Читать книгу Dem Schatten Kindheit die Stirn geboten - Mathilde Mathe - Страница 3

Wie alles begann

Оглавление

Dem Schatten Kindheit die Stirn geboten

Eine Erzählung einer starken Frau,

auf wahrer Begebenheit

Aus Rücksicht auf alle Beteiligten, sind die Namen mit anderen ersetzt worden.

Ich danke meiner Partnerin, dass ich sie in diesem Buch erwähnen durfte. Weiteres bedanke ich mich bei einer lieben Freundin, die geduldig meine Geschichte lektoriert hat.

Ebenso meinen Söhnen, die mir Kraft gaben immer wieder aufzustehen und weiter zu

Machen. Ich liebe euch von ganzem Herzen.

Wie oft habe ich mir die Frage gestellt: „Was wäre gewesen wenn …“

Dies nährte lediglich ein schmerzendes Verlangen nach Erlebnissen, welche ich in einer bestimmten Form nicht mehr nachholen konnte. Die Vergangenheit zu betrauern führt dahin, in einer unerfüllten Welt zu leben, welche nur in der Phantasie existiert.

Ich habe viel erlebt, dabei eine Menge Tiefen, vernichtende Situationen und außerordentlich verletzende Momente. Meine Vergangenheit war oft sehr kraftraubend. Dennoch wachte ich auf und änderte meine Frage auf: „Was will ich heute und morgen?“

Ich werde Geschehenes niemals vergessen können, aber meine Sicht darauf verändern sehr wohl. Das gibt mir die Chance, daraus zu lernen und so meine Zukunft zu verbessern.

Niemand kann mir versprechen, dass ich nicht mehr in solche Tiefen des Lebens gerate, aber ich bin nun gewappnet.

Hier meine Geschichte:

Die erste Schwangerschaft meiner Mutter dauerte leider nicht lange an, es kam früh zu einer Fehlgeburt. Danach funktionierte es, und mein Bruder Viktor kam zur Welt. Zwei Jahre später kündigte ich mein Kommen an. Um ein weiteres Geschwisterchen nach mir, wurde viel gestritten und so brach meine Mutter die Schwangerschaft ab. Vater zweifelte aufgrund seiner extremen Eifersucht die Vaterschaft an.

Meine Eltern mussten sich ohne familiäre Unterstützung ein Leben aufbauen. Beide kamen aus finanziell nicht gut gestellten Familien. Obwohl mein Vater am Bau viel verdiente, dauerte es seine Zeit, bis wir aus einem Abbruchhaus in eine neue Wohnung ziehen konnten. Ich war damals so um die zwei Jahre alt. Es handelte sich um einen ganz neuen Gemeindebau in Wien, der für junge Familien erbaut wurde.

Mutter blieb auf den Wunsch meines Vaters zu Hause bei den Kindern, und er brachte das Geld nach Hause. Leider stellte das bald ein Problem dar, denn er war damals bereits Alkoholiker. Im Gegensatz zu vielen anderen Suchtkranken ging er immer brav arbeiten, war kaum im Krankenstand und eigentlich nie lange arbeitslos. Aber wenn Zahltag war, kehrte er immer in ein Gasthaus ein und brachte nur mehr einen Teil vom Lohn mit. Meine Mutter beschloss daher gegen seinen Willen, heimlich kleine Jobs in der Reinigungsbranche anzunehmen. Ob mein Vater von dem Zusatzeinkommen ahnte, weiß ich bis heute nicht.

Unsere Familie war größer als es mir möglich ist, alle persönlich zu kennen bzw. kennen gelernt zu haben.

Mein Vater hatte 5 Halbgeschwister, mit denen er bei seiner Mutter aufgewachsen ist. Wobei zwei von ihnen früh nach Südamerika zu ihrem anderem Elternteil gezogen sind. Ihre dortigen Kinder habe ich nie kennen gelernt und leider weiß ich auch nicht, wie viele Cousins ich in dieser Familienlinie tatsächlich habe.

Meine Großmutter verstarb, noch bevor es mich gab, und meinen richtigen Großvater sah ich nie. Eigentlich erfuhr ich erst spät, dass mein Vater einen anderen Erzeuger hatte als seine Geschwister. Er wuchs in einem Dorf auf, in dem alle Alles wussten, aber keiner darüber sprach. So gibt es auch noch eine mir unbekannte Familie von meinem Großvater, denn er heiratete eine andere Frau und bekam Kinder, die selbst Kinder, Enkelkinder, … haben.

Meine Mutter hatte sieben Geschwister, mit denen sie aufwuchs, weitere verstarben jung. Dann gab es noch uneheliche Kinder ihrer Eltern, die ebenfalls Familien gründeten. Zur damaligen Zeit waren viele Kinder ganz normal, daher habe ich eine Menge Cousins. Einige davon sind um die 25-30 Jahre älter als ich.

