Читать книгу Reibungsverluste - Mascha Dabić - Страница 7
- hetzen -
ОглавлениеDie Topfpflanzen im Stiegenhaus würden einen weiteren Tag ohne Wasser auskommen müssen, Nora hatte keine Zeit mehr, ihnen zu trinken zu geben. Die kleine Palme, die Nora wegen ihrer Mimosenhaftigkeit Mimi nannte, die Aloe Vera namens Verotschka, der Gummibaum Boris und die drei kleinen Kakteen Tick, Trick und Track, von denen einer, nämlich Trick, gerade in Blüte stand, was ihn verletzlich aussehen ließ, schienen Nora ebenfalls vorwurfsvolle Blicke nachzuwerfen, als sie an ihnen vorbeilief und die Treppe hinunterstürzte. Nach dem Einzug hatte Nora sich fest vorgenommen, sich häuslich einzurichten und zu diesem Zweck im nächstbesten Blumenladen sorgfältig mehrere Topfpflanzen ausgesucht und eigenhändig die vier Stockwerke hinaufgetragen, nur um festzustellen, dass in ihrer kleinen Wohnung gar kein Platz für sie war, jedenfalls kein richtiger Platz an der Sonne. Die anspruchslosen Kakteen hätten bleiben können, aber Nora brachte es nicht übers Herz, die kleine Pflanzenkompanie auseinanderzureißen, denn ihre Pflanzen gehörten auf eine ähnliche Weise zusammen wie streunende Hunde unterschiedlicher Rassen, die sich aus unerfindlichen Gründen zu einer Hundebande zusammenrotten. So fanden alle Pflanzen im Stiegenhaus ihr neues Zuhause. Ihren ersten Winter hatten sie erstaunlich gut überstanden. Wenn Nora zwischendurch Zeit hatte, sich mit ihren Pflanzen zu beschäftigen, dann sprach sie leise zu ihnen, manchmal auf Russisch. Das hatte sie sich von Vladimirs Großmutter abgeschaut, einer uralten rüstigen Dame, die sich auf ihrer Datscha stundenlang liebevoll mit ihren Pflanzen unterhielt, während sie für ihre eigenen Artgenossen nur schroffe Kommandos übrig hatte. Noras Pflanzenkompanie schien es ihr zu danken, alle Mitglieder hielten tapfer die Stellung, trotz der beträchtlichen Vernachlässigung, die ihre Besitzerin ihnen über weite Strecken angedeihen ließ. Die Pflanzen verdeckten das Schuhregal, auf dem sich ein Dutzend Schuhpaare türmten, und bereiteten ihr jeden Abend einen freundlichen Empfang.
Nora rannte die Treppen hinunter, steckte sich unterdessen eine Zigarette an und stieß die schwere Holztür auf. Auch wenn sie es eilig hatte, was so gut wie jeden Tag der Fall war, genoss sie immer diesen kurzen Augenblick, wenn ihr linker Fuß zum ersten Mal die Straße berührte. Ein zweites Aufwachen, ein endgültiger Schritt hinein in den Tag, hinaus in die sogenannte Welt. Wenn sie den sprichwörtlichen ersten Fuß vor die Tür setzte, fühlte Nora, dass die Last der morgendlichen Gedankenspiralen mit einem Mal etwas weniger wog. Die Straße, die frische Luft, die Aussicht auf Bewegung, der Anblick von Häusern, Autos, Menschen und Hunden, das alles zusammen bescherte eine kurzzeitige Befreiung von ihren Erinnerungsfetzen und Sorgen. Einen Augenblick lang schien alles möglich.
