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Kontaktaufnahme

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Andrea hatte sich mittlerweile an die Frau geheftet, die sie für die heimliche Anführerin hielt. Dafür hatte sie ein gutes Auge, sie musste relativ oft schnell die Schlüsselperson erkennen, an der sich Prozesse katalysieren. Hier konnte sie nicht auf alle Frauen gleichzeitig achten, nachdem deutlich wurde, dass sie sich verteilen würden. Ihr war noch nicht klar, welche Strategie dahinter steckte, ausser natürlich nicht aufzufallen, aber sie wusste, wenn etwas geschah, dann würde diese Frau ganz vorne mit dabei sein. Wenn sie nahe genug herankommen wollte, dann hatte eine heimliche Beschattung keinen Sinn. So ging sie in die Offensive und setzte sich im Bus gleich neben ihre Zielperson. Maria war von ihrem Äusseren eher unscheinbar. Sie hätte wohl in keinem Männermagazin Platz gefunden, aber sie sah auch nicht so aus, als würde ihr das etwas bedeuten. Ihre weiblichen Formen waren nicht zu erkennen. Die Kleider, die sie trug, hatte sie wahrscheinlich zufällig zusammen aus dem Schrank gezogen, das war weder praktisch noch schön noch passte es zusammen. Sie machte ein ernstes Gesicht und war auch nicht übermässig temperamentvoll. Trotzdem hatte Andrea den Eindruck, dass ihre Sitznachbarin ein sehr angenehmes Wesen hatte und sich hinter dem unscheinbaren Äusseren eine reife Persönlichkeit mit Ausstrahlung verbarg. Jetzt musste sie vor allem Vertrauen aufbauen. Das entstand am besten durch Geben und Nehmen. Sie musste etwas von sich offenbaren, dann musste Maria nachziehen. Das hatte immer gut funktioniert. Schnell hatten sie Kontakt gefunden, nachdem klar war, dass sie Landsmänninnen waren. Andrea schlug vor, dass sie in der gleichen Pension ein Zimmer nehmen konnten. Maria zögerte, aber sie konnte ihr das schlecht abschlagen, ohne ihr wahren Motive offenlegen zu müssen. Immerhin sollte Andrea glauben, dass sie nur eine ganz normale Touristin war. Und nach dem herzlichen Kennenlernen konnte sie sich auch schlecht als Eigenbrötlerin verkaufen. Andrea freute sich über den gelungenen Schachzug. Maria taute sichtlich auf und erzählte von ihrem Mann und den zwei Kindern zu Hause, die jetzt ein paar Wochen ohne sie auskommen mussten. Sie bräuchte jetzt einfach mal eine Auszeit. Andrea erzählte von ihrem Verlobten und seinem stressigen Job als Pharmareferent. So könnten sie kaum zusammen Urlaub machen und sie wäre jetzt allein unterwegs. Eine log die andere an, indem jede so viel wie möglich Wahres erzählte. So musste man sich nicht so viel merken, was man erfunden hatte und man konnte nicht so leicht ertappt werden. Andrea kannte alle diese Kniffe, immerhin musste sie tagtäglich mit Tarnidentitäten leben. Aber sie staunte, dass Maria so professionell mit Schein und Wirklichkeit jonglierte. Sie hoffte nicht, dass das zu den Fähigkeiten gehört, die eine Ehefrau im Laufe der Zeit erlernt. Bei ihrer ersten Begegnung hatten Tom und sie sich gegenseitig so viel vorgemacht, dass ihre junge Liebe fast daran zerbrochen wäre. Sie hatten sich geschworen, dass sie fortan immer ehrlich zueinander sein wollten, was angesichts ihres Berufes nicht so einfach war. Aber Tom fragte nichts und sie erzählte so viel sie durfte, damit er immer gut im Bilde war und sich keine unnötigen Gedanken machen musste. Aber wenn man einander nicht vertrauen konnte, dann musste doch immer der Zweifel mitschwingen, das Grübeln setzt ein und zum Schluss ist die befürchtete Realität schlimmer als die Wirklichkeit. Es mochte auch Männer geben, die sehr einfach und naiv gestrickt waren, aber ihr Tom gehörte definitiv nicht dazu. Sie konnte Maria auch schlecht fragen, ob ihr Mann vielleicht ein bisschen schlicht unter der Kappe wäre. Aber mit der Wahrheit war es doch nicht so einfach. Immer ehrlich zu sein war ein grosses Versprechen, das erst einmal gelebt werden wollte, das war ihr mittlerweile schon klar geworden. Maria merkte, dass ihre Sitznachbarin in Gedanken versunken war. Sie liess ihr die Zeit, die Gedanken zu sortieren. Unvermittelt fragte Andrea: „Würde dein Mann merken, wenn du ihm nicht die Wahrheit sagst?“ Maria schaute sie erstaunt an: „Wie meinst du das?