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Im Auftrag des Kalifen

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»Ein Prinz«, sagte ich und streckte meine Brust heraus. »Er war ein Prinz!«

Markus stierte mich mit herabhängendem Unterkiefer an. Er zeigte mir einen Vogel, wandte sich von mir ab und warf den Fußball in die Luft, den er bis jetzt in der Hand gehalten hatte, um ihn nun abwechselnd auf beiden Füßen tanzen zu lassen. Dabei zählte er die Ballkontakte – »Drei, vier, fünf, sechs, …« – und tat so, als wäre ich gar nicht mehr da.

Ich beobachtete ihn, während ich gleichzeitig überlegte, wie ich ihn davon überzeugen könnte, mir doch verdammt nochmal zu glauben.

»… zehn, elf, zwölf, …«

Das macht er gut, dachte ich. Er ist ja wirklich ein guter Kicker. Ein Künstler am Ball! Aber er soll bloß nicht denken, dass mir das Respekt einflößt!

Wir lungerten auf der Fußballwiese herum, die an unsere Grundschule grenzte und die auch mal wieder hätte gemäht werden können. Die langen Halme krochen zuweilen bis zu den nackten Oberschenkeln hinauf und manche ganz böswillige stachen uns sogar in die Waden. Aber das machte uns nichts aus, wir waren eh nur zu zweit, kickten nach Schulschluss ein wenig ziellos vor uns hin, weil wir noch keine Lust hatten, nach Hause zu radeln, und zeigten uns gegenseitig ein paar Dribblings, die wir für wahnsinnig genial hielten. Die anderen Kinder waren schon abgehauen.

»Im Ernst!«, versuchte ich es ein weiteres Mal, ohne sicher zu sein, dass er mir überhaupt noch zuhörte. »Es war ein Prinz, ein Prinz aus Italien!«

»Aus Italien?« Abrupt brach er seine angeberische Jonglage ab und ließ den Ball auf den Rasen kullern. Mit verkniffenem Gesicht blickte er mich von der Seite an. »Etwa ein Spaghetti?«

»Ja, genau ein Spaghetti!«, schrie ich, voller Übermut, da er nun endlich angedockt zu haben schien. Und ich senkte verschwörerisch die Stimme: »Der kam angeritten nach Deutschland, weil er mal richtig gutes Obst essen wollte. Das haben die da nämlich nicht, die haben da ja nur Spaghetti und Pizza, und besonders unsere Äpfel mögen die da richtig gerne. Und er wollte für seine Landsleute einen riesigen Sack davon einsammeln und die da unten mal ordentlich überraschen! Und eigentlich wollte er auch gleich wieder zurückreiten, aber dann hat er unterwegs ein Mädchen getroffen, die genauso braun war wie er. Die sammelte nämlich ebenfalls gerade einen Sack Äpfel ein, und zwar genau von dem Baum, an den er selber ran wollte, dem schönsten und größten in unserm Land, von dem in Italien schon Sagen berichtet haben. Und er wollte ihr sagen, dass sie die Finger von seinen Äpfeln lassen sollte, weil er die doch für sein Volk benötigte, aber sie hat ihn nur frech angesehen. Und dann hat er sie gefragt, woher sie eigentlich komme, und sie hat ihm geantwortet: Aus einem Land, wo Milch und Honig fließen und wo es nur glückliche Menschen gibt. Und dann hat er ihr ein wenig zu lang in die Augen geschaut, und so ist die Liebe in ihm ausgebrochen und in ihr auch. Und dann haben beide das mit den Äpfeln sein gelassen, weil die Säcke auch viel zu schwer gewesen wären für sie und ihre Pferde, und sind auf und davon. Ganz weit weg, also in das Land, wo Milch und Honig fließen und wo es nur glückliche Menschen gibt.«

Da war er wieder, Markus’ herabhängender Unterkiefer, der eher an einen VW Käfer mit kaputter Motorhaube erinnerte, als an einen siebenjährigen Jungen.

»Du spinnst!«, attestierte er mir nach einer endlosen Pause, in der ich noch die kleine Hoffnung verspürt hatte, er könnte mir meinen Schmarrn abgenommen haben.

