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Wir quetschen uns in den Van und starten in einen bitterkalten Nachmittag. Das schwer in Mitleid gezogene Stadtbild grinst uns anzüglich an wie die schiefen Zähne eines Voodoo-Totenschädels. Während wir Fahrt aufnehmen, vorbei an den Schneewehen, die die Bürgersteige säumen, verkündet ein muskulöser junger Mann in Kampfbekleidung, dass er heute unser Reiseführer sein wird. „Ich werde euch das echte Detroit zeigen, jenes Detroit, dass die Touristen normalerweise nicht zu sehen bekommen“, erklärt er uns mit der dröhnenden Stimme eines strengen Predigers.

Während er unterwegs auf zahlreiche psychogeografische Sehenswürdigkeiten deutet, schwadroniert er über institutionellen Rassismus, strukturelle Armut, Polizeigewalt und städtischen Verfall – eine Erzählung geplatzter Träume, die uns durch die Unruhen, die Detroit 1967 lichterloh aufflammen ließen, sowie seine eigene Kindheit und den Niedergang dieser tollen Stadt führt, der die Welt den Automobilkapitalismus zu verdanken hat. Es ist jenes Umfeld, das seine Musik prägte: Techno.

Sein Name? Mike Banks. Selbst nennt er sich „Mad“ Mike, obwohl er eigentlich gar nicht so irre ist. Vielmehr schäumt er vor berechtigter Wut und versucht, zurückzuschlagen – mit allem, was er in die Hände bekommt. Mad Mike Banks sieht sich nicht nur als zwanghaften Verkünder unbequemer Wahrheiten, sondern auch als militanten Techno-Kämpen und Verfechter wirtschaftlicher Autarkie. Sowohl seine Crew als auch seine Plattenfirma tragen den Namen Underground Resistance. Dabei handelt es sich um ein Kollektiv junger schwarzer Männer aus Detroit, die sich zusammen auf einer Mission in unbekannte Klangwelten befinden, ganz egal, wohin sie diese letztlich führen wird. Seine Ideologie, so erklärt er, besteht darin, sich völlig unabhängig vom Musikbusiness zu bewegen, indem man seine eigenen Netzwerke und Systeme erschafft, um das langfristige Überleben von Underground Resistance zu sichern sowie seine kreative Identität bewahren zu können. In anderen Worten: Es handelt sich um einen Versuch, tunlichst zu vermeiden, dass sie jemals wie so viele andere junge kreative Schwarze vor ihnen übers Ohr gehauen werden.

Dies ereignete sich im Januar 1992, im tiefsten Winter. Obwohl die Sonne schien, war das Thermometer an diesem erbarmungslosen Mittwintertag auf 19 Grad unter Null gefallen. Als wir so dahinfuhren, begaben wir uns auf wahrlich surreales Terrain und drangen in eine dystopische Landschaft ein, in der ganze Häuserblöcke einfach abgerissen worden waren – so wie ein trotziges Kind einen ganzen Landstrich aus Lego-Steinen plattmacht. Langsam, so schien es, eroberte dort die Natur die Umgebung zurück. Schritt für Schritt verwandelte sich die Gegend in eine Art urbaner Prärie. Ein Bild, das oft mit der mysteriösen „Zone“ aus Andrei Tarkowskis Sowjet-Sci-Fi-Klassiker Stalker verglichen wird: ein Ort, an dem die normalen physischen Gesetze ihre Gültigkeit eingebüßt zu haben scheinen. Nichts, auch keine Fotografie, hätte einen wirklich auf die Ruinen von Detroit vorbereiten können – außer man stammte vielleicht aus einem Krisengebiet, gezeichnet von kriegerischen Auseinandersetzungen. Es überstieg schlichtweg die Vorstellungskraft eines Westeuropäers. Tatsächlich wirkte es gleichzeitig auf provokante und steinerweichende Art und Weise monströs, aber eben auch äußerst faszinierend.

Die einzigen Einrichtungen, die hier offenbar regen Zulauf verzeichnen konnten, waren einerseits die Kirchen, die himmlische Erlösung versprachen, und andererseits die Schnapsläden, die eine raschere Linderung irdischer Leiden versprachen. Als die soziale Anatomie der Stadt zunächst zu eitern und dann sogar abzusterben begann, machten sich ein paar ihrer eigentlichen Beschützer mitschuldig an ihrem Untergang. So wurde etwa dem Polizeichef vorgeworfen, sich aus einem Fond zur Bekämpfung von Drogenmissbrauch bedient zu haben, während, wie mir erzählt wurde, ein Teil seiner Einsatzkräfte entlassen wurde, weil nicht genug Geld zur Verfügung stand, um sie zu bezahlen. „Crack fraß ein Loch in die Stadt“, erklärte mir Banks einige Jahre später. „Sie luden das Crack und die Waffen hier ab und das führte mehr oder weniger zu einer Art Apokalypse – einem von rechtsaußen betriebenen verdeckten Genozid.“

Wir kommen nahe an jener Stelle vorbei, wo einst die inzwischen abgerissene illegale Soul-Kneipe stand, in der 1967 die Unruhen ausbrachen, nachdem die Polizei eine Party zu Ehren zweier schwarzer GIs, die gerade aus Vietnam heimgekehrt waren, aufgelöst hatte. Schließlich erreichen wir den West End Boulevard. Hier befand sich einst die Geschäftszentrale von Motown, die nun ein Museum zu Ehren des Geschäfts-Genies Berry Gordy und seines Kaders ruhmreicher Stars beherbergt. Das Schild vor dem Eingang verspricht nicht zu viel: „Hitsville USA“. In dem erhaltenen Kellerstudio deutet Banks aufgeregt auf ein Spielzeugklavier, das bei einigen Motown-Hits in den Sechzigerjahren als Soundeffekt zum Einsatz kam: „So wie bei Techno schnappten sie sich allen möglichen alten Kram, der so herumlag, um ihn zu benutzen“, schwärmt er.

Underground Resistance zählten zu Detroits zweiter Techno-Welle, die auf dem aufbaute, was in den Achtzigerjahren von den Impulsgebern des Genres –

Juan Atkins, Derrick May und Kevin Saunderson – aufgebaut worden war. In den frühen Neunzigerjahren galten UR als heftigstes Motor-City-Package seit Iggy and the Stooges. Bei ihren Live-Auftritten glichen sie einem paramilitärischen Einsatzkommando, ganz in Schwarz mit maskierten Gesichtern, um ihre Identitäten geheimzuhalten. Wenn sie live durch die Clubs dröhnten, fühlten sich Tracks wie „Sonic Destroyer“ und „The Punisher“ an, als würden sie einem den Brustkorb zerquetschen können. Sogar Kevin Saunderson, ein Mann, der für seinen brutalen Drumsound und unerbittlichen Bass berühmt war, ließ mich wissen, dass sie ihn beim ersten Hören in Erstaunen versetzten: „Sie waren so heavy, dass sie mich richtiggehend schockiert haben“, sagte er. „Ich hätte nicht geahnt, dass irgendwer in Detroit so einen harten Sound hervorbringen würde – schon gar nicht zwei schwarze Jungs. Es erwischt einen ganz unvorbereitet.“1

Ich hatte mich an jenem Tag schon vorab mit Banks und Mills im Büro von UR verabredet. Es handelte sich dabei um ein spartanisch gehaltenes Ambiente, das wenig mehr zu bieten hatte als einen Schreibtisch, auf dem ein Telefon stand, sowie eine Weltkarte, die an die Wand gepinnt war. Auf der Karte war Südafrika, das zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1992 immer noch unter der Kontrolle von F.W. de Klerks weißem Minderheitsregime stand, mit einem Filzstift übermalt worden. Auf dem nunmehr schwarz einkolorierten Hintergrund prangte ein einziges, auf Kopierpapier ausgedrucktes Wort: „RIOT“ – Aufruhr.