Das liegt daran, dass ich die Jüngste aus meiner Generation dieser Familienlinie bin.

Meine Erinnerungen gehen weit zurück in die Kindheit. Für mich ist es normal, noch so viel von der Vergangenheit zu wissen. Meine Freundin meint, es wäre eher ungewöhnlich, vor allem, dass ich noch so viele Details weiß.

So erinnere ich mich noch gut an die Zeit, als ich begann in 3D zu sehen. Es war ein seltsames Gefühl, denn plötzlich hatten die Gegenstände unterschiedliche Entfernungen. Manches kam dann viel zu nahe, wie meine Tanten zum Beispiel, welche sich immerzu meinem Gesicht näherten. Aber auch wenn ich herumgetragen wurde, kamen Möbel und Diverses näher als gewohnt. Manchmal schien mich die neue Perspektive in sich hinein zu saugen.

Als ich nicht mehr auf den Kinderwagen angewiesen war und meine Mutter zu Fuß begleitete, entdeckte ich erneut etwas sehr Aufregendes. Meinen Schatten.

Es war ein sonniger Tag. Meine Mutter hatte einen dringenden Weg. Sie hielt mich an der Hand, ging ein bisschen zu schnell für meine kleinen Beine, also befand ich mich immer einen Schritt hinter ihr. Da merkte ich, dass mich etwas verfolgte. Ich lief schneller und dieses etwas auch. Ich riss mich von der Hand meiner Mutter los und wollte auf dieses Ding hinaufspringen, aber es wich immer viel zu schnell zurück. Bei der Bushaltestelle versuchte ich es noch einmal. Ich versuchte es einzufangen, drauf zu springen, schneller zu sein, nichts half, es war immer schneller als ich. Meine Mutter schimpfte, weil ich so komisch herumhüpfte und der Bus sich bereits näherte. Wie sollte ich von dieser geheimnisvollen Gestalt berichten? Ich konnte ja noch nicht so viele Worte, um es zu erklären.

Zu Hause war ich den Verfolger endlich los, aber im Freien verfolgte er mich, auf Schritt und Tritt. Irgendwann gab ich die erfolglosen Versuche ihn auszutricksen auf, aber ich schaute natürlich immer nach, ob er noch da war. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Schatten akzeptierte. So mit vier oder fünf Jahren stellte sich heraus, dass er manchmal auch ein guter Zuhörer war.

Kurz nachdem ich die Windel ablegte und meine ersten Unterhosen bekam, saß ich einmal im Wohnzimmer am Boden, um mich herum einige Legosteine. Meine Mutter und mein Vater saßen gegenüber auf einem Sofa. Mein Vater hatte Arme und Beine verschränkt. Eine Körperhaltung, die ich noch sehr oft bei ihm sehen würde, zurückhaltend und sich emotional nicht outend. Meine Mutter saß recht locker dort und beide beobachteten mich beim Spielen, was ich aber nicht so gerne hatte. Und doch denke ich manchmal, dass dies der friedlichste Moment zwischen meinen Eltern war, den ich jemals sehen durfte.

Meine kleinen Finger schubsten einen Stein nach dem Anderen umher. Ich dachte nach, wie mein Bruder diese Dinger wohl immer zusammensetzte und versuchte ungeschickt, einen der Steine auf eine Platte zu drücken. Eines störte mich allerdings, der Boden war ohne Windel wesentlich härter, zudem verrutschte diese dumme Unterhose bei jeder Bewegung. Der Rock war da auch nicht gerade ideal. Also zupfte ich an der Unterhose herum, denn das Ding zwickte überall. Plötzlich hörte ich meine Mutter, die offensichtlich aufgeregt war; „Schau, was deine Tochter da macht!“ Mein Vater grinste nur und zog seine Schultern hoch. Da sprang meine Mutter vom Sofa auf, stürzte auf mich zu und klopfte mir auf meine Finger. Ich höre sie noch genau, als sie immer wieder sagte: „Pfui, du Schweinderl. Das ist pfui! Das ist pfui! Greif da nicht hin! Pfui!“ Währenddessen klopfte sie immer auf meine Finger. Mein Vater meinte, dass es schon genug sei, doch meine Mutter konterte, es wäre wichtig, dass ich es mir merke. Sie hatte Sorge, wenn wir uns in Gesellschaft befänden und ich täte dies, dann wäre es mit ihrem Ansehen dahin. Eigentlich ging es immer darum, was die Anderen dachten, also über sie dachten …

Mir war es recht unlogisch, wieso hatte ich da ein Pfui? Ich hatte da etwas an meinem Körper, das ich nicht angreifen durfte? Als ich meine Tanten wissen ließ, dass ich da ein Pfui an meinem Körper hatte, eifrig mit dem Zeigefinger- natürlich mit Abstand, um es nicht zu berühren- darauf deutete, lachten sich meine Tanten krumm. Ich schaute sie finster an, das war eine ernste Sache! Sie hatten da ja kein Pfui, aber ich musste es mit mir herum schleppen. Komisch nur, dass mir meine Mutter bald darauf lernte, wie ich das Pfui waschen musste, weil es ansonsten pfui wäre. Ich dachte es wäre bereits ein Pfui …. ?

