Читать книгу Bjarne und der Minister für Sicherheit - Mathias Thimm - Страница 6

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Bjarne ist wütend

Bjarne pfeffert seine Schultasche unter die Garderobe und kickt die Schuhe hinterher.

„Oma …?“, ruft er ins Haus, während er sich noch die Strümpfe auszieht und zu den Schuhen wirft.

„Ich bin im Arbeitszimmer“, hört er sie mit abwesender Stimme aus dem Dach antworten.

Bjarne muss nun gut überlegen, ob er Oma tatsächlich bei ihrer Arbeit stören will. Denn beide haben die Verabredung, wenn Oma im Arbeitszimmer ist, will sie nur in wirklich wichtigen, unaufschiebbaren Fällen, wie sie das nennt, von Bjarne bei ihrer Arbeit unterbrochen werden.

Heute ist er sich aber sicher.

„Es ist unaufschiebbar!“, ruft er also nach oben und wartet ab.

„In Ordnung!“, hört er Omas Stimme wenig später. Denn auch diese Verabredung haben sie: Wenn etwas unaufschiebbar ist, dann muss es sofort sein.

„Sollen wir uns in die Küche setzen?“, fragt Oma, als sie langsam die Treppe nach unten kommt.

„Mhm“, nickt Bjarne und geht voraus.

Während Oma noch zwei Saftschorlen zubereitet, setzt Bjarne sich schon mal an den Tisch und wartet, bis seine Oma sich auch gesetzt hat.

„Oma …?“, fragt Bjarne ein wenig bedrückt und gleichzeitig angespannt. „Warum werde ich manchmal so wütend? Ich meine, so richtig wütend?“

Oma schaut Bjarne ruhig an. „Warst du heute so richtig wütend?“

„Ja.“ Bjarne macht eine Pause. „Und irgendwie fühle ich mich immer noch ein bisschen so.“


„Tatsächlich?“ Oma nimmt in aller Ruhe einen Schluck von ihrer Saftschorle. „Willst du mir erzählen, was war?“

„Ich weiß nicht, dann werde ich bestimmt gleich wieder richtig wütend.“

„Und wäre das schlimm?“, fragt Oma.

„Nein. Ja. Ach, ich weiß nicht. Wütend sein ist so anstrengend und macht den Kopf so durcheinander.“

„Na, vielleicht fängst du einfach an zu erzählen“, schlägt Oma vor, „und wir schauen mal, was daraus wird.“

Bjarne nimmt auch einen Schluck von seiner Saftschorle.

„Der Leon ist ein echt bescheuerter Blödmann!“, schimpft er dann los und schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Wir haben heute in der Pause alle Fußball gespielt und ich war mit ihm in einer Mannschaft. Irgendwann stand ich mal frei vor dem Tor und rief ihm zu, er soll zu mir herüberpassen. Hat er auch gemacht - aber so schlecht, dass ich den Ball dann nicht richtig getroffen und am Tor vorbeigeschossen habe.“

„Hm“, nickt Oma.

„Leon hat sich darüber furchtbar aufgeregt“, fährt Bjarne fort, „und rumgeschrien ‚Wie kann man nur so doof sein! Der kriegt nicht mal ‘nen astreinen Elfer rein!’ Und alle haben es gehört.“

Bjarne hat fast Tränen in den Augen.

„Und dann, dann kam er total wild auf mich zugerannt und schubste mich so doll, dass ich hingefallen bin. Und als ich am Boden lag, stand er über mir und schnauzte mich an: ‚Du spielst nicht mehr mit, du Lusche!‘ Als wenn er das zu bestimmen hätte.“ Bjarne hat jetzt wirklich Tränen in den Augen.