„Ein Aufruhr ist die Sprache der Unerhörten“, sagte Martin Luther King einst. Der ehemalige MC und „Informationsminister“ von UR, Robert Hood, beschreibt die Crew als Kinder jenes Aufruhrs, der Detroit 1967 erschütterte, angetrieben von einem dringlichen Aufruf, Maßnahmen zu ergreifen, inspiriert von ihrem Hass auf Ungerechtigkeit und kollektivem Zorn auf jene Stadt, die vor ihren Augen zerfiel. „In dieser Zeit wütete das Crack. Da gab es jede Menge Entlassener aus der Automobilindustrie. Familien fielen auseinander und wurden von der Drogenepidemie erfasst. Alleinstehende Mütter mühten sich ab, um ihre Kinder über die Runden zu bringen. Dann waren da noch die Drogengangs, die langsam überhandnahmen. Es gab Drive-by-Schießereien und Autoentführungen. Während Schulen geschlossen wurden, öffneten immer mehr Gefängnisse ihre Pforten“, erörtert Hood. „Wir beobachteten, was da so abging. Wir konnten den Druck spüren. Die Stadt implodierte. Man konnte fühlen, wie sich die Schlinge um die Stadt zuzog und dass Politiker nichts mit Detroit zu tun haben wollten. Die Stadt wurde abgeschrieben. Wenn man sich also Tracks wie ‚Riot‘ von Underground Resistance aus dem Jahr 1991 anhört, vernimmt man den Schrei Detroits, ausgelöst durch den Druck einer rassistischen Gesellschaft, die die Stadt umgibt und von innen heraus ausbluten lässt.“

Ihr brandstifterischer Sound wurde durch dieses verdorbene Umfeld geprägt, wie schon Mike Banks während unserer Tour durch die Stadt an jenem Nachmittag im Winter 1992 veranschaulicht hatte. Doch so wie Sun Ra, George Clinton und viele andere afrofuturistische Musiker – darunter auch Detroiter Techno-Pioniere wie Juan Atkins –, träumten auch er und seine Mannen davon, die irdischen Fesseln abzustreifen und in interstellare Welten zu flüchten, die frei von Vorurteil und Unterdrückung waren. Es waren diese Visionen, die Mike Banks unter dem Künstlernamen The Martian auf seinem anderen Label Red Planet mit Tracks wie „Cosmic Movement“ und „Star Dancer“ auszuleben versuchte.

Die Reaktion von UR auf die wirtschaftlichen Unbilden, die sie ringsum wahrnahmen, bestand darin, ihre Unabhängigkeitserklärung zu formulieren. So entwickelten sie eine Philosophie ökonomischer Autarkie, die jemandem wie Berry Gordy bekannt vorgekommen sein muss und ihnen sowie anderen, die sie in den folgenden Jahrzehnten nachahmten, gut zu Gesicht stehen sollte. „Wir begriffen, dass schwarze Musiker in den Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahren ausgebeutet und von Vertretern der Musikindustrie, die gerissen genug waren, diese Künstler und ihre mangelnden Kenntnisse der Branche auszunutzen, im Stich gelassen worden waren“, erklärt Hood. „Wir konnten unsere eigenen Platten machen, uns selbst ums Artwork und den Vertrieb kümmern. Wir mussten uns vor keiner höheren Macht verantworten. Wir konnten alles selbst machen und dabei eigenständig agieren. Das war eine Guerilla-Denkweise. Niemand würde uns vorschreiben, was wir zu tun hätten, wie wir den Vertrieb oder die Vermarktung regelten. Niemand kontrolliert unsere Musik. Wir bestimmen, was Sache ist.“

Ihre Musik war aber auch eine Reaktion auf die Kommerzialisierung afroamerikanischer Kultur, wie Banks mir 1992 mitteilte. Er fühlte sich abgestoßen von den erwartungsfrohen Hochglanzfantasien des zeitgenössischen R&Bs – abscheuliche Lügen, so nannte er sie verächtlich, die von habgierigen Firmen verkauft würden, um die leidvolle Realität des afroamerikanischen Daseins zu übertünchen. Er bestand darauf, dass UR die Alternative, ja, das Gegengift verkörperten: „Harte Mucke aus einer harten Stadt.“

„Schwarze Leute leben nicht wie Gruppen in der Art von New Edition und tragen 900-Dollar-Anzüge. Das echte Leben sieht eher so aus, wie es Public Enemy beschreiben“, beteuerte er.

„Wir stehen daher für Widerstand“, ergänzte Jeff Mills. „Wir werden immer gegen diesen Shit ankämpfen – Revolution, damit sich was ändert.“2

„Unsere Musik erhebt sich wie ein Phoenix aus der Asche der zerbröckelnden Industrienation.“

Juan Atkins, 1988

Mehr als zwei Jahrzehnte später stehe ich auf der Hart Plaza, in Downtown Detroit. Elektrische Marschtrommeln zischen und krachen wie ein Feuerwerk entlang des Ufers des Detroit Rivers. Die Rhythmen schallen rund um das Septett von verglasten Wolkenkratzern am Ufer. Mike Banks und seine schattenhafte Crew von Techno-Aufwieglern pushen in der ersten Nacht des Movement Festivals 2014 eine begeisterte Menschenmenge in ihrer Heimatstadt zum Höhepunkt.

Zu diesem Zeitpunkt galten Underground Resistance längst als Veteranen eines Musikgenres, das den Sound der Populärmusik im Verlauf der letzten 30 Jahre auf der ganzen Welt verändert hatte. Von Blues und Jazz bis hin zu Motown, von Parliament-Funkadelic über die MC5 und die Stooges bis hin zu Eminem – Detroit hat etliche bemerkenswerte musikalische Pioniere hervorgebracht, die neu definierten, was Musik sein und was sie bedeuten konnte. Nun war der Einfluss von Techno überall zu hören, vom banalsten Pop-Hit bis hin zur anspruchsvollsten Avantgarde Electronica. Wie es Kevin Saunderson mit einem Augenzwinkern ausdrückte: „Wir verkörpern jetzt Geschichte!“

Da lag er richtig, wortwörtlich sogar. Zwischen all den anderen, im Stile eines Hard Rock Cafés ausgestellten Memorabilia, die Auskunft über die glorreiche musikalische Vergangenheit der Stadt geben, fand man im Detroit Historical Museum nun immerhin auch einen Schaukasten, der Auskunft über die Pioniere des Techno gab. Ein Foto von Derrick May hing – irgendwie unpassend – neben einem der jungen Madonna. Vielleicht hätten May, Atkins und Saunderson, die Gründerväter des Genres, stattdessen Einzug in die „Galerie der Innovation“ halten und neben Henry Ford und Berry Gordy vorgestellt werden sollen.

Die Geschichte des Techno wurde im Rahmen einer selbstfinanzierten und liebevoll betreuten Ausstellung namens Exhibit: 3000 weitaus besser wiedergegeben. Sie befand sich im Erdgeschoss eines ehemaligen Wäschereigewerkschaftsgebäudes, das nun als Geschäftszentrale von Underground Resistance und Submerge Records diente und sich nur einen kurzen Fußmarsch vom Motown-Museum entfernt befand.

Mike Banks, selbst in seinen späten Vierzigern noch schlank und muskulös, gekleidet in ein Khaki-T-Shirt und Arbeiterjeans samt Werkzeugen, die von seinem Gürtel baumeln, und einem Pinsel in der Gesäßtasche, öffnete mir die Tür, nachdem ich geklingelt hatte. „Komm mit, du musst dir diesen Shit ansehen“, drängte er mich mit seiner unnachgiebigen Stimme.

