Читать книгу Seine Gnade ist bunt - Martina Plieth - Страница 51
Wortlaut der ausgeführten Predigt:
ОглавлениеGnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
„Ach“, seufzte die alte Frau, „ich glaube, manche Tunnel haben Kurven“.
»Manche Tunnel haben Kurven?« – Das verstand die Angesprochene nicht. „Ja“, sagte die alte Frau, „manche Tunnel müssen Kurven haben, denn ansonsten sähe ich am Ende doch das Licht“. „Das Licht? Aber Ihre Nachttischlampe brennt doch“, erwiderte die Besucherin und schüttelte den Kopf. „Ja, ja“, sagte die alte Frau, „manchmal brennt Licht, und doch kann es ganz dunkel sein, denn manche Tunnel haben Kurven“.
Liebe Gemeinde!
Das ist ein seltsamer Dialog, der sich vor unseren Ohren gerade entspinnt. Ein wenig verworren und rätselhaft klingen die Worte; und wir müssen schon ganz genau hinhören, um ein wenig mehr zu verstehen als die unverständige Besucherin der alten Frau.
»Manche Tunnel haben Kurven.« – Wer bei diesem Satz an all die Tunnel denkt, die per Bahn oder im Auto durchfahren werden, der oder die schüttelt natürlich den Kopf. Technische Vernunft sagt uns, dass im Leben niemand einen Tunnel baut, der um die Ecke führt. Das wäre ja der reine Unverstand! Nein, so einen Tunnel baute im Leben keiner!
Wer aber an Tunnel-Erfahrungen im Lebensganzen denkt, wird, statt mit dem Kopf zu schütteln, zustimmend nicken: »Ja, manche Tunnel haben Kurven!« – Wer daran denkt, was alles so passiert auf einem langen Lebensweg, weiß, dass es da manchmal ganz plötzlich, von jetzt auf gleich, dunkel wird, so dunkel, dass man sich ans Licht kaum mehr erinnern kann. – Wer Rückschau hält auf dem bisherigen Lebensweg, sieht, dass der nicht immer geradeaus gegangen ist. Auf fast allen Lebenswegen gibt es Umwege und Abzweigungen, Verwinkelungen und Nebenstrecken. Manche Etappe führt nach oben, manche nach unten. Und die ein oder andere führt mitten hinein in einen langen Tunnel; und manchmal hat so ein Tunnel eine Kurve. Es gibt sogar Lebens-Tunnel, die sehen aus wie ein einziges Kurven-Labyrinth; in ihnen geht es hin und her, und es gibt nicht nur unvorhersehbare Wendungen, sondern auch Abwege und Sackgassen. Wer da hineingerät und dann den Überblick verliert, verfällt fast unweigerlich in Panik und fühlt sich eingeschlossen, mitten im Lebens-Tunnel, so wie ins finstre Loch gesperrt. All das kann fürchterlich sein und heftige Angst auslösen; und heftige Angst ist richtig schlimm.
Aber im Kurven-Labyrinth des Lebens-Tunnels gilt auch noch etwas anderes: »Kein Labyrinth ist ohne Mitte, kein Tunnel ohne Ausgang« – und sei der auch durch Kurven unsichtbar gemacht. »Am Ende jedes Tunnels gibt es Licht.« – Nur wer das im Auge behält, hat die Chance, im Labyrinth des Lebens auch in der tiefsten Tunnel-Erfahrung durchzuhalten. »Am Ende jedes Tunnels gibt es Licht.« – Nur wer das in seinem Herzen bewahrt, kann sich mitten in finsterster Finsternis orientieren und gegen Hoffnungslosigkeit anhoffen. »Am Ende jedes Tunnels gibt es Licht.« – Wer das nicht vergisst, übersteht auch die Kurven im Tunnel. Gewiss nicht ganz ohne Furcht und Zittern, aber doch so, dass er oder sie weiter zu sehen und weiter zu gehen vermag. Beides deshalb, weil klar wird: Mein Lebens-Labyrinth hat eine Mitte; mein Lebens-Tunnel hat einen Ausgang. Aus meinen verworrenen Tunnel-Erfahrungen komme ich wieder heraus, und Licht der Hoffnung löst dunklen Zweifel und düstere Verzweiflung ab.
So einer positiven Tunnel-Erfahrung, der kann erst dann Ausdruck verliehen werden, wenn der Tunnel verlassen wird, wenn es ein Entkommen aus der Dunkelheit gibt und wenn es möglich ist, wieder ans Licht zu treten und hellere Zukunft vor sich zu sehen. So eine positive Tunnel-Erfahrung, die setzt viel voraus; so eine positive Tunnel-Erfahrung ist gar nicht leicht zu machen. Und doch gibt es sie; und doch hat es sie immer wieder gegeben. Auch Menschen vor uns haben ihr Leben wie ein dunkles Tunnel-Labyrinth erlebt und erlitten und sind dennoch nicht dazu übergegangen, ihre Hoffnung zu begraben.