Diese Einstellung zum eigenen Geschlecht und deren Funktionen sollte sich in meiner Kindheit noch verfestigen. Ich hörte schon als kleines Kind, dass alle Frauen, die sich zu den Männern hingezogen fühlten, Huren sind und alle Männer immer nur das Eine wollten. Als Kind fing ich noch nicht viel mit diesen Aussagen an, wusste aber, es war nichts Gutes und ich durfte so niemals sein.

Wir hatten ein Pfui, das heimlich gewaschen gehörte, um kein Pfui mehr zu sein, obwohl es ja immer ein Pfui war …

Anfangs gehorchte ich brav, aber keine Sorge, meine Neugier aufs Leben siegte irgendwann.

Kurz nachdem wir in der neuen Wohnung waren, ging meine Mutter mit uns Kindern zu einen neuen Kinderarzt. Günstiger Weise war er gleich ums Eck, in einem der Gemeindehäuser. Der Arzt war sehr groß, etwas stärker und sein Kopf rund mit leicht roten Backen. Eigentlich war er ein bisschen Furcht einflößend, aber als er zu reden begann, da lächelte er und war total nett. Er hob mich auf das Untersuchungsbett, weil ich ja noch so klein war, nicht selber raufhüpfen konnte und begann, mich gründlich zu untersuchen. Am Schluss der Untersuchung sagte er, dass ich viel zu dünn bin und sehr blass. Er veranlasste eine Blutuntersuchung, bei der herauskam, dass ich unter Blutarmut litt und damit hatte ich (noch weitere) zwölf Jahre zu kämpfen. Einmal die Woche stach er mir in den Zeigefinger, holte einen Tropfen Blut heraus und testete meine Werte mit einen Schnelltest. Meine Mutter hatte die Aufgabe, auf meine täglichen Mahlzeiten zu schauen, damit diese sehr eisenhaltig waren. Das Problem war, dass mich meine Mutter zum Essen zwang und ich bald eine Schluckhemmung auf alles Gesunde bekam.

Ich brachte keinen Bissen mehr hinunter. Wenn meine Mutter wütend wurde, weil ich wieder einmal nicht essen wollte/konnte, drückte sie meinen Kopf in den vollen Teller. Ein Großteil des Essens klebte in meinem Gesicht. Abwischen durfte ich mich erst, wenn der Teller leer war. Ich versuchte es wirklich, unterdrückte sogar meine Tränen, aber es wollte einfach nicht funktionieren. Immer wenn ich den Löffel zu meinem Mund führte, begann mir schon vor dem Geruch zu ekeln. Manchmal erbrach ich dann in das Essen und meine Mutter befahl mir, mein Erbrochenes zu essen. Da konnte ich dann meist meine Tränen nicht zurückhalten. Ein Mix von Essen, Erbrochenen und meinen Tränen schien den Teller noch voller zu machen. Meine Mutter blieb neben mir stehen und schrie mich an, endlich einen Löffel voll in den Mund zu stecken. Ich nahm einen, erbrach erneut in meinen Mund und versuchte, dass es nicht herauskam, versuchte es gleich hinunter zu schlucken. Manchmal gelang es mir, bis mein Magen erneut den Teller füllte.

Später meinte sie, sie könne sich mein Herumgezerre nicht mehr mit anschauen und stellte meinen Teller auf den Toilettensitz, dort musste ich den Rest meines Essens einnehmen. Im WC hinunterspülen ging leider nicht, denn Mutter warnte mich im Vorhinein, dass sie die Spülung hören könnte.

Meist konnte ich dennoch nicht aufessen und spätestens eine halbe Stunde bevor mein Vater kam, durfte ich wieder aus der Toilette hinaus. An diesen Tagen bekam ich kein Abendessen, aber ich hätte eh keinen Bissen mehr hinuntergebracht.