John Collins, ein erfahrener Detroiter DJ, der einst in den Achtzigerjahren, noch vor dem Aufkommen von Techno, House und Disco im Detroiter Club Cheeks aufgelegt hatte und später ein Mitglied der UR-Crew wurde, führte mich herum. „Das Museum war notwendig. Es ist wichtig“, erklärte mir Collins. „Es ist wichtiger als je zuvor, da die Schlacht noch nicht gewonnen ist. Wir haben immer noch einen Teil des Weges vor uns. Manche Leute wissen nicht einmal, dass Techno von Schwarzen erfunden wurde.“

In der Galerie befanden sich nicht nur Fotos der Pioniere des Techno, sondern auch von anderen Helden – Bruce Lee, Geronimo, Sun Tsu, den Tuskegee Airmen aus dem Zweiten Weltkrieg, Public Enemy sowie Nichelle Nichols, die in der originalen Star-Trek-Serie die Kommunikationsoffizierin der USS Enterprise Nyota Uhura spielte. Damit positionierten sich UR fest im geschichtlichen Kontinuum progressiver schwarzer Kulturpolitik. Die Bildunterschrift eines Fotos erklärte Detroit zu einer „Stadt der Freaks und Kämpfer“. Doch das zentrale Motiv des in den alten Fotos, Plattenhüllen, Gemälden, Zeitungsausschnitten und alten Roland-Drumcomputern dargelegten Narrativs, sorgfältig hinter Glas entlang der Wände ausgestellt, bildeten mit Atkins, May und Saunderson jene drei jungen schwarzen Männer, die sich in den Achtzigerjahren an der Highschool in Belleville kennengelernt hatten, einer manierlichen, überwiegend weißen Kleinstadt am Huron River, etwa 50 Kilometer westlich von Detroit.

Detroits erste Proto-Techno-Platten waren schon 1981 erschienen – „Sharevari“ von A Number of Names und „Alleys of Your Mind“ von Cybotron, einem Duo bestehend aus dem jungen, von Kraftwerk besessenen Atkins und einem Vietnamkrieg-Veteranen und Synthesizer-Enthusiasten namens Rik Davis, der sich selbst 3070 nannte. Cybotron streckten ihre Fühler in Richtung einer neuartigen, post-elektronischen Tanzmusik aus: „Das war richtig Punk. Zuerst spielst du und dann erst lernst du, was du da gespielt hast“, erklärte Davis einmal.3

Atkins und May etablierten außerdem ihre eigene DJ-Crew Deep Space, deren Geheimwaffe ein Roland TR-909 war, mit dem sie ihre Mixe aufpeppten. 1985, nach Cybotrons größtem Hit, dem sachte dahingleitenden Cold-Wave-Electro-Track „Clear“, stieg Atkins aus der Band aus und begann unter dem Pseudonym Model 500 allein aufzunehmen. Alle drei gründeten ihre jeweils eigene Plattenfirma – Metroplex (Atkins), Transmat (May) und KMS (Saunderson) –, um ihre Musik ganz autonom zu veröffentlichen. Zusammen mit ihrem Freund Eddie „Flashin“ Fowlkes wurden die sogenannten „Belleville Three“ zu den Urhebern des Techno als eigenständigem Genre, das parallel zum Aufkommen von House in Detroit entstand. Obwohl sie einen klaren Plan besaßen, was für einen Sound sie fabrizieren wollten, hatten sie nicht die geringste Vorstellung, welche Auswirkung ebendieser letztlich erzielen würde.

May firmierte unter den Künstlernamen Rhythim is Rhythim und Mayday, während sich Saunderson gleich ein ganzes Repertoire an Pseudonymen zulegte –

darunter etwa Reese, Kreem, Tronik House und E-Dancer – und gleichzeitig auch noch zum musikalischen Mastermind des international erfolgreichen Duos Inner City avancierte. Die Belleville Three ließen sich von Kraftwerk, dem Yellow Magic Orchestra, europäischem Electro-Pop und Italo-Disco beeinflussen, fanden aber auch Inspiration bei Parliament-Funkadelic und den von Synthie geprägten Post-Disco-Club-Tracks, die Labels wie Prelude veröffentlichten. Das Überraschungselement lieferte die allgegenwärtige Andersartigkeit Detroits, wo sie sich alle im selben Block in der Gratiot Street im Viertel Eastern Market ihre Studios einrichteten. Nicht umsonst sollte dieser Straßenabschnitt eines Tages liebevoll „Techno Boulevard“ genannt werden. „Ich reagiere einfach auf meine Umgebung“, erklärte mir May bei unserem ersten Treffen 1988. „Die Leute, die Intensität, die Paranoia – all die Dinge, die Detroit zu dem machen, was es ist.“4

Einen weiteren entscheidenden Einfluss stellte das Detroiter Radio dar – vor allem die idiosynkratischen Übertragungen eines Charles Johnson, auch bekannt als Electrifying Mojo, der für die Stadt eine ähnlich inspirierende Rolle spielte wie der BBC-Radiomoderator John Peel in Großbritannien. Ab 1977 setzte sich The Electrifying Mojo in seinen Shows über sämtliche ethnischen Konventionen des US-Radios hinweg, die er später sogar mit Apartheid verglich.5 Seine Ansagen waren oft lyrisch-soziopolitische Monologe oder Homilien, in denen er Anstand und Toleranz predigte. Zu seinen musikalischen Favoriten zählten Outsider wie Prince, Parliament, die B-52’s sowie Kraftwerk, deren Album Computer World er nach dessen Veröffentlichung 1981 gar nicht mehr vom Plattenteller nehmen wollte. Eines seiner Zitate bekam im Underground-Resistance-Museum einen Ehrenplatz: „Der Preis, den man für die Freiheit bezahlen muss, ist sehr kostspielig. Wenn du Leidenschaft empfindest, wird dies dein Opfer ausgleichen.“

Die jungen Männer, die den Detroit Techno aus der Taufe heben würden, zählten alle zu seinen Stammhörern, und als sie schließlich zu DJs und Produzenten wurden, begann Mojo, ihre frühen Mixe zu spielen. Laut May hätte es ohne den Radiomann das, was heute als Detroit Techno bekannt ist, vielleicht gar nicht gegeben: „Er war ein Lehrer, eine Inspiration, ein Visionär. Er zeigte uns, dass es auch anders ging.“

Ungefähr zur gleichen Zeit in den Achtzigerjahren entwickelte ein junger Jeff Mills alias The Wizard im Lokalradio seinen wirren, von schnellen Übergängen geprägten DJ-Stil. Ab 1987 konnte die Detroiter Hörerschaft auch die Radioshow Fast Forward empfangen, in der Techno ebenso wie Electronic Body Music von Bands wie Front 242 und Skinny Puppy, Acid House, belgischer New Beat sowie britischer Indie-Dance über den Äther ging. Moderiert wurde die Sendung von Alan Oldham, der außerdem für das ikonische Artwork im Graphic-Novel-Stil verantwortlich zeichnete, das die Veröffentlichungen vieler Techno-Labels der Stadt zierte. Zudem sollte er unter dem Pseudonym T-1000 auch als Underground-Resistance-DJ in Erscheinung treten.

So wie The Electrifying Mojo zeigten die Detroiter Techno-Pioniere wenig Respekt vor den traditionellen ethnischen Grenzen der amerikanischen Popkultur. „Ich erinnere mich an einen Interviewer, der mich fragte, was all dies inspiriert hätte. Ich erwähnte dann Gruppen wie Ultravox und Visage. Er war ganz perplex, dass ich wusste, wer Midge Ure, Steve Strange und Gary Numan waren. Als ich ihm erklärte, welch hohen Stellenwert Depeche Mode in der hiesigen schwarzen Community genossen, war er richtig schockiert! Aber für uns war das ganz normal“, berichtet May. „Wir wussten ja nicht, dass wir nicht auf diesen Shit abfahren durften. Niemand hatte uns wissen lassen, dass wir nicht zuerst George Clinton abfeiern, dann den Hebel umlegen und Visage hören konnten. Keiner sagte: ‚Du darfst dir nicht „Fade to Grey“ anhören, du Motherfucker.‘ Wir wussten ja nicht, dass wir uns nicht die Cocteau Twins, Echo & the Bunnymen oder ‚Bela Lugosi’s Dead‘ von Bauhaus anhören durften.“

Auch Kraftwerk hatten ihren Platz im UR-Museum: Ihr Album Man-Machine (deutscher Titel: Menschmaschine) war neben einer Platte von Funkadelic platziert. Der Aufstieg des Techno sowie die stetigen Ehrerbietungen, die ihnen Atkins, May und Saunderson erwiesen, festigte den Ruf der Deutschen als Innovatoren. Die nahmen das dankbar zur Kenntnis. „Ralf Hütter saß vor zehn Jahren genau hier, wo wir jetzt sitzen, und bedankte sich bei mir“, erinnerte sich May, als wir uns in seinem Studio unterhielten.

