Читать книгу Rave On - Matthew Collin - Страница 6
ОглавлениеIn jener Nacht strömten sie zu Hunderten zur Progressive Baptist Church in der South Wentworth Avenue in Chicago. Sie fuhren quer durch die Stadt und manche flogen sogar aus entfernten Städten wie New York und London ein. Nicht etwa um zu singen oder zu feiern, obwohl sie dies ebenfalls taten, sondern weil es ihnen einfach richtig erschien. Sie reihten sich in eine Warteschlange ein, die den ganzen Block hinunter reichte, um einen Platz auf einer der Kirchenbänke zu ergattern und einem Mann die letzte Ehre zu erweisen, dessen Musik eine ganze Generation geprägt und auf ihre eigene Art und Weise unsere Welt zu einem schöneren Ort gemacht hatte.
Reden wurden gehalten und Tränen flossen in Strömen. Die Trauergäste waren so zahlreich erschienen, um sich gemeinsam an das Leben von Francis Nicholls – Frankie Knuckles – zu erinnern, der im März 2014 im Alter von 59 Jahren an den Folgen seiner Diabeteserkrankung gestorben war. Es war Frankie Knuckles, der als DJ mit seinen Sessions im Chicagoer Club Warehouse der House Music ihren Namen verliehen hatte, dessen innovative Herangehensweise zu dieser Musik ihre Form prägte und dessen Aufnahmen Ansätze ihre Reichhaltigkeit und Tiefe offenbarten. „House war eine spezielle Art geistlicher Musik“, klärte Reverend Roderick Norton die Trauernden auf und bediente sich dabei einer Phrase, mit der er unterstrich, was dieser schwule, schwarze DJ tatsächlich geleistet hatte, indem er himmlische Bestrebungen mit irdischen Gelüsten vereinte.1
Andere erinnerten sich daran, wie es Frankie Knuckles gelungen war, ein Gefühl der Einheit und Zusammengehörigkeit aus der immerwährenden Finsternis des Nachtlebens heraufzubeschwören. „Von Mitternacht bis sechs Uhr morgens war er unser Therapeut“, sagte jemand.2 Robert Owens sang „Tears“, jenes bittersüße Klagelied, das die beiden Männer zu zweit ausgearbeitet hatten. Als Ann Nesby von Sounds of Blackness, begleitet von einem Gospelchor, den Refrain jenes Songs anstimmte, den Knuckles für einen seiner emotional erbaulichsten Remixe bearbeitet hatte, „The Pressure“, erhoben sich die Menschen, klatschten, tanzten und weinten vor Freude und Trauer, während sie nicht nur dem Mann und der Musik, die er uns geschenkt hatte, gedachten, sondern sich auch an die Freiheit erinnerten, die sie uns hatte spüren lassen.
Die Trauerfeier, die an diesem Abend in Chicago inszeniert wurde, fand nur wenige Minuten zu Fuß von jenem Ort entfernt statt, an dem vor über drei Jahrzehnten die Tanzmusik für tot erklärt worden war. Zwischen zwei Baseball-Spielen im Comiskey Park im Jahr 1979 hatte der Radio-DJ Steve Dahl symbolisch einen Scheiterhaufen in Brand gesteckt, der aus Disco-Schallplatten bestand, wobei im Verlauf der Jahre immer klarer wurde, dass es sich dabei um einen homophoben wie rassistischen Versuch gehandelt haben dürfte, die Ikonografie einer Kultur der Befreiung zu zerstören. Dieser Versuch, so zeigte es die Geschichte, schlug selbstverständlich fehl.
Die Kirche befand sich außerdem 20 Fahrminuten vom alten Power Plant entfernt, dem Club, wo Frankie Knuckles, der bereits begonnen hatte, im Warehouse eine neue Generation mit Neubearbeitungen von Disco-Klassikern zu beschallen, ein paar der Platten, die er in den frühen Achtzigerjahren so auflegte, mit dem Beat eines Roland-TR-909-Drumsynthesizers zu unterlegen, um ihnen mehr perkussive Power und elektronische Energie zu verleihen. Damit ebnete er den Weg für House und jenen Sound, den er selbst als „die Rache von Disco“ bezeichnete.
Ich sah ihn zum ersten Mal Anfang 1988 im Londoner Club Delirium auftreten. House galt damals in Großbritannien immer noch als eine Art obskure Sekte. Die große Rave-Explosion sollte erst einige Monate später beginnen. In dieser Nacht spielte er jedenfalls auch eine seiner besten Produktionen, „Let the Music Use You“ von The Nightwriters. Mit ihren optimistischen Akkorden, die sich gen Himmel recken, während der Sänger uns auffordert, seine Hände zu ergreifen und dem musikalischen Spirit zu erlauben, uns in immer luftigere Höhen emporzuheben, gelingt es dieser Nummer immer noch, einige der Elemente, die das Beste an jenem fragilen Zaubergebilde namens House ausmachen, explizit zu veranschaulichen.
An diesem Abend in London hätte man sich nie vorstellen können, dass eines Tages die Nachrufe auf Frankie Knuckles auf BBC und CNN ausgestrahlt würden und sogar der Präsident der USA diesem weisen wie anständigen Gentleman seinen Respekt zollen würde. Aber genau so sollte es kommen: „Frankies Schaffen half dabei, persönliche Horizonte zu erweitern und Menschen zusammenzubringen, wobei er Genres vermengte und so unsere Aufmerksamkeit erweckte und unsere Fantasie beflügelte,“ schrieben Barack und Michelle Obama nach Knuckles’ Tod in einem unerwartet herzlich formulierten Brief aus dem Weißen Haus. „Zwar wird er aufrichtig vermisst werden, doch wir vertrauen darauf, dass Frankies Geist auch weiterhin als wegweisende Kraft fungieren wird.“
Das Ableben von Frankie Knuckles verursachte einen Ausbruch kollektiven Wehklagens, der wiederum zum ersten Mal seit Jahren die entfremdeten Clans der Dance-Music-Szene in ihrer Trauer und ihrem Gedenken zu einen vermochte. Dies offenbarte, wie viel Leidenschaft und Glaube in einer Popkultur, die bereits mehr als drei Dekaden auf dem Buckel hatte, noch immer steckte –
aber auch, wie weit wir es doch gebracht hatten, seitdem er Disco in den amerikanischen Clubs der Schwarzen und Schwulen zu House umgeformt hatte.
Unsere Kultur hatte sich in ein wildes Tohuwabohu von gigantischen Ausmaßen, eine Orgie kapitalistischer Ausbeutung verwandelt. Ende 2015 schätzte ein Marktanalytiker von Danceonomics, einem Unternehmen, das Daten erhebt und auswertet, dass Dance-Music weltweit Einkünfte von 7,1 Milliarden Dollar pro Jahr erwirtschaftete – und wie das in einem globalen kapitalistischen Markt nun einmal so ist, wanderte ein Großteil davon auf die Konten einiger weniger an der Spitze. Laut einem Bericht mit dem Titel „Electronic Cash Kings“, der im Wirtschaftsmagazin Forbes erschien, scheffelte der Bestverdiener unter den DJs, ein Mann namens Adam Richard Wiles aus dem schottischen Dumfries, mit seinen Auftritten, Tonträgern, Merchandise-Verkäufen, Werbeeinnahmen und anderen kommerziellen Projekten unter seinem Künstlernamen Calvin Harris in diesem Jahr geschätzte 63 Millionen Dollar.
Electronic Cash Kings …
Damals, Mitte der Neunzigerjahre, wurde viel über „Superstar-DJs“ berichtet, die exklusive Sportautos fuhren und sich kostspielige Drogen leisteten. Doch im Vergleich zu den Kolossen, die auf sie folgen sollten, waren sie allerhöchstens Liliputaner. All diese Showmänner aus der Oberliga – bei diesen „Cash Kings“ handelte es sich tatsächlich fast ausschließlich um Männer – hatten sich zu Globetrottern gemausert, die permanent auf Reisen waren, von Gig zu Gig jetteten und in VIP-Abflugbereichen und Fünf-Sterne-Suiten auf ihren Laptops an neuen Tracks bastelten, während sie am obligatorischen Champagner nippten und dabei fleißig Bonusmeilen sammelten. Sogar jene, die sich auf weniger massentaugliche Spielarten elektronischer Musik spezialisiert hatten, befanden sich ununterbrochen auf Achse oder in der Luft, um zwischen den so ungleichen Versammlungsstätten ihrer internationalen Jüngerschaft hin und her zu reisen. Die Berliner Techno-DJane Ellen Allien trat beispielsweise im Verlauf eines einzigen Monats, dem Mai 2016, gleich in elf verschiedenen Ländern auf: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Österreich, Türkei, Israel, Indien, Kolumbien, Ecuador und den USA – ein knallharter Terminplan, der nichts für schwache Nerven oder mental Unausgewogene ist.
Im gleichen Jahr verkündete der schwedische Trance-DJ Avicii, der 2018 schließlich starb, dass er sich mit gerade einmal 26 Jahren aus dem Geschäft zurückziehen wolle, da er offenbar unter Alkoholismus und Erschöpfung litt, ausgelöst durch den Druck, den sein Vagabunden-Lifestyle mit sich brachte. Auf die Gewinner wartete wahrlich fürstlicher Luxus, doch lauerten eben auch toxische Tücken entlang des Weges.
Die unerwartete Langlebigkeit und das kommerzielle Wachstum der Szene hatten zur Folge, dass ein DJ sich für manche, die einst nur inbrünstige Enthusiasten gewesen waren, zu einer legitimen, lebenslangen Berufswahl entwickelte. Es kam nicht selten vor, dass über 50 Jahre alte DJs ihre Platten für Bewunderer auflegten, die jung genug waren, um ihre Kinder zu sein. (Die Kinder mancher Veteranen wie Pete Tong und Kevin Saunderson wurden tatsächlich selbst auch DJs.) Bei den DJs handelte es sich auch nicht länger ausschließlich um die alten Vinyl-Junkies. Bei einem Festival bekommt man mitunter etwa auch ein Set des über 70 Jahre alten Disco-Produzenten Giorgio Moroder zu hören. Andere Prominente, die es ihm gleichtun, sind etwa der Rap-Star Snoop Dogg, die Alternative-Rock-Ikone Thom Yorke von Radiohead, der Bassist von New Order und Joy Division, Peter Hook, oder sogar reiche Erbinnen wie Paris Hilton. „Du kannst heute jeden buchen – solange die Kasse stimmt!“, mutmaßte die Detroiter Techno-Legende Derrick May.
Es herrschte nun, wie Hunter S. Thompson einmal über das Kalifornien der Sechzigerjahre schrieb, Wahnsinn in jeder Richtung, zu jeder Stunde. Als elektronische Dance-Music ab den Neunzigerjahren zunehmend zu einer global stattfindenden Angelegenheit wurde, konnte man in fast jeder beliebigen Metropole DJs finden, die fast jeden beliebigen Stil auflegten: Dubstep in Istanbul, Psytrance in Shanghai, Footwork in Belgrad. Es wäre praktisch unmöglich gewesen, einen umfassenden Almanach zusammenzustellen, der sämtliche globale Szenen und ihre musikalischen Ausprägungen porträtierte – außer in Form einer Reihe regelmäßig auf den neuesten Stand gebrachten Enzyklopädien, verfasst von einem rigoros programmierten Online-Aggregat.
Der sich global ausbreitende Zugang zum Internet trug dazu bei, Trends zu propagieren, die zuvor womöglich viel länger lokale Phänomene geblieben wären, und erlaubte grenzübergreifenden Netzwerken, sich rund um jede nur denkbare Art von Sound zusammenzufinden. Die Kultur der Electronic Dance Music wuchs simultan zum Internet und griff instinktiv auf die Möglichkeiten zurück, die es bot. Hier handelte es sich um eine digitale Kultur für die digitale Epoche. Die reichlich vorhandenen Attraktionen der Dance-Music-Festivals und die extravaganten audiovisuellen Spektakel der amerikanischen EDM-Szene trugen ebenfalls dazu bei, dass diese Kultur anders wahrgenommen wurde. Was machte einen guten Club denn nun genau aus? War wirklich alles, was man dafür benötigte, „ein Keller, eine Blinkleuchte … und ein paar gute Pillen“, wie der DJ Terry Farley, ein wahres britisches House-Urgestein, einst meinte?3 Oder brauchte man doch ein opulentes, maßgeschneidertes Videoprojektionsmapping sowie ein breites Arsenal an pyrotechnischen Effekten, die entzündet wurden, sobald die Bassdrum einsetzte? Oder Flaschenverkauf und VIP-Tische rund um die DJ-Kabine? Leicht beschürzte Showgirls oder sorgfältig enthaarte Muskelprotze? Ein makelloses Soundsystem von Funktion One und ein paar der exaltiertesten Techno-Spezialisten aus Berlin? Oder doch nur einen Acker, eine Waldlichtung, einen weitläufigen Strand oder eine alte dreckige Lagerhalle, die man für eine irre Nacht okkupieren konnte und von wo aus man rasch das Weite suchte, sobald die Hüter des Gesetzes eintrafen?
Damals zu Beginn der Neunzigerjahre, als ich anfing, an Im Rausch der Sinne zu arbeiten, einem Buch, das die Ursprünge der Acid-House- und Rave-Szene in Großbritannien beleuchtete, wurde bereits lang und breit darüber diskutiert, ob unsere Kultur zu groß, zu kommerziell und zu zersplittert geworden wäre und ob ihr rebellischer Geist bald schon der Vergangenheit angehören würde. Doch rückblickend waren dies unschuldige Zeiten. Die „House Nation“ oder „Techno-Community“, oder wie auch immer man diese Szene nennen will, war in jenen Tagen noch relativ überschaubar und isoliert. Im Grunde genommen entsprach sie immer noch Terry Farleys Idealvorstellung von einem dunklen Raum mit ein paar starken Nummern, pulsierenden Strobos und bewusstseinsverändernden Chemikalien. Sogar die Veranstalter, von denen wir dachten, sie würden mit hohen Einsätzen hantieren, waren letztendlich nur kleine Fische im Vergleich zu den Firmengiganten, die später versuchen sollten, Profit aus unserer Kultur zu schlagen.
Diese neuen Party-Mogule gerierten sich als ernsthafte Player, die von einer sogenannten „Dance Music Industry“ sprachen. Sie fabulierten von „Professionalität“ und „Production Values“, von „Branding“ und „Werbeverträgen“, von „Digital Reach“ und „Mediensynergien“. Vor allem in den USA zog der Aufstieg der EDM Unterhaltungsfirmen an, die wenig persönliche Erfahrung in diese speziellen Projekte einbringen konnten. Für sie war dies alles nur eine weitere Form von Showbusiness. Sie wollten Raves sogar in „Festivals“ umbenennen, um die Rolle einer der größten Antriebe der Szene, der Drogen, zu verschleiern.
Allerdings konnten sie damit niemanden wirklich hinters Licht führen – außer vielleicht die allernaivsten Mitarbeiter diverser Zulassungsstellen. Während die Kultur zwar per se nicht länger über Ecstasy definiert wurde, wie das noch während der frühen Jahre der Rave-Szene der Fall gewesen war, und die Musik auch außerhalb der Nachtclubs ein lebendiges Eigenleben entwickelte, gehörte es für viele Leute weiterhin unbedingt dazu, sich mit illegalen Narkotika zuzudröhnen. Mitte der Achtzigerjahre wussten nur exklusive Kreise von Eingeweihten und psychedelischen Grenzgängern über Ecstasy Bescheid, doch 2013 soll es laut einer Schätzung der UNO weltweit bereits bis zu 28 Millionen Konsumenten gegeben haben, die von ausgefuchsten Herstellern und Vertreibern, welche auf die spätabendlichen Kräfte des Marktes zu reagieren wussten, beliefert wurden. MDMA plus EDM gleich wonniges Hochgefühl galt als Formel, die schon 1988 funktioniert hatte – und manchmal wirkte es so, als wäre seit damals nichts Besseres mehr nachgekommen.
Wenn ich noch einmal die alten Ausschnitte aus der Presse, Flyer und Fanzines, auf die ich schon für meine Arbeit an Im Rausch der Sinne zurückgegriffen habe, durchwühle, überrascht mich am meisten ihre charmant-utopische Naivität – ein unverfälschter Glaube daran, dass dies die bestmögliche aller vorstellbaren Welten darstellte, eine Kultur der ethnischen, sexuellen und gesellschaftlichen Toleranz mitsamt einer verschwommenen, ungenau definierten, jedoch letztlich liberal-progressiven politischen Ausrichtung. Amerikanische Raver der alten Schule hatten sogar ein Akronym dafür, PLUR: „Peace, Love, Unity and Respect“. Zwar war diese Einstellung offensichtlich in großem Ausmaß von Ecstasy beeinflusst, aber deshalb nicht weniger ehrlich gemeint.
In einem fotokopierten Fanzine, das sich an den inneren Kreis in Danny und Jenni Ramplings Club Shoom richtete und Anfang 1988 erschien, als sich die Anzahl der Londoner Acid-House-Anhänger noch im dreistelligen Bereich bewegt haben muss, vermitteln die herzlichen Worte einen rührend unschuldigen Eindruck: „Das Beste, was Shoom bietet, ist die Freiheit, in der wir ganz wir selbst sein können“, kommentiert da jemand. „Shoom war nie bloß ein Club, nein, es ist viel mehr wie eine glückliche Familie, in der jeder für den anderen da ist“, heißt es da.4 Dieselbe verzückte Rhetorik findet sich auch auf Bulletinbords aus der Frühphase der amerikanischen Rave-Szene, in deutschen Fanzines, die ungefähr zur selben Zeit erschienen, und vermutlich auch andernorts.
Die ursprüngliche Berichterstattung der Massenmedien über die britische Rave-Szene, obwohl in erster Linie kritisch, wirkte ähnlich naiv. Es herrschte blankes Erstaunen angesichts des Aufkommens dieser „sinistren Modeerscheinung mitsamt ihrer Liebesdrogen“, wie die britische Zeitung Daily Express 1989 schrieb.5 „Acid House ist das bizarrste Phänomen des Jahrzehnts“, erklärte das Revolverblatt Daily Mirror. Eine fieberhafte, moralische Panik griff um sich, während sich Reporter auf die Fersen von „Acid House Mr. Big“, wie es The Sun ausdrückte, hefteten: dem Mastermind hinter der jeweils letzten „schlimmen Ecstasy-Nacht“, in der „schwitzende Körper zu einem bewusstseinsverändernden Beat wirbeln“.7
Nachdem die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1989 von einem Abgeordneten persönlich über die Rave-Bedrohung unterrichtet worden war, verlangte sie zu wissen, welche Mittel der Polizei zur Verfügung stünden, um diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben. „Wenn es sich dabei um eine neue ‚Mode‘ handelt, müssen wir darauf vorbereitet sein und bestenfalls unterbinden, dass solche Dinge überhaupt aufkommen“, schrieb Thatcher als Reaktion auf den Brief. Die betreffende Notiz befand sich unter einer Reihe von als geheim eingestuften britischen Regierungsdokumenten zum Thema Acid House, die erst fast drei Jahrzehnte später freigegeben wurden.8
Das hört sich heute alles eher kurios an und die meisten dieser Reaktionen muten aufgrund ihrer mangelnden Sachkundigkeit richtiggehend skurril an. Hierbei handelte es sich schließlich um etwas, das aus dem Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Transzendenz und Glückseligkeit entstanden war – und ganz sicher nicht um ein ruchloses Komplott, ersonnen von einem kriminellen Genie! Und nur sehr wenige der vielen Versuche, diese Sache zu „unterbinden“, sollten in den Folgejahren von Erfolg gekrönt sein.
Die frühe Rave-Szene wurde außerdem als kurzlebige Kuriosität wahrgenommen, als ein flüchtiger Augenblick jugendlicher Exzentrizität. Schon bald würde diese Modeerscheinung der Vergangenheit angehören … Als ich Anfang der Neunzigerjahre mit Im Rausch der Sinne an zahlreiche britische Verleger herantrat, bestanden etliche von ihnen darauf, dass Rave doch schon längst tot und von Nirvana und Grunge abgelöst worden wäre. Rückblickend wirkt das lächerlich, da sich heute praktisch alle Epochen und Musikstile gleichzeitig großer Beliebtheit erfreuen und im Internet auf Endlosschleife am Leben erhalten werden. Vielmehr ist Electronic Dance Music längst seiner subterrestrischen Herkunft entwachsen und zu einer weltweiten Bewegung geworden, die es in Sachen Einfluss auf Sound und Form der Populärmusik locker mit Rock’n’Roll und Hip-Hop aufnehmen kann. Ein großer Anteil der Musik des frühen 21. Jahrhunderts – von Alternative Rock bis hin zu zuckersüßer Popmusik, von Radiohead bis Rihanna – wurde auf gewisse Art von den Herangehensweisen inspiriert, mit denen Frankie Knuckles und Konsorten in den Achtzigerjahren zu experimentieren begannen.
Gleichzeitig hat sich im Verlauf der Jahre ein gigantischer Korpus an Material herausgebildet – ein profundes musikologisches Archiv, das einlädt, bestaunt, wiederbelebt, neu interpretiert oder im Bedarfsfall auch abgelehnt werden kann. Historische House- und Techno-Scheiben, erschienen auf obskuren Labels, haben inzwischen den Status von kultisch verehrten Artefakten erlangt, die heute zuweilen um vieles mehr wert sind als seinerzeit, als sie in hastigen Pressungen von 500 Stück und ohne Hintergedanken bezüglich ihrer späteren geschichtlichen Bedeutung veröffentlicht wurden. Auch klassische Acid-House-Club-Flyer und -Plakate sind mittlerweile zu Sammlerstücken avanciert, die entweder in Ehren gehalten werden oder für bare Münze ihre Besitzer wechseln, während Szene-Veteranen mittleren Alters sich auf Online-Video-Plattformen in den Kommentaren unter Old-School-Dance-Tracks wehmütig ihrer wilden Clubbing-Zeiten entsinnen und Einblicke gewähren, die unglaublich ergreifend wirken, da die Emotionen, die sich dahinter verbergen, so unverfälscht sind. So schrieb ein Mann unter einem praktisch in Vergessenheit geratenen Rave-Track von 1989: „Wir hatten alles … Ich kann immer noch nicht verstehen, wo das alles hin ist …“
Rave-Nostalgie hat sich zu einer lukrativen Angelegenheit entwickelt – und damit meine ich nicht nur die Revival-Partys unter Mottos wie „Back to 1988“, „Back to 1991“ oder „Back to 1995“, die bereits kurz nach Verstreichen der betreffenden Jahreszahlen in Großbritannien Fuß fassen konnten. Produzenten wie Jeff Mills und Derrick May begannen, ihre alten Klassiker mithilfe von Sinfonieorchestern in großen Konzerthallen zu inszenieren. Viel weiter konnte man sich in Bezug auf die Location gar nicht von einer dreckigen Lagerhalle entfernen. Gleichzeitig folgten britische Clubs wie das Haçienda oder Cream ihrem Beispiel und veranstalteten Events mit orchestralen Neubearbeitungen von Dancefloor-Hits aus den Achtziger- und Neunzigerjahren. Das mit Acid House verbundene Hochgefühl – so intensiv, aber, wie unsere Jugend, ebenso flüchtig – war ganz offenkundig etwas, das viele Leute nicht loslassen wollten oder konnten. Schließlich strotzte es nur so vor Bedeutung und Staunen.
Doch die bedeutendste Entwicklung war die Transformation einer Vielzahl von lokalen Szenen zu einer wahrhaft globalen Kultur. Als ich Mitte der Achtzigerjahre zum ersten Mal hörte, wie ein DJ namens Graeme Park diese frühen House-, Techno- und Garage-Tracks aus Chicago, Detroit und New York in einem kleinen verschwitzten Nachtclub mit schwarzen Wänden namens The Garage in meiner Heimatstadt Nottingham auflegte, schien es doch eher unwahrscheinlich, dass ähnliche Platten zur exakt gleichen Zeit in ähnlichen Clubs auch in Moskau, Johannesburg, Dubai oder Rio auf den Plattentellern zirkulierten. 30 Jahre später gilt so etwas als normal.
Als unsere Kultur in den Jahren vor der allgegenwärtigen Internet-Präsenz begann, sich auf der ganzen Welt auszubreiten, war sie – zumindest in ihrem Anfangsstadium – vor allem ein DIY-Movement. Dies wurde von enthusiastischen Indie-Labels, unabhängigen Impresarios und Musikfanatikern vorangetrieben, die schlichtweg darauf abfuhren, obwohl abzusehen war, dass sich dieser liebevoll anarchische Zugang im Verlauf der Jahre und mit zunehmender Popularität der Musik würde ändern müssen.
Um drei Jahrzehnte nach dem Auftreten der ersten House- und Techno-Platten nachvollziehen zu können, wie all dies passiert war, beschloss ich, mich auf eine Reise über sämtliche Kontinente und Zeitzonen hinweg zu begeben, um einen Blick darauf zu werfen, wie diese Kultur in den Klimas abseits meines Heimatlandes mutiert und aufgeblüht war – wie sie ihren eigenen idiosynkratischen Charakter entwickelt, ihre eigenen Helden hervorbrachte, ihre eigenen Höhepunkte genossen und ihre eigenen Krisen überwunden hatte. Ich wollte herausfinden, wie sich die Wertvorstellungen dieser Kultur von Ort zu Ort unterschieden, wie sich der Sound unter neuen Umständen anders entwickelte und ob etwas so Fragiles und Nebulöses wie ihr „Spirit“ – was auch immer das sein mochte – in einer unbarmherzig materialistischen Welt konserviert werden konnte, unter permanenter Bedrängnis durch die Raubritter des digitalen Zeitalters sowie der Bürokratie und in zunehmenden Maße auch (zumindest bei uns im Westen) durch die Kräfte der Gentrifizierung. Ich wollte mit ein paar der Ikonoklasten, Außenseiter, Fanatiker und Gauner sprechen, die diese Szenen bevölkerten, um sie zu fragen, wie sie ihre eigene Geschichte beurteilten, und herauszufinden, warum sie sich dafür entschieden hatten, ihr Leben dieser sonderbaren, hedonistischen Welt zu widmen.
Meine Reise führte mich nicht nur in ein paar der weltweit bekanntesten Party-Kapitalen (Berlin, New York, Ibiza, Las Vegas), sondern auch in die Außenposten dieser Kultur, wo es noch immer was zu holen gibt – Orte wie China, das damals noch als der letzte unerschlossene Markt für EDM galt, oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate, wo Techno-Hedonismus inmitten der repressiven Regime und politischen Turbulenzen des Nahen Ostens ein Zuhause finden konnte. Zudem besuchte ich Teile Europas, wo Rave-Piraten immer noch über die Nebenstraßen streiften, um einen sicheren Hafen, ein Paradies der Vogelfreien zu finden und dort vor Anker gehen zu können. Ich machte mich auf die Suche nach ausgefallenen örtlichen Subkulturen wie dem israelischen Psytrance oder dem südafrikanischen Gqom-Phänomen, die von ihren jeweiligen sehr spezifischen sozialen und politischen Umgebungen geprägt waren und sich an anderen Orten nicht auf diese Art und Weise hätten entwickeln können.
Das Nachtleben gilt seit Langem als wichtiger kultureller Motivator, als Brutkasten neuer akustischer Kunstformen, das kreative Innovationen inspirieren, alternative Kulturen fördern und dazu beitragen kann, urbane Lebenswelten wiederzubeleben. Was mir aber auf meinen Reisen am meisten auffiel, war der Umstand, wie viele Menschen an so vielen unterschiedlichen Orten mir ihre Geschichten als Suche nach Freiraum erklärten. Für manche bedeutete dies, vorübergehende Zufluchtsorte für musikalische, kulturelle, sexuelle oder sogar spirituelle Ausdrucksformen zu schaffen. Andere wiederum verstanden darunter einen Raum, in dem sie Imperien aufbauen und geschäftliche Möglichkeiten ausnutzen konnten. Ein paar wenige erkannten darin einen Raum, in dem sie ihren gesellschaftlichen Widerstand zelebrierten. Doch für die Mehrheit war es ein Raum, an dem man am Wochenende ein bisschen durchdrehen und auf die Beschränkungen des „normalen“ Alltags pfeifen konnte, wo man sich bis zur Morgendämmerung gehen lassen konnte – bis die Musik verstummte und die Drogen versiegt waren.
Was seit der Ära von Acid House in den späten Achtzigerjahren unverändert geblieben war, war der ewige ideologische Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, zwischen romantischen Visionen und geschäftlichen Impulsen. Denn schon in den frühen Tagen des Raves entsprach diese Kultur sowohl einem unternehmerischen als auch utopischem Geiste. In Im Rausch der Sinne habe ich in den Raum gestellt, dass Acid House das tiefempfundene Bedürfnis nach gemeinschaftlichen Erfahrungen zum Ausdruck bringt, doch handelte es sich auch um eine frei zugängliche Szene, die Menschen die Möglichkeit bot, sich auf welche Weise auch immer einzubringen – teilzunehmen und nicht nur zu beobachten oder zu konsumieren: „Etwas zu machen, egal, ob man in einem Schlafzimmer einen Techno-Track aufnahm, eine Party in einer Lagerhalle organisierte, oder einen Sack voll Pillen verkaufte.“9 Es schien außerdem einen grundlegenden Unterschied zwischen jenen zu geben, die kleine, aber hingebungsvolle Gemeinschaften aufbauen und erhalten wollten, und jenen, die nach ständigem Wachstum strebten, damit alles so groß wie möglich werden konnte – nicht nur eine einzige Nation, die sich einem Groove hingab, sondern die gesamte Welt des freien Marktes sollte zum selben Beat tanzen.
Egal, wo ich auch landete, überall traf ich auf Träumer und Pragmatiker, Erleuchtete und Zyniker, die sich im permanenten Clinch befanden, was Electronic Dance Music nun sein sollte und warum dem so war. Die Tatsache, dass den Menschen all dies so immens wichtig war und sie einen Ausgangspunkt für so manches leidenschaftliche Streitgespräch bildete, ließ mich nie vergessen, wie viele darin mehr sahen als bloß eine weitere Ausprägung der Unterhaltungsindustrie, die ihnen materielle Profite ermöglichen konnte, sondern vielmehr eine Kultur, in die sie enorme Mengen Herzblut, Emotion und Überzeugung investiert hatten. Es handelte sich dabei um etwas, das sie wertschätzten und zu verteidigen bereit waren.
„Wenn man etwas aus dem Nichts erschafft, ist das wohl das Aufregendste überhaupt“, hat Frankie Knuckles einmal gesagt.10 Die Musik und die dazugehörige Kultur, zu deren Entstehung er beitrug, hat den Soundtrack unserer Welt neu definiert und so viele Leben an so vielen Orten in vielerlei Hinsicht beeinflusst. So auch meines. Dieses Buch stellt einen Versuch dar, herauszufinden, ob die Sache es nach so vielen Jahren immer noch wert ist, an sie zu glauben – und ob sie immer noch über die Power verfügt, wie Obama es ausgedrückt hat, unsere Fantasie zu beflügeln und unseren Horizont zu erweitern.