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Die neue Freiheit im eigenen Reich
Raus und weg mit allem, was uns stört
Weniger ist mehr, nach Corona mehr denn je. Es verrät von uns viel, wie wir wohnen. Die Wohnung ist der intimste Platz der persönlichen Entfaltung. Die Ausgestaltung der eigenen Bleibe zeugt davon, wie wir uns sehen, als was wir uns verstehen und wie wir mit uns umgehen. Gestalten wir unsere „vier Wände“ nach unseren eigenen Bedürfnissen oder lassen wir es bei uns aussehen wie im vollgestellten und überdekorierten Möbelhaus, wo alles mit Rabatten raus muss? Nein, unsere Wohnungen brauchen vor allem – Platz.
Unsere Wohnung: Schön haben wir es hier, und so geräumig!
Wenn wir uns eine Wohnung leisten können, die größer ist als nötig, dann sollten wir nicht mehr Möbel als notwendig hineinstellen. Überflüssiges Mobiliar nimmt uns Lebensraum, und es bietet sich an – es biedert sich geradezu an –, mit fragwürdigem Dekomaterial zwischen Kitsch und Kunst drapiert und mit anderen spontan gekauften Entbehrlichkeiten bestückt zu werden. Schauen wir uns einmal zur Übung in den Wohnungen anderer Leute um und identifizieren wir dort, leise vor uns hin, alle Wegwerfartikel um uns herum. Dann fällt uns im Anschluss das Aufräumen daheim etwas leichter.
Es tut gut, sich zu befreien. Während der Corona-Pandemie standen wir vielerorts Schlange vor den Toren der Wertstoffhöfe. Wartezeiten von mehreren Stunden waren keine Seltenheit, wenn wir den plötzlich als unnütz erkannten Kram seriös und nicht am Waldesrand loswerden wollten. Nun freuen wir uns über die Abwesenheit der Dinge, die beim Staubwedeln und Putzen nicht mehr im Wege stehen. Wir hüpfen vor Freude über die Befreiung von selten oder nie benutzten Elektrogeräten, wir atmen durch bei der Entsorgung von Einrichtungspetitessen, die uns geschenkt, also aufgezwungen wurden. Apropos Entsorgung: Fällt uns bei diesem Wort auf, dass es für die Befreiung von Sorgen steht?
Überlassen wir unseren Kram also bitte nicht erst dem professionellen Haushaltsauflöser, der auf Anruf unserer Kinder nach uns kommt. Entrümpeln wir, falls noch nicht geschehen, schon recht bald, zumindest zu Lebzeiten, unseren Lebensraum. Machen wir ihn zum Freiraum für physische und psychische Bewegung. Psychologen wissen: Wer in überladenen Wohnungen lebt, wer seinen Keller, den Speicher und die Garage voll Gerümpel hat, der überfordert sich rasch, in jeder Beziehung. Das können wir wörtlich nehmen. Es ist schön, mit Verweis auf die körperliche Unversehrtheit der Angehörigen behaupten zu können: „Bei uns zu Hause wird nur die Sahne geschlagen.“
Ob es nach Corona in Deutschland mehr Scheidungen gibt oder mehr Geburten, das wird sich zeigen. Für die Entwicklungsländer sagt die britische Hilfsorganisation Marie Stopes International im Evangelischen Pressedienst bis zu drei Millionen ungewollte Schwangerschaften und fast ebenso viele unsichere Abtreibungen voraus: Weil es bis zu 9,5 Millionen Mädchen und Frauen alleine in den 37 von dieser Organisation betreuten Ländern wegen unterbliebener Lieferungen an Verhütungsmitteln fehlt. Auch „die Lieferketten für Kondome sind unterbrochen“, fügt der Geschäftsführer der Stiftung Weltbevölkerung, Jan Kreutzberg, hinzu. Auch das sind Folgen der Corona-Krise, die bei den unmittelbar Betroffenen und den für die Bevölkerungspolitik Verantwortlichen lange nachwirken werden.