Hütter berichtete ebenfalls emotional von seinen Treffen mit May und Atkins in Detroit sowie der Bewunderung der Düsseldorfer Formation für die musikalische Ästhetik der amerikanischen Stadt. „Zwischen dem industriellen Sound der Motor City und Kraftwerk auf der Autobahn besteht eine spirituelle Verbindung. Automatische Rhythmen, robotergesteuerte Arbeitsvorgänge und roboterhafte Musik – alle möglichen Fantasien sind hier am Werk“, sagte er.6

Doch die Vorstellung, dass Kraftwerk die unumstrittenen Paten des Techno sind, entspricht wohl kaum der ganzen Wahrheit. Der musikalische Afrofuturismus von Musikern wie Herbie Hancock, George Clinton, Stevie Wonder und all den anderen, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Weg für den Einsatz elektronischer Texturen, synthetisch generierter Bassläufe und rhythmischer Technologien bereiteten, spielte eine nicht minder prägnante Rolle dabei, der elektronischen Tanzmusik eine breite Palette an Möglichkeiten bereitzustellen.

Weitere Schlüsselfaktoren stellten House und Disco dar – synthetische Italo-Disco und europäische Electro-Pop-Grooves ebenso wie amerikanische Klassiker des Genres. Aufgrund der elegischen Akkordabfolgen und wehmütigen Melodien, die Detroit Techno mitunter aufwies, wurde er zuweilen als rein schwelgerische Mucke interpretiert, obwohl viele dieser ursprünglichen Tracks hart pumpenden Maschinen-Funk boten, der für den Dancefloor prädestiniert zu sein schien. Deshalb wurden Nummern wie Mays „Nude Photo“ oder Saundersons „The Sound“ auch zu Hymnen in britischen Clubs wie dem Haçienda. Auch Detroit besaß in den Achtzigerjahren eine pulsierende Disco- und House-Szene mit DJs wie dem leider verstorbenen Ken Collier, der im Gay-Club Heaven auflegte. Er war ein zentraler Szeneheld, der dabei behilflich war, ein paar der frühen Platten von Was (Not Was) zu remixen, und als Detroiter Antwort auf Ikonen wie Frankie Knuckles oder Larry Levan galt. „Wenn man als Detroiter auf Dance-Music abfuhr, konnte man die nur in den Gay-Clubs hören. Also bin ich dorthin gegangen“, erinnert sich May. Als ich Ken Collier zum ersten Mal in den späten Achtzigern in Detroit auftreten sah, vermengte er New Yorker Garage-Stücke von Adeva und Paul Simpson mit Sounds seiner jungen Kollegen aus der aufstrebenden Techno-Szene. Sie waren damals alle noch Teil ein und derselben Geschichte.

Der Detroiter DJ Carlos Souffront erinnert sich daran, wie sich seine Welt veränderte, als er sich als ängstlicher schwuler Teenager zum ersten Mal in Colliers Club traute. „Als ich das Heaven fand, war das fast zu viel für mich“, erzählt Souffront. „Es war beängstigend, da ich noch nicht so weit war, mich zu outen. Allerdings war ich begeistert von der Musik und der Energie des Publikums und seiner totalen Hingabe. Das fand ich inspirierend. Auf mich wirkte es wie ein Kollektiv aller möglichen Außenseiter. Alle nur denkbaren an den Rand gedrängten Leute versammelten sich dort. Ich habe mich schon immer als Außenseiter gefühlt – doch hier wollte ich sofort mit dabei sein.“

Die Clubkultur hatte einen emanzipatorischen Effekt auf die jungen Techno-Produzenten. Saunderson war begeistert, Larry Levan in der Paradise Garage in New York zu erleben, wohingegen May von Ron Hardy in der Music Box und Frankie Knuckles im Chicagoer Power Plant eingeführt wurden. „Diese Vision, einen Moment so euphorisch zu gestalten, veränderte mich“, staunte May ob Knuckles’ Kontrolle über seine Jüngerschaft.7

Der erfahrene Chicagoer DJ Knuckles adoptierte den hyperaktiven jungen Detroiter May als sein musikalisches Mündel. Indem May Knuckles einen gebrauchten Roland-Trommelsynthesizer verkaufte, zementierte er die kreative Verbindung zwischen den beiden Metropolen. Auf ebendiese griff Knuckles zurück, um die gefühlvolle Hymne „Your Love“ mit Jamie Principle aufzunehmen und die Grooves im Power Plant, seiner neuen Heimat nach dem Abschied aus dem Warehouse, aufzufetten. „Im Verlauf der Woche programmierte ich unterschiedliche Muster, um sie dann über den Abend hinweg zum Einsatz zu bringen, abhängig vom Song auch live daruntergelegt oder als Überleitung“, erinnerte sich Knuckles später.8 Manchmal hört man auch, dass Knuckles seinen gebrauchten Roland an ein paar der frühen Chicagoer House-Produzenten verlieh, damit diese ihre ungestümen DIY-Tracks aufnehmen konnten.

Die Entscheidung des Detroiter Trios, ihre Musik „Techno“ zu taufen und dadurch den Sound der Belleville Three von all den anderen Formen elektronischer Tanzmusik, die damals die Szene belebten, deutlich abzuheben, war zum Teil von Alvin Tofflers 1980 erschienenem Buch Die Dritte Welle beeinflusst. Darin postulierte der Zukunftsforscher seine Vision einer technologischen Revolution, die von einer neuen Generation von „Techno-Rebellen“ angeführt wird, welche den Fortschritt der Menschheit in Richtung „einer neuen Stufe der Zivilisation“ vorantreiben würden. Unbeabsichtigt prophezeite er darin, dass die Musiker der Electronic-Dance-Ära billiges Equipment besonders kreativ zum Einsatz bringen würden. „Die Techno-Rebellen stellen in Abrede, dass Technologie groß, kostspielig oder komplex sein muss, um ‚ausgeklügelt‘ zu sein“, schrieb er.9

Ihrem Sound einen eigenen Namen zu geben, war ein cleverer Schachzug, der sicherstellte, dass die Belleville Three als historische Schöpfer eines neuen Genres wahrgenommen wurden – und nicht nur als ein paar weitere amerikanische House-Typen, die auf Krafwerk standen. Allerdings hatte der deutsche DJ Talla 2XLC, bürgerlich Andreas Tomalla, den Begiff „Techno“ in den frühen Achtzigerjahren bereits vor ihnen benutzt, um elektronische Bands wie New Order, Kraftwerk, Depeche Mode und Front 242 zu kategorisieren, als er in einem Frankfurter Plattenladen arbeitete. Tatsächlich hatte Talla 2XLC in derselben Stadt seine Technoclub-Nächte schon seit 1984 veranstaltet. Auch zeigen Archivaufnahmen von damals, wie Clubber den Begriff „Techno“ verwenden, um damit stampfende, industriell-elektronische Tracks und Electronic Body Music zu beschreiben. Erst 1988 und kurz vor der Veröffentlichung von Techno! The New Dance Sound of Detroit, einer bahnbrechenden britischen Compilation, die frühes Material von Atkins, May, Saunderson, Eddie Fowlkes, Blake Baxter und Anthony Shakir enthielt, kam das Detroiter Trio auf die Idee, wie sie ihre Musik nennen wollten. Wäre es nach May gegangen, hätte sich ein anderer Name durchgesetzt. „Ich wollte es ‚High-Tech Soul‘ nennen“, erinnert er sich. „Doch Juan meinte: ‚Nee, Mann, das ist kein High-Tech-Soul. Das ist Techno.‘“ Das Album, das gerade rechtzeitig zum wilden Höhepunkt des „Summer of Love“ der britischen Acid-House-Szene erschien, besiegelte ihr Image als intellektuelle Vorreiter der elektronischen Tanzmusik und sicherte ihnen ihren Platz in der Geschichte der Popkultur.