Meine Blutwerte wurden nicht besser, im Gegenteil, es sah noch schlechter aus als zuvor. Ich bekam Medikamente und sollte Lebertran trinken. Oh Gott, das war ja das Ekeligste überhaupt. Als ich ihn auch nicht ohne Erbrechen schlucken konnte, versuchte es meine Mutter mit „roher“ Leber. An sich mochte ich den Geschmack von Leber, esse sie heute noch gerne, aber die Leber war schwierig zu beißen, und wurde vom Kauen immer trockener und irgendwie auch mehr an Volumen. So wurde es zunehmend unwahrscheinlicher, den Brocken jemals durch meine Speiseröhre zu bekommen. Bei einem Versuch erstickte ich fast. So sammelte ich die Reste heimlich in meiner Hand und warf sie später vom Balkon in die Wiese. Leider wohnten wir im Erdgeschoß und meine Mutter kam bald drauf. Was jetzt kam, war mir damals schon schmerzlich vertraut, sie wurde wütend und schlug mich. Danach musste ich im Vorzimmer auf den Steinfliesen knien und auf die Wand schauen. Ich durfte mich nicht auf die Fersen setzen, wenn die Knie schmerzten, die Hände waren hinter dem Rücken, damit ich mich nicht abstützen konnte oder gar an der Wand zu kratzen begann. Meine Augen mussten offen bleiben, denn ein Schläfchen sollte es ja nicht werden. Manchmal verharrte ich mehrere Stunden so, denn meine Mutter verlangte Reue und eine glaubhafte Entschuldigung. Mein Bruder durfte bald aufstehen, er entschuldigte sich, ich aber dachte nicht daran, mich für etwas zu entschuldigen, was ich nicht wirklich verstand, bereute oder manchmal gar nicht getan hatte.

Mein Vater wusste nicht viel über die resoluten Erziehungsmethoden meiner Mutter und ich konnte es ihm auch nicht sagen, weil ich Angst hatte, er könnte meine Mutter schlagen. Was leider noch oft passierte.

Mein Vater kam häufig betrunken nach Hause. Auch wenn er nie die Hand gegen mich erhob, immer geduldig mit uns Kindern war und ich ihn sehr liebte, wurde das Verhältnis zwischen den Eltern zunehmend schlechter. Mutter war am Ende ihrer Kraft, und dies wirkte sich dann auf die Erziehungsformen aus.

Ich weiß, dass meine Mutter Angst wegen meiner schlechten Blutwerte hatte, die sich ohne gute Ernährung nicht verbesserten, doch diese Zwangsmethoden richteten schließlich noch viel mehr an. In den Handlungen widerspiegelte sich ihre Hilflosigkeit. Sie hielt es nicht aus, wenn nicht das gemacht wurde, was sie wollte, also erzwang sie es. Leider lernte sie uns Kinder so niemals richtig kennen, denn wir durften nur sein, wie Mutter es sich gerade vorstellte. Dies führte bei meinem Bruder zur Resignation und bei mir zum Trotz. Auf alle Fälle fühlten wir uns Mutter gegenüber hilflos, weil wir nie etwas richtig machen konnten. Zudem litt das Aufbauen fürs Selbstbewusstsein sehr darunter, denn dafür war in der Kindheit kein Platz.

Mit vier Jahren war es fix, einer meiner Augenmuskeln wuchs nicht weiter, sondern kümmerte vor sich hin. Ich würde mein Leben lange schielen. Die Ärzte verpassten mir eine Brille, die mir ein besseres Gefühl für mein linkes Auge erlernen sollte. Mein gutes Auge wurde zugeklebt und ich konnte überhaupt nicht mehr nach links schauen, aber dafür sah ich keine Doppelbilder mehr, was anfangs auch sehr ungewohnt war. Heute merkt man kaum, dass ich schiele, denn der linke Sehradius ist für mich tabu. Dennoch musste ich zweimal operiert werden, weil im Erwachsenenalter der Innenmuskel meines linken Auges wegen zu geringen Widerstands immer stärker wurde und ich nicht mehr geradeaus schauen konnte.

Mein Bruder, er heißt Viktor und ich stritten meist. Er war seit meiner Geburt eifersüchtig, dachte, seine Schwester nimmt ihm nun die Liebe der Mutter weg. Ich sehnte mich wiederum um seine Liebe zu mir, die er mich lange nicht spüren ließ, weil er von Hass erfüllt war. Oft tat er mir absichtlich weh, reizte mich so lange, bis ich zu weinen begann und meine Mutter ins Zimmer kam. Er wusste genau, dass die Nerven bei ihr blank lagen und sie mich fürs Weinen bestrafen würde. So kam es dann auch immer. Ich wurde zu einer Heulsuse, wie mich meine Mutter gerne nannte. Doch waren es meist nicht die regelmäßigen Schläge, sondern der Schmerz in der Seele, der meine Tränen verursachte.