Schließlich hatte ich doch beobachten können, wie er meine Erzählung mit geweiteten Pupillen verfolgt hatte, ich hatte förmlich dabei zugesehen, wie jedes meiner Worte ein unruhiges Flackern in seinen Augen auslöste, als hätte er meine kleine, feine Herkunftsgeschichte selber erlebt – umso erstaunlicher, da ich sie ja gerade jetzt, in diesem Augenblick erst erfunden hatte.

Aber nun schien er zu meiner Enttäuschung wieder aufgewacht zu sein aus seinem Tagtraum, in den ich ihn mit all meinen zur Verfügung stehenden Mitteln hineinfantasiert hatte. Er popelte in der Nase, als würde ihm keiner dabei zusehen, bohrte mit seinem Blick ein Loch in die Grasfläche und reckte anschließend triumphierend seinen Schädel in die Höhe.

Ich schob augenblicklich Panik. Vermutlich war ihm etwas eingefallen. Vermutlich das schlagende Argument, mit dem er mich kaltstellen konnte – so wie er mich ja auch regelmäßig ausdribbelte, so gut ich ihm mit seinen blöden, schlaksigen Beinen auch Paroli bot.

»Und wiiiie, bitteschön«, wollte er mit bedrohlichem Singsang in der Stimme wissen, als wäre ich der Täter und er der Kommissar, der mich des Mordes überführte. »Wiiiie sollst du dann bitteschön entstanden sein, wenn die sich gleich in dieses Dingsda …« Er schnippte ein paar Mal mit den Fingern, weil ihm die richtige Formulierung nicht gleich einfiel. »… in dieses … dieses Land da mit Milch und Honig aufgemacht haben?«

Ich senkte den Kopf. Da hatte er mich erwischt. Darüber hatte ich mir tatsächlich noch keine Gedanken gemacht.

Nun bohrte ich selber meinen Blick in den Rasen und ließ die Schultern in Richtung Boden sacken. Eine knifflige Frage. Wie entstand man denn überhaupt?

Um meinen Entstehungsbericht hieb- und stichfest zu machen, musste ich so etwas natürlich wissen! Denn dass der berühmte Storch für die ganze Sache verantwortlich sein sollte, glaubten mit sieben Jahren weder ich noch Markus. Im Gegenteil: Wir amüsierten uns über die Vorschüler oder Winzlinge aus dem Kindergarten, die auf unsere altkluge Frage: »Wisst ihr denn überhaupt, wo die Babys herkommen?« stolz antworteten: »Ja, klar, vom Storch!«

Dann lachten wir uns über sie kaputt, während die Kleinen ihr Gesicht verzogen: »Hast du gehört, der Winzling glaubt noch an den Storch! Ha ha! Ist der blöd!« Dabei hofften wir natürlich, dass niemand von denen auf die naheliegende Idee kommen würde, uns mal zu fragen, wie es sich denn wirklich verhielte mit diesen Babys. Denn dann wäre uns das Lachen wohl ganz schnell vergangen. Viel weiter als die Vorschüler waren wir da leider nicht.

Dann fiel es mir plötzlich ein. Da hatte mein Kumpel Lars – der war ja schon acht und wusste ganz sicher darüber Bescheid – vor Kurzem etwas erzählt. Etwas, was ich absolut nicht glauben konnte, doch von dem er geschworen hatte, dass es sich haargenau so abspielen würde.

»Ein Kuss!«, brüllte ich, überglücklich über meine Rettung in letzter Sekunde, bevor sich Markus wieder seinem angeberischen Gekicke hätte widmen können. Und ich nahm mir vor, meinem Retter Lars bei nächster Gelegenheit ein Hubba Bubba zu spendieren, ohne ihm aber genau zu erzählen, wieso ich das tat. »Sie haben sich vorher natürlich geküsst, gaaaanz lange, und dann bekam Esmeralda …«

»Esmeralda?« Markus zog die Stirn in Falten.