Aber dazu wäre es fast nicht gekommen, so May. Techno entwickelte sich zwar zu einem globalen Phänomen, aber damals in den späten Achtzigern sahen nur wenige Leute mehr darin als eine Kuriosität, die wie so viele andere Pop-Moden zuvor schon bald wieder in der Versenkung verschwinden würde. „Als ich zum ersten Mal nach England reiste, verbrachten wir einen Tag lang damit, Plattenfirmen in London abzuklappern – und allen ging es komplett am Arsch vorbei“, berichtet er. „Alle dachten, diese Musik wäre nichts als ein Witz. Wir spielten einem A&R-Typen Mays Klassiker ‚Strings of Life‘ vor. Doch er telefonierte lieber. Er sah mich nicht einmal an. Also gingen wir einfach wieder.“

„Weißt du, Geld ist eine Sache, aber Seele eine andere.“

Prince, während eines Radio-Interview mit The Electrifying Mojo, 1986

Von Anfang an sahen sich die Belleville Three als Reisende auf einer Mission, ein neues Landschaftsbild zu erschaffen. So wie die anderen ihre Ära bestimmenden schwarzen Musiker, die zur gleichen Zeit aufkamen, Public Enemy und ihr Produktionsteam, die Bomb Squad, bezogen sie ihre Inspiration zum Teil aus Science-Fiction – einer von einer Parallelwelt handelnden Literatur, in der die brutale rassistische Geschichte der USA vielleicht gar nie so passiert wäre. „Die ursprüngliche Essenz bestand aus schwarzem Futurismus und schwarzer Science-Fiction“, erklärt Alan Oldham. „Ich war ein Fan von Comicbüchern. Dann gab es da noch Typen wie Juan Atkins, die Sci-Fi-Fans waren. Viele meiner Freunde fuhren auf Star Trek ab. Und als Star Wars ins Kino kam, war ich gerade in der achten Klasse. Alle waren total verrückt danach.“

Der US-Bundesstaat Michigan verfügt über eine lange Tradition darin, der Zukunft den Weg zu bereiten. Das zieht sich von der Einführung der Fließbandmassenproduktion durch Oldsmobiles bis hin zu Berry Gordys Hitfabrik Motown durch. Doch Techno spiegelte auch die Epoche, in der die Belleville Three lebten, gut wieder. „Zukunftsvisionen sagen in Wahrheit viel über die Gegenwart aus – und die Vorstellungen von der Zukunft ändern sich ganz abhängig von der jeweiligen Ära“, erörtert der Manager und gelegentliche Sänger der Underground-Resistance-Crew, Cornelius Harris. „Das bezieht sich stets darauf, wo die Menschen im Augenblick gerade stehen. Alles basiert dabei auf unseren Hoffnungen und Erwartungen.“

Für junge Schwarze, die in den Achtzigern in Detroit aufwuchsen, entsprach die Zukunft nicht jener optimistischen Fünfzigerjahre-Vision von alles erleichternder Haushaltstechnologie, Tagesausflügen zum Mars und frei verfügbaren Jetpacks. Vielmehr wirkte die Zukunft bedrohlich und bösartig – nicht unähnlich jener Welt, wie sie im dystopischen Sci-Fi-Film Robocop gezeigt wurde, der damals rund um Detroit gedreht wurde. „Wenn du einen Blick auf die Achtziger wirfst, die Zeit, in der Techno aufkam, dann waren sie geprägt von Aids und von Crack, das seinen Weg in die Viertel fand. Es herrschte Rezession und die Kriminalitätsrate war so hoch wie nie. Ich kann mich sogar an eine Nachrichtenreportage erinnern, in der es hieß, dass in der Zukunft der durchschnittliche schwarze Mann in der Stadt keine 24 Jahre alt werden würde“, erzählt Harris. Techno, so meint er, sei ein Versuch gewesen, sich ein anderes potenzielles Szenario herbeizuträumen. „Statt alles als gegeben hinzunehmen, malten sich diese Typen eine ganz andere Zukunft für sich aus. Statt erschossen, drogenabhängig oder zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden, machten sie diese großartige Musik und bereisten die Welt. Sie haben somit inmitten all dieser Negativität praktisch ihre eigene Zukunft ersonnen. Manchmal geschah das bewusst, manchmal unterbewusst, aber diese Jungs taten genau das Gegenteil von dem, was von ihnen erwartet worden war. Sie schufen sich ihre eigene Zukunft – und das in der angeblich übelsten Stadt des Landes.“

Sich einen Weg nach draußen träumen … Ich erinnerte mich an etwas, das Juan Atkins 1988 mir bei unserem Interview gesagt hatte. „Um das neue Detroit aufzubauen, müssen wir das alte Detroit niederreißen“, versicherte er mir. „Es ist so leicht, in dieser Stadt vom Weg abzukommen. Es ist so leicht, einen jungen schwarzen Mann zum Drogenkonsum und zu kriminellen Handlungen zu verführen. Hier gibt es ja sonst nichts zu tun. Man kann nirgendwo hingehen. Die Szene ist tot. Deshalb klingt unser Zeug auch so, wie es das nun einmal tut.“10

Atkins hat von Techno oft als eine Art alternativer Realität gesprochen – einem Portal eines imaginieren Reiches der Freiheit. Doch 1988 sagte er auch, er wäre der Ansicht, dass es notwendig sei, die Geschichte auszulöschen, um die Zukunft erschaffen zu können. „Wir beabsichtigen, alles zurückzuweisen, was uns an die Vergangenheit erinnert“, insistierte er. „Wir setzen uns nicht hin und sagen, dass wir möglichst schräge Musik machen wollen. Sie ist einfach ein Resultat der Umstände. Detroit ist eine postindustrielle Stadt. Die Industrie stellt den Betrieb ein und die Technologie rückt in den Vordergrund. Die Stadt ist ausgelaugt und unsere Musik erhebt sich wie ein Phönix aus der Asche der zerbröckelnden Industrienation.“11

Man kann es sich kaum mehr vorstellen, nun da Techno rund um den Erdball quasi allgegenwärtig ist und die Geräuschkulisse von Rolands 808- und 909-Modellen so vertraut geworden ist wie ein auf einer Gibson Les Paul angeschlagener Powerchord, wie schrecklich fremd und unglaublich radikal dieser Sound klang, als er auf den Labels von May, Atkins und Saunderson – Transmat, Metroplex und KMS respektive – zum ersten Mal unters Volk gebracht wurde. So wie die House- und Acid-Tracks, die ungefähr zur gleichen Zeit aus Chicago kamen, besaß er eine fesselnde Simplizität und transzendente Intensität, die einfach spannend war. Wie der Produzent Stacey Pullen, ein Vertreter der zweiten Detroiter Welle, vermutet, verfügten diese frühen Aufnahmen über die eigentümliche Fähigkeit, dem Verstand Räume zu eröffnen und den Hörer in esoterische Sphären zu entführen. „Sie ließen mich Dinge anders begreifen. Wie wir als Menschen sind und für welchen Weg wir uns entscheiden sollen.“12

Inspiriert oder direkt angezogen von den Belleville Three und Fowlkes betrat rasch eine zweite Generation die Bildfläche. Dazu zählten Leute wie Mays begnadeter Schützling Carl Craig, Mike Banks, Jeff Mills und Robert Hood von Underground Resistance sowie die Gebrüder Lenny und Lawrence Burden und deren Band Octave One. Von der anderen Seite des Flusses, aus Kanada, stießen Richie Hawtin und John Acquaviva dazu, die Plus 8 Records betrieben und Platten des Detroiter Newcomers Kenny Larkin veröffentlichten.