Meine Mutter hatte damals den Eindruck, dass generell etwas nicht stimmte, also ging sie mit uns Kindern zu einigen Ärzten. Ich weiß nicht mehr alle Details, aber ich weiß, dass mein Kopf geröntgt wurde. Ich musste mein Leiberl ausziehen und mich zwischen zwei bedrohlich große Geräte stellen. Es war kalt und der Arzt ging mit meiner Mutter aus dem Raum. Ich alleine, mit nacktem Oberkörper mit diesen Blechdingern alleine und plötzlich ging auch noch das Licht aus. Die Dinger begannen zu blitzen. Ich hatte Angst, niemand hatte mich vorgewarnt, schnell hüpfte ich weg und lief aus dem finsteren Raum ins Wartezimmer. Der Arzt und meine Mutter mir nach. Der Arzt fing mich ein und trug mich grob wieder in das Röntgenzimmer zurück. Zweimal, büchste ich aus. Der Doktor meinte, dass da sicher etwas mit mir nicht stimmen konnte. Er hätte das noch nie erlebt.

Ob es dieser Arzt oder ein anderer war, der meiner Mutter sagte, dass etwas mit meinen Gehirn nicht normal war, weiß ich nicht mehr. Meine beiden Gehirnhälften waren unterschiedlich groß – was ja eigentlich wiederum ganz normal ist …

Aber meine Mutter hörte nur oberflächlich zu und nahm dies als ihre Bestätigung für meine Unbezähmbarkeit.

Sie rief sofort die ganze Familie an, erzählte es Nachbarn und den Eltern meiner Freunde. Alle bedauerten meine Mutter, weil sie ein geistig behindertes Kind hatte. Ich stand daneben.

Niemand kann sich vorstellen, was eine solche Situation mit einem kleinen Kind macht. Ein paar Worte, Blicke, Minuten, die Zukunft schreiben und ein Raum im Unterbewusstsein, welcher sich öffnet, wann man nicht damit rechnet.

Wenn sich meine Mutter aufregte, hänselte und beschimpfte sie mich auch wegen meines Augenfehlers. Nun war ich ein geistig behindertes, schielendes Kind mit Blutarmut. Sie tat mir meist leid, weil sie mich als Tochter hatte und oft wünschte ich, nie geboren worden zu sein, damit meine Mutter nicht so viel Kummer hätte. Vielleicht trank ja mein Vater nur wegen mir … (dachte ich).

Später wurde mir erzählt, dass mein Vater schon vor der Heirat mit meiner Mutter Alkoholiker war. Als sie sich kennenlernten, hatte er gerade einen stationären Entzug hinter sich, sagte dies aber niemandem. Meine Mutter stellte ihre Brüder vor, die sofort auf die neue Beziehung meiner Mutter anstoßen wollten. Mein Vater trank eine Limo und wollte auch bei dieser bleiben, aber die Brüder meiner Mutter drängten ihn zu einem Bier. Da er sich schämte, willigte er doch ein, und so begann er wieder zu trinken. Zur damaligen Zeit galt Alkoholismus meist nicht als Krankheit. Er durfte nicht einmal mehr einen Tropfen trinken, was nicht verstanden wurde. Ein paar Jahre später versuchte er noch einmal einen Entzug, aber auch dieser scheiterte.

Ich begleitete ab meinem 3. Lebensjahr meine Mutter zu ihren Putzjobs. Vorwiegend waren es ältere Menschen, die sich im Haushalt schon schwer taten. Eine alte Dame empfing mich mit einem Kakao und einem Kipferl. Manchmal hatte sie auch eine Tafel Schokolade für mich. Bei den Anderen war nie jemand zu Hause und meine Mutter hatte den Schlüssel zur Wohnung. Dort verfolgte ich meine Mutter auf Schritt und Tritt. Sie begab sich leider oft unnötig in Gefahr. So putzte sie die Fenster, stieg mit beiden Füßen auf das äußere Fensterbrett, ohne gesichert zu sein und meinte nur, ich soll nicht so empfindlich sein. Wenn sie abgestürzt wäre, dann gleich drei Stockwerke und ich hätte nicht gewusst, was zu tun gewesen wäre …

Auch putzte sie die Steckdosen mit einen feuchten Tuch, was ihr einen Stromschlag einbrachte. Die Leitungen waren damals noch nicht so gut gesichert und viele starben am Strom.

Zu Hause musste ich dann immer einen Mittagsschlaf halten. Selbst wenn ich müde war, hatte ich zu viel Sorge gehabt, etwas versäumen zu können, also versuchte ich mich krampfhaft wach zu halten. Im Kinderzimmer hing ein grüner Vorhang mit Fred Feuerstein bedruckt. Ich erinnere mich noch gut, wie ich da so im Bett liege und auf die Motive schaue. Jede Figur erzählte eine eigene Geschichte, die in mein Leben passte.

Manchmal versuchte ich meine Mutter auszutricksen. Ich blieb eine Weile im Bett, ging dann raus, gähnte und meinte, ich hätte schon geschlafen. Funktionierte aber nicht.

Einmal, da schickte mich meine Mutter wieder zum Schlafen und versprach, mich spätestens dann aufzuwecken, wenn sie einkaufen ging, denn da wollte ich unbedingt mit.