Psycho-Altlasten: Glaubenssätze sind für die Tonne
Mentale Stolpersteine können wir ohne fremde Hilfe zur Seite räumen. Die Rede ist von unseren sogenannten „Glaubenssätzen“. Das sind die Rahmenbedingungen unseres Denkens und Handelns, die uns zugetragen wurden, die wir uns angeeignet haben. Es sind die angeblichen „Wahrheiten“, nach denen wir uns richten beim Denken, Fühlen, Entscheiden, Handeln und Beurteilen.
Glauben ist aber nicht Wissen, Glaubenssätze sind Meinungen und Überzeugungen aus eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, auch aus denen anderer. Wir verfestigen sie aus unbewusster Unsicherheit zu unseren Lebensregeln und landen dann rasch bei Gemeinplätzen: „Linke können nicht mit Geld umgehen.“, „Keiner liebt mich.“ oder „Natürlich überholen Mercedesfahrer auf der Autobahn immer rechts.“, „Das hat schon meine Mutter gewusst.“ und andere Killerphrasen gegen freie Meinungsbildung.
Kein Wunder, dass viele von uns meinen, „ihr Drehbuch“ zu leben. Stattdessen aber folgen wir, auch aus Bequemlichkeit, den Drehbüchern und Regieanweisungen früherer Jahre, oder sie stammen von anderen Menschen. Vielleicht sind die schon längst verstorben, haben in einer anderen Zeit und unter anderen Bedingungen gelebt – und von unserem Leben ohnehin keine Ahnung.
Durch kritiklos übernommene Glaubensätze sind wir also möglicherweise falsch konditioniert. Wir meinen, weil uns immer wieder etwas angeblich „Typisches“ passiert, dass unsere Grundeinstellungen, also unsere Vorurteile und Vorverurteilungen, für die Zukunft richtig sind. Wir fühlen uns bestätigt und verdrängen den weitaus größeren Teil aller anderen Erfahrungen, die nicht unserem vorgefassten Weltbild entsprechen. Wir laufen Gefahr, ein Leben lang im falschen Film zu spielen, und das auch noch in einer Neben- oder Statistenrolle.
Weil unsere Glaubenssätze nicht wahr sein müssen, sollten wir sie infrage stellen. Entrümpeln wir also nach Keller, Speicher und Garage unser Gehirn und unsere Seele für einen frisch-fröhlichen Neuanfang. Halten wir doch dazu in den nächsten Wochen getroffene Aussagen, die wir für unverrückbar halten, obwohl wir wissen, dass es „alternativlos“ nicht gibt, einmal schriftlich fest. Wenn wir in Sätzen die Wörter „alle“ oder „immer“ verwenden, notieren wir uns diese ebenfalls.
Schreiben wir einmal eine Liste unserer Überzeugungen auf, die mit Wörtern wie „jeder“ und „grundsätzlich“ beginnen. Erinnern wir uns, von wem wir diese Aussagen, diese Glaubenssätze übernommen haben. Was haben wir immer von der Oma gehört, vom Lehrer gelernt, was weiß doch jedes Kind? Kennen wir noch andere Sprichwörter als: „Aller Anfang ist schwer.“?
Nach zwei oder drei Wochen schauen wir uns die Notizen an und fragen uns im stillen Kämmerlein, was uns diese Sätze im Leben bringen. Sind es Sicherheit, Bestätigung, Einengung, Ablehnung? Machen die Glaubensätze für uns einen Sinn, helfen sie uns, machen sie uns zufrieden oder gar glücklich, oder gibt es sinnvolle Alternativen? Es gibt sie ganz bestimmt.
Stellen wir also mögliche Alternativen zusammen, indem wir das Gegenteil unseres Glaubenssatzes aufschreiben. Oder wir hinterfragen, ob die Behauptung wirklich zutrifft. Gilt das heute noch, gilt das für mich noch? Was denken andere zu diesem Thema? Was passiert mit mir, wenn ich zum Spaß mal die gegenteilige Ansicht vertrete?