Seine Oma schaut ihn mitfühlend an. „Das hört sich wirklich sehr gemein und unfair an.“

„Ja, und dann bin ich hinter ihm her, hab’ ihn geschubst und geboxt und total wütend angebrüllt, was für ein Blödmann er ist. Ich bin richtig auf ihn losgegangen. Wenn Anja und Hasan mich nicht zurückgehalten hätten, hätte ich ihn kurz und klein geschlagen. Echt!“

Bjarne ist jetzt richtig aufgebracht.

„Was bildet dieser Scheißkerl sich auch immer ein?!“ Und Bjarne donnert diesmal richtig mit der Faust auf den Tisch.

„Holla! Da ist die Wut ja richtig da.“, sagt Oma ruhig.

Bjarne nickt. „Ja, aber noch gar nicht so wild, wie vorhin auf dem Schulhof.“

„Aha“, sagt Oma. „Kannst du denn spüren, wo die Wut in deinem Körper jetzt am stärksten ist?“

Bjarne blickt seine Oma an. „Ja, in meinen Fäusten.“ Und er beginnt wie von selbst mit den Fäusten abwechselnd kräftig auf den Tisch zu trommeln, sodass die Gläser anfangen ein wenig zu hüpfen.

Oma nimmt die Gläser einfach hoch und stellt sie auf den leeren Stuhl neben sich. „Mach es mal ein bisschen langsamer“, sagt sie. „Vielleicht so wie ein Elefant stampft.“

Bjarne schaut sie ein wenig irritiert an. Doch dann trommelt er etwas langsamer, aber weiterhin kraftvoll auf den Tisch.

„Und spüre dabei die ganze Kraft deiner Wut“, fordert Oma ihn auf, „und die Energie, die in ihr steckt.“

Langsam findet Bjarne einen Rhythmus in seinem Trommeln: bum - bum - bum - bum.

„Kannst du deine Kraft spüren?“, fragt Oma.

„Ja“, sagt Bjarne.

„Und wenn die sprechen könnte, was würde die sagen?“

„Was würde die sagen?“, wundert sich Bjarne. Und während er weiterhin mit seinen Fäusten auf den Tisch trommelt, hört er sich auf einmal zunächst vorsichtig und dann mit fester werdender Stimme im gleichen Rhythmus sagen: „Ich - bin - keine - Lusche! Ich - bin - keine - Lusche!“

„Ja“, sagt Oma. „Du bist keine Lusche.“

„Ich - bin - keine - Lusche!“, wiederholt Bjarne noch einmal und dann beruhigt sich langsam sein Trommeln. „Das fühlt sich gut an“, strahlt übers ganze Gesicht. „Irgendwie bin ich jetzt auch nicht mehr so wild im Kopf.“

„Mhm!“, nickt Oma. „Hast du Lust, dich einmal hinzustellen, damit wir noch etwas anderes auszuprobieren können?“

„Ja!“ Bjarne springt sofort auf und stellte sich mitten in die Küche.

„Kannst du spüren, wie du mit den Füßen auf dem Boden stehst?“, erkundigt sich Oma, die auch aufgestanden ist.

„Ja, ein bisschen.“

„Dann atme mal in die Füße aus.“

„Oma!“, protestiert Bjarne lächelnd. „Das geht doch gar nicht.“

„Doch“, beharrt Oma. „Probiere es mal. Atme kräftig ein und stell’ dir dann vor, wie du langsam in Richtung deiner Füße ausatmest.“ Bjarne runzelt die Stirn. Trotzdem nimmt er einen Atemzug und lenkt beim Ausatmen die volle Aufmerksamkeit auf seine Füße.

„Schick’ die ganze Luft langsam in deine Füße“, ermuntert Oma ihn. „Und wenn du möchtest, kannst du es ruhig noch zwei, drei Mal wiederholen.“

Bjarne steht ruhig da und atmet wiederholt ein und aus.

„Ich spüre jetzt meine Füße viel besser auf dem Boden, Oma“, staunt Bjarne. „So ein bisschen wie … wie die Wurzeln eines Baums.“

„Gut“, sagte Oma. „Ein Baum ist fest verwurzelt im Boden. Da kann der Sturm am Baum rütteln und zerren, wie er will. Der Baum steht fest.“

Bjarne lächelte.