“ Andrea merkte, dass es jetzt heikel wurde, der Themenwechsel war vielleicht doch zu abrupt. Sie musste improvisieren: „Na ja, wir Frauen können doch durchaus mehrere Dinge gleichzeitig tun oder bedenken. Neulich, als ich mit meinem Verlobten geschlafen habe, fiel mir ein, dass ich unbedingt seinen Anzug aus der Reinigung holen muss. Ich habe wohl ein abwesendes Gesicht gemacht. Er hat gefragt, woran ich gerade denke. Ich habe nur gesagt, dass ich doch nicht an irgendetwas denken kann, wenn ich so tollen Sex erlebe. Männer sind so empfindlich, wenn es um ihre Potenz geht. Ich hätte ihm unmöglich die Wahrheit sagen können. Aber ich hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil wir uns doch immer ehrlich zueinander sein wollten. Kann man auch aus Liebe lügen?“ Ungewollt hatte Andrea dieser fremden Frau ihr Herz geöffnet. In ihrer jungen Beziehung waren so viele Fragen aufgetaucht, die sie mit niemandem besprechen konnte. Maria schien ihr da weit voraus zu sein. Und nun konnte sie nicht mehr zurück. Eigentlich sollte sie doch nicht so eine intensive Beziehung zu einer Zielperson aufbauen. Aber Maria hatte etwas von einer weisen Frau, so dass man sich ihr gegenüber unwillkürlich öffnete. Diese zögerte einen Moment: „Ich glaube, dein Wahrheitsbegriff ist zu statisch. Wenn Zeugen vor Gericht ihre Aussage machen, dann müssen sie die Wahrheit sagen, und doch werden die Aussagen nicht hundertprozentig übereinstimmen. Jeder hat einen anderen Blickwinkel, jeder hat eine andere Sichtweise, jeder möchte eine andere Botschaft vermitteln. Wir sind keine Maschinen, die einfach nur Fakten abspulen. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass das, was wir sagen nicht vom Himmel gefallenes Wort Gottes ist, sondern sehr persönlich eingefärbt. Es ist die Wahrheit in der Farbe Maria oder Andrea. Zum anderen passen wir unsere Aussage unserem Gegenüber an. Ein Kind nimmt die Realität ganz anders wahr als ein Erwachsener. Wir müssen ihm Dinge so erklären, wie es sie verstehen kann. Ein Erwachsener würde behaupten, wir hätten eine blühende Fantasie, aber das Kind weiss genau, was ich meine. So muss ich mit meinem Mann anders reden als mit einer Frau, er nimmt die Realität anders war. Er würde sagen sachlicher, aber er hat einfach nur andere Empfindlichkeiten. Manches ist auch nur eine Frage der Höflichkeit: Wenn ich vom Friseur komme, möchte ich, dass mein Mann sagt, dass ich gut aussehe, egal was er über die Frisur denkt. Es wäre unsensibel von ihm, mir die Wahrheit zu sagen. Genauso wäre es unsensibel, wenn du deinem Mann sagst, was dir beim Sex so durch den Kopf schiesst. Im besten Fall könntet ihr gemeinsam lachen, im schlimmsten Fall bekommt er ernsthafte Komplexe, weil er sich als schlechter Liebhaber fühlt.“ Andrea nickte nachdenklich, ihr wurde jetzt so manches klar: „Dann ist es nicht nur eine Frage des Gegenübers, sondern auch der Situation. Wenn ich vom Friseur komme, dann ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Jede ehrliche Kritik hilft mir nicht mehr. Die Wahrheit ist dann destruktiv. Wenn wir aber abends ausgehen wollen und mein Mann sagt: Das Kleid ist heute unpassend, zieh lieber das blaue an! Dann hilft es mir, mich nicht zu blamieren. Wenn ich ihm vorher sage: Heute brauche ich einen ganz zärtlichen Liebhaber, dann ist das offene Kommunikation, wenn ich hinterher sage: ´Du warst viel zu grob‘, ist das lieblos.“ – „Genau!“ entgegnete Maria „Ein Gespräch ist keine Verkündigung von Fakten, keine wissenschaftliche Abhandlung, es soll etwas bewirken. Ich habe eine Botschaft, die der andere verstehen soll. Im Studium mussten wir die Kommunikationsmodelle lernen und ich war echt entmutigt. Du kannst in einem normalen Gespräch gar nicht auf alle Faktoren achten, die wichtig sind für gelingende Kommunikation. Es kann nur schief gehen. Ich wollte eigentlich gar nicht mehr reden, aber damit hätte ich auch wieder eine falsche Botschaft vermittelt. Ich habe im Laufe der Zeit gemerkt: Je vertrauter du mit einem Menschen bist, desto mehr gelingt ein wohltuendes Gespräch. So, wie bei dir und deinem Verlobten, du weisst genau, was ihn verletzen würde und vermeidest solche Aussagen. Im Laufe der Zeit wird es dir auch gelingen, näher an der Wahrheit zu bleiben, ohne ihn zu verletzen. Dafür muss er dich aber besser kennen und sich selbst sicherer fühlen. Bei Fremden ist es fast unmöglich, die Befindlichkeiten des anderen zu kennen. Wir helfen uns meistens damit, dass wir Versuchsballons steigen lassen, schauen, wie der andere auf bestimmte Aussagen reagiert. Aber es braucht ein feines Gespür dafür, die Reaktionen des anderen zu erkennen und richtig einzuordnen. Manche Menschen können das von Natur aus, andere werden es nie lernen.“ Andrea dachte in diesem Moment daran, dass sie vielleicht ihre Vorurteile über Sozialarbeiterinnen noch einmal überdenken sollte.