»Ja, Esmeralda!«, behaarte ich auf diesem, zugegeben nicht so ganz zeitgemäßen Namen, der mir da plötzlich wie aus dem Nichts in den Kopf geschossen war – ich fand allerdings, er passte irgendwie. »So hieß halt das Mädchen aus dem Land, wo Milch und Honig fließen – da kann sie ja auch nichts für. Aaalso: Sie bekam ganz heftige Bauchschmerzen, wahrscheinlich von den vielen Äpfeln, die sie genascht hatte, und ging zum Fluss. Und dann musste sie ganz dringend. Groß. Sie hat den Rock gehoben, aber natürlich so, dass es der Prinz nicht gesehen hat, sie hat sich vor ihm geniert, und dann kam stattdessen ein Baby raus, und das war ein bisschen braun, weil es aus dem Loch rauskam, wo normalerweise die Kacka rauskommt, und da ist sie selber ganz erschrocken. Da wusste sie jetzt gar nicht, was sie mit dem Baby machen sollte. Weil, sie konnte es ja nicht mitnehmen in das Land, wo Milch und Honig fließen, das wäre viel zu anstrengend gewesen, so auf dem Pferd, zwanzig Tage und Nächte, die man da reitet. Und dann hat sie plötzlich einen Korb gesehen, da unten am Fluss. Der stand da einfach rum. Und da hat sie es reingesetzt und das Baby wegschwimmen lassen. Und dann ist sie wieder zum Prinzen hochgegangen und beide sind sie glücklich miteinander weggeritten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Jawohl, genau so war das.«

Markus verzog das Gesicht und ploppte den Ball auf den Rasen. »Ein Korb? Das ist doch nicht dein Ernst. Was war denn das für ein Korb?«

»Das weiß ich doch nicht!«, echauffierte ich mich, weil ich keine Lust hatte, mir jetzt auch noch auszudenken, was für ein blödsinniger Korb denn das gewesen sein sollte. Schließlich hatte ich dieses Wunderwerk an Story gerade aus dem Stegreif improvisiert, mit allen Details und Wendungen, angereichert mit so ziemlich allen Beilagen, die ein gutes Märchen so braucht (von dem Loch, wo die Kacka rauskommt, vielleicht mal abgesehen). Das war gar nicht so einfach gewesen.

Sollte er sich doch seinen vermaledeiten Korb selber erfinden, meinetwegen einen mit rosa Schleifchen oder am besten gleich einen Einkaufskorb vom Penny-Markt!

»Woher soll ich das denn wissen? Das ist doch schon so lange her! Da war ich doch noch ein Baby! Was weiß ich, in was für einem Korb ich da gelegen habe!«

»Aber deine Eltern müssen das doch wissen – die haben dich doch schließlich gefunden, oder?«

Hmm, überlegte ich. Hatten mich meine Eltern überhaupt gefunden?

Ich entschied mich spontan dazu, dass das dann doch wohl ein wenig zu einfach wäre. Ein solch profanes Ende würde zu einer so genialen Geschichte ja auch überhaupt nicht passen.

»Nein, eine Magd war’s!«

»Eine was?!«

»Eine Magd!«

Markus schnaubte abfällig.

»Sowas gibt’s doch nur im Märchen! Überhaupt kommt mir die ganze Geschichte so vor, als ob ich sie schon mal gehört hätte.«

Stimmt, da hatte er recht. Zumindest im Halbschlaf musste eine ähnliche Geschichte sein Gehirn schon mal gestreift haben. Schließlich war er mit mir in einer Klasse, in der zweiten, und das mit dem Baby im Korb und dem Land, wo Milch und Honig fließen, hatten wir kürzlich erst bei Frau Koslowski in Reli gehabt. Doch das erwähnte ich nicht, vielleicht war mir auch selber nicht so ganz bewusst, wo ich diesen ganzen Schwachsinn eigentlich aufgeschnappt hatte.

Ich war dermaßen in meinem Element, dass ich einfach weiter fabulierte: »Du hast vollkommen recht, Markus, du hast diese Geschichte schon mal gehört. Und das nicht nur einmal. Und zwar deswegen, weil das nämlich Ortsgespräch ist in Hude, bis heute! Und ich schwöre dir, es gibt sogar Fotos von der Magd! Jedenfalls hatte die keinen Mann und kein Haus. Und da hat sie sich gedacht, da ist doch die Familie Kopetzki, die nehmen immer Kinder auf, und warum nicht dieses, da freuen die sich doch!«

»Mann, Mann, Mann!« Markus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht.«

Ich spürte, wie es in ihm ratterte. Gleich ist es soweit, jubilierte ich innerlich, setzte aber außen mein Pokerface auf. Gleich hab ich ihn vollständig überzeugt!