Das war es natürlich nicht. Nora wusste, sie würde nun, so wie jeder andere Passant auch, ihre Schritte genau dorthin lenken, wo sie erwartet wurde, wo eine Aufgabe ihrer Erledigung durch sie, Nora, harrte. Sie würde dorthin gehen, wohin sie gehen musste, weil das nun mal so war, weil das Stadtleben schlussendlich daraus bestand, dass man einmal oder mehrmals am Tag sein Wohnhaus verließ und sich zu seinem Arbeitsplatz, zu einer Verabredung, zum Einkaufen oder zu einem Konzert begab. Die Freiheit des Flaneurs war eine Erfindung der Tourismusbranche, jedenfalls nichts, das auch nur im Entferntesten mit Noras Alltag zu tun hatte.
Obwohl, ganz so war es auch wieder nicht. In ihren ersten Wochen in Sankt Petersburg, bevor sie ihre Arbeitsstelle im Goethe-Institut angetreten hatte, war sie stundenlang ziellos durch die Stadt gestreift und hatte die Magie der Weißen Nächte begierig aufgesogen.
Der allererste Blick auf diese unwirklich schöne Stadt war etwas Besonderes gewesen, ein Zustand, den sie zu verlängern suchte, indem sie ihrem Erkundungsdrang Grenzen auferlegte, um so lange wie möglich in dem Gefühl zu verharren, dass alles um sie herum fremd, verlockend und vielversprechend war. So wie sie beim Lesen eines besonders guten Buches gegen Ende Angst hatte, von den liebgewordenen Figuren Abschied zu nehmen, und deshalb an den letzten Leseabenden die Seitenanzahl streng rationierte, damit die Lektüre noch ein paar Tage länger anhielt, so achtete sie auch darauf, in einer neuen Stadt nicht zu viel auf einmal in sich aufzusaugen, um den Moment hinauszuzögern, an dem die Stadt vertraut und also zum unscheinbaren Hintergrund verkommen sein würde.
Die Freiheit, Sankt Petersburg im eigenen Tempo zu erforschen, währte nicht lange, denn sehr bald waren ihre Tage mit Terminen, Verabredungen, Lesungen und Vernissagen vollgepackt. Die Stadt wurde profan und verlor ihren Glanz, wie Aschenputtel um die Mitternachtsstunde. Die atemberaubende Kulisse, in der, so hatte sich Nora anfänglich gerne vorgestellt, Raskolnikow seine fieberhaften Runden gezogen und der rasende Eherne Reiter den kleinen Beamten verfolgt hatte, verwandelte sich bald in ein konventionelles Koordinatensystem aus Metrostationen, Straßennamen und Hausnummern, in dem sie sich so bald wie möglich zurechtfinden musste, wollte sie nicht im Großstadtdschungel untergehen. Ihren letzten stundenlangen Streifzug ohne Plan und Ziel hatte sie etwa vor eineinhalb Jahren absolviert, an dem Abend, als sie sich endgültig von Vladimir getrennt hatte, oder Vladimir sich von ihr getrennt hatte, je nachdem, wie man es sehen wollte.
Nora nahm einen tiefen Lungenzug von ihrer Zigarette und atmete genüsslich aus. So viel Zeit musste sein. Sie band ihr Fahrrad los und schwang sich auf den Sattel. Nach vielen verpatzten Besteigungen hatte sie doch noch gelernt, ihr Fahrrad, ein altes Herrenrennrad, wie ein Mann zu besteigen, indem sie mit dem linken Fuß in die Pedale trat und das rechte Bein über den Sattel schwang. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie die alte Frau ihren Platz neben dem Supermarkt einnahm. Da saß sie seit etwa einem Dreivierteljahr, vermutlich eine Rumänin in ihren späten Sechzigern, jeden Tag, als wäre diese Straßenecke ihr Büro. Zuerst hatte sie auf dem Boden gekauert, auf einer ausgebreiteten Zeitung. Irgendwann hatte sie sich einen Plastikhocker besorgt und einen Pappbecher vor sich aufgestellt. Wortlos nickte sie jedem Passanten zu, und das war alles. Die ersten paar Tage war Nora über den Anblick der alten Frau bestürzt gewesen, denn sie hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter, es war der gleiche ruhige, durchdringende Blick aus den eisblauen Augen, die gleiche leicht zusammengekauerte Körperhaltung. Mit der Zeit hatte sich Nora an die Szenerie vor ihrem Supermarkt gewöhnt, aber an kalten Tagen versetzte es ihr einen Stich, die alte Frau in Jacke und Schal eingepackt zu sehen. Seit zwei Monaten verkaufte die Frau eine Zeitung, Nora war einigermaßen beruhigt, offenbar war irgendjemand da, der sich kümmerte, eine Organisation oder eine Privatperson. Ab und zu kaufte Nora der alten Frau eine Zeitung ab und legte ein paar Euro drauf, aber an den meisten Tagen schaute sie verlegen weg und erwiderte das Kopfnicken nicht.