Zur Corona-Zeit haben wir vielerlei „gemusst“ und weniger „gedurft“. Nach Corona ist es Zeit, den aufgestauten Freiheitsdrang zu nutzen, um auch eigene, selbst gebastelte Fesseln zu sprengen. „Geht nicht, gibt’s nicht“ ist auch ein Glaubenssatz. Versuchen wir herauszufinden, ob er die Wahrheit sagt.
Wir werden uns an allen Ecken und Kanten korrigieren und nachjustieren müssen, und zwar rasch und gleichzeitig. Vielleicht machen wir künftig das Gegenteil von dem, was bislang bei uns üblich war. Wenn es persönliche Prioritäten gibt, dann kennt die jeder von uns selbst am besten, und nur jeder selbst kann sie neu sortieren.
Fahren wir fort mit einer Nebensache, die vielen von uns einmal ganz wichtig war – mit dem fahrbaren Untersatz.
Mobilität von heute auf morgen: Bitte umsteigen
Einige Städte, darunter Berlin, München und Düsseldorf, aber zum Beispiel auch Brüssel, Paris, Mailand und Bogotá, haben in den ersten Monaten der Krise innerstädtische Fahrbahnen für den Autoverkehr gesperrt und zu Radwegen umgewidmet. Solche „pop-up-Radwege“ waren plötzlich weltweit ein Thema. In zögerlichen Städten gab es Demonstrationen, in denen ebenfalls derlei Sonderwege für Radler gefordert wurden. Zum Teil wurden über Nacht auch ganze Straßenzüge zu Fußgängerzonen erklärt. Droht den Autofahrern Ungemach?
Welche Entwicklung nimmt nach Corona die Automobilindustrie? Die Nachfrage nach Personenkraftwagen ist in den ersten Monaten der Pandemie weltweit kräftig gesunken. Der schon vor Corona eher müde Automarkt wurde durch die zusätzliche Verunsicherung der Verbraucher weiter nach unten gedrückt. Mit der plötzlichen Angst um den Arbeitsplatz, um die Gesundheit oder gar die Existenz schoss die Kauflust der Deutschen in den Keller.
Die Zeiten sind schon lange vorbei, in denen wir uns alleine deshalb ein neues Auto kauften, weil der Nachbar sich einen Neuwagen vor die Türe stellte. Laut Zulassungsstatistik des Kraftfahrtbundesamtes sind fast ein Viertel (23,4 Prozent) der Autos in Deutschland älter als 15 Jahre, das sind mehr als 11 Millionen Fahrzeuge. Ein knappes Zehntel des Gesamtbestandes ist älter als 20 Jahre und jedes 50. Fahrzeug hat mehr als 30 Jahre auf dem Buckel. Viele Bewohner großer Städte kommen inzwischen praktischerweise gut und gerne sogar ohne eigenen Wagen aus. Das Fahrrad ist dem Pkw zweckmäßige und nachhaltig sinnvolle Ergänzung und Konkurrenz. Vom gesunden Spaziergang, vom entspannten Schlendern bis hin zur eiligen Schrittfolge gar nicht zu reden!
Wer von uns ein Auto braucht, der leiht sich im Bedarfsfall eines oder muss sich trotz aller Bedenken tatsächlich eine Karre kaufen. Wir achten dabei nun aber mehr auf Format und Folgekosten als auf Farbe und Fahrkomfort. Wir protzen nicht mit Hubraum, sondern bedenken den knappen Parkraum in Stadt und Land: Kleinkarierte Parkplätze im öffentlichen Raum und in traditionellen Parkhäusern machen uns zusätzlich vernünftig.
Große und stark motorisierte Fahrzeuge, vor Jahren noch der Stolz mancher Führerscheinbesitzer, sind bei uns eh in den beschämenden Ruf als Proletenpanzer gekommen. Wozu sind sie gut, diese peinlichen Umweltschädlinge, lärmenden Zuhälterboliden, lächerlichen Angeber-Karren? Sie sind schlecht, zumal in ihrer Funktion als Tötungsinstrumente, wenn sie bei verbotenen Autorennen Mord und Totschlag anrichten. Da hilft auch eine ab Januar 2021 höhere Besteuerung nicht.