»Und deswegen«, wagte sich noch einmal jene Frage aus ihm heraus, die mich überhaupt zu dieser ganzen Erzählung veranlasst hatte. »Deswegen siehst du also so … so anders aus als deine Eltern und Brüder?«

»Meine Zweiteltern und meine Zweitbrüder!«, posaunte ich stolz. »Woanders hab ich natürlich noch ganz viele andere! Brüder, kann ich dir sagen, und Schwestern, so viele, davon kannst du nur träumen! In Italien! Und im Land, wo Milch und Honig fließen! Da leben die alle! Ganz weit weg! Und gaaanz glücklich!«

»Und willst du da mal hin?«, fragte er schüchtern.

Ich überlegte eine Weile, genoss dabei im Stillen meinen Triumph und die Tatsache, es meinem Fußball-Erzkonkurrenten in zumindest anderer Disziplin mal so richtig gezeigt zu haben.

»Nö«, fiel es entspannt aus meinem Mund.

Ich riss ihm den Ball aus der Hand, kickte ihn auf die Wiese und jagte hinter ihm her.

»Ist doch alles super hier!«, rief ich. » Komm, lass uns weiterspielen!«

Das war die Story, die ich Markus erzählte. Nicole erzählte ich eine ganz andere.

Sie war das einzige gleichaltrige Kind in meiner Straße und kam fast jeden Nachmittag zum Spielen auf unser Grundstück mit dem schönen, großen Rasen, wo es eine Wippe gab und eine Schaukel und einen Sandkasten. Sie selber hatte nur einen Sandkasten.

Als ich mit ihr auf die zweistufige »Turnstange« kletterte, die wir so nannten, obwohl es eigentlich eine stählerne Wäscheleine war, und wir auf der unteren Stange zum Sitzen kamen, betrachtete sie meine schwarzen Locken, meine dunklen Pupillen und sagte plötzlich: »Mein Papa meint, du bist nicht deutsch.«

Dann schaute sie mir erwartungsvoll in die Augen, so als müsste ich jetzt sofort, auf der Stelle eine Erklärung dazu abgeben. Als hätte ich etwas ganz Schlimmes verbrochen, sie hätte mich dabei ertappt, und nun müsste ich mich dafür entschuldigen. Oder beteuern, dass das alles ja gar nicht wahr sei und ich es überhaupt nicht getan hätte!

Natürlich hätte ich jetzt sagen können: »Das stimmt nicht, was dein Papa sagt«, aber dann wäre sie vermutlich beleidigt von dannen gezogen, wie sie es schon mal gemacht hatte, als ich ihr gesagt hatte, dass ihr Papa immer so eine rote Nase habe und furchtbar aus dem Mund rieche.

Und dann hätte ich für die nächsten Tage mal wieder keine Spielfreundin gehabt, die mich nachmittags besuchte, vielleicht sogar keine für die nächsten Wochen. Denn die meisten meiner anderen Freunde waren faule Säcke, die keine Lust darauf hatten, zwei Kilometer zu mir hinaus zu radeln – bei denen im Ortskern gab es ja Spielplätze genug. Wäre also ziemlich fahrlässig gewesen, es sich mit ihr zu verscherzen.

Ich löste mich von ihrem neugierigen Blick, indem ich mich mehr oder weniger gekonnt an der Stange entlanghangelte.

Sie tat es mir nach, war darin aber um einiges wendiger, eine kleine Schlangenfrau – das hatte sie vermutlich beim Voltigieren auf Ponys gelernt. Sie konnte sogar auf der unteren der beiden Stangen ein paar Schritte freihändig balancieren. Doch obwohl sie so konzentriert ihre Turnkünste vollführte, wusste ich, dass sie immer noch auf eine Antwort wartete.