„Und nun“, fährt Oma fort, „stell‘ dir vielleicht mal vor, dass Leon dir gegenübersteht.“

Bjarne schaut seine Oma irritiert an. „Da kommt aber sofort die Wut wieder in mir hoch.“

„Gut. Wo fühlst du sie jetzt ?“, fragt Oma.

„Hier!“ Bjarne legte seine Hand auf die Brust. „Da fühlt es sich so komisch eng und schwer an, aber irgendwie auch … wild. So, als wenn da was raus will!“

„Und spürst du noch, wie du fest auf dem Boden stehst?“ will seine Oma wissen.

„Nein, nicht mehr so richtig“, erwidert Bjarne.

„Okay, dann atme doch jetzt noch mal in die Füße aus, so wie du es gerade gemacht hast.“

Bjarne nimmt noch einmal einen Atemzug und konzentriert sich beim Ausatmen wieder auf seinen Füße. Ganz langsam atmet er aus.

„Komisch. Irgendwie fühlt es sich an, als wenn jetzt wieder Wurzeln in den Boden wachsen.“

Er atmet gleich noch einmal ein. Und wie mit einer Theaterstimme ruft er: „Soll der Sturm doch kommen! Ich stehe fest mit beiden Beinen auf der Erde!“ Dabei streckt er die Arme weit nach oben.

„Das ist gut!“, sagt seine Oma.

„Ja“, erwidert Bjarne und lässt die Arme wieder neben seinem Körper hängen. „Ich stehe fest wie die alte Eiche.“

„Dann stell‘ dir doch jetzt vielleicht noch einmal vor“, regt Oma an, „dass Leon dir gegenüber steht. Und vergiss nicht, dabei weiter in die Füße auszuatmen. Immer schön langsam! Okay?“

Bjarne nickt ernst. Er steht da und atmet ruhig ein und langsam aus.

Oma beobachtet ihn.

„Und?“, fragt sie nach einer Weile. „Was passiert gerade bei dir?“

„Ich stell mir vor, dass er dort steht.“ Bjarne deutet mit dem Kopf in die Richtung, in die er schaut. „Es ist komisch, ein bisschen … aufregend.“ Er atmet dabei kräftig ein und aus. „Aber ich konzentriere mich darauf, in meine Füße auszuatmen. Und das macht mich ruhig. Und stark. Aber es ist irgendwie auch anstrengend.“


„Mhm“, nickt Oma zustimmend. „Schau mal, was sich besonders stark anfühlt?“

„Meine Beine!“, sagt Bjarne und blickt dabei kurz zu seiner Oma. Dann wendet er sich langsam wieder dahin, wo in seiner Vorstellung immer noch Leon steht. „Du schubst mich nicht mehr um!“, sagt er mit leiser Stimme.

„Ja“, nickt seine Oma. „Und willst du das vielleicht noch mal mit kräftigerer Stimme sagen?“

„Ich probier’s mal!“, erwidert er. Noch einmal atmet er tief ein und donnert dann mit einer Stimme voller Überzeugung: „Du schubst mich nicht mehr um!“

Seine Oma lächelt sanft. Und für einen Augenblick stehen beide zufrieden da.

„Muss Leon noch etwas wissen?“, fragt Oma nach einer Weile.

„Ob er noch etwas wissen muss?“, fragt Bjarne irritiert.

„Ja, manchmal hat man noch einen Gedanken, den man loswerden will“, sagt Oma ganz ruhig.

„Vielleicht …“, überlegt Bjarne zögerlich, „dass er … nicht der Bestimmer ist?“

„Vielleicht …“, sagt Oma.