Sollten wir einen fahrbaren Untersatz benötigen, dann wählen wir ein zweckmäßiges Gefährt. Wir werden es nicht lieben, sondern mit Vorsicht benutzen und unter den Gesichtspunkten der Sicherheit pflegen. Luxus dem Loddel, basta. Wer sich aber vom eigenen Wagen als Statussymbol partout nicht trennen mag, der kann sich beim Fahren in Bus und Bahn eine Anstecknadel mit dem Hersteller-Logo oder dem Auto-Modell seiner Wahl ans Revers heften. Das mag ihn billig zu etwas „Besserem“ machen. „Identity Signs dieser Art gibt es aus Messing und Kupfer, in edler Matt-Glanz-Ausführung, farbig feueremailliert, als Relief und voll- oder halbplastisch. Und in Siebdruck und Email-le“, heißt es beim Hersteller.
Wenn wir uns mit weltlichen Devotionalien schmücken, die uns als Fans eines bestimmten Fußballvereins ausweisen, warum dürfen wir nicht zeigen, welchen Wagen wir in der Garage haben, hatten oder gerne hätten? Wir müssen aber nicht alles machen, was wir dürfen. Diese Einsicht hat uns das Corona-Erlebnis in den Tagen der ersten Lockerungen mitgegeben.
Kaum ebbte die erste Welle der Corona-Pandemie in Deutschland ab, taten sich die großen deutschen Automobilhersteller mit den Ministerpräsidenten der Länder zusammen, in denen sie hierzulande produzieren. Es ging ihnen darum, dem darniederliegenden Absatz mit staatlichen Fördermitteln wieder auf die Sprünge zu helfen. Alleine für Deutschland rechnet die Autoindustrie mit einem Zulassungs-Minus von 35 Prozent. Ob Diesel-, Benzin- oder E-Auto – der Verkauf aller auf Halde stehenden Wagen sollte mit Steuergeld bezuschusst werden. Kritik zu diesem Ansinnen kam von allen Seiten – nur nicht aus dem Verkehrsministerium, dem Hindernis auf dem Weg zur Verkehrswende.
Bei den Kritikern hieß es, die deutschen Autofirmen sollten, statt um Geld für Unverkäufliches zu betteln, lieber ihre E-Autos zu ernst zu nehmenden Fahrzeugen aufpäppeln. Es sei nötig, Abschied zu nehmen von all den Antriebsarten, die den Klimawandel beflügeln. Außerdem sei es für die meisten Verbraucher angesichts der Pandemiefolgen eh nicht die Zeit, sich ein neues Automobil zu kaufen. Und wenn doch, dann würden mit Hilfe der Mitfinanzierung aus Steuergeld wohl eher kostengünstige Kleinwagen ausländischer Produktion gekauft, wie 2009 gesehen.
Damals hieß die staatliche Hilfe im Volksmund „Abwrackprämie“. Wie auch immer, das Auto ist nicht mehr ein Objekt der Begierde, und überflüssige Geldausgaben sind in dieser Zeit eh nicht „in“: Lediglich 9 Prozent der Bevölkerung sprachen sich zur Jahresmitte 2020 für eine unspezifische staatliche Kaufprämie aus, 28 Prozent befürworteten sie für umweltfreundliche Autos. 61 Prozent lehnten eine Auto-Kaufprämie laut einer Umfrage des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) generell ab. Schließlich wurde Mitte 2020 beschlossen, nur den Erwerb von E-Autos zu bezuschussen. Die Lobby der Autoindustrie, inzwischen offenbar ohne Bodenhaftung, stand düpiert da, und es wurde deutlich, dass nun die Arbeitnehmer bei VW, Daimler etc. für die Fehler der Automanager werden büßen müssen.