Denken wir doch nur an Abraham und Sara (siehe Gen 15)! Sara, eine alte Frau an der Seite eines alten Mannes, deren Zukunft beschnitten erschien, weil sie keine Kinder, keine Nachkommen hatte und weil sie viel zu alt war, einen Sohn als Hoffnungsträger zu gebären. Abraham, ein alter Mann an der Seite einer alten Frau, dessen Zukunft beschnitten erschien, weil er keine Kinder, keine Nachkommen hatte und weil er viel zu alt war, einen Sohn als Hoffnungsträger zu zeugen. Wie sehr mögen all diese bitteren Tatsachen das Leben von Abraham und Sara verdüstert haben. Wie sehr mögen sie Abraham und Sara in die Tiefe geführt haben, ganz tief hinein in einen dunklen Lebens-Tunnel voller Kurven … Und doch, alle beide, Abraham und Sara, hielten durch. Sie hofften mitten in der Finsternis ihrer Kinderlosigkeit auf Licht. Abraham und Sara: Zwei Menschen wie im Tunnel, im Tunnel voller Kurven. Sie hielten durch, denn sie lebten von der Mitte, vom Ausgang ihres Lebens her.
Wir können auch an Noah denken (siehe Gen 6-8), an Noah, der mit seiner Familie von Wasserfluten eingeschlossen in der Arche saß, und nirgendwo war Land in Sicht. An Noah, der die rätselhaften Wege Gottes längst nicht immer verstand und der doch gehorsam diese Wege ging. Wie bitter muss ihm das Warten auf die Taube am Horizont geworden sein, das Warten auf die Taube, die den grünen Zweig der Hoffnung brachte und so das Ende der Tunnel-Erfahrung von Noah und seiner Familie ankündigte. Noah und seine Familie: Menschen wie im Tunnel, im Tunnel voller Kurven. Auch sie hielten durch, denn auch sie lebten von der Mitte, vom Ausgang ihres Lebens her.
Und natürlich können wir auch an Jesus, den Christus, denken, der als Menschensohn am Kreuz hing und laut »von Gott verlassen« (vgl. Mt 27,46bβ) schrie. An Jesus, den Christus, um den es ganz dunkel wurde, damit das Lebenslicht auch in der tiefsten Finsternis für niemanden für immer ganz und gar erlischt. Dieser Jesus, der Sohn Gottes, hat sich auch gefürchtet in seinem Lebens-Tunnel. Er hat sich sogar sehr gefürchtet, und das nicht zuletzt im finsteren Tal, in der Todschattenschlucht im Garten Gethsemane (siehe Mt 27,36-46). Und doch konnte er durchhalten, durchhalten für alle Menschen, auch für uns, denn auch er lebte vom Ausgang des Tunnels her. Er starb auf Gott, die Mitte seines Lebenslabyrinthes, zu; und er setzte dabei darauf, dass wirklich wahr ist: »Am Ende des Tunnels gibt es Licht.«
Da sind Menschen wie Abraham und Sara, Menschen wie Noah und seine Familie, und da ist Jesus, der Christus … Und da sind wir: Jeder und jede auf einem anderen Stück des Lebensweges. Manche von uns mitten im Tunnel, einige gerade davor und andere gerade hindurch. Die Tunnel-Erfahrungen, die hier im Jacobi-Haus versammelt sind, mögen bitter und dunkel sein, so dunkel, dass kein Lichtschimmer von außen durchzudringen scheint, und doch gilt auch hier, gerade hier: »Am Ende des Tunnels gibt es Licht.« Und die Hoffnung, die sich an diese Wahrheit knüpft, die kann im Dunkeln Licht schenken, Licht, das von innen kommt und das Menschen mitten im Tunnel ihres Lebens erleuchtet.
Abraham und Sara, Noah und seine Familie: Menschen, die vor uns durch finstere Lebens-Tunnel gegangen, manchmal vielleicht gekrochen sind, Menschen, die uns täglich neu zum Zeichen werden können, zum Zeichen dafür, dass am Ende des Tunnels wirklich Licht ist. Wenn wir an sie denken, dann kann uns das sehr viel geben, aber auch das mag für manche von uns, die mitten im Tunnel stecken, zu wenig sein. Es ist gut, dass es dann auch noch die Erinnerung an Jesus, den Christus, gibt. Sein Licht leuchtet beständig – und dass auch dann, wenn wir es nicht sehen. Es leuchtet, weist uns den Weg und ist unser Ziel. Und wenn wir daran irrewerden, dass unsere Augen im Blick darauf behindert und blind gemacht sind, dann dürfen wir uns mit dieser Wahrheit unserer Lebenserfahrung trösten: Es stimmt, dass mancher Lebens-Tunnel Kurven hat, Kurven, die Dunkelheit verursachen und orientierungslos werden lassen. Es stimmt, dass solche Kurven im Tunnel Angst auslösen. Aber es stimmt auch, dass selbst der kurvenreichste Tunnel am Ende ins Licht führt, dass er dahin führt, wo neuer Ausblick möglich ist. Die Kraft, darauf zu setzen und daran festzuhalten, was immer auch geschieht, die schenke uns allen, Ihnen und mir, Gott selbst täglich neu – er, der in Jesus, dem Christus, an unserer Seite ist und bleiben wird. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, der unsere Welt mit seinem Licht erhellt. Amen.