Читать книгу Reibungsverluste - Mascha Dabić - Страница 8
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ОглавлениеAls sie ihr Ziel erreichte, war es zehn nach neun. Sie war verschwitzt, außer Atem und hätte sich am liebsten selbst dafür geohrfeigt, dass sie schon wieder zu spät kam, obwohl sie sich am Vorabend fest vorgenommen hatte, diese Woche gut und richtig anzufangen. Sie sperrte ihr Fahrrad hastig ab, stürmte in das Gebäude und rannte die drei Stockwerke hinauf. Vor der Tür blieb sie einen Augenblick lang stehen, um der Versuchung zu widerstehen, die Tür aufzureißen. Sie atmete einmal durch und trat ein.
Erika saß wie immer an ihrem Schreibtisch und begrüßte sie mit einem breiten Lächeln.
»Guten Morgen, Norotschka!«
»Hallo, Erika, bitte entschuldige die Verspätung, ich …«
Erika unterbrach sie:
»Kein Problem. Du hast sowieso eine Stehstunde. Herr Achmadow hat gerade telefonisch abgesagt. Er ist krank. Roswitha ist schon im Therapiezimmer.«
Nora holte reflexartig ihr Handy heraus.
»Ja, ich habe dich gleich angerufen und dir auf die Box gesprochen.«
»Ich hab’s nicht gehört, bin heute mit dem Rad da.«
»Bringst du uns einen Kaffee?«
Nora nickte und rang sich ein gequältes Lächeln ab. Der Stress war umsonst gewesen. Sie hätte eine Stunde länger schlafen können. Oder in aller Ruhe bei der Aida einen Kaffee geschlürft und dazu eine Nussschnecke vertilgt.
Egal, so hatte sie eben ihre sogenannte Stehstunde, eine erzwungene Wartezeit, die man ja keineswegs im Stehen verbringen musste und die immerhin elf Euro einbrachte. Besser als nichts. Außerdem war ein Kaffeeplausch mit Erika insbesondere an einem Montagmorgen nicht zu verachten. Am Wochenende erlebte Erika meistens verrückte Sachen, was montags für Unterhaltung sorgte. Nora hatte das Gefühl, dass Erika die Wochenenden dringend brauchte, um ihre Batterien aufzuladen. Kein Wunder, musste sie doch den ganzen Tag freundlich und geduldig bleiben, jedem noch so schwierigen Klienten eine verständliche Auskunft geben und die Launen sämtlicher Psychotherapeuten und Dolmetscher über sich ergehen lassen. Nora fragte sich, wie Erika das aushielt. Sie selbst arbeitete maximal drei Tage pro Woche hier, manchmal auch nur einen Tag. Alle Psychotherapeuten und Dolmetscher arbeiteten so, stundenweise oder tageweise. Nur Erika war von Montag bis Freitag im Haus. Sie bildete das soziale Kernstück des Zentrums, an ihrem Tisch liefen alle Fäden zusammen, bei ihr wurde getratscht, gelästert und gejammert, Honorarnoten wurden ausgefüllt, in dringenden Fällen Tampons, Nagellackentferner und Handcreme geschnorrt, und der Kaffee, ja, ohne Kaffee ging gar nichts.
Nora war schon fast wieder bei der Treppe, als ihr einfiel, dass sie vergessen hatte nachzufragen, welchen Kaffee Erika heute wollte. Sie kehrte um und steckte ihren Kopf durch die Tür:
»Automat, Filter oder Kanne?«
»Automat. So, wie er rauskommt«, antwortete Erika.
Nora grinste verschwörerisch und machte auf dem Absatz kehrt. Erika und Nora hielten große Stücke auf den neuen Kaffeeautomaten, was von allen anderen Kollegen im Büro mit Kopfschütteln bedacht wurde. Sie griffen nur im Notfall darauf zurück, wenn die Milch im Kühlschrank der Gemeinschaftsküche abgelaufen oder das Kaffeepulver aufgebraucht war. Erika und Nora dagegen machten sich einen Spaß draus, jedes Mal eine andere Sorte im Angebot auszuprobieren und für die jeweilige Geschmacksrichtung Punkte zu vergeben.