Ohne funktionierenden Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) wird es eine Verkehrswende schwer haben. Kleinere, wendige Busse, die je nach Passagieraufkommen in individuellen Minutentakten ihre Routen fahren, sollten die überlangen Vehikel ersetzen, die auch als Gelenkmodelle kaum die Kurven in der Innenstadt kriegen. Kleine Busse kosten mehr Fahrerpersonal – solange die Fahrzeuge nicht automatisch fahren – und schaffen damit zunächst einmal Arbeitsplätze.
Verantwortliche sollten sich das Dolmuş-System der Türkei ansehen und prüfen, ob es sich nicht unter gewissen Voraussetzungen auch in Deutschland realisieren lässt: Städtische Sammeltaxis, elektrisch oder mit Wasserstoff angetrieben, fahren feste Strecken und Haltestellen an, kommen ohne starren Fahrplan aus, stoppen aber zuverlässig binnen höchsten 15 Minuten vor dem wartenden Fahrgast. Natürlich sind die Fahrten dann kostenlos, oder wir bezahlen einen pauschalen Betrag, unabhängig von der Länge der Fahrtstrecke. Die innerstädtischen Routen sind so aufeinander abgestimmt und verzahnt, dass wir, durch flottes Umsteigen an nahezu jedem Haltepunkt, rasch und sicher ans Ziel kommen.
Für europäische Binnenstrecken möge der Bahn die Zukunft gehören, auch wenn in den ersten Monaten der Corona-Krise 90 Prozent weniger Menschen von der Bahnsteigkante zugestiegen sind. Vor 2022, so die Bahnchefs, werde sich die „Normalauslastung“ der Züge nicht einstellen. Denn wir werden wegen der vielen Videokonferenzen deutlich weniger reisen und wegen der latenten Ansteckungsgefahr die Enge in den Waggons meiden. Andererseits wird mancher Monteur oder Manager im innerdeutschen Reiseverkehr lieber den Zug als den Flieger nehmen. Wer freilich mit sicherem Abstand reisen will, der schätzt seinen Pkw als individuelle „Schutzhütte“ und profitiert dabei ein wenig von den niedrigen Spritpreisen.
„Die Verbraucher werden vorsichtiger und den Euro öfter umdrehen“, sagt der Professor für Soziologie und Präsident der Universität Trier, Dr. Michael Jäckel. Die Erfahrungen der Corona-Krise hätten ein neues „Knappheitsbewusstsein“ entwickelt, meint er. Uns sei die „Verletzlichkeit der Art und Weise, wie wir leben, wie wir wirtschaften, deutlich vor Augen geführt worden“. Wir sind wohl ein wenig „geerdet“ worden, meint Jäckel. Nicht nur in Sachen des eigenen Autos. Er erwartet generell, dass „dieses neue Gefühl zu einem etwas verantwortungsvolleren Umgang führt – mit der Art und Weise, wie wir uns ernähren, wofür wir und wo wir unser Geld ausgeben, auch wo die Produkte herkommen“.
Die neue Sparsamkeit: Zu viel Konsum kompensiert Angst
In diesem Anfang liegt kein Zauber: Das Elend des unnützen Überflusses beginnt bei unseren Anschaffungen. Kaufrausch und der 10-Sekunden-Orgasmus bei der Selbstbefriedigung an der Ladenkasse machen uns im entscheidenden Moment blind für die Fakten: Nur was wir nicht besitzen, kann uns nicht stören oder kaputt gehen, nur was wir nicht haben, verursacht uns keine Folgekosten.