Doch als ich aufwachte, war niemand zu Hause. Ich war ganz alleine und fürchtete mich. Ich weinte, versuchte die Balkontüre auf zu machen, aber das gelang nicht. Danach lief ich ins Kinderzimmer, schob einen Sessel zum Fenster, öffnete es und rief nach meiner Mutter. Zum Glück wohnten wir im Erdgeschoß. Da ich so laut rief und weinte, wurden zwei Nachbarinnen auf mich aufmerksam. Die eine schaute nach, ob meine Mutter vielleicht schon ums. Eck kommt und die andere fragte, ob ich etwas zu essen und trinken hätte. Das wusste ich nicht, meine Mutter war ja nicht da und ich ganz alleine, war das nicht schon genug? Nachdem ich sagte, dass unsere Türe zugesperrt war, seilte mir eine einen Korb mit Schokolade, einen Apfel und einer Limo hinunter. Gerade da kam meine Mutter ums Eck. Ich wollte gerade nach der leckeren Schokolade greifen, da zog die Frau den Korb schnell wieder hinauf. Nichts habe ich erwischt, weder Kracherl, noch Schoko. 

Meine Mutter schimpfte furchtbar mit mir, meinte, wegen mir würde sie jetzt in der Nachbarschaft ausgerichtet. Tja, dass sie ihr Versprechen nicht hielt, mich mit 3 Jahren alleine in einer versperrten Wohnung ließ …

Mein Bruder Viktor nahm mir weiterhin Dinge weg, auch wenn sie mir gehörten. Ich kann mich noch gut erinnern: Wir bekamen von meiner Mutter ein wenig Taschengeld. Die Hälfte davon warf ich in mein Sparschwein und mit der anderen wurden Süßigkeiten gekauft. Geld von den Tanten legte meine Mutter auf unser Sparbuch. Mein Schwein war schon ganz voll und ich überlegte, was ich mir nun darum kaufen wollte. Eigenartiger Weise war eines Tages das Sparschwein von einer unheimlichen Leichtigkeit. Mein Bruder hatte mein ganzes Geld herausgenommen und gleich ausgegeben. Ich weinte, lief zu meiner Mutter. Sie schimpfte mit ihm, aber zurückgeben musste er mir nichts. Das verstand ich nicht. Sollte er das Gestohlene nicht zurückgeben müssen?

Genauso erging es mir mit meinem Fahrrad. Ganz stolz war ich darauf, als ich es bekam. Mein Vater lernte mir das Fahren ohne Stützen. Es dauerte nicht lange, da fehlten aus unerklärlichen Gründen meine Fahrradkette und die Bremsen. Mein lieber Bruder nahm sie einfach an sich, weil die Sachen bei ihm kaputt waren. Ich ging wieder zu meiner Mutter, die außer Schimpfen nichts dagegen unternahm. Mein Vater reparierte mein Fahrrad am Wochenende. Er flickte auch immer unsere Reifen, wenn wir ein Loch darin hatten. Neugierig schaute ich ihm bei jedem der Handgriffe zu. Solche Momente waren für mich einfach schön, da dachte ich auch nicht über meine angebliche Andersartigkeit nach.

Die schlechte Beziehung zwischen meinem Bruder und mir hielt so lange an, bis wir beide von zu Hause ausgezogen waren.

Als ich noch sehr klein war standen immer wieder Veränderungen für mich am Plan. So nahm mir meine Mutter den Schnuller weg, den ich nachts noch zum Einschlafen brauchte. Sie dachte, in der neuen Wohnung wär er nicht mehr vonnöten. Da er mir so fehlte, suchte ich eine Alternative und wurde fündig. Mein Deckenzipfel. Ich nuckelte die ganze Nacht daran und am Morgen war die halbe Decke nass. Meine Mutter schimpfte und klopfte auf meinen Mund. Die nächste Nacht nuckelte ich wieder am Zipfel der Decke und bekam wieder Schimpfer und eine am Mund. Eines Nachts, bemerkte ich, dass meine Decke nach Pfeffer schmeckte, also drehte ich sie um und nuckelte unten weiter. Dann beschmierte meine Mutter alle Enden mit Pfefferoni, also musste der Polster her. Der Zorn meiner Mutter wuchs und die Bestrafungen wurden heftiger. Um jeden zufrieden zu stellen, entschloss ich mich für meinen Daumen, aber wirklich glücklich war meine Mutter auch mit dieser Lösung nicht. Im Grunde nuckelte ich deswegen nicht mehr an der Bettwäsche, weil ich mich vor den Bestrafungen fürchtete. Vielleicht ist es ja gerade das, weshalb ich heute immer alles verstehen möchte. Viele Jahre musste ich folgen, ohne Erklärung oder eine liebe Bitte.