Für den nächsten Morgen hatten sie sich zum gemeinsamen Stadtbummel verabredet, um das kleine Städtchen zu erkunden. Tatsächlich hatten sie ein Hotel mitten im Zentrum gefunden, welches noch zwei freie Zimmer vermietete. Andrea nutzte die Zeit, die ihr bis zum Aufbruch blieb, um ein paar Momente auf ihrem winzigen Balkon zu stehen, die Aussicht zu geniessen und mit ihrem Verlobten zu telefonieren. Sie vermisste ihn jetzt schon sehr. Tom spürte die Traurigkeit in ihrer Stimme, obwohl sie doch unbeschwert klingen wollte. Er schlug vor, dass er sich ein paar Tage loseisen könnte und zu ihr kommen. Er wusste selbst, dass Beschattungen zum grossen Teil aus Langeweile bestanden, dann wäre es doch schön, wenn man jemanden an seiner Seite hätte. Was er ihr nicht verriet war, dass er sich bei ihren Einsätzen immer Sorgen machte. Trotz aller Agentenausbildung hatte er das Gefühl, er müsse seine Frau beschützen. Wenn er vor Ort war, konnte er im Fall der Fälle doch einmal hilfreich sein. Was sie ihm nicht verriet war, dass sie befürchtete, er würde sich als Beschützer aufspielen. Im Fall der Fälle, müsste sie dann auch noch auf ihn aufpassen. Aber am Ende siegte die Sehnsucht und sie vereinbarten, dass Tom so bald wie möglich nachkommen sollte. Dann ging es hinunter zum Empfang, dort hatte Andrea sich mit Maria verabredet. Sie hatten sich eine Strategie für ihren ersten Erkundungsausflug überlegt. Sie gingen vom Hotel aus in konzentrischen Kreisen durch die malerische Altstadt bis sie irgendwann am Hafen angelangt waren. So konnten sie nichts übersehen und behielten leichter den Überblick. Es war ein alter Trick aus grossen Suchaktionen, der auch im Alltag zu gebrauchen war. Besonders fiel ihnen die grosse Kirche ins Auge, die im Stil einer Basilika gebaut war. Obwohl sie sicher 500 Menschen fasste, wirkte sie nicht so unnahbar und kalt wie die gotischen oder klassizistischen Bauwerke. Dafür war sie aber auch relativ schmucklos und fast frei von grossen Bildern und Statuen. Sie wirkte wie ein Überbleibsel aus frühchristlicher Zeit, bevor die Kirche den Drang verspürte ihre Macht und Grösse darzustellen. Andrea gefiel diese Schlichtheit und Ehrlichkeit, die für sie viel besser mit dem Glauben an Gott zusammenpasste. Wie die Kirche, wirkte auch die ganze Stadt schlicht, aber ehrlich, irgendwie aufgeräumt. Andrea war überrascht, sie hatte sich das alles viel trostloser und herunter gewirtschaftet vorgestellt. Sie waren in einem Landstrich, der nicht vom Tourismus geprägt war. Die Landschaft war karg und die Menschen arm, die Korruption frass wie ein Geschwür um sich und die allmächtige Mafia hielt die wenigen, die ihr Glück nicht in grösseren Städten suchten, in einer Klammer der Angst. Ihre Verbrechen waren weithin bekannt und bisher hatte niemand erfolgreich gewagt, sich ihnen entgegenzustellen. Das alles hatte sie ausführlich recherchiert, bevor sie hierher aufgebrochen war. Andrea kannte solche Situationen von anderen Orten. Dort bewegten sich die Menschen wie Zombies, die wie ferngelenkt durch die Strassen laufen, sie zeigen keine Emotionen, und wenn, dann spürte man Angst oder Hass. Die Menschen hier wirkten aber ganz anders, irgendwie hoffnungsvoll und befreit. Sie waren selbstbewusst, die Häuser und Gärten wurden gepflegt und man hatte nicht das Gefühl, man müsse Angst auf der Strasse haben. Andrea konnte sich das nicht erklären, sie wusste wie die ständige Gegenwart von Gewalt die Menschen verrohen liess, aber davon gab es hier keine Spur. Diesem Geheimnis wollte sie unbedingt auf den Grund gehen. Unten am Hafen präsentierte sich ihnen das gleiche Bild, hier wurde fröhlich gearbeitet, die Fischer säuberten ihre Netze vom morgendlichen Fang, ein kleiner Fischmarkt bot die frischen Fische gleich zum Verkauf an, hier und da wurde fröhlich gesungen oder gepfiffen. Die musikalischen Künste waren nicht ganz so sauber wie die Fische, aber man spürte, dass es von Herzen kam. Hier könnte man sich niederlassen und das Leben geniessen. Das war italienisches Leben wie aus dem Bilderbuch, dolce Vita. Maria schlug vor, sich in ein Café zu setzen und ein wenig auszuruhen. Nichts war Andrea lieber. Sie wollte noch ein wenig die Bilderbuchidylle geniessen. Sizilien würde schon noch früh genug sein wahres Gesicht zeigen. Das Café, welches Maria ausgesucht hatte, bestach mit einer romantischen Weinlaube, von wo sie einen malerischen Blick auf den Hafen hatten. Andrea liess sich landestypisch mit einem starken Ristretto und etwas Kaffeegebäck verwöhnen. Sie wusste, dass alles, was an ein schweizerisches z`Nüni erinnern sollte, sie bitterlich enttäuschen würde. Die Italiener konnten manches, aber nicht kopieren. Maria musste die Erfahrung offensichtlich erst noch machen und bereute es umgehend. Andrea lachte als ihr Gegenüber das Gesicht verzog. Dann schweifte ihr Blick wieder hinunter in den Hafen und blieb an einer kleinen Szene hängen. Ein Mann war dort aufgetaucht, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war zwar einen Kopf grösser als seine Landsleute aber sonst äusserlich unauffällig, braune Locken, braune Augen, dunkler Teint, eben ein Südländer. Trotzdem hatte man das Gefühl, mit seinem Auftauchen war er zum Mittelpunkt des Hafens geworden. Er strahlte Würde aus und Autorität. Die Leute behandelten ihn mit Respekt wie ein Familienoberhaupt der Mafia. Er kam aber nicht protzig mit Limousine und Leibwächtern, sondern allein in einem alten Geländewagen. Und doch spürte man, dass er hier das Sagen hatte, er musste sich nicht mit Gewalt Respekt verschaffen, er tat es mit Persönlichkeit. Anscheinend gehörten ihm zwei der Fischerboote und er unterhielt sich mit seinen Männern freundschaftlich. Andere kamen und küssten ihm mit einer Verbeugung die Hand. Also handelte es sich hier tatsächlich um einen Paten der Mafia. Andrea wusste sofort: Dieser Mann war der Schlüssel zur Macht, was er sagte wurde gemacht, er bestimmte über Leben und Tod. Sie musste ihn genau im Auge behalten. Eine Frau zeigte hoch zum Café und deutete auf die Fremden. Man hatte sie wahrgenommen und würde sie beobachten. Der Pate schaute auf und nickte Andrea freundlich zu. Sie hatte das Gefühl, als hätte er tief in ihre Seele geblickt. Ihr war auf einmal kalt. Dann schaute sie zu Maria hinüber, sie fragte sich, ob ihre Bekanntschaft wohl auch solch eine Menschenkenntnis aufweisen konnte. Als sie in ihr Gesicht blickte, erschrak sie. Maria war kreidebleich geworden als der Mann sein Gesicht zeigte. Sie war völlig erstarrt, als hätte sie einen Geist gesehen. Dann bat sie Andrea, dass sie aufbrechen mögen, weil ihr nicht gut wäre.

Il Santo und die Meerjungfrau

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