Nora strampelte los, nickte der alten Frau kurz zu, bog um die Ecke und reihte sich in den Verkehr ein.
Schon wieder rot. Sie würde wertvolle Minuten verlieren, und wenn sie Pech hatte, würde überhaupt eine rote Welle auf sie zurollen, und dann würde sie schon wieder zu spät zur Arbeit kommen. Nora spürte, wie der Ärger über sich selbst, über ihre pathologische Unfähigkeit, das Haus rechtzeitig zu verlassen, in ihr aufstieg und ihr Schweißperlen auf die Stirn trieb. Sie nahm einen weiteren, aggressiven Zug von ihrer Zigarette. Wie konnte es sein, dass andere Menschen morgens mühelos ihr warmes Bett verließen, ihre Morgentoilette erledigten, möglicherweise sogar ein Frühstück zu sich nahmen und sich obendrein noch schminkten oder rasierten? Dort drüben, diese junge Frau mit den Stöckelschuhen: perfekt frisiert, dezent geschminkt, adrett angezogen. Oder dieser Mann da, mit den zwei Kindern: Wie hatte er es bloß geschafft, früh genug aufzustehen, um diese beiden kleinen Menschen anzuziehen, zu füttern und aus dem Haus zu bugsieren?
Vladimir war auch einer von diesen Morgenmenschen gewesen. »Du Morgenstreber«, hatte sie ihm manchmal schnurrend aus dem Bett nachgerufen, während er sich mit äußerster Präzision und Hingabe seine Krawatte band, sich seine Omega-Uhr umschnallte und alle anderen Attribute des erfolgreichen Lebens anlegte, wie ein Ritter, der sich in die Rüstung wirft, um loszuziehen und sich im rauen Kampf zu behaupten. Da fehlte nur noch die hübsche, frisch angetraute Gattin, die mit einem strahlenden Zahnpastalächeln die Milch in die Cornflakesschüssel goss und mit einer schwungvollen Bewegung den frischgepressten Orangensaft auf den Tisch stellte. Dafür taugte Langschläferin Nora allerdings nicht.
Vladimir gehörte zu der globalen Heerschar von Männern, die verlässlich und pünktlich im Büro erschienen, frisch rasiert, gut gelaunt, mit korrekt gebundener Krawatte und glänzenden Schuhen. Einer von den unzähligen strammen Soldaten der Wirtschaft, die, sobald sie aus dem Bett steigen, zielstrebig dem ersten Höhepunkt ihrer Leistungskurve entgegeneilen. Nora dagegen hatte ihren Schlafrhythmus schon als Schülerin nachhaltig beschädigt, als sie damit begonnen hatte, bis spät in die Nacht mit der Taschenlampe Abenteuerromane und Detektivbücher unter der Decke zu lesen, um ihren Bruder Max nicht zu stören, was dazu führte, dass sie in der Schulbank gegen den Schlaf ankämpfte und dann, sobald sie aus der Schule kam, kraftlos ins Bett fiel und in einen tiefen Nachmittagsschlaf glitt. Diese Angewohnheit behielt sie im Studium und danach bei. »Du bist eben eine Eule«, hatte Vladimir gesagt, wenn sie selbst über ihre morgendliche Schussligkeit geklagt hatte.
Die Ampel schaltete auf Grün. Nora strampelte los.