Wenn wir im Laufe unseres Lebens darüber nachdenken, was wir alles an vermeintlichen Sachwerten und „schönen Dingen“ so über die Jahre spontan geshoppt und dann irgendwann am liebsten oder tatsächlich auf den Müll geworfen haben, da sollte uns schlecht werden vor Ärger. (Leserinnen zählen an dieser Stelle ihre Handtaschen.) Nicht nur unsere eigenen Ressourcen – Zeit, Geld, Aufmerksamkeit – haben wir verschwendet. Ein wenig geplündert haben wir, jeder von uns, auch den Wald, die aus der Erde gegrabenen Rohstoffe, die gute Luft und vieles Kostbare mehr. Geschunden haben wir die Kinder, die in den ärmsten Regionen der Welt unseren Dreck zerlegen und unter Giftwolken darin nach Wertvollem suchen. Da wir dabei nicht Einzeltäter waren, sondern im Verbund mit Millionen Menschen zu Werke gingen, machen die Welt und ihre ärmsten Bewohner – unsere Mitmenschen – inzwischen ihren so stark ausgezehrten, erkrankten Eindruck. Dass ein nachhaltiges „Weniger“ für ein „Mehr“ an Verstand spricht, das gilt bei allen Einkäufen. Täglich!
Beschränken wir uns also beim Einkauf auf das für uns persönlich Unabdingbare. Erwerben wir möglichst nur reparaturfähige Gerätschaften. Wertschätzen, pflegen und bewahren wir unser aufs Wesentliche beschränktes Eigentum. Geben wir dem Planeten noch eine Chance. Mehr, als auf diese Weise klug zu sein, können wir als einzelne Verbraucher auf diesem Gebiet schwerlich tun. Gestalten wir eine entschlackte Gegenwart.
Die Höhe unserer Lebenshaltungskosten ist ein Maßstab für den Grad, wie wir zur langfristig absehbaren Vernichtung der Erde beitragen. Ohne nun Statistiken und die Wissenschaft bemühen zu müssen, ist es uns einsichtig, dass der, der viel Geld für Dinge und Dienstleistungen ausgibt, viel an Ressourcen verbraucht, direkt und indirekt. Gratis ist nichts auf der Welt, vieles aber umsonst, also nutzlos oder gar schädlich. Eine neue Bescheidenheit wird uns allen guttun, machen wir sie uns zum Kult.
Luxus verschwendet nicht nur Geld, Luxus kann uns zunehmend als peinlich erscheinen. Luxus ist entbehrlich, er macht uns nicht einmal froh, wenn wir ehrlich mit uns sind. Wenn die Angeber unter uns wüssten, wie sie mit ihrem Gehabe und Getue belächelt und verlacht, in krassen Fällen auch verachtet werden, dann würden sie sich vielleicht bescheiden. Zumindest würden sie sich nicht mehr protzprollig zeigen, weder im wirklichen Leben noch auf Fotos im Internet.
Der britische Bestsellerautor, Unternehmer und Philosoph Alain de Botton sagt in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ): „Viele Menschen stellen ausgerechnet jetzt fest, dass wir viele Dinge gar nicht brauchen für unser Leben. So viel von unserem Konsum basiert darauf, dass wir respektiert werden wollen, wir wollen gemocht, bewundert, geschätzt und anerkannt werden von eigentlich Fremden.“ Wir denken darüber nach und beschließen: Wir wollen von uns selbst respektiert, gemocht, bewundert, geschätzt und anerkannt werden. Das muss reichen!
Wir können oft gar nicht mehr genießen, was wir uns kaufen. Also sparen wir uns das, das Kaufen. Anstatt mit Verschwendung zu protzen, sollten wir uns angesichts des Elends in der Welt um uns herum fürs Verschwenden und Verschleudern schämen und vom Luxus lassen. Eine erhöhte Mehrwertsteuer auf Luxuswaren würde den Trend stützen und ein wenig helfen, die in der Krise aufgenommenen Staatsschulden zurückzuzahlen – auch wenn wir Steuererhöhungen hassen. Sogar Modemacher Giorgio Armani vermutet, dass Corona das Denken vieler Menschen nachhaltig ändern werde. Nicht nur in der Mode erwartet er eine Umkehr, sondern auch in anderen Bereichen.
