Читать книгу Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele - Mathias Kopetzki - Страница 6
Streuselkuchen mit Nachschlag
ОглавлениеAls mich meine Mama am nächsten Tag zu Fuß vom Kindergarten abholte, trat sie mit mir völlig überraschend in die kleine Konditorei, die sich auf halbem Wege nach Hause befand und aus der es morgens immer so gut roch. Sie bestellte sich einen Tee und mir einen Streuselkuchen, den ich so sehr liebte, am liebsten aber von ihr selbst gebacken.
Ich war noch nie im Innern dieser Bäckerei gewesen, immer nur dran vorbeigelaufen, Essen gab es bei uns zu Hause und sonst nirgends.
Doch mir sollte der Abstecher recht sein. Ich hatte nach dem Kindergarten und dem ganzen Gespiele mit meinen Freunden sowieso meist einen Kohldampf, der mit Mittag- und Abendessen allein schwerlich gestillt werden konnte.
Ich kaute zufrieden meine Streusel, die ich vom Teigboden löste, und separat verspeiste, weil sie so schön süß waren und wunderbar zart im Vergleich zum trockenen Boden, den man endlos lang kauen musste. Und ich merkte, wie meine Mama mich lächelnd beim Futtern beobachtete.
Doch plötzlich fror ihr Lächeln ein. Sie räusperte sich und hob zu sprechen an. »Weißt du, Mathias, wir haben euch alle drei sehr, sehr lieb, und wir wollen niemals andere Kinder haben als euch drei«, sagte sie und blickte mir tief in die Augen, wie sie es gestern Abend ja auch schon getan hatte.
Ich kaute vor mich hin, blickte sie ebenfalls an, allerdings verdutzt. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, da sie plötzlich wieder so unheimlich ernst wurde.
Sie fuhr fort: »Was Steffen da gestern zu dir gesagt hat, … das stimmt … zum Teil … ein wenig …«
Ich hörte auf zu kauen. Eigentlich hatte ich diese Sache mit den Puppen längst zur Seite geschoben, am Tage hat man schließlich andere Sorgen als in der Nacht. Aber nun interessierte mich natürlich schon, wieso Steffen mit seiner dämlichen Aktion auf dem Dachboden denn auf einmal doch Recht gehabt haben sollte. Und wenn es auch nur »zum Teil« war.
»Nun ja«, fuhr sie fort. »Jedes Kind hat Papa und Mama, genau wie du, wir sind Mama und Papa für dich, und das werden wir auch immer bleiben. Aber weißt du, Mathias, da gibt es andere Menschen, die dafür gesorgt haben, dass du zur Welt kamst. Und da gab es wieder andere Menschen, die haben Axel zur Welt gebracht. Und noch einmal ganz andere, die sind dafür verantwortlich, dass es den Steffen gibt.«
Ich starrte sie aufmerksam an und wagte nicht zu atmen. Obwohl ich nicht viel von dem, was sie da sagte, begriff, wusste ich intuitiv, dass es jetzt nicht angebracht war, irgendetwas anderes zu machen, als ihr zuzuhören.
»Diese anderen Menschen«, fuhr sie fort, und ich merkte, wie schwer sie sich damit tat; sie sprach die Worte langsam, gedehnt und machte lange Pausen, »die haben dann irgendwann gemerkt, dass sie nicht gut für euch sind. Und haben euch lieber zu uns gegeben, zu Mama und Papa Kopetzki, wo ihr – wahrscheinlich – ein besseres Zuhause bekommt als bei ihnen. Verstehst du?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie nickte.
»Irgendwann wirst du alles mal verstehen. Aber jetzt noch nicht. Und bis dahin ist das, was Steffen dir da gestern gesagt hat, eine große Dummheit gewesen. Denn wir sind genauso Eltern für dich wie für Steffen. Und das unterscheidet sich kein bisschen davon, wie andere Eltern zu ihren Kindern sind. Im Gegenteil: Wir haben uns für euch entschieden. Und ich sage es dir noch einmal: Wir wollen keine anderen!«
Hunger hatte mich wieder erfasst, ein entsetzlicher Hunger. Er verdrängte den guten Willen, ihrer Erzählung zu folgen, ohne mit so etwas Profanem wie Kuchenessen beschäftigt zu sein.