Auf dem Weg zum Automaten im ersten Stock sinnierte Nora darüber, ob es möglich wäre, eine Statistik über Vornamen von Sekretärinnen aufzutreiben. Bestimmt war es nur selektive Wahrnehmung, aber sie hatte den Eindruck, dass der Name Erika überproportional vertreten war. In der Caritas-Stelle im vierten Bezirk, wo sie mittwochs arbeitete, hieß die Sekretärin auch Erika, ebenso die Sekretärin in der Volkshochschule, wo Nora Russisch für Anfänger unterrichtete, und wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte, hatte in ihrem ersten Studienabschnitt einer von den vier Sekretariatsdrachen am Institut für Politikwissenschaft ebenfalls Erika geheißen. Konnte das ein Zufall sein? Oder war es so, dass Namen bestimmte Eigenschaften und Charakterzüge verstärkten und sich deshalb überdurchschnittlich viele Gleichnamige in einem Berufsfeld tummelten? Erika klang nach Ordnung, Zuverlässigkeit und einer gewissen Strenge, wenn es drauf ankam. Eine Erika passte hervorragend in jedes Büro, der Name bürgte für Sicherheit. Nach Noras Beobachtung lautete das russische Pendant dazu Svetlana.
Roswitha dagegen war ein typischer Name für eine Psychotherapeutin, und zwar für eine von denen, die zu ihrem mütterlich-verständnisvollen Lächeln und ausladenden Kurven gerne große bunte Schals und auffällige Broschen trugen. Roswitha oder Lydia, diese Namen suggerierten Vertrauen und Geborgenheit. Die eher hölzern-abstinent wirkenden Psychoanalytikerinnen hörten wiederum gerne auf solche Namen wie Gertrud oder Hedwig.
Was ihren eigenen Namen betraf, so hatte Nora seit ihren Teenagertagen darauf gesetzt, dass ihr kurzer, prägnanter und im Übrigen weltberühmter Nachname Kant sie mit einer gehörigen Durchsetzungskraft ausstatten würde. Nora Kant, das klang doch kantig, zackig, resch. Hence the name. Kurz und prägnant, wie Dora Maar oder Anaïs Nin. Spätestens im zweiten Studienabschnitt musste sie sich jedoch eingestehen, dass in ihrem Fall die Magie des Namens versagt hatte. Seit sie als Dolmetscherin für Russisch arbeitete, wurde sie ohnehin von vielen verniedlichend Norka oder Norotschka genannt, was ihrem verschusselten Charakter viel eher gerecht wurde, wie sie sich selbst widerwillig eingestehen musste. Außerdem bedeutete Norka auf Russisch Nerz, und als Nora klar wurde, dass sie also mit einem Spitznamen herumlief, der ein Tier bezeichnete, aus dessen Fell schicke Hauben und Mäntel für neureiche Damen hergestellt wurden, wunderte es sie nicht mehr, dass sie in Russland von niemandem ernstgenommen wurde. An ganz düsteren Tagen, die sich vor dem Dreißiger gehäuft hatten, also an solchen Tagen, an denen es Selbstvorwürfe bar jeglicher Selbstironie hagelte, tauchte in ihrer Fantasie von irgendwoher die unheilvolle Überschrift »Norotschka oder ein Puppenleben« auf, mit der sie nichts anzufangen wusste und die sich nur mit einer starken Kopfschmerztablette in Kombination mit einem gut gekühlten Bier verscheuchen ließ.
Erikas heutiger Favorit war also Cappuccino, »so wie er rauskommt«. Nora hatte Lust auf Cappuccino mit Haselnuss. Mit einem Plastikbecher in jeder Hand versuchte Nora, die schwere Glastür mit der rechten Schulter aufzustoßen und verschüttete dabei ein wenig Haselnusscappuccino über ihre Hand.
»Scheiße!«
»Scheiße sagt man nicht«, ließ sich eine Kinderstimme von hinten vernehmen.
Nora drehte den Kopf. Die Stimme gehörte zu einem kleinen Jungen, etwa fünf Jahre alt, der in Socken auf dem Gang stand und Nora aus seinen großen dunkelbraunen Augen ernst anblickte. Offenbar wohnte der Kleine im Haus.
»Entschuldigung«, sagte Nora und lächelte verlegen. Ernst dreinblickende kleine Kinder nötigten ihr Respekt ab.
