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Abstand mit Anstand

Weil zu viel Nähe uns von uns selbst entfremdet

Leben wir das persönliche Optimum beim Pendeln zwischen Nähe und Distanz? Das uns in der Corona-Pandemie abverlangte „Social Distancing“, also die Verringerung, Einschränkung, die phasenweise oder vollständige Einstellung sozialer Kontakte hat es immer schon gegeben. Das geschah und geschieht freilich bislang meistens freiwillig, von der Einzelhaft, von im Urwald Verirrten und von schiffbrüchig auf einsamen Inseln Gestrandeten abgesehen.

Soziale Distanz: Wir waren uns noch nie so nah

Einsiedler, Naturforscher und Sinnsucher, Menschen aller Klassen, jeder Herkunft und aller Geschlechter sowie Pubertiere entfliehen der Enge, den Verbindlichkeiten und dem aus sozialen Kontakten entstehenden Toleranzgebot. Sie igeln sich ein, wollen oder können auf ewig oder auf Zeit nicht mehr „unter die Leute“.

Als es Ende der 1980er Jahre als schick galt, sich programmatisch ins Privatleben zurückzuziehen, folgten wir der Trendforscherin Faith Popcorn und nannten es „Cocooning“, das „Einpuppen“ in den eigenen vier Wänden, im „Cosy Home“ oder sonst wo, wo Alleinsein nicht unter Beobachtung stand. Nun aber haben wir uns an der geforderten Vermeidung von Übertragungswegen fürs Coronavirus abgearbeitet. Nicht wenige empfinden die Folgen der Distanz als Einsamkeit, manche greifen zu Drogen. Und das aller auch weiterhin bestehender Kommunikationswege zum Trotz: Wir durften uns sehen und treffen, aber uns nicht zu nahekommen, körperlich.

Physische Distanz zu halten, muss nicht das Gefühl von Einsamkeit bewirken: Wir durften uns trotz Corona freundlich zuwinken, Nettigkeiten zurufen, telefonieren mit und ohne Bildübertragung. Per Skype und FaceTime haben wir Geselligkeit simuliert. Nicht zu vergessen SMS, MMS und WhatsApp und dergleichen digitale Depeschen. Auch Postkarten und Briefe gibt es immer noch im – analogen – Angebot. Gleichwohl fiel manchem von uns die Decke auf den Kopf.

Böse ging auch: Wem danach war, der konnte freilich auch zu Pandemiezeiten von Angesicht zu Angesicht seinem auf Distanz verharrenden Gegenüber gestenreich drohen, Verbalinjurien ausstoßen und die erwähnten Kommunikationswege ausführlich und gut durchdacht für unfreundliche Inhalte benutzen. Auch auf diese Weise können wir Vereinsamung verhindern, kommt nur nicht so sympathisch. Die Proteste ab Mai 2020 haben es gezeigt.

Wir hatten tatsächlich keine Kontaktsperren, so lange wir nicht erkennbar verseucht und nicht ernsthaft erkrankt waren – wir sollten nur mit Kontaktbeschränkungen leben. Wer von uns also schon immer hinter der Wohnungstür wartete, bis das Treppenhaus frei wurde – nur um einen Small Talk mit dem Mitbewohner aus der 3. Etage zu vermeiden –, der hatte dank Corona eine feine Ausrede. Aber abends um 7 wurde von den Balkonen herab gemeinsam applaudiert und musiziert.

Hygiene: Wir waschen die Hände für unsere Unschuld

An die Gesichtsmasken haben wir uns mehrheitlich gewöhnt, und wir haben zunehmend automatisch aufs Anfassen und Händeschütteln verzichtet. Wir sind den Trotteln, die uns in der dahin dümpelnden Einkaufsmeile anfangs unbekümmert zwischen die Füße zu laufen drohten, großzügig und weiträumig ausgewichen. Wir husteten und niesten in die Ellenbeuge, anstatt in anderer Menschen Gesicht. Wir bevorzugten Einmaltaschentücher und vermieden jede Nähe – nur nicht zu den Nächsten. Das sind diejenigen, die im gleichen Hausstand mit uns leben und die nächsten gewesen wären, die erkrankten, wenn wir uns das Virus, umgangssprachlich „den Virus, weil der Virus“, eingefangen hätten. Vielen von uns wird dabei erst einmal klar geworden sein, wer wirklich zum eigenen Hausstand gehört und wer nicht.

Und nun? Welche Verhaltensweisen wir aus der Pandemieepoche hinaus in die Zukunft mitnehmen, das wird sich zeigen. Etwas mehr Abstand aus Anstand wäre uns auf Dauer zu wünschen, physisch und psychisch. Sollte in den nächsten Monaten und Jahren ein Plus an Distanz, Diskretion, Contenance, Höflichkeit und guten Umgangsformen beim menschlichen Miteinander heranwachsen, wäre das im Schatten von Corona ein Lichtblick.

Hygiene wird unser neues Alltagsthema: Wir werden uns beim Gähnen mehr denn je eine Hand vor den offenen Mund halten – oder besser doch die eigene Ellenbeuge? Mehrfaches Händewaschen von morgens bis abends wird zum guten Stil gehören. Nicht etwa, weil dies aus optischen Gründen nötig wäre, sondern weil wir den unsichtbaren Feinden, den Viren, keine neue Chance geben wollen. Händewaschen als Nächstenliebe.