Ich weiß nicht genau, wie alt ich war, als wir unseren ersten Fernseher bekamen. Alles drehte sich nur um dieses große Gerät. Mein Vater stellte den Fernseher auf, meine Mutter und wir Kinder schauten gespannt zu. Wir hatten eine Zimmerantenne, die halt so irgendwie funktionierte. Ich sehe noch meinen Vater vor mir, als er im Wohnzimmer jedes Eckerl ausprobierte, um zumindest ein verzerrtes Bild am Schirm zu erkennen. Das erste, was ich im Fernseher sah, war Charly Chaplin, später kamen? Dick und Doof, vorerst alle als Stummfilm. Im Wohnzimmer hatten wir eine ockerfarbene Sitzbank und zwei Fauteuils. Auf der Sitzbank lag meist mein Vater, auf einem der Fauteuils saß fix meine Mutter und um den anderen stritten mein Bruder und ich. Einmal durfte ich oben sein, das andere Mal Viktor. Ich liebte diesen Fauteuil, da konnte ich mich ganz zusammengerollt hineinlegen. Der Stoff war grobem Frottee ähnlich. Mein Bruder sprang meist auf ihm herum und dann passierte es, eine Lehne brach innen und hatte von da an eine Delle drinnen. Musste ich halt meinen Kopf auf die andere Seite legen, das ging mit meinem Augenfehler eh besser.

Später kam dann Fred Feuerstein im Fernsehen, natürlich alles ohne Farbe. Die Eltern meiner Sandkastenfreundin Hermi kauften sich eine gelbliche Folie, die vor den Fernseher gespannt wurde. Das fand ich jedoch nicht so schön. Erst als Hermis Eltern einen Farbfernseher bekamen, schaute ich lieber bei ihnen Filme an. Später war es auch uns finanziell möglich, ein neues Gerät zu kaufen.

Als ich dann ins Schulalter kam, spielte es bereits mehrere Filme in Farbe, ältere waren noch in Grautönen. Mit meiner Mutter schaute ich meist Heimatfilme und Shows an, mit meinem Vater Panoptikum und andere Dokumentationen. Mein Vater weinte meist bei den Heimatfilmen und so zog er es vor, manche Nachmittage am Wochenende mit schlafen zu verbringen.

Meine Mutter verdiente heimlich etwas Geld dazu. So ging ich einmal am Abend mit ihr Prospekte austragen. Ich war so um die 4 Jahre alt. Früher gab es in unseren Gemeindebauten noch keine Sprechanlagen, der Hauswart sperrte die Haustüren um eine bestimmte Zeit zu und drehte das Licht im Stiegenhaus auf. Also mussten wir uns beeilen. Einmal da passierte es, dass ich die Finger zwischen Angel und Rahmen der Stiegenhaus Türe hatte. Meine Mutter wollte die Türe schließen, aber es ging nicht. Ich weinte und brachte vor Schmerz kein Wort heraus, sie versuchte immer wieder, die Türe zu schließen und schimpfte, weil ich lauthals schrie. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, weshalb ich so weinte und zog mich unbeholfen und voller Selbstvorwürfe an sich. Meine vier Finger schwollen an und es schien, sie wollten zerplatzen. Zu Hause bekam ich kalte Umschläge, die schließlich halfen. Ich dachte, die Schmerzen waren es wert, denn die Umarmung meiner Mutter tat unheimlich gut. Warum nahm sie mich nicht öfter in den Arm?

Meine Lieblingsbeschäftigung Malen ging dann länger nicht mit dieser Hand, also zeichnete ich mit links. Möglich, dass dies der Grund ist, weshalb ich auch links Schreiben kann, selbst in Lateinschrift, zwar nicht so schön wie rechts, aber es ist lesbar.

Ich mochte eigentlich jede Jahreszeit, das Erwachen der Natur im Frühling, das Gesumme der Bienen im Sommer, die Buntheit und das Regenprasseln im Herbst und den Schnee im Winter. Lediglich die Kälte tat mir weh, aber vielleicht lag es an meiner Blutarmut.

Ich baute oft einen Schneemann vor den Kinderzimmerfenster, schnorrte meiner Mutter eine Karotte für die Nase ab, suchte dunkle Steine für die Augen und bog einen kleinen Zweig für den Mund. Einmal habe ich sogar eine Mütze für meinen Schneemann gestrickt. Der Winter war meist sehr kalt und deswegen blieb er lange vor meinem Fenster stehen, zumindest, bis ihn ein anderes Kind köpfte.

Wir hatten eine Holzrodel. Da die Gegend noch recht naturbelassen war, gab es damals noch kleine Hügel zum Hinunterrodeln. Anfangs waren meine Eltern dabei, später rodelte ich mit meinem Bruder oder mit Freunden. Mein Vater zeigte mir, wie ich die Kufen mit einer Kerze oder Seife einwachste, damit es schneller den Hügel hinunter ging. Meine Mutter zog manchmal die Rodel, mein Bruder und ich saßen darauf. Natürlich nur solange wir klein waren.