»Stimmt, so etwas sagt man nicht. Wie heißt du? Wo ist deine Mama?«
»Und wie heißt du?«
»Ich heiße Nora. Und du?«
»Ich heiße Jusuf.«
»Und wo ist deine Mama?«
»Ich habe keine Mama. Mein Papa ist beim Arzt. Meine Schwester ist da«, sagte Jusuf und deutete mit dem Kopf zu einer halb offenen Tür, die zu einer Wohneinheit führte. Im ersten Stock gab es einige Wohnungen für Familien, im zweiten Stock waren alleinstehende Männer untergebracht, auf Russisch Odinotschki genannt, und im dritten Stock befanden sich diverse Büros, in denen Sozialarbeit, Rechtsberatung, Sprachkurse und Psychotherapie angeboten wurde. Wenn Nora im Wohnbereich ihren Automatenkaffee holte, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Sie fühlte sich an ihre Zeiten im Internat und in diversen Studentenheimen und WGs erinnerte, wo man vom Bad bis zum eigenen Zimmer einen Korridor durchqueren musste, was kleidungstechnisch mit einem logistischen Aufwand verbunden war. Erst in Vladimirs Wohnung war es für sie nach vielen Jahren wieder möglich gewesen, den Weg vom Bad bis zum Kleiderschrank nackt oder nur in ein Handtuch gewickelt zurücklegen. Für sie war es damals der ultimative Beweis dafür, endlich angekommen zu sein, was immer das bedeutete.
Im ersten Stock sah Nora manchmal Männer und Frauen mit nassen Haaren, in Schlafröcken oder Jogginganzügen, mit verschlossenen Gesichtern, Menschen, die so aussahen, als sei ihnen das Warten auf den Asylbescheid in jede Faser des Körpers eingeschrieben, als habe ihre gesamte Existenz den Aggregatzustand des Wartens angenommen. Auf den ersten Blick wirkten die im Haus wohnenden Kinder anders, sie konnten laut und verspielt sein, aber Nora hatte manchmal den Eindruck, dass sie das kindliche Verhalten zum Teil aus reinem Pflichtgefühl an den Tag legten, weil man es von ihnen erwartete. Schaute man den Kleinen etwas länger zu, hatte man das Gefühl, dass ihnen die Angst und die Unsicherheit der Erwachsenen keineswegs fremd waren.
Nora schaute den kleinen Jusuf an. Mit seinen rotbesockten Füßen, von denen eine Micky Maus heruntergrinste, stand er ruhig da und schaute zurück. Nora zwang sich zu einem kinderfreundlichen Lächeln.
»Gehst du in den Kindergarten?«
»Ja.«
»Dort gefällt es dir, ja?«
»Ja.«
»Jusuf! Juuusuuuf!!« – rief eine Stimme aus dem Zimmer. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit rotblonden Haaren kam heraus und sagte im raschen Tempo einige Sätze auf Tschetschenisch, die nach Schimpfen klangen. Nora hörte nur ein russisches Wort heraus, komnata für Zimmer, ansonsten blieb ihr der Wortschwall mit den vielen Kehllauten vollkommen unverständlich, aber auch so war klar, dass hier eine ältere Schwester ihren kleinen Bruder zurechtwies. Jusuf warf Nora noch einen letzten ernsten Blick zu, dann drehte er sich um, trippelte folgsam ins Zimmer und war einen Augenblick später hinter der blassgrünen Plastiktür verschwunden.
Nora stieß noch einmal die schwere Glastür mit der Schulter auf und stieg die zwei Stockwerke hinauf, sorgfältig darauf bedacht, diesmal keinen Kaffee zu verschütten. Mit dem rechten Ellbogen drückte sie die Türklinke hinunter und stieß die Tür auf.
»Danke, bist ein Schatz!«, sagte Erika und nahm ihren Kaffee entgegen.
»Tschick?«, fragte Nora und deutete mit dem Kopf zur Teeküche. »Rauchst du noch? Oder schon wieder?«
»Eigentlich schon seit fünf Tagen aufgehört, aber heute mache ich eine Ausnahme.«
»Auf keinen Fall! Ich will dich nicht verführen!«
»Ach was, verführ mich …«, sagte Erika schnurrend und griff nach ihrer magischen Schublade, die Nora als »Erikas Mary-Poppins-Tasche« bezeichnete, weil sie alles enthielt, was man im Büroalltag gebrauchen konnte. Mit einer geschickten Bewegung zog Erika eine Packung extralanger Damenzigaretten und ein knallgelbes Feuerzeug heraus.
