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Weihnachten mit Anderl

Weihnachten stand vor der Tür. Der herbeigesehnte Schneefall blieb auch dieses Jahr aus. Ich freute mich, einige Tage mit meiner Frau Ina und unserer sechsjährigen Tochter Gabi in die Alpen zu unserer Berghütte zu fahren. Am 24.12. verstaute ich unser Gepäck im Kofferraum unseres Autos und befestigte die Skier auf dem Dachträger. Nach dem Frühstück begann die Fahrt. Es goss in Strömen. Wir alle sehnten uns nach einer fröhlichen Weihnacht voller Harmonie in unserer Hütte ohne fließendes Wasser, Strom, Telefon, Zeitung, Radio und Fernsehen. So, wie man eben vor zweihundert Jahren auch Weihnachten feierte – für manche sicher ein unvorstellbarer Gedanke. Nach zwei Stunden Autofahrt waren wir fast am Ziel. Wir bogen in die Forststraße ein, die erfreulicherweise geräumt war, und fuhren aufwärts. Der Regen war längst in Schnee übergegangen – es schneite dicke Flocken. „Wie wäre es jetzt mit einem Weihnachtslied?“, schlug Ina vor.

„Gute Idee“, sagte Gabi, und wir sangen „Leise rieselt der Schnee.“ Als wir die Hütte fast erreicht hatten, sahen wir, dass sie völlig eingeschneit war. Die letzten hundert Meter konnten wir nicht mit dem Auto fahren. Wir stapften hin, bis zu den Knien im Schnee. Die Fensterläden waren geschlossen. In der Hütte war es kalt und ungemütlich. Als Erstes heizte ich den Kachelofen in der Stube.

Bisher war es immer so gewesen, dass Anderl, ein pensionierte Jäger, der dreißig Minuten entfernt eine ehemalige Almhütte bewohnte, vor unserem Eintreffen den Weg geräumt und den Ofen geschürt hatte. Dann wartete er auf uns, zündete eine Kerze an und trank seinen geliebten Kräutertee. Er musste vor ein paar Tagen hier gewesen sein, denn hinter die Hütte hatte er uns eine herrliche Blautanne gelegt. Ich starrte aus dem Fenster und machte mir um Anderl Sorgen. Er war immer sehr zuverlässig. Ina und Gabi bereiteten eine Kleinigkeit zum Essen vor. Ich fragte beide vorwurfsvoll: „Habt ihr euch noch keine Gedanken gemacht, warum der Anderl noch nicht da ist?“

„Das ist sonderbar“, sagte Ina, und an ihrem Tonfall merkte ich, dass auch sie sich Sorgen machte. Ich überlegte nicht lange, zog meine Skistiefel an, schnallte meine Skier an und machte mich auf den Weg zum Anderl. Ich wählte den kürzesten Weg durch den Wald. Der Wind pfiff erbärmlich kalt. Meine Nase tropfte. Plötzlich sah ich im Schnee Hasen- und Rehspuren. Wenigstens ein Lichtblick. Ich hatte das gute Gefühl, nicht mutterseelenallein hier zu sein.

Endlich hatte ich es geschafft, ich hatte Anderls Hütte erreicht. „Anderl“, schrie ich. Kein Laut. Ich klopfte heftig an seine Schlafzimmertür. Ich öffnete die Tür. Da sah ich Anderl, die Augen geschlossen, regungslos im Bett liegen. Ich packte ihn am Arm und schrie ihn an: „Anderl.“ Jetzt erst bewegte er seinen Kopf, erschrak, als er mich sah, und fragte: „Was ist los? Warum plärrst du denn wie ein Jochgeier?“ Er sah schlecht aus. Auf seinem Nachttisch lagen Tablettenschachteln. Anderl stand auf. Er schnaufte wie ein Walross und sagte zu mir: „Der Arzt verschrieb mir viel zu starke Tabletten.“