Einen Ballwurf weiter weg, hinten im Blumenbeet, machte sich meine Mama am Unkraut zu schaffen, während Papa am Hühnerstall herumwerkelte. Der Verschlag musste ausgebessert werden, und er zimmerte gerade ein Holzstück an die Schuppenwand. Die Schläge seines Hammers hallten zu uns herüber und so ähnlich hämmerte es auch in meinem Schädel, da ich krampfhaft überlegte, was ich Nicole denn nun erzählen sollte.

Meine Eltern konnten uns zum Glück nicht hören, nicht aus dieser Entfernung, da hätten wir uns schon anbrüllen müssen, und das beruhigte mich ein wenig.

Ich fühlte mich also ansatzweise sicher, räusperte mich, wie unser Dorfpfarrer vor der Predigt, holte tief Luft und stieß den ersten Satz heraus: »Dein Papa hat recht. Ich komme von ganz weit her.«

»Woher denn?«, fragte sie, ihren Blick erneut auf mein Gesicht geheftet.

Hmm. Ja, woher eigentlich?

»Aus Arabien!«, schoss es aus mir hervor, »Aus Bagdad, wo Sindbad zu Hause ist!«

Ein geschickter Spielzug! Ich wusste, dass Nicole ein Fan der Zeichentrickserie »Sindbad« war, die zurzeit im Vorabendprogramm lief. Ich mochte eigentlich »Heidi« viel lieber, aber Nicole fand »Sindbad«, besser, und so hatten wir das schon etliche Male zusammen gucken müssen.

Punkt 17.50 Uhr, wenn sie dann noch bei mir war, ließ sie alles Spielzeug liegen, rannte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. »Komm, Mathias, Sindbad fängt gleich an!« Ich hatte keine Chance und musste ihr dann einfach folgen.

Nun blickte ich sie erwartungsvoll an! Würde sie mir glauben? Sindbad und das mit Bagdad war doch eine tolle Sache!

Aber sie verzog das Gesicht.

»So weit her? Ist das wahr?«

»Aber natürlich ist das wahr! Vor Jahren, als ich noch ganz klein war, hat mich ein Mann hierher gebracht, der hatte einen Turban auf und ein langes Gewand, und er war ganz schwarz im Gesicht. Und das war der Großwesir vom Kalifen von Bagdad, und er hatte den Auftrag, mich nach Deutschland zu bringen, weil man in Bagdad immer noch auf Pferden reitet und mit Kutschen unterwegs ist und mit fliegenden Teppichen. Und ich sollte hier groß werden und Auto fahren lernen. Und wenn ich dann groß bin, dann komme ich zurück nach Bagdad, und dann zeige ich denen, wie das geht.«

»Wow«, sagte sie nur und löste ihren Blick von meinem Gesicht.

Einen Moment später baumelte sie kopfüber mit den Beinen an der Stange, nahm drei oder viermal Schwung und landete nach einer beachtlichen Luftrolle mit den Füßen auf dem Rasen. Ich hielt mich mit den Händen an der oberen Stange fest, saß auf der unteren und staunte sie dabei an.

»Wow«, sagte ich ebenfalls.

Sie lachte ein wenig erschöpft und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht.

Dann grinste sie mich an: »Aber das dauert wohl noch eine Weile, bist du Auto fahren kannst«, sagte sie und fügte flüsternd hinzu: »Bis dahin bleibst du ja noch ein bisschen bei mir.«

Das klang so liebevoll, dass mein Kopf umgehend zu einem Glutofen anschwoll.

Für meinen Kumpel Michael, mit dem ich als Messdiener in rotweißer Kutte beinahe wöchentlich vor dem Altar stand, zur heiligen Kommunion synchron die Schellen erklingen ließ und unserem Prälaten Wein und Weihrauch reichte, war ich der Sohn von Winnetou.

Ich hatte gerade meine ersten Karl-May-Filme gesehen und war begeistert von dem Indianer auf dem wunderschönen schwarzen Pferd, mit dem schneidigen Fransenanzug, der immer durch diese machtvolle Felslandschaft ritt und ständig »mein Bruder!« zu seinem blonden Freund sagte.

Old Shatterhand, das hatte mir meine Mama gesagt, war eigentlich ein Deutscher, also einer, der aus unserer Gegend kam. Vermutlich sogar direkt aus unserem Dorf, aus Hude, so jedenfalls fabulierte ich im Geiste diese Information weiter, das war doch schließlich naheliegend.