Die italienische Zeitung „La Stampa“ zitiert ihn mit dem Satz: „Ich denke nicht nur an die Werte, die mit dem Familienleben verbunden sind, sondern auch an Höheres wie Mut, Solidarität und Opferbereitschaft.“ Weniger Tempo, mehr Qualität und Tiefe, das sei die künftige Richtung, mutmaßt der 85-Jährige. So klingt Verzicht, der nützt und glücklich stimmt.
Glück und Zufriedenheit sind eh schwer zu messen. Der Slogan „Immer mehr und immer besser“ führt ins Nichts, denn ihm fehlen Maß und Zeitpunkt. Wir sollten uns jetzt endlich besinnen und den anfangs beschriebenen Zettel zur Hand nehmen und in den Notizen notfalls nachbessern. Es ist nie zu spät, ein seriöses, respektiertes und von Ballast befreites Leben zu führen.
Apropos seriös: Lassen wir uns von denen, die sich da als „Influencerin“ und „Influencer“ auf den Bildschirmen unserer Handys schönmachen, nicht bedrängen. Diese – meistens jungen – Leute versuchen, ihr Leben ohne traditionelle Arbeit zu gestalten, indem sie im Internet Produkte „toll“ und „geil“ finden. Sie werden bezahlt von den Marketingabteilungen und Werbeagenturen der Hersteller, und das nicht zu knapp. Je nach Anzahl der Klicks oder nach Umsatz, wie auch immer, kommt Geld in ihre Kasse. Warum schauen wir uns dieses Getue an, warum folgen wir immer wieder diesem vordergründigen Werbequark?
Wir erinnern uns der Marktschreier, die auf Volksfesten Obst und Topfpflanzen verramschen. Sie sind vielleicht das (analoge und obendrein wirklich charmante) Vorbild für die jetzt übergeschminkten Gesichter auf dem Smartphone-Display. Ein Erlebnis sind auf dem Jahrmarkt auch die Vorführungen unübertrefflicher Fensterscheibensauberwischtinkturen oder von Gemüsehobeln aus buntem Hartplastik, mit dem Zusatzknubbel zum Schutz der Fingerkuppen. Die halten dank des Knubbels wirklich Jahre lang – die Fingerkuppen, mit denen wir auf dem Handy herumdrücken.
Nun also die digitale Variante. Deren Protagonisten beiderlei Geschlechts suchen und besuchen wir nicht, diese „Youngster“ suchen uns heim. Wie kommen wir dazu, den von der Umsatzprovision befangen gemachten Werbetrommlern Auge und Ohr zu schenken, ihnen wohl auch noch zu glauben und sie vielleicht sogar nachzuäffen? Virales Marketing in allen Facetten ist nicht strafbar, aber wir müssen uns das nicht antun. Seien wir keine „Follower“, zu Deutsch „Mitläufer“, „Nachahmer“, „Jünger“. O Gott!
Dieses grassierende Gewerbe schwamm bislang auf der Welle des selbstverständlich gewordenen Luxus, verbunden mit der Vermutung geistiger Leere. Es ist so überflüssig wie ein Kropf. Wir sollten mehr die Frage nach dem Eigeninteresse des Influencers stellen und prüfen, warum wir ihm oder ihr glauben sollten: Ein Influencer will Einfluss nehmen, der englische Begriff sagt es schon. Es mag den Machern eine Berufung sein, ein Beruf ist das nicht. Das kann man angeblich inzwischen sogar „lernen“, Angebote gibt es dazu im Internet. Zu viel Oberflächlichkeit gibt Pickel. Wir folgen keinen Interessen, wir entwickeln sie uns selber.
Für sachliche Informationen über Produkte der verschiedensten Art gibt es die „Stiftung Warentest“ mit ihrer Zeitschrift und die ortsnahen Verbraucherzentralen. Über Modisches berichten Printmedien und das Fernsehen, Kataloge kommen ins Haus, und die Städte haben Schaufenster mit Modegeschäften hintendran. Man muss nur hingehen, wie zum Jahrmarkt.
