und sich im englischen Klima vermutlich bald geben würde. Das Haar war von einem tiefen Schwarz, ebenso wie die Augenbrauen und Wimpern, wobei erstere zu einem schlanken, eleganten Bogen gezupft waren und letztere eine überaus verführerische Länge aufwiesen. Das Bemerkenswerteste aber waren die flaschengrünen Augen – Katzenaugen, wie Mrs. Pemperton später im Souterrain sagen würde. Am meisten überrascht war man indes über das Alter der neuen Herrin, die mindestens zwanzig Jahre jünger war als ihr Ehegatte.
„Hoffentlich bekommt er keinen Herzinfarkt, wenn sie … wenn er zu ihr ins Bett … “, lästerte Alfred, als sie sich im Aufenthaltsraum für die Dienstboten später unterhielten, doch er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Mr. Hotchkins fuhr energisch dazwischen: „Das reicht, Alfred!“ „Wenn sie was?“ fragte Alicia, die noch nicht viel mit Männern zu tun gehabt hatte, naiv, doch die Antwort auf diese Frage wurde ihr an diesem Tage nicht zuteil.
„Willkommen zu Hause, Mylord. Mylady, herzlich willkommen in Ihrem neuen Heim. Und unseren allerherzlichsten Glückwunsch zu Ihrer Vermählung.“ Hotchkins verbeugte sich formvollendet: „Das Personal ist vollständig versammelt.“
„Danke, Hotchkins.“ Richard nickte dem Butler huldvoll zu und begann, Madeleine das Personal vorzustellen und Madeleine bemühte sich, sich die Namen sofort zu merken, was ihr auch gelang, da sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte.
„Ich bedanke mich für den freundlichen Empfang“, Madeleine lächelte mindestens ebenso huldvoll wie Richard. „Und ich bin sicher, dass wir gut miteinander auskommen werden.“
„Die spricht aber gut Englisch!“ raunte Hillary der Köchin, wie sie meinte, leise, aber doch so laut zu, dass Richard und Madeleine es hören mussten, „und wie eine Bäuerin sieht sie auch nicht aus!“
Dass sie sich für diese Bemerkung unweigerlich einen schmerzhaften Stoß in die Rippen von Mrs. Pemperton zuzog, wäre ihr ihm Vorhinein bewusst gewesen, wenn sie ein wenig intelligenter gewesen wäre. Madeleine beschloss, diese eigentlich freche Bemerkung nonchalant zu ignorieren. Außerdem hatte sie damit gerechnet, dass das Personal im Vorfeld Vermutungen über ihre Herkunft und ihren Charakter angestellt haben würde. Stattdessen ging sie einen Schritt auf Miss Parker zu, die Richard ihr als ihre zukünftige Kammerzofe vorgestellt hatte. Ihre eigene Zofe hatte nicht nach England mitkommen wollen, weil sie kein Englisch sprach. Madeleine bedauerte das sehr, denn sie war eine geschickte Friseuse, der es nie an Phantasie fehlte, wenn es darum ging, Madeleines hüftlanges rabenschwarzes Haar kunstvoll zu gestalten.
„Ich erwarte heute Abend noch mein übriges Gepäck – es wäre sehr schön, wenn Sie sich um meine Kleider kümmern würden, sie werden in den Koffern arg zerdrückt sein. Die Herren“, sie nickte zu Alfred Wilkins und dem Butler, „werden Ihnen sicher mit dem Tragen behilflich sein. In den Kisten sind Bücher, die können Sie in die Bibliothek stellen und öffnen, sortieren werde ich sie selber.“
„Selbstverständlich, Mylady“, sagte Miss Parker, bei der es sich um eine ältliche Jungfer von kleiner Gestalt mit säuerlich verkniffenem Mund handelte, und machte einen Knicks.
„Wir sollten ins Wohnzimmer gehen, David wartet sicher schon auf uns“, bemerkte Richard und nahm Madeleine den Nerz von den Schultern, um ihn Hotchkins zu reichen.