„Nein, eigentlich ganz sicher!“, verbessert sich Bjarne. „Leon hat nicht zu bestimmen, wer mitspielt. Und das werde ich ihm beim nächsten Mal einfach sagen.“

„Sag es ihm jetzt.“, schlägt Oma vor. „Leon hört es zwar nicht, aber du spürst schon einmal, wie gut sich das anfühlt.“

Bjarne zögert einen Augenblick. Dann strafft er seinen ganzen Körper. „Du bist nicht der Bestimmer!“, sagt er noch ein wenig vorsichtig. „Ja, genau! Du bist nicht der Bestimmer!“, wiederholt er mit kräftiger Stimme. „Und ich bin keine Lusche!“

Einen Augenblick lang steht er einfach nur da. Dann wendet er sich Oma zu. „Ich glaube, die Wut ist nicht mehr da, Oma. Oder besser gesagt, sie fühlt sich jetzt mehr wie eine starke Kraft an.“

„Prima!“, lächelt Oma.

„Irgendwie fühle ich mich jetzt auch so ein bisschen stolz. Und mein Kopf ist auch wieder klar“, stellt er fest.

„Das klingt wirklich gut“, freut sich Oma.

Beide setzen sich wieder an den Tisch und Bjarne trinkt zufrieden seine Saftschorle aus.

„Habe ich dir eigentlich schon mal die Geschichte erzählt, warum Menschen Gefühle wie Wut und Kummer, Stolz und Freude haben?“, fragt Oma nach einer Weile. „Ganz am Anfang war das ja deine Frage, oder?“

„Stimmt. Warum ich wütend, also so richtig wütend werde, wollte ich wissen“, erinnert sich Bjarne. „Und dazu weißt du eine Geschichte, Oma?“,

„Ja, und zwar die Geschichte vom Menschen und dem Minister für Sicherheit.“

„Die Geschichte vom was?“, fragt Bjarne erstaunt.

„Vom Menschen und dem Minister für Sicherheit“, wiederholt Oma.

„Klingt ja wie eine Geheimdienst-Geschichte“, überlegt Bjarne. „Ist es denn eine?“

„Also, es geht um einen geheimen Minister, um Macht und um Freiheit“, erklärt Oma. „Folglich ist es irgendwie schon eine Geheimdienst-Geschichte“, ergänzt sie ein bisschen zögerlich.

„Kannst du die jetzt gleich erzählen?“, will Bjarne wissen. Er liebt es nämlich, wenn seine Oma ihm Geschichten erzählt. Niemand kann bessere Geschichten erzählen als sie, denn ihre Geschichten sind häufig wie Antworten auf die Fragen, die Bjarne beschäftigen. „Wenn du möchtest“, sagt Oma, „können wir gleich mit dem ersten Kapitel beginnen.“

„Die Geschichte hat mehrere Kapitel?“

„Oh ja“, sagt Oma. „Denn es gibt eine Reihe von Gefühlen, die alle irgendwie zusammenhängen. Eine kurze Geschichte ist da einfach zu kurz.“

„Und die Wut?“, will Bjarne wissen.

„Die hat natürlich auch ein Kapitel“, sagt Oma. „Aber los geht es mit der Neugier.“

„Mit der Neugier?“, wundert sich Bjarne.

„Ja, denn die Neugier ist das Wichtigste, was wir haben“, sagt Oma.

„Und was ist das Zweitwichtigste?“, will Bjarne wissen.

„Wir werden sehen!“, erwidert Oma.

„Jetzt hast du mich aber richtig neugierig gemacht“, sagt Bjarne und lacht. „Aber bevor du anfängst, hole ich mir erst noch schnell eine Saftschorle.“

„Gut“, sagt Oma und wartet, bis Bjarne sich wieder an den Tisch gesetzt hat.

„Meinetwegen kann es jetzt losgehen“, gibt Bjarne dann das Startsignal.

Und Oma beginnt zu erzählen.

Bjarne und der Minister für Sicherheit

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