Um diese Krise endgültig zu meistern, muss ein Kulturwandel her. Unsere Hygienebemühungen „für andere“ müssen zum Standard werden, wir werden generell mehr Rücksicht aufeinander nehmen. Auch keimfernhaltende Masken bieten keinen hundertprozentigen Schutz.

Wenn viele von uns sich nach der Pandemie die Mühe machen, mit den gewonnenen Einsichten anderen ein höfliches, anständiges, freundliches Vorbild zu sein, gibt es die Chance für alle, besser zu leben. Wenn wir einmal nicht mehr mit Meterabständen vor Ladentüren Schlange stehen müssen, dann drängeln und schubsen wir vielleicht auch künftig nicht mehr im öffentlichen Raum herum, drängen uns nicht vor. Die Menschenwürde ist unantastbar, verhalten wir uns also bitte menschenwürdig.

Wir verlangsamen insgesamt unser Leben, nehmen uns aus der Hektik heraus, werden genügsam in neuer Gelassenheit. Genießen wir also nach dem Abflauen der durch die Pandemie herausgeforderten Einschränkungen die neue Freiheit mit Bedacht. Lieber in stiller Freude als im besoffenen Überschwang. Wenn das die „neue Normalität“ ist, dann ist das eine gute „Normalität“.

Die neue Höflichkeit: Habe die Ehre!

Dazu gehört, unsere digitalen Vernetzungen auf das Unabdingbare zu kappen und zu verknappen. Nirgendwo sind wir inzwischen abgelenkter und gestörter als daheim, mit dem Laptop als ständigem Begleiter (hoffentlich ist die eingebaute Kamera off oder zugeklebt), mit dem Smartphone als unablässiger Informations-, Diskussions- und auch Verdummungsquelle. Schon unsere Kinder verbringen im Durchschnitt 3,5 Stunden am Tag mit dem kleinen teuflischen Bildschirm. Von wem haben sie das wohl abgeschaut?

Finden wir, auch als Vorbild für unsere Jüngsten, heraus aus dem Virtuellen und zurück in das reale Leben. Gehen wir wieder ins Kino, besuchen wir Theatervorstellungen und Konzerte, gehen wir wieder in Restaurants, Cafés und Bars. Sitzen wir nicht lieber in Außenbereichen, an der, wörtlich, frischen Luft? Üben wir es wieder ein, wie es ist, wenn wir mit unserem Geist, unserer Aufmerksamkeit und unserem Verstand da sind, wo wir uns körperlich aufhalten. Wir sind es uns wert.

Sobald uns Ämter, Arztpraxen und alle übrigen Dienstleister wieder mit großzügigen Besuchszeiten und ohne Voranmeldung persönlich zur Verfügung stehen, dann zeigen wir den Menschen auch dort unsere gestiegene Wertschätzung. Nehmen wir uns zurück, ersetzen wir „forsch und frech“ durch „freundlich und friedlich“. Die Kultur des Umgangs miteinander, des Kontaktes mit Menschen, die uns fremd sind, können wir auf ein neues, akzeptables und wohliges Niveau heben. Zeigen wir proaktive Präsenz, gehen wir in Vorleistung, was gute Umgangsformen, Empathie und Sozialverhalten betrifft. Wenn wir Ansprüche haben, dann die, dass unserem Verhalten mit gleichermaßen gepflegten Umgangsformen entsprochen wird. Aber wenn niemand damit anfängt, dann wird nichts daraus.

Distanzloses Verhalten galt uns schon immer als unfein, so die ungewollte Umarmung, anbiedernde Gesten, vermeintlich „flotte“ Sprüche, vom „Me-too“-Fehlverhalten ganz zu schweigen. Wenn wir uns in einen besetzten Aufzug noch hineindrängten, war das vor der Pandemie unhöflich, und es ist auch nach ihr ein „unmögliches Verhalten“, wenn das Hineinquetschen noch möglich ist. Während der Zeit von Kontaktbeschränkungen war angesagt, möglichst alleine rauf und runter zu fahren – das war angenehmes „easy going“.

Höfliches Benehmen macht uns nicht zum Weichei. Im Gegenteil: Wir werden auf unsere Körpersprache achten. Denn wenn wir uns ängstlich zeigen, dann machen wir uns klein und wirken unterlegen. Wenn wir gebeugt durchs Leben gehen, wirken wir nicht nur nicht selbstbewusst, wir sind es auch nicht. Hängende Schultern, Hände vor dem Körper baumelnd, Fußspitzen nach innen gestellt – als Kugel werden wir weniger Wirkung alleine deshalb haben, weil uns kaum jemand wahrnimmt.

Zeigen wir Zurückhaltung mit Haltung: Sitzen, stehen und gehen wir lieber aufrecht, strecken wir uns, schieben wir die Schultern zurück, bewegen wir uns, sparen wir nicht mit entgegenkommenden Gesten. Wir wirken gerade heraus, und wir reden auch so. Zeigen wir uns selbst und allen anderen unser gutes „Standing“. Benutzen wir morgens den Spiegel zur Selbstmotivation: Schauen wir uns an, lächeln wir uns an, reden wir uns an: „Ich freue mich auf den Tag. Ich schaffe das, mein Leben ist schön!“ Das nennt sich dann intrinsische Motivation – die Kraft, die uns von innen kommt.

Das Corona-Buch

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