In der Teeküche setzten sich die beiden an den kleinen Tisch am Fenster, Erika gab Nora Feuer und zündete dann ihre überlange schmale Zigarette an.
»Also, erzähl mal. Liest du wieder?«
»Nein. Ich sagte doch, drei Monate Lesestreik. Da bin ich konsequenter als du mit deinem Rauchen«, sagte Nora und lachte, während sie genüsslich den Rauch durch die Nase ausblies.
»Na wart nur, irgendwann sitzt du beim Zahnarzt und greifst nach einer Zeitschrift, und dann liest du dort eine Buchbesprechung, und dann, wirst sehen, dann rennst du nach Haus und stürzt dich auf das erstbeste Buch und liest die ganze Nacht durch. So wird’s sein! Das schau ich mir dann an, deinen Lesestreik!«, sagte Erika und versuchte vergeblich, mit den Lippen den Rauch zu einem Ring zu formen.
»Und was gibt’s sonst bei dir? Hast du wieder Kontakt mit Vladimir? Und was ist mit diesem anderen, diesem Timothy? Kommt er dich jetzt besuchen oder nicht?«
»Vladimir hat mir zum Geburtstag eine SMS geschickt, aber ich habe nicht geantwortet. Interessiert mich nicht.«
Erika nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino, nickte anerkennend und sagte: »Glatte fünf Punkte.«
»Timothy kommt angeblich Ende des Monats nach Wien«, sagte Nora, »aber das glaub ich erst, wenn ich ihn wirklich vor mir seh. Der hat schon zwei Mal kurzfristig abgesagt, weißt du noch? Letztes Mal hatte er angeblich einen Bänderriss. Ich glaub kein Wort davon. Akutes Manierenversagen nenn ich so was. Diesmal überleg ich ernsthaft, ob ich nicht selbst kurzfristig absagen soll. Einfach so, aus Rache.«
»Scheiß auf Rache, davon hast du nichts. Sieh lieber zu, dass du ein schönes Wochenende mit ihm verbringst. Bist ja noch jung. Genieß das Leben, solang du noch keine eigene Familie hast.«
»Meine liebe Erika, wenn ich so weitermache, kann ich die Kinderkriegerei und das ganze Familiendings sowieso vergessen«, lachte Nora und stocherte mit ihrer Zigarettenspitze vorsichtig im Aschenbecher herum.
»Und, ist das ein Problem?«
»Nicht wirklich.«
»Na siehst du. Bist ja noch jung. Red keinen Unsinn, das kommt noch alles.«
»Aber sicher nicht mit Tim, das steht fest. Alles, was ich so quasi zu bieten habe« – Nora zeichnete mit ihren Fingern ausladende Gänsefüßchen in die Luft –, »das hat er schon, glaub mir. Schöner, größer, besser. In seinem Universum bin ich kein Fixstern, das sag ich dir. Allenfalls so ein kleiner Trabant«, sagte Nora und lachte bitter.
»Jetzt hörst du aber sofort auf mit diesem Scheiß! So was will ich gar nicht hören. Mit dir kann man überhaupt nicht über Männer reden! Du siehst immer alles so melodramatisch!«
»Das kommt von der Überdosis an russischer Literatur. Aber damit ist ja jetzt Schluss«, rechtfertigte sich Nora. »Keine Sorge, ich werd mich schon nicht vor einen Zug werfen, wenn Mister Timothy nicht auftaucht.«
»Na, das will ich hoffen. Aber jetzt mal etwas ganz anderes, was ist eigentlich mit diesem FWF-Antrag?«
»Frag lieber nicht. Keine Ahnung. Wir warten noch.«
»Ich drück dir die Daumen.«
»Weiß nicht so recht. Vielleicht war das alles keine so gute Idee. Stell dir vor, wir kriegen das Projekt. Was dann? Dann muss ich mich jahrelang mit EU-Russland-Beziehungen herumschlagen, und Ukraine-Krise, und die Krim, und Russlands Beteiligung in Syrien, und irgendwelche Dokumente analysieren, Politikerreden interpretieren und so ein Zeug. Ich frag mich, will ich das überhaupt?«
»Na, das hättest du dir aber vorher überlegen müssen, meine Liebe.«
»So ist es. Ganz genau so«, sagte Nora resigniert, drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher und zündete sich sofort die nächste an.
»Und was ist mit dir? Hast du dich mit Bernhard versöhnt?«
»Ja, hab ich. Stell dir vor, am Wochenende waren wir in einer Therme in Ungarn, super war das, ich sag’s dir, urromantisch …«
Plötzlich ging die Tür auf, und Roswitha steckte ihren Lockenkopf durch.
»Entschuldigung, da ist jemand am Apparat. Nora, gehst du bitte ran, ich glaub, es ist Russisch.«
Nora sprang von ihrem Stuhl auf, drückte ihre Zigarette aus und eilte zum Telefon. Es war Frau Sultanowa, die sich dringend einen Termin wünschte, möglichst noch heute, es sei ein Notfall. Nora gab die Information an Roswitha weiter, diese schaute in ihren Kalender und fragte Nora:
»Bis wann kannst du heute?«
»Open end«, antwortete Nora, ohne zu überlegen, und hätte sich in diesem Augenblick am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Okay, dann hängen wir einfach eine Stunde an. Sag ihr, sie kann um 17 Uhr kommen.«
Nora gab den Termin durch und legte auf. Sie würde also mindestens bis 18 Uhr bleiben müssen. Nora verfluchte sich für ihre unbedachte, in vorauseilender Hilfsbereitschaft getroffene Zusage.
Roswitha lächelte.
»Danke. Der Herr Achmadow hat uns ja mal wieder versetzt. Wer weiß, was es diesmal schon wieder ist.«
»Vielleicht hat er eine Arbeit gefunden …?«, warf Nora ein und ärgerte sich wieder über ihre Gedankenlosigkeit. Bei den meisten Psychotherapeuten musste man auf der Hut sein, so viel hatte Nora schon begriffen. Erst seit etwas mehr als einem Jahr war sie mit dieser Berufsgruppe konfrontiert und fühlte sich in der betriebsinternen Kommunikation noch nicht ganz wohl. Die Art, wie die Psychotherapeuten untereinander über die Patienten oder »Klienten« sprachen, gab ihr Rätsel auf. Manchmal klang es wie banaler Tratsch, dann wieder hatte Nora das Gefühl, dass in jedes Wort des Klienten viel zu viel hineininterpretiert wurde, und manchmal wusste sie einfach gar nicht, was sie von dem ganzen Laden halten sollte. Ihr war bewusst, dass da mehr dahinterstecken musste, aber dass sie selbst noch nicht ganz darauf gekommen war, worum es eigentlich ging und welche Begriffe mit welchen Bedeutungen aufgeladen waren. Alles in allem fühlte sich das psychotherapeutische Terrain für Nora wie ein verbales Minenfeld an, auf dem man nicht oft genug den Mund halten konnte. Erika war ihr da eine große Hilfe. Sie konnte in klaren Worten und mit wohldosierter Ironie die Macken und Vorlieben jeder Therapeutin umreißen, sodass Nora in etwa wissen konnte, woran sie bei wem war.
»Nein, das meinte ich nicht, ob er eine Arbeit gefunden hat oder nicht«, konterte Roswitha auch schon, und Nora beschlich schon wieder dieses ungute Gefühl, etwas Banales und Überflüssiges gesagt zu haben. Si tacuisses, Norotschka …
»Ich denke, es geht um etwas anderes. Weißt du noch, vor zwei Wochen hat er zum ersten Mal wirklich über seine Foltererfahrungen gesprochen. Das ist ihm jetzt wahrscheinlich unangenehm, und deshalb bleibt er uns jetzt eine Weile fern. Aber ich denke, er wird wiederkommen.«
Und ich denke, er hat letztes Mal erwähnt, dass er vermutlich bald eine Arbeit als Hausmeister bekommt und dass er dann nicht mehr regelmäßig kommen kann, dachte Nora, sagte diesmal aber nichts, sondern nickte nur vage.