Wenn ich einmal die Rodel nicht nehmen durfte oder mein Bruder sie hatte, dann nahm ich mir einen Plastiksack, setzte mich darauf und los ging es. Mein Po hielt eine Menge aus.

Im Herbst sammelte ich bunte Blätter und Kastanien. Die Blätter klebte ich auf ein Blatt Papier oder einen dünnen Karton von der Verpackung diverser Kleidung. Wenn mir das Material ausging, schnorrte ich meinen Vater um Zündhölzer an. Den Schwefelkopf kratzte ich hinunter und klebte ein Haus zusammen – ohne Dach, damit Figuren darin sitzen konnten. Ich hatte eine kleine Schachtel, in der ich Diverses zum Basteln aufhob. Wenn wir in den Wald gingen oder nach Pilzen suchten, dann gab es da sehr viel Interessantes für mich, was ich brauchen konnte. Wir waren viel und oft im Burgenland. Meine Tante Frida fand ständig Unmengen von Pilzen. Ich ging gerne neben ihr, weil ich erfahren wollte, weshalb sie die Schwammerl unter dem Laub schon von weitem sah, obwohl sie eine Brille trug. Sie lachte meist, wenn ich dann zu dem Platz lief und unter dem Laub Unmenge Eierschwammerl fand. Sie sagte meist etwas auf Ungarisch zu meinen Vater und dann lachten die beiden. Ich wollte unbedingt auch Ungarisch lernen, bat meinen Vater darum, aber er wollte das nicht. Heute weiß ich weshalb. Er selbst ist in einem Teil des Burgenlands aufgewachsen, wo Ungarisch als Muttersprache galt. Als er in die Schule kam, sprach er kein Wort Deutsch und tat sich beim Lernen sehr schwer. Selbst im Erwachsenenalter konnte man aufgrund falscher Betonung mancher Wörter den ungarischen Dialekt? Akzent (heraus)hören. Ich glaube, er war sein Leben lange zerrissen, weil er sich weder als eindeutiger Ungar, noch als Österreicher fühlte.

Schade, dass er dachte, mir könnte es genauso ergehen.

Wenn Verwandte meiner Mutter zu Besuch waren, ging es meist recht laut zu. Es wurde viel getrunken und es dauerte nicht lange, da wurde gesungen, gestritten und geküsst. Meine Cousins nutzten die unbeobachteten Stunden aus und manchmal durfte ich mit, wenn mein Bruder und sie etwas anstellten. Ich war gerne dabei, wenn sie spannende Sachen machten, aber bei einigen, die wirklich gefährlich waren, hätte ich gut und gerne darauf verzichtet.

Ich muss so um die 4 Jahre alt gewesen sein. Eine meiner Cousinen wollte spazieren gehen und meine Tante sagte, wenn sie raus will, dann muss sie mich mitnehmen. Andrea war nicht begeistert, nahm mich aber dann doch mit. Wir gingen zu einer alten Fabrik gleich in der Nähe. Das Gebäude stand nur mehr zur Hälfte da, die andere Seite war bereits abgerissen und ein Supermarkt wurde daran gebaut.

Wir betraten den Fabriksteil und Andrea sagte, dass wir dort jemanden besuchen würden. Eine Wendeltreppe führte uns in einen schäbigen Vorraum mit vielen Türen. Meine Cousine verschwand immer wieder in eines der Zimmer und ich saß im Vorraum. Immer wenn Andrea fertig war, setzte sich ein anderer Mann zu mir. Der Eine zeigte mir, wie schnell er mit seinen Taschenmesser zwischen seine gespreizten Finger stechen/zielen kann. Später kam meine Hand dran – zum Glück hab ich heute noch alle Finger.

Ein Anderer nahm mich auf seinen Schoß und spielte Hoppareiter. Meine Cousine kam gerade aus einen der Zimmer und sagte dem Mann, er soll mich ja nicht anfassen. Er meinte wir spielten ja nur. Irgendwann ging mir auf die Nerven, dass er mich immer so weit zu sich rutschen ließ, zudem war da etwas unbekanntes Hartes in seinem Schritt. Ich habe keine Ahnung mehr, was da noch gewesen sein könnte, ich weiß nur, dass ich geweint habe. Am Heimweg beugte sich Andrea zu mir hinunter und sagte: „Du darfst niemandem verraten, wo wir waren und was da war. Das ist jetzt unser Geheimnis.“

Juhu, ich hatte ein Geheimnis mit meiner großen Cousine. Ich war ja so stolz. Dreißig Jahre behielt ich es bei mir.

Dem Schatten Kindheit die Stirn geboten

Подняться наверх