Wir saßen schweigend am Tisch. Ich fragte ihn: „Anderl, meinst du, dass du mit den Skiern zu uns fahren kannst?“ „Aber klar, mein ganzes Leben bin ich auf den Brettern gestanden. Ich schaffe den Katzensprung schon, auch wenn ich nicht so ganz auf dem Dampfer bin.“ Er lachte, zog seinen Anorak an und blickte umher, als ob er etwas suchte. Anderl öffnete einige Schubladen und ich sah, dass er irgendetwas in seine Anoraktasche stopfte. „Von mir aus können wir losfahren“, meinte er dann. Wir fuhren zu unserer Hütte. Nach unserer Ankunft gingen Anderl und ich in die Stube. Anderl gab sich zwar große Mühe, seine Niedergeschlagenheit zu verbergen, doch Ina und Gabi merkten sofort, dass er krank war. Sonst war er eine Stimmungskanone, spielte Gitarre, sang dazu und hatte immer den passenden Witz auf den Lippen. Der Weihnachtsbaum war schön geschmückt mit Kugeln, Kerzen, Lametta und alten Holzfiguren. Auf dem Tisch standen Lebkuchen und Plätzchen. Vier Kerzen brannten an dem Adventskranz. Gabi hatte das 24. Türchen ihres Adventskalenders geöffnet und zeigte uns das Motiv: die Krippe mit dem neugeborenen Kind. Draußen wurde es dunkel. Ina zündete das Gaslicht an, und wir beschlossen, zu Abend zu essen. Es gab geräucherte Forellen. Gabi konnte die Bescherung kaum noch erwarten. Wie jedes Jahr läutete bald darauf ein helles Glöckchen. Nun packte jeder seine Geschenke aus. Anderl holte etwas aus der Tasche seines Anoraks und drückte es Gabi in die Hand. Ich konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es schien etwas aus Holz zu sein. Gabi nahm das Geschenk in ihre Hand, schaute es an und sagte begeistert: „Oh, das ist ein Reh.“ „Genau, das ist es“, bestätigte Anderl. „Ich habe es vor fünfzig Jahren geschnitzt. Ich wollte es damals meiner Freundin schenken, hatte aber Bedenken, da ich meinte, es wäre nicht so perfekt geworden. So behielt ich es. Es ist die einzige Schnitzerei von mir, und du sollst es jetzt haben.“ „Es ist wunderschön, Anderl, ich danke dir recht herzlich“, sagte Gabi. „Das Reh wird einen besonders schönen Platz in meinem Zimmer bekommen.“

Die anderen Geschenke beachtete Gabi kaum. Sie hielt den ganzen Abend ihr Reh in der Hand und schaute es mit leuchtenden Augen an. Kommentarlos drückte ich Anderl die Gitarre in die Hand. Wir sangen zu Anderls Gitarrenbegleitung die bekanntesten Weihnachtslieder. Anschließend las ich noch „Die heilige Nacht“ von Ludwig Thoma vor. Bei der Stelle „Kommt die heilige Nacht und der Wald ist aufg‘wacht, schau‘n die Hasen und Reh‘, schau‘n die Hirsch‘ übern Schnee“ blinzelte Anderl Gabi zu. Als ich die Geschichte beendet hatte, war Gabi müde und ging mit ihrem Reh in der Hand ins Bett. Wir Erwachsenen unterhielten uns noch.

Am ersten Weihnachtsfeiertag schien mir im Bett die Sonne ins Gesicht und weckte mich sanft. Gabi und Anderl waren schon in der Stube. Gabi bekam im Abstand von jeweils einer halben Minute einen Lachkrampf nach dem anderen. Anderl war scheinbar wieder in seiner Superform. Der Frühstückstisch war schon gedeckt, das Feuer nachgeschürt, und Anderl hatte den Weg zur Forststraße bereits geräumt. Nach einem kräftigen Frühstück gingen wir alle einige Stunden im Neuschnee spazieren. Der Himmel war herrlich blau, und die Sonne verzauberte mit ihrem hellen Glanz die ganze Natur. Es war wie im Bilderbuch. Gabi hatte natürlich ihr Reh dabei, das sie von Zeit zu Zeit ansah und auch mit ihm sprach. Anschließend lud uns Anderl in seine Hütte ein. Kurz bevor es dunkel wurde, verabschiedeten wir uns vom Anderl, denn er wollte jetzt wieder allein sein und sich schonen. Wir gingen zu unserer Hütte zurück.

Der zweite Weihnachtsfeiertag bestand hauptsächlich aus Skifahren. Drei Monate vergingen. Mich erreichte die traurige Nachricht, dass Anderl einsam in seiner Hütte gestorben war. Es verstrichen zwanzig Jahre. Gabi wohnte nicht mehr bei uns. Eines Tages besuchte ich sie. Da öffnete sie einen Schrank, zeigte mir das geschnitzte Reh und fragte mich: „Papa, kannst du dich noch erinnern, wer mir das Reh geschenkt hat?“ „Aber natürlich, Gabi“, antwortete ich, „du hast es als Kind vom Anderl bekommen.“ Gabi meinte nachdenklich: „Ich werde den Anderl nie vergessen. Er war ein guter Mensch. Solange ich lebe, wird er in meiner Erinnerung weiterleben.“

Hermann Bauer, Jahrgang 1951, lebt in seiner Geburtsstadt München und schreibt seit vielen Jahren Kurzgeschichten und Lyrik.

Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 2

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