Madeleine hatte vor diesem Augenblick die größte Angst gehabt. Wie würde Richards Sohn sein? Und vor allem: Wie würde er auf sie reagieren? Immerhin hatte sie mit Richard auch einen erwachsenen Stiefsohn geheiratet und eine Tochter, die aber weit weg mit ihrer Familie in Australien lebte.
Forschen Schrittes trat Richard auf eine der vielen Türen in der Einganghalle zu, so dass Hotchkins Mühe hatte, ihm zuvorzukommen, um ihm die Tür zu öffnen. Eigentlich hatte Madeleine erwartet, dass David seinem Vater ähneln würde, doch der sehr schlanke junge Mann – durchaus gutaussehend mit einem kleinen Schnurrbart – war offenbar mehr nach seiner Mutter geraten. Er war noch einen halben Kopf größer als Richard und überragte sie, Madeleine, also um eineinhalb Köpfe. Als sie eintraten, beeilte er sich, sich vom Sofa zu erheben, wo er in einer Zeitung gelesen hatte. Vater und Sohn umarmten sich.
„Herzlichen Glückwunsch, Vater“, sagte er und klopfte Richard auf den Rücken. Richard versteifte sich dabei ein wenig, was Madeleine mit einem gewissen Staunen zur Kenntnis nahm.
„Danke, mein Junge. Das ist Madeleine“, sagte er ein wenig steif und bedeutete mit einer Geste Madeleine, näher zu kommen.
David trat auf sie zu, nahm ihre rechte Hand und deutete einen zarten Handkuss an. Als er sich wieder aufrichtete und ihr in die Augen sah, zuckte so etwas wie ein Blitz durch ihre Adern. David sah ihrem Mann zwar äußerlich nicht besonders ähnlich, aber er war irgendwie doch seines Vaters Sohn, eine jüngere Ausgabe von ihm.
Und auch David schluckte, bevor er mit etwas rauer Stimme herausbrachte: „Herzlich willkommen, liebe Stiefmutter.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Wage es ja nicht, mich so zu nennen!“
Madeleine zwinkerte ebenfalls, und sie bemerkte, dass David ihre Hand noch immer in der seinen hielt. Erst langsam ließ er sie los und zuckte erst zurück, als Madeleine ihm ihre Hand rasch entzog, weil sie Richards Blick in ihrem Nacken brennen spürte, und für einen Augenblick trat eine ein wenig peinliche Stille ein.
Hotchkins rettete die Situation, indem er Champagner kredenzte.
„Ich dachte mir, ein kleiner Willkommenstrunk wäre recht“, sagte David mit Blick auf den Butler, und immer noch mit etwas belegter Stimme, wendete sich an Madeleine und fragte, „du trinkst doch Champagner?“
Madeleine lachte: „Das fragst du eine Französin im Ernst?“
Sie nahm sich ein Glas vom Tablett, das Hotchkins zuerst ihr, dann Richard und anschließend David reichte. „Ich danke für diesen netten Empfang.“
Sie prosteten sich zu und Richard wies den Butler an, für das Personal am Abend ebenfalls zwei Flaschen bereitzustellen. Zu Davids Erstaunen leerte Madeleine ihr Glas mit wenigen Zügen und hielt Hotchkins sogleich das Glas hin, damit er es erneut füllen sollte. Hotchkins war indes zu lange in herrschaftlichen Diensten gewesen, um sich auch nur mit einem Hochziehen der Augenbrauen zu erlauben, dieses seiner Ansicht nach undamenhafte Verhalten zu kommentieren. Damen der Gesellschaft nippten allenfalls an alkoholischen Getränken, aber sie tranken sie keinesfalls sofort aus. Aber daran würde er sich angesichts einer französischen Hausherrin vermutlich gewöhnen müssen.
„Und, wie gefällt sie dir?“ Richard setzte sich, nachdem Madeleine das Zimmer verlassen hatte, um sich ein wenig frisch zu machen und sich umzuziehen, auf die Sofakante und sah seinen Sohn aufmerksam an. David räusperte sich. Er musste aufpassen, was er nun sagte, das war ihm klar, denn seinem Vater war nicht verborgen geblieben, dass er und Madeleine sich tiefer in die Augen geblickt hatten, als nötig und vor allem schicklich gewesen wäre.
„Sie ist eine sehr schöne Frau. Charmant. Klug scheint sie auch zu sein.“
„Und aus einer der allerersten Familien Frankreichs, ihre Ahnenliste reicht bis zu Eleonore von Aquitanien.“
„Dann ist sie eigentlich sogar mit unserem König verwandt. Aber darauf hast du ja noch nie viel Wert gelegt, Vater. Ich hatte gedacht, nun, als ich deinen Brief bekam, ziemlich spät übrigens, so dass ich kaum etwas vorbereiten konnte, also … ich war erstaunt, denn ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass du vorhattest zu heiraten … Und ich hatte gedacht, nun, dass es sich – verzeih – um eine Frau in deinem Alter handeln würde. Nach dem, was du in deinem Brief geschrieben hast, hatte ich mit einer eher bodenständigen Landadligen mittleren Alters gerechnet, nicht mit einem solchen … Schmetterling. Oder vielleicht ist Paradiesvogel das richtige Wort?“
Richard musste gleichzeitig lächeln und schlucken. „Eine Junkerin vom Land ist sie wirklich nicht, nein. Sie hat lange Zeit in Paris gelebt und sogar einige Semester an der Sorbonne studiert. Was den Altersunterschied betrifft, so scheint das immer für andere ein Problem zu sein: Auch Madeleines Bruder hielt es für notwendig, darauf hinzuweisen, als ich um ihre Hand angehalten habe, wir beide haben das eigentlich nie als Schwierigkeit betrachtet.“
„Noch ist es vermutlich auch kein Problem. Aber in einigen Jahren … Und sie wird Kinder haben wollen. Willst du wirklich noch einmal von vorn anfangen?“
Richard nickte bedächtig. „In der Tat haben wir über dieses Thema noch nicht gesprochen … Andererseits habe ich lange genug ein ziemlich tristes Witwerndasein geführt. Ich muss dir sagen, der Gedanke, dass hier nach so vielen Jahren wieder Kinderlachen zu hören ist, ist mir durchaus nicht unsympathisch.“
Er erhob sich, um sich ebenfalls zum Dinner umzuziehen, das immerhin Madeleines erste Mahlzeit in ihrem neuen Zuhause war, und er hoffte, dass seine Köchin ihr Bestes gegeben hatte, denn was das Essen betraf, war Madeleine eine typische Französin: Sie legte großen Wert auf die Qualität der Lebensmittel, aber auch auf Raffinesse bei der Zubereitung. Er hatte sogar erlebt, dass sie ihren Küchenchef nach einem romantischen Dinner mit ihm auf der Terrasse des Chateâus zu sich zitiert hatte, weil er ihrer Meinung nach eine Sauce nicht richtig gewürzt hatte. Was genau sie mit ihm diskutiert hatte, denn natürlich hatte der Mann, der Richards Meinung nach ausgezeichnet gekocht hatte, sich verteidigt, hatte er, weil sie in den provencalischen Dialekt verfallen waren, nicht bis ins Detail verfolgen können. Auf jeden Fall würde es Mrs. Pemperton bei Madeleine nicht leicht haben. Innerlich musste er grinsen, als er sich vorstellte, wie es wohl sein würde, wenn Madeleine und seine etwas eigenwillige Köchin sich gegenüberstanden und über die Zubereitung eines Gerichtes oder das Würzen einer Sauce diskutierten.
Als er eine halbe Stunde später seine junge Frau in das Speisezimmer führte, stellte er befriedigt fest, dass er sich auf Mrs. Pemperton hatte verlassen können. Sie hatte ihr Bestes gegeben: Es gab Lachs als Vorspeise, als zweiten Gang Fasan mit Feigen, einen knusprigen Lammbraten und als Abschluss Zitronensorbet, das bei der Hitze eine willkommene Erfrischung bot. Und Madeleine hatte nichts auszusetzen, fand vielmehr alles köstlich, oder sie war zu höflich, direkt am ersten Abend etwas zu sagen.
„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ David lehnte sich im Stuhl zurück und schwenkte das Cognacglas in seiner Hand, wobei er die goldbraune Flüssigkeit genüsslich betrachtete.
„Ja, das war so eine Geschichte“, Richard lächelte. „Es war im Casino von Monte Carlo im letzten Jahr. Irgend so ein russischer Großfürst, der völlig betrunken war, hat Madeleine angestoßen, sie hat das Gleichgewicht verloren und sie ist mir sozusagen direkt in die Arme gefallen.“
Richard musste lächeln, als er an die Begebenheit dachte. An Madeleines reich besticktes Abendkleid, das dabei glücklicherweise keinen Schaden genommen hatte, an den Duft ihres schweren Parfums, der ihm dezent, aber doch unvergesslich und eindringlich in die Nase gestiegen war. „Dabei hat sie mir ihren Champagner über den Frack geschüttet. Was ihr sehr peinlich war. Wir haben uns dann mit einer frischen Flasche Champagner auf die Terrasse gesetzt und uns unterhalten. Über ungehobelte russische Großfürsten, die Oper, Literatur, die Politik, wovon Madeleine übrigens erstaunlich viel versteht … und ehe wir es bemerkt haben, war es früher Morgen und das Casino hatte sich fast geleert, die Kellner haben eigentlich nur noch auf uns gewartet und waren ein wenig ungeduldig. Und dann haben wir auf ihrer Jacht den Sonnenaufgang auf dem Meer beobachtet.“
„Sie hat eine Jacht?“ fragte David interessiert.
„Ja, eine ziemlich große sogar, sie gehört ihrem Bruder und ihr gemeinsam. Ich bin dann ein paar Tage später nach Pramousquier gefahren, Madeleine hatte mir freundlicherweise Zimmer in ihrem Chateâu zur Verfügung gestellt. Und wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen. Kurz vor meiner Abreise habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Aber sie hat darauf bestanden, ein Jahr zu warten, was mir zugegebenermaßen schwer gefallen ist … Und jetzt ist sie hier und meine Frau.“ Richard erhob sich und entschuldigte sich bei seinem Sohn, weil er jetzt ins Bett gehen wolle.
David nickte. „Eine wunderbar romantische Geschichte. Solche Romane schreibt vermutlich nur das Leben selbst.“
Mit einem sehnsüchtigen Seitenblick betrachtete er seinen Vater, der vermutlich nunmehr den Freuden des Ehelebens entgegenging, die ihn weiter oben im Haus in Gestalt seiner schönen Stiefmutter erwarteten, und versagte sich einmal mehr den Gedanken, der ihm bereits seit der ersten Begegnung am frühen Nachmittag immer wieder gekommen war. Warum habe ich nicht das Glück gehabt, diese Frau zuerst kennenzulernen?
„Ich dachte mir doch, dass diese Tür in dein Schlafzimmer führt!“ Madeleine stand, nachdem sie ihre Zofe, die ihr beim Auskleiden behilflich gewesen und vor allem ihr hüftlanges Haar ausgiebig gebürstet hatte, weggeschickt hatte, in der Verbindungstür, die die beiden Schlafzimmer der Eheleute verband und lächelte. Richard blickte von seinem Toilettentisch auf und legte die Haarbürste beiseite, mit der er sein naturgewelltes Haar gerade bearbeitet hatte. Madeleine trug einen seidenen, über und über mit Orchideen bestickten Kimono, das blau-schwarze Haar umspielte ihr schönes Gesicht mit den ein wenig schräg geschnittenen, grünen Augen. Als er sich erhob und auf sie zutrat, ließ sie den Kimono von ihren Schultern gleiten und stand vor ihm, wie Gott sie erschaffen hatte. Richard schluckte vor Erregung.
Er erinnerte sich sehr gut an die erst ein paar Tage zurückliegende Hochzeitsnacht, als er, nachdem er sich entkleidet hatte, nur mit einem seidenen Bademantel bekleidet und mit einer Flasche Champagner in ihr Schlafzimmer gekommen war, wo Babette, Madeleines Zofe, gerade damit beschäftigt gewesen war, Madeleines Haar zu bürsten.
„Sie können dann jetzt zu Bett gehen“, hatte Madeleine gesagt und war, nachdem die Zofe eine gute Nacht gewünscht und taktvoll den Raum verlassen hatte, auf ihn zugekommen.
Er war sprachlos gewesen ob ihrer feenhaften Erscheinung in dem cremefarbenen, fast durchsichtigen Spitzennachthemd, und ihm war nichts anderes eingefallen, als in ihr volles Haar zu greifen, es zu seinen Lippen zu führen und zu küssen.
„Ich habe mich das ganze Jahr über schon gefragt, wie lang dein Haar wohl ist“, hatte er in ihr Haar gemurmelt.
„Findest du es zu lang?“ hatte sie gefragt.
„Es ist wundervoll. Du siehst aus wie eine griechische Göttin. Wenn ich Paris wäre, ich würde keine Sekunde zögern, wem ich den Apfel gäbe.“
„Vorsicht, du weißt, was danach passiert ist ...“
„Glücklicherweise musste ich meine Frau nicht rauben ...“
Dann hatte er sie auf den Arm genommen und ins Bett getragen.
„Was hast du vor?“ hatte sie kichernd gefragt.
„Meine ehelichen Pflichten erfüllen ...“
Sie war, wie er zu seiner Erleichterung hatte feststellen können, nicht unerfahren, was Liebesdinge betraf, sodass sie sich schnell verständigen konnten.
„Ich hoffe, du hast nicht erwartet, dass ich noch Jungfrau bin“, hatte sie gesagt und ihm die Wange gestreichelt, nachdem sie die Ehe vollzogen hatten.
„Nein, damit hatte ich nicht gerechnet“, hatte er schmunzelnd erwidert.
In der Tat hatte er damit gerechnet, dass eine so schöne Frau wie Madeleine, die immerhin die Dreißig überschritten hatte und obendrein Französin war, nicht unberührt in die Ehe gehen würde. Das war ihm Recht, denn in der Rolle des erfahrenen Liebhabers, der seiner frisch Angetrauten erst einmal zeigen musste, was Sache war, hatte er sich nicht gesehen. Und da er lange keine Frau mehr gehabt hatte, hatten sie den Akt noch mehrfach in dieser Nacht vollzogen, obwohl sie beide ziemlich viel getrunken hatten. Als die Sonne aufging, war er erwacht und hatte, während sie noch in seinen Armen schlummerte, beobachtet, wie die Sonnenstrahlen Lichtreflexe in ihr Haar zauberten, das zum Teil ausgebreitet auf den Kissen und zum Teil auf seiner Brust lag.
Jetzt war sie in ihrem neuen Zuhause ankommen, und er war glücklich, wie er es seit Jahren nicht gewesen war. Der Anblick ihres wohlgeformten, schlanken Körpers überwältigte ihn einmal mehr. Auch die Narben an ihrem rechten Fuß, die sie ihm am Abend ihrer Verlobung in ihrem Chateâu gezeigt hatte, als er bereits auf eine voreheliche Vereinigung gehofft hatte, nachdem sie ihn in ihr Schlafzimmer geführt hatte, konnten das ansonsten makellose Gesamtbild nicht trüben. Als er sie in die Arme nahm, hatte er bereits völlig vergessen, dass im Ankleideraum nebenan noch Hotchkins, der ihm daheim auch als Kammerdiener diente, mit seinem Reisegepäck beschäftigt war.
Hotchkins seinerseits hatte vergessen, dass es nun, da sein Herr wieder verheiratet war, angezeigt gewesen wäre, vor dem Eintreten in das Schlafzimmer anzuklopfen, und so war ihm für einen winzigen Augenblick der Anblick seiner neuen, in diesem Moment völlig nackten Herrin, der ihm zeitlebens unvergesslich bleiben würde, vergönnt. Madeleine und Richard, in einen zärtlichen Kuss vertieft, bemerkten seine Anwesenheit erst, nachdem er sich diskret in das Ankleidezimmer zurückgezogen und absichtlich einen Schuh seines Herren hatte fallen lassen, damit sie ihn hören sollten.
„Ich habe Hotchkins vergessen, verzeih“, sagte Richard und beeilte sich, den Kimono aufzuheben und Madeleine rasch hineinzuhelfen. Nebenan zählte Hotchkins innerlich bis zehn, denn so lange, vermutete er, würde Lady Madeleine brauchen, um ihre Blößen zu verhüllen.
„Verzeihung Mylord, brauchen Sie mich noch?“ fragte er ergeben, als er durch die Tür trat.
„Nein Hotchkins, danke, legen Sie sich schlafen.“ Richard nickte ihm zu.
„Mylady, Mylord, gute Nacht.“ Hotchkins beugte sein Haupt und drehte sich zur Tür.
„Gute Nacht, Hotchkins“, riefen beide ihm hinterher.
Hotchkins hatte die Tür noch nicht ganz hinter sich geschlossen, da ließ Madeleine ihren Kimono wieder fallen und machte sich an Richards Hausmantel zu schaffen, unter dem, als sie ihn von einen Schultern gezogen hatte, ein eleganter seidener Pyjama zum Vorschein kam. Sie nahm seine Hand und zog ihn ohne Umschweife auf sein Bett und begann damit, das Oberteil aufzuknöpfen. Richard ließ es gern geschehen und küsste Madeleine zärtlich. In dieser Nacht sollte er einmal mehr die Erfahrung machen, dass seine schöne junge Ehefrau erfahrener in Liebesdingen war, als man einer bis vor kurzem unverheirateten Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugestand. Dass Madeleine darauf bestand, die ganze Nacht bei ihm in seinen Armen zu verbringen, hatte ihn zunächst ein wenig irritiert, denn seine erste Gattin, Margaret, und er waren einander zwar sehr zugetan gewesen, aber Margaret wäre nie, zumindest nicht, nachdem die beiden Kinder geboren waren, auf die Idee gekommen, ihre Nacht nicht in ihrem eigenen Bett nebenan zu verbringen, wie es sich für eine Dame aus der oberen Gesellschaftsschicht geziemte. Doch Madeleine war zwar eine Dame edelster Abkunft, aber sie hatte die meiste Zeit ihres bisherigen Lebens auf dem Land zugebracht, wo man solche Dinge vermutlich lockerer sah. Und er war selbst überrascht, wie angenehm es war, als er in der Nacht kurz aufwachte und Madeleines sanfter Atem seine Brust, auf die sie ihren Kopf gebettet hatte, streichelte, und wie köstlich es war, ihren kleinen, warmen, weichen Körper dicht an dem seinen zu spüren.
Und so staunte Hotchkins am nächsten Morgen nicht schlecht, als er, wie jeden Morgen seinem Herrn den Morgentee ins Schlafzimmer bringend, die beiden eng umschlungen und tief schlafend vorfand. Nachdem er das Tablett auf dem Tisch vor dem Fenster abgesetzt hatte, zog er sich diskret zurück und schritt schmunzelnd die große Treppe hinunter ins Souterrain. Alicia, die Lady Madeleine ihren Tee bringen wollte, hielt er auf und schickte sie in die Küche zurück. „Mylady wird läuten, wenn sie ihren Tee will“, wies er das erste Hausmädchen an.