Читать книгу Mein berlinerndes Herz - Mathilde Schrumpf - Страница 4
Perücken
ОглавлениеWeißt du, sie waren klüger als wir. Mich schockiert so etwas: vor 200 Jahren. Wir haben alles vergessen – Überheblichkeit, die nie angebracht ist. Wir meinen, weil damals die Psychologie noch gar nicht geboren war, sondern das Wunschkind noch „Erfahrungs-Seelenkunde“ hieß, könnten wir auf sie herabschauen, mit ihren Perücken und Tintenfässern und Federkielen.
Ja, ich geb´ es zu: Wer einmal eine Radierung von Lessing gesehen hat, möchte ihn sich nicht als Seelenkenner vorstellen und auch nicht als Dramaturgen. Aber wenn ein Kind starb, knickten gramgebeugt die stärksten Männer ein, damals, und so etwas konnte dann Anlass geben, darüber zu philosophieren, wann ein Schmerz so sehr herabgemildert ist, dass er zum Gegenstand der Elegie werden kann. Sie sagen, die schwarzen Bilder müssen sich schon so weit entfernt haben in der Zeit und so weit auseinander getreten sein, dass sich frohe Erinnerungen darunter mischen können. Dann fließt die Träne, und die Zunge löst sich. Ist der Schmerz noch zu nah und zu stark, ist alles starr und stumm und Stein. Wieso muss ich das bei Thomas Abbt lesen, und es sagt mir etwas, über alle Trennungen, die sich mit der Zeit erst erweichen und verflüssigen ließen durch Erinnerung an das, was gut war? Wieso sagt mir das „Psychologie heute“ nicht? Abbt und Lessing also.
Dann kommt der junge Herder um die Ecke, eine Straßenecke in Bückeburg, wo er Konsistorialpräsident ist, Nachfolger von Abbt, auch er mit einer echt gewagten Perücke auf dem Kopf, und sagt: Ja, ja, aber doch falsch, anzunehmen, die natürliche Empfindung, Schmerz, Trauer, Wehmut, Melancholie, ließe sich in Sprache umformen. Er sagt: Sprache sind Zeichen, und die sind künstlich. Es wird also nicht ein Gefühl ausgedrückt, sondern die sprachliche Version eines Gefühls, die der Künstler gemacht hat. So waren die drauf, damals.
Ich muss ihnen Recht geben, wenn sie, durch bloßes Nachdenken, auf die Behauptung verfallen, Einbildungskraft und Verstand seien dabei, wenn der Dichter aus seinem Schmerz eine Elegie dichtet. Wie ein Kind mit seinen Sandformen baut: Phantasie ist dabei und ein ordnender Geist, der sagt: Das gehört hierhin, das dahin, dieses muss so, jenes anders sein.
Dann kommt Schiller. Bei ihm weiß ich nicht: Ist das Naturhaar, das da lässig im Nacken zusammengehalten wird von einem dunkelblauen Samtband? Ich bin sicher, es war nachtblau – seltsam, sah ich doch nur eine Lithographie! Ich stelle mir vor, Schiller gibt der Herder´schen Version eine hintersinnige Umdrehung mit, genau diese Umdrehung wird eine zuviel sein, und das Herder-Spielzeug zerbricht. Wo Schiller dran gedreht hat, da hilft kein Kleben mehr. Der war so ein Großer, Blasser, die machen manchmal Sachen, wo sie selbst nicht ahnen, dass damit alles in die Brüche geht.
Und dann kommt Hölderlin. Mit schwarzen Augen steht er da, schon eine ganze Weile, sie haben ihn nur noch nicht bemerkt. Er hat alles gehört und lässt die Dinge, die zerbrochenen, auf den Grund sinken, in ein vierjähriges Schweigen. Danach geht nichts mehr. Was er in hastigen Buchstabenschnörkeln aufs Papier kritzelt, ist unverständlich: seinen Zeitgenossen, seiner Familie – uns. Ich hoffe, er hat sich an Schiller gehalten. Dann besteht noch die Chance, ihn zu verstehen. Der ältere Landsmann, der sein Mentor sein sollte und es nicht vermochte. Ich hoffe, der Lehrer, der ihn fallen ließ, möge der Schlüssel zum Schüler sein. Denn dass Hölderlin überhaupt jemandes Schüler sein wollte, macht es nicht hoffnungslos. Ich hoffe, dass Hölderlin Schiller noch irgendwo am Rockzipfel hängt. Ansonsten wird´s schwierig.