Und er wird ja wohl auch nur für ganz kurze Zeit da unten in der Prärie bei seinem Freund Winnetou weilen – diese ständigen Schießereien mit den Schurken, das hält doch kein vernünftiger Mensch lange aus. Und Old Shatterhand wirkte dann doch noch einigermaßen vernünftig.

Zwischenzeitlich kam er sicher immer wieder hierher, um sich zu erholen. Leider war ich ihm bisher noch nicht begegnet, aber ich hielt wachsam die Augen auf.

»Quatsch!«, sagte Michael, als wir mit dem Fahrrad nach dem Gottesdienst gemeinsam wegfuhren – wir radelten zum Teil in dieselbe Richtung. »Winnetou hat doch überhaupt gar keinen Sohn!«

»Wenn ich’s dir doch sage! Natürlich hat er einen! Ich muss es doch schließlich wissen! Ein kleines Baby hatte er da, im Zeltlager bei den Apachen! Aber in den Filmen kommt sein Söhnchen nicht vor, weil ein Baby halt noch nicht reiten und Abenteuer bestehen kann und Bösewichter niederschießen und so. Aber Winnetou ist ja von Rollins mit einer Kugel getroffen worden und ist hopsgegangen und Old Shatterhand hat sich um das Baby gekümmert und es nach Deutschland gebracht. Nach Hude, wo sich seine alten Freunde, die Kopetzkis, um das Kind kümmern sollten, weil er ja wieder zurück musste in die Prärie, um Abenteuer zu bestehen. Aber wenn ich mal groß bin und Old Shatterhand kommt zurück, dann nimmt er mich mit zu dem Apachen-Zeltlager, und dann zeigt er mir alles.«

»Quatsch mit Soße!«, sagte Michael. »Und deine Mama? Warum hat die sich nicht um dich gekümmert?«

»Na, die ist doch auch tot!«, rief ich. »Die ist doch schon in ›Winnetou II‹ gestorben! Weißt du das denn nicht?«

Ich war geschickt, ich war ein Schelm, ich war ein Genie! Ich hatte mir gerade nicht nur eine wasserfest abgesicherte Geschichte ausgedacht, die für Michael verdammt schwer zu widerlegen sein würde, sondern ihn auch gekonnt mit Wissenslücken konfrontiert bezüglich »Winnetou II«!

Schließlich war er ebenfalls ein Fan dieser Filme, die gerade vor kurzem mal wieder im ZDF ausgestrahlt worden waren. Er kannte sie eigentlich in und auswendig.

Und Winnetou hatte ja tatsächlich eine Frau, die im zweiten Teil der Trilogie von einem Bösewicht feige umgebracht wurde. Warum, bitteschön, sollte das nicht meine Mama sein? Also meine richtige Mama – die andere kochte ja zu Hause gerade das Mittagsessen.

Michael sagte jetzt gar nichts mehr. Ich hatte ihn platt geredet. Aber ich merkte, dass es in ihm arbeitete. Und das reichte mir. Schweigend, beide in Gedanken versunken, fuhren wir noch eine Weile nebeneinander her, bis uns unsere jeweiligen Nachhausewege voneinander trennten.

Es waren nicht die einzigen Stories über meine Herkunft, die ich im Ort bei Freunden und Klassenkameraden verbreitete.

Mal war ich Nachfahre vom kleinen Muck, mal kam ich aus dem Dschungel von Afrika, mal von den Eskimos vom Nordpol, wo es mir auf die Dauer einfach zu kalt gewesen war.

Ich brauchte diese Geschichten und hatte das Gefühl, dass meine Freunde sie ebenfalls brauchten. Sie erklärten, warum die Dinge so waren, wie sie waren.

Sie erklärten, warum ich nicht nur anders, so komplett anders aussah als der Rest meiner Familie, sondern auch als so ziemlich jeder in meinem Dorf, wo man Menschen aus anderen Ländern hauptsächlich aus dem Fernseher kannte.

Und mir selber erklärten sie etwas, wofür ich noch Jahre brauchen würde, um es vollständig zu begreifen.

Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele

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