Das war schon eine beachtliche Ansammlung von Talent innerhalb einer so kurzen Zeitspanne, mit einem künstlerischen Elan ausgestattet, der sich oft im Design ihrer 12-Inch-Vinyl-Veröffentlichungen widerspiegelte. Ihre Anziehungskraft war faszinierend – als ob wir Übertragungen aus einem Paralleluniversum empfingen, wie ich einst, nachdem ich einen Stapel Platten in der Stadt erstanden hatte, staunend feststellte: „Oft verbergen sich in der Auslaufrille Botschaften der Künstler: ‚Gönn dir einen Trip zu einem höheren Bewusstseinszustand‘, ‚Die Bedürfnisse Vieler sind wichtiger als die Bedürfnisse Weniger oder eines Einzigen‘ oder ‚Glaubst du an Hexen?‘ Manche muss man verwirrenderweise von innen nach außen abspielen. Andere sind mit selbstgezeichneten Tiefseetauchern, Astronauten und abgefahrenen Grafiken übersät. Wiederum andere weisen überhaupt keine Informationen auf, nur ein schwarzes Label in einer schwarzen Tüte oder stahlblaues Vinyl in weißer Schrumpffolie.“13

Doch mit Anbruch der Neunziger hatten die Pioniere des Techno bereits die Entscheidungsgewalt über das Genre, das sie erschaffen hatten, verloren. Musiker auf der anderen Seite des Atlantiks ließen sich zwar gerne von ihnen inspirieren, schlugen aber ihre jeweils eigenen Richtungen ein. Dies führte zu einiger Unzufriedenheit in Detroit. Es fühlte sich an, als ob schon wieder schwarze Musik von weißen Europäern für deren Zwecke ausgebeutet würde. Angetrieben vom scheinbar unstillbaren Verlangen nach neuen Aufnahmen aus der rasch wachsenden Rave-Szene dieser Tage, entwickelten sich die Briten, Deutschen, Belgier und Niederländer zu fleißigen Techno-Produzenten. Ein paar von ihnen wie 808 State, A Guy Called Gerald, Baby Ford und LFO errangen den Respekt ihrer Detroiter Kollegen. Andere jedoch galten als käufliche Trittbrettfahrer, die außerdem, was noch viel schlimmer war, über keinerlei Soul oder Groove verfügten. „Es ist einfach nur verfälschte Musik“, beklagte etwa Derrick May. „Das ist einfach nicht funky.“

Der Umstand, dass die europäische Rave-Szene von Ecstasy befeuert wurde, verstörte ebenfalls so manchen Detroiter Musiker. Die meisten von ihnen ließen sich nicht auf Chemikalien ein und hatten kein Verständnis für Leute, die das taten, obwohl diese frühen E-Konsumenten jahrzehntelang ihre treuesten Fans werden sollten. Für die Detroiter waren Drogen gleichbedeutend mit Crack, jenem mörderischen Gift, das dazu beigetragen hatte, Armageddon über ihre Stadt zu bringen. „Es war richtig befremdlich, all diese Leute auf Drogen zu sehen“, berichtete Lawrence Burden von Octave One über seine Erfahrung bei einem riesigen Rave, der Anfang der Neunziger in Deutschland stattfand. „Mich sprach das weder an, noch konnte ich verstehen, was da vor sich ging. Es machte mich ganz irre. Die Nacht der lebenden Toten. Ich dachte mir nur: ‚Sieh dir bloß diese ganzen Zombies an!‘“14

Auch verunsicherten sie ein paar der kulturellen Interpretationen, die Techno in Europa durchlief. So vereinnahmten etwa ein paar weiße Neo-Hippies die Rave-Szene als Anbruch einer neuen psychedelischen Revolution. 1993 bildete eine Podiumsdiskussion zum Thema Techno im Londoner Institute of Contemporary Arts die Plattform für einen ideologischen Showdown zwischen Derrick May und Fraser Clark, dem Herausgeber des Magazins Evolution und Promoter des in London ansässigen Hippie-Rave-Clubs Megatripolis. May sträubte sich gegen jegliche Verbindung zwischen Techno und Rauschmitteln: „Ich habe noch nie Ecstasy geschluckt, noch nie einen Joint geraucht. Nie. Ich brauche keine Drogen, die mich abheben lassen.“ Clark hingegen war ein psychedelischer Evangelist, der glaubte, dass Techno den Soundtrack zu neuheidnischen Ritualen lieferte, die die Menschen wieder mit den Ur-Energien der Erde in Kontakt brachten. Auf Ecstasy zu elektronischer Musik zu tanzen, stellte in seinen Augen einen schamanischen Ritus dar, der seinen Ursprung in uralten afrikanischen Ritualen hatte. Als Clark seine Sicht der Dinge teilte, fuhr May ihn angewidert an: „Wenn das ein afrikanischer Tanz sein soll, dann hätte mal jemand meinen Vorfahren in den Arsch treten sollen.“ May hatte an diesem Tag zwar die Lacher auf seiner Seite, doch es ließ sich nicht leugnen, dass die Gründerväter des Techno nicht länger diktieren konnten, wie ihre Musik zu verstehen wäre.

May gab es schließlich für ganze zwei Jahrzehnte auf, seine eigenen Aufnahmen zu veröffentlichen, was er mit seiner Desillusionierung bezüglich des Musikbusiness begründete. Er stritt hingegen ab, sich mit frühen Tracks wie „Strings of Life“ und „Nude Photo“ die Latte so hoch gelegt zu haben, dass er fürchtete, sie nie übertreffen zu können. Laut ihm traf er die Entscheidung 1991, als Atkins, Sanderson und er den Beschluss fassten, als Trio unter dem Namen Intelex aufzunehmen. Sie sahen Intelex als ihre eigene Interpretation von Kraftwerk, doch Trevor Horn, jener Mann, dessen breitflächige elektronische Produktionen Frankie Goes to Hollywood zu Stars machten, und Boss von ZTT, jenem Label, bei dem sie unterschreiben sollten, wollte sie, so May, kommerzieller ausrichten, als ihnen lieb war.

May sollte schließlich noch Material mit Steve Hillages Projekt System 7 aufnehmen, doch der Fehlschlag von Intelex bestätigte ihn in seiner verbitterten Sichtweise, woraufhin er bis 2016 nichts mehr veröffentlichte, als er zusammen mit dem Pianisten Francesco Tristano an einem Album arbeitete. „Ich war es gewohnt, Musik auf mich gestellt und auf meine Weise zu machen. Ich hielt mich dabei an meinen eigenen Zeitplan, egal, wie lange es letztlich dauerte“, erklärt er. „Ich war es nicht gewohnt, gesagt zu bekommen, was ich tun sollte, mit wem ich zu arbeiten hätte, oder dass ich etwas ändern müsste, weil jemand der Meinung war, dass es dann besser klingen würde.“ May arbeitete weiterhin als DJ, doch es waren andere, die die Musik vorantrieben, indem sie Inspiration aus ihrer eigenen Interpretation dessen bezogen, was Detroit bedeuten konnte.

Cornelius Harris und ich ließen das Underground-Resistance-Headquarter hinter uns und fuhren zur nahegelegenen Packard Automotive Plant, einer stillgelegten Autofabrik, die schon in den Fünfzigerjahren geschlossen worden war und seitdem zu einem heruntergekommenen Symbol dieser ruinierten Boomtown geworden ist. Wir stiegen vorsichtig über den Schutt hinweg und kletterten die gebrochenen Treppen hoch. Auf unserem Weg hinauf aufs Dach passierten wir Graffiti von dämonischen Fratzen und Smileys. Oben angekommen überblickten wir 330.000 Quadratmeter toter Industrie, von Plünderern leergeräumt und dem Verfall preisgegeben – eine frühe Warnung davor, was noch auf einen großen Teil der restlichen Stadt zukommen sollte.