Für technische Gebrauchsgüter gilt das Gleiche. Die Zahl aufklärerischer Verbrauchersendungen im Fernsehen, von echten Journalisten gemacht und ohne Schleimerei moderiert, ist nahezu unübersehbar. Da geht es um oft unbequeme Wahrheiten zu Reiseangeboten, Lebensmitteln, Versicherungen, Mietverträgen und vielem mehr, was uns für die Bewältigung des Alltags wichtig ist.
Wenn wir nach Corona achtsamer, bedachtvoller und liebevoller mit uns umgehen wollen, dann gehört für uns die Konzentration auf das Wesentliche im Leben dazu. Influencerinnen und Influencer aber sind nicht wesentlich, sie sind eine unerfreuliche Nebenwirkung eines überkommenen Konsumdenkens, das wir uns abgewöhnen wollen. Klappen wir das Smartphone zu, wenn uns mal wieder jemand von dieser Sorte über den Weg läuft und atmen wir durch: „Ciao, ich brauche dich nicht!“ Wir ersparen uns auf lange Sicht etliche Stunden sinnlos verbrachter Zeit.
Kaum noch Kauferlebnisse in den Innenstädten: Neue Ideen für die „City“
Unser individuell-rationales Kaufverhalten der Zukunft wird den auf Kauferlebnis getrimmten Innenstädten nicht gut bekommen: Die Leerstände werden zunehmen, die klassischen Einkaufsmeilen werden weiter veröden. Professor Thomas Krüger, Stadtplaner von der Hafencity Universität Hamburg, hatte in einem Interview mit dem Nachrichtensender n-tv ganz klare Vorstellungen: Um die Innenstädte zukunftssicher zu machen, müssen die Lokalpolitiker vor Ort das Heft des Handelns – nicht des Handels – in die Hand nehmen.
Sicher werde es eine Zeit brauchen, bis sich bei der Mehrzahl der Immobilienbesitzer die Einsicht durchsetze, dass der Einzelhandel in der Stadt jetzt und künftig, und auf ewig, Not leiden wird und die den Eigentümern bislang gezahlten Pachtbeträge den Händlern nicht mehr zuzumuten sind. Statt immer wieder nach neuen Einzelhändlern für ihre leeren Flächen zu suchen, sollten die Gebäudeeigner mit Hilfe der Städte Umnutzungen ermöglichen: In bislang „monofunktionale Einkaufsinnenstädte“ gehörten Kitas, Schulen vom Stadtrand ins Zentrum, auch Hochschulen aller Art und Universitäten. Krüger empfiehlt, auch Einrichtungen des Gesundheits- und Kulturbereichs in die City zu lotsen und – nicht zuletzt – unnütz gewordene Handelsflächen in Wohnungen umzuwidmen. Dazu sollten sich kleine Geschäfte gesellen, Gastronomie, Dienstleistungsbetriebe.
Natürlich hat es die zunehmende Verödung von Innenstädten schon vor Corona gegeben, das weiß auch der Stadtplaner. Professor Krüger verweist aber darauf, dass sich durch die Corona-Folgen die seit Langem schon „anhaltenden Tendenzen im Einzelhandel dramatisch beschleunigen“. Vor allem der Handel mit Bekleidung habe durch den Lockdown enorme Verluste erlitten, da er auf der gesamten Frühjahrs- und Sommerkollektion sitzengeblieben ist.
Krüger: „Auch nach der Krise werden die Menschen nicht in derselben Zahl wie zuvor in die Zentren zurückkehren. Wozu auch? Viele haben sich an den Onlinehandel gewöhnt, aber auch an das Homeoffice.“ Das führe dazu, dass sich weniger Menschen in der Pause oder nach der Arbeit in der Innenstadt aufhalten und einkaufen. Wenn niemand den Mut für neue Konzepte hat, dann „verlieren die Zentren nicht nur an wirtschaftlicher Bedeutung, sondern auch in ihren kulturellen Werten als Orte, an denen wir uns als Gesellschaft zusammen aufhalten und begegnen.“ Eine Pleitewelle im Handel scheint unvermeidlich.