Ich schob mir nach den süßen Streuseln auch noch den trockenen Boden Stückchen für Stückchen in die Mundöffnung. Nur schwerlich ließ er sich zerbeißen. Wie Lehm klebte er hartnäckig am Gaumen und an den Milchzähnen.
Wie meine Mama schon richtig erkannt hatte: Ich verstand tatsächlich wenig von dem, was sie gesagt hatte – sehr, sehr wenig. Von welchen anderen Leuten redete sie denn da? Und wie, bitteschön, sollten diese komischen Leute »dafür gesorgt« haben, dass wir »auf die Welt kamen«? Warum waren sie »nicht gut« für uns? Und schließlich: Wie kamen wir dann überhaupt zu unserer Mama und unserem Papa? Zu Fuß? Mit dem Flugzeug?
Das einzige, was ich verstand, war, dass, was auch immer mir da mit diesen komischen Leuten passiert sein sollte, meine Brüder etwas Ähnliches mit anderen komischen Leuten erlebt hatten. Axel hatte es erlebt, und vor allen Dingen auch Steffen.
Ja, auch Steffen kam später zu Mama und Papa! Er gehörte also genauso viel oder genauso wenig zu unserer »Barbie-Familie« wie ich. Und das würde ich ihm tüchtig aufs Brot schmieren, wenn er mir das nächste Mal wieder diese bekloppte Negerpuppe entgegenschleudern sollte.
Doch ich verstand auch etwas von diesem Gespräch, das mich sehr stolz machte: Nämlich, dass es für das, was sie mir da sagte, wert gewesen war, in eine Konditorei einzukehren – was wir ja sonst niemals taten – und Streuselkuchen zu essen.
Für immer sollte nun der Geschmack von Streuselkuchen mit dieser ersten, wichtigen Unterredung mit meiner Mutter verbunden bleiben.
»Darf ich Capri-Sonne?«, wagte ich nach einer nicht enden wollenden Pause zu fragen, in der wir uns schweigend begutachtet hatten, weil wir wohl beide nicht so recht wussten, wie wir diese Unterhaltung denn nun ordentlich zu Ende führen sollten.
Mama lächelte.
»Natürlich.«
Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, der neben der Brötchentheke stand, nahm eine bunt bedruckte Kunststoffpackung heraus, bezahlte sie an der Kasse und stellte sie auf meinen Teller.
Kirsche.
Ich betrachtete die Packung und verzog das Gesicht. Eigentlich mochte ich Orange viel lieber, aber das traute ich mich dann doch nicht zu äußern. Schließlich wollte ich nicht die Stimmung dieser so heilig anmutenden Erwachsenen-Unterredung kaputtmachen; im Grunde war ich ja ziemlich glücklich, sie mit meiner Mutter führen zu dürfen. Ich war halt schon ein großer Junge.
Stattdessen fummelte ich den eingeschweißten Strohhalm von der Rückseite der Getränkepackung und rammte ihn mit ein wenig Fingerspitzengefühl in die Kunststoffhülle.
Dann fiel mir etwas ein.
»Kommen die Leute, die mich auf die Welt gebracht haben, aus Afrika?«
Augenblicklich verfinsterte sich das Gesicht meiner Mama und sie lehnte sich erschrocken zurück.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie entsetzt.
»Na, wegen der Negerpuppe!«, rief ich, strotzend vor Stolz, ihr auch mal etwas erklären zu können, was sie vorher nicht gewusst zu haben schien. »Die Neger kommen doch aus Afrika und da kommt doch auch die Negerpuppe her! Und wenn Steffen sagt, ich sehe aus wie eine Negerpuppe, und Eltern sehen doch meistens so aus wie ihre Kinder, dann müssen meine früheren Eltern doch aus Afrika sein!«
Ich war zufrieden mit meiner wasserdichten Argumentationskette, doch meine Mama hatte von Wort zu Wort entsetzter gewirkt.
Ich spürte, dass sie schwer um ihre Fassung rang. Sie holte das Brillenetui aus ihrer Handtasche hervor und wedelte sich Luft zu.
»Also, erstens«, stellte sie fest, nachdem sie eine Weile wieder mal die richtigen Worte gesucht hatte, »siehst du nicht aus wie ein Neger. Ganz und gar nicht. Die sind viel brauner als du. Das, was Steffen da gesagt und getan hat, war sehr gemein, und das solltest du so schnell wie möglich vergessen. Mag sein, dass deine … diese …« Sie ruderte mit den Händen in der Luft herum, als müsste sie sich die korrekte Formulierung regelrecht herbeiwinken. Dann hatte sie es geschafft. »… also die Menschen, die dafür gesorgt haben, dass du zur Welt kamst«, fuhr sie fort, »und die dir vielleicht auch ein ganz klein wenig ähnlich sehen, aus einem anderen Land kommen als diesem, aber …« Sie machte eine Pause, atmete langsam ein und dann schnaufend wieder aus. »Aber wir wissen es nicht. Damit müssen wir alle leben. Und außerdem …« Jetzt sah sie mir erneut tief in die Augen, »möchte ich nie wieder, dass du diese Menschen deine Eltern nennst. Nie wieder. Hast du mich verstanden? Wir sind deine Eltern. Wir sind Mama und Papa. Da gibt es keine anderen!«
Ich hatte die Hälfte der Capri-Sonne ausgetrunken, mich eben mit dem ekelhaften Kirschgeschmack so halbwegs arrangiert, als diese Worte meiner Mama in meine Ohren drangen und dort geradezu schepperten. Sie hatten Gewicht, diese Worte, bleiernes Gewicht, das spürte ich. Sie klangen wie die, die ich im Gottesdienst hörte, in den meine Eltern mich seit einigen Wochen immer sonntags mitnahmen.
Da stand dieser Mann mit der bunten Kutte hinter dem Steintisch und sprach lauter so wichtiges Zeug, das in dem riesigen, hallenden Raum meistens echote und dadurch noch größere Wichtigkeit bekam.
»Aus einem anderen Land«, »Du siehst ihnen ähnlich«, »Wir wissen nicht, woher. Damit müssen wir leben«, »Aber niemals diese Menschen deine Eltern nennen!«, echote es nun auch in meinem Kopf, und ich fühlte mich ganz plötzlich unendlich müde.
Meine Mama hatte nie zuvor so mit mir gesprochen. Zwar war sie natürlich streng zu mir, wenn ich meine Spielecke nicht aufräumte, mit meinem Roller zu weit auf die Straße fuhr oder einen meiner Brüder zuweilen »Furzknoten« oder »Kackgesicht« nannte, aber das klang alles anders. Und es sollte auch noch Jahre dauern, bis sie wieder so oder so ähnlich mit mir sprechen würde.
Doch diese wichtigen, schweren, nachhallenden Worte, die ich ja im Grunde besser verstand, als ich mir eingestehen wollte, schufen Raum in mir, Raum für Gedanken und Gefühle, die sich nach und nach in mir breitmachten. Sie sorgten dafür, dass ich mir immer, wenn ich einem erwachsenen Menschen begegnete, der so schwarze Locken besaß wie ich, so dunkle Augen und eine so dunkle Haut, so dicke Lippen und eine so dicke Nase, vorstellte, er oder sie könnte »dafür gesorgt haben, dass ich auf die Welt gekommen war«.
Ganz tief in mir drin, in einer verborgenen Ecke meines Wunschdenkens, wartete ich mit einer Mischung aus angsterfülltem Schaudern und nervös gespanntem Kribbeln auf den Moment, in dem zwei dieser dunklen Menschen auf mich zutreten und zu mir sagen würden: »Hallo, Mathias. Wir sind deine richtigen Eltern. Komm mit. Wir gehen nach Hause.«