Das Packard-Gebäude kam als akkurat apokalyptischer Drehort für diverse Hollywood-Filme zum Einsatz und fand sogar Erwähnung im wehmütigen Weltuntergangsgedicht The Last Shift des US-Poeten Philip Levine. Der britische Straßenkünstler Banksy verzierte hier einst eine Mauer mit einem Schablonenbild, das einen traurig dreinblickenden Jungen und die Worte „Ich erinnere mich, als hier nur Bäume standen“ zeigte. Es wurde später entfernt und die Detroit Free Press schrieb, dass es, sollte es je verkauft werden, mehr Geld einbringen würde als die gesamte verlassene Anlage wert wäre.

Hier in diesem mit Graffiti überzogenen Skelett eines Gebäudes veranstalteten in den Neunzigerjahren Richie Hawtin und John Acquaviva ihre Raves. Die beiden weißen Technoheads stammten ursprünglich aus Großbritannien und Italien, waren aber in den kanadischen Städten Windsor und London, nicht allzu weit von Detroit entfernt, aufgewachsen. Sie besuchten die Stadt regelmäßig, um Derrick May zu lauschen, der von 1988 bis 1990 im Music Institute von Mitternacht bis zum Morgengrauen auflegte. Mays manische Kunstfertigkeit befand sich damals auf ihrem jugendlichen Zenit, wie es Alan Oldham in einem Abgesang auf den nicht besonders langlebigen Club formulierte: „Oftmals spielte er über sein Fostex-Zweispurgerät Tracks, die er erst ein paar Stunden zuvor in seinem Studio fertiggestellt hatte. Das war etwas, das ich nie fassen konnte. Er wechselte zwischen dem Tonbandgerät und den Technics 1200ern hin und her und verwendete den Tonhöhenregler für das Tonband. Er schnitt, editierte und zerstörte auch die Tracks anderer Leute, etwa bei seiner abgefuckten Psycho-Neubearbeitung der Music-Institute-Hymne ‚We Call It Aciiiieeed‘ von D-Mob.“15

Nachdem das Music Institute seine Pforten schließen musste, sahen sich Hawtin und Acquaviva nach anderen Orten um, an denen sie ihre eigenen Partys veranstalten konnten. So wie in Großbritannien in den späten Achtzigern, als aufgrund der Rezession leerstehende Lagerhallen und Industriegebäude das perfekte Ambiente für illegale Raves boten, gab es auch in Detroit keinen Mangel an infrage kommenden Optionen. „Detroit besaß den Vorteil, dass es nicht schwer war, verlassene Gebäude und Ecken in der Stadt ausfindig zu machen, die die Polizei nicht wirklich kontrollierte und wo wir tun und lassen konnten, wonach auch immer uns eben war“, erinnert sich Hawtin. Im Packard-Gebäude überzogen sie die Wände mit schwarzem PVC und beschallten sie anschließend mit jenen gestört-psychotronischen Sounds, die ihre frühen Tracks, die sie auf ihrem Label Plus 8 veröffentlichten, so aufregend machten. „Die Leute begaben sich auf diesen irren Trip innerhalb dieses düsteren, mit schwarzem Plastik ausgeschlagenen Raumes. Man hatte dabei stets das Gefühl, als hätte sie die Intensität dieses Sounds zusammengebracht“, sagt Hawtin.

Eine der Packard-Partys 1993 stand ganz im Zeichen der Veröffentlichung von Hawtins erstem Album als Plastikman, Sheet One, einer beachtlichen Sammlung von Acid-House-Tracks mitsamt eines Covers, das an einen perforierten LSD-Blotter erinnern sollte. (Tatsächlich mutete das Cover so realistisch an, dass in Texas jemand für dessen Besitz sogar verhaftet wurde – die Polizei konnte einfach nicht fassen, dass es sich hier nicht um echte Drogen handelte!) Der Vibe jener Tage besaß zweifellos eine utopische Note, betont Hawtin: „Vermutlich zielte das Ethos von Techno auf eine glücklichere Zukunft ab. Auch glaube ich, dass das der Grund dafür ist, warum Techno in Detroit entstanden ist. Es bot für viele Menschen die Gelegenheit, einer vorbestimmten Zukunft zu entkommen. Elektronische Musik ermöglichte es uns, von einer glücklicheren Zukunft zu träumen – und tatsächlich schuf sie für viele von uns eine glücklichere Zukunft.“

Raves wurden also in stillgelegten Fabriken, Lagerhallen und sogar in einer Autowerkstatt organisiert, wo der DJ in einer Kabine aus übriggebliebenen Autoteilen auflegte. In den späten Neunzigerjahren begann die Polizei jedoch, gegen die illegalen Partys vorzugehen. Im Jahr 2000 war die Techno-Szene der Stadt schließlich in der Versenkung verschwunden. Detroit hatte der Welt den Techno geschenkt und die europäische Rave-Explosion entfacht, doch zu Hause waren die Pioniere de facto Unbekannte, die nur mehr auf sehr wenige Locations für ihre Auftritte zurückgreifen konnten.

„Detroit war ein soziales Experiment im großen Stil. Die Zukunft Amerikas nahm hier ihren Ausgang.“

DJ Seoul, Detroit Techno Militia

Der Detroiter Autor Charlie LeDuff beschrieb seine Heimatstadt als „postindustriellen Sarkophag“.16 Derrick May hat seine eigene Bezeichnung auf Lager. „Detroit gleicht dem Wrack der Titanic – nur eben über der Wasseroberfläche“, erklärt er, als wir auf der Dachterrasse seines Studios in der Gratiot Street sitzen, während langsam die Dämmerung über die Stadt hereinbricht. Die warme Abendluft fühlt sich sanft an und trotz heulender Polizeisirenen unten auf der Straße kann man immer noch verspieltes Vogelgezwitscher hören. Auf der anderen Straßenseite sind die Fenster, die Mays Studio gegenüberliegen, zugemauert worden. Im Erdgeschoss befindet sich ein Shop namens Cheap Charlies, in dem man Arbeiterklamotten aus zweiter Hand und Krimskrams für einen Dollar erstehen kann. An der Ampel stehen ein paar Reklamewände, auf denen unter anderem Cheeseburger und Kredite angepriesen werden. Die Zielgruppe scheint offensichtlich. Obwohl Eastern Market sich langsam zu einem der angesagtesten Viertel der Stadt mauserte – mit neuen Boutiquen und Hipster-Restaurants, die entlang des Techno-Boulevards eröffneten –, richteten sich die Werbeslogans nicht an die Wohlhabenden. Wir befanden uns nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, wo Zehntausende sich für die größte Rave-Party des Jahres versammelt haben. Allerdings gab es hier nur wenig Anzeichen für Leben – abgesehen von ein paar Stadtstreichern, die an diesem Freitagabend vorbeiflanierten.

Als ich May 1988 zum ersten Mal interviewte, befand sich Detroit bereits seit Jahrzehnten in einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale. Dennoch war es mit einer Bevölkerung von ungefähr einer Million Menschen immer noch die siebtgrößte Stadt der USA. „Seventh City Techno“ lautete sogar die Überschrift der ersten großen Reportage über Techno, einem bahnbrechenden Artikel von Stuart Cosgrove, erschienen in der britischen Jugendkultur-Zeitschrift The Face. „Zehn Jahre nachdem Motown in wärmere Gefilde weitergezogen ist, bewegt sich die Motor City zu einem Beat, der eher aus Henry Fords Fabriken denn aus Berry Gordys Träumen entsprungen zu sein scheint“, versprachen die einleitenden Worte. „Techno ist der Sound des jungen Detroits: maschinell und von Verzweiflung getrieben.“ May belieferte Cosgrove für seinen Artikel mit seinem berühmtesten Zitat und beschrieb Techno als Sound, der klang „wie Kraftwerk und George Clinton, die in einem Fahrstuhl feststeckten – und nur ein Sequenzer leistet ihnen dabei Gesellschaft“.17

Seit fast 25 Jahren konnte sich Detroit nicht mehr als Amerikas siebtgrößte Stadt bezeichnen. Vielmehr war es aus den Top-20 der größten US-Städte gepurzelt. Die Bevölkerung umfasste nicht einmal mehr 700.000 Menschen, was ungefähr jener Einwohnerzahl entsprach, die Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Beginn des Automobil-Booms, die Stadt bevölkert hatte. Allein zwischen 2000 und 2010 war die Einwohnerzahl um unglaubliche 25 Prozent gesunken – ein wahrer Exodus. Mehr als 80.000 Gebäude standen leer. Es war nicht unbedingt verwunderlich, dass sich die Auswirkungen dieser Abwanderung im Straßenbild bemerkbar machten. Das Fehlen von Menschen vermittelte ein unheimliches Gefühl – als ob eine Epidemie oder ein gewaltsamer Konflikt die Menschen dahingerafft hatte. Der urbane Verfall hat eine bizarre Landschaft erschaffen, in der sich erblühende Enklaven bourgeoiser Beschaulichkeit an heruntergekommene Häuserblocks schmiegen, wo ausgebrannte Wohnungen ins Auge stechen und verfallende Fabrikgebäude inmitten eines Niemandslands thronen. „Detroit vermittelt einem das Gefühl eines Ground Zeros für … na, was denn eigentlich?“, fragte Autor Mark Binelli in seinem Buch über seine Heimatstadt. „Das Ende des amerikanischen Traums? Oder den Anfang von etwas anderem?“18

Detroit wurde 2013 tatsächlich für insolvent erklärt, der größte Bankrott einer Stadt in der Geschichte der USA. Der Titel eines ungefähr zur gleichen Zeit von Underground Resistance veröffentlichten Tracks stellte eine berechtigte Frage: „Has God Left This City?“

Die Unterhaltung, die wir an diesem Abend im Transmat führten, drehte sich um die aktuelle Einwohnerzahl und darüber, dass der Detroiter Polizeichef James Craig, ein Cousin Carl Craigs, den von Kriminalität heimgesuchten Bewohnern der Stadt gerade in der Verbandszeitschrift der National Rifle Association hatte ausrichten lassen, sich besser zu bewaffnen. „Die Leute können sich kaum vorstellen, dass ich immer noch hier wohne. Sie fragen mich, warum ich immer noch in Detroit bin“, erklärt May. „Aber ich bin glücklich. Ich habe alles, was ich brauche. Außerdem kann ich ja mit dem Flugzeug überall hin, wohin es mich gerade zieht. Warum sollte ich also abhauen?“

Zudem war rund um die Jahrtausendwende etwas Seltsames passiert. Nachdem ihre verhärmte Stadtlandschaft von Fotografen wie Camilo José Vergara und Websites wie The Fabulous Ruins of Detroit in all ihrer heruntergekommenen Pracht verewigt worden war, hatte sich die Stadt zu einer Touristenattraktion bei Fans von sogenanntem ruin porn entwickelt. „Die Besucher kommen, um eine Stadt zu erleben, die aussieht wie das Set eines Katastrophenfilms“, sagte May. „Sie besichtigen die Ruinen, in denen wir nach wie vor wohnen.“

Detroit war jener Ort, an dem sich die Flutwelle des Autokapitalismus im 20. Jahrhundert gebrochen und anschließend wieder zurückgezogen hatte. Hinterlassen hatte sie dabei eine urbane Schutthalde, die tatsächlich mitunter so aussah, als hätte hier ein Tsunami gewütet. Dies leistete unweigerlich einen Beitrag zur Mystik rund um Techno und verstärkte die pervertierte Romantik, die dessen europäische Bewunderer so in ihren Bann zog. „In Bezug auf Detroit gibt es in Europa diese Blade-Runner-Fantasie, bei der sich wunderbare Musik aus den Betonruinen erhebt“, sagt Alan Oldham. Eine Musik, die einem die Flucht in den Kosmos oder hinunter in die Tiefen des Meeres ermöglicht, erfüllt von apokalyptischen Visionen aus einer Welt, über die die ewige Nacht hereingebrochen war, voller zorniger Lärmausbrüche, mit denen ein Aufstand gegen einen brutalen Unterdrücker untermalt werden konnte.

Doch gab es nun noch etwas anderes, das in Detroit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte: städtisches Farmland und Gemeinschaftsgärten auf verlassenen Grundstücken, auf denen einst Häuser gestanden hatten. Neue Bewohner waren eingezogen. Bohemiens und unerschrockene Künstler, die die Landschaft für sich in Beschlag nahmen, als ob die Motor City das neue amerikanische Grenzland darstellte. Nicht nur die niedrigen Mieten und die Freiräume, die zum Experimentieren einluden, lockten die jungen Kreativen an, sondern auch die progressive Aura, die zum Entstehungsprozess von Techno beigetragen hatte. „Detroit ist ein Paradebeispiel für das, was die Propaganda bezüglich der Vereinigten Staaten gerne verkündet. Du hast die Freiheit zu tun, was du willst – und du kannst es zu deinen eigenen Bedingungen tun“, betonte Carl Craig. Ein Hochglanzmagazin, das ich am Flughafen kaufte, verkündete sogar, dass die Stadt „Amerikas großartigste Comeback-City“ wäre. „Tausende dieser neuen Siedler kommen hierher. Vielleicht, bloß vielleicht, bleiben ja ein paar von ihnen hier und tragen dazu bei, eine neue kreative Kaste zu bilden, die dabei behilflich ist, die Stadt wiederaufzubauen“, mutmaßte May.

Ein Symbol der erhofften kreativen Revitalisierung war das Heidelberg Project – eine Fläche, die ungefähr zwei Häuserblocks entsprach und vom Detroiter Künstler Tyree Guyton als surreales urbanes Stückwerk neu imaginiert wurde: Häuser, Bäume und alte Autos, die mit einem wilden Wirrwarr hausgemachter Holzuhren, abgelegter Kinderspielsachen, einzelner Schuhe und allerlei Haushaltsgegenständen verziert waren, die Guyton gesammelt hatte, um ihnen auf diese Weise einen neuen Sinn zu verleihen. Tatsächlich handelte es sich bei ihm um einen alten Freund Derrick Mays, der seine Kunst in mancherlei Hinsicht auf dieselbe Weise verstand, als alchemistischen Akt, bei dem Verfall in Schönheit umgewandelt wurde. „Es ist Magie – so wie das, was Derrick macht. Es geht darum, anzunehmen, was einem das Leben hat zukommen lassen, um dann etwas Besseres damit zu machen. Kunst funktioniert als Medizin, so wie auch Musik. Es hilft einem dabei, klar zu sehen“, erklärt Guyton. „Derrick hob die Musik auf eine neue Ebene. Ich mache das Gleiche mit Kunst und hebe sie auf eine neue Bewusstseinsebene. Ich verwende die Kunst, um Umgebungen zu transformieren – und auch Menschen.“

Unabhängige Kunstprojekte, städtische Farminitiativen auf verlassenen Grundstücken und hippe Restaurants wie das vielsagend benannte Craft Work erzeugten jede Menge Medieninteresse, obwohl sich einige Anwohner verständlicherweise skeptisch zeigten, wie viel ein paar enthusiastische weiße Bohemiens zu retten imstande wären. Immerhin war das mehrheitlich schwarze Detroit immer noch die ärmste Großstadt der USA und benötigte eine umfassende finanzielle Wiederbelebung. „Es heißt, Kunst und Kultur würden die Stadt retten können, doch ich sehe das sehr skeptisch“, sagte Mike Banks, während er seinen Blick von der hinteren Veranda des Underground-Resistance-Gebäudes aus über ein Grundstück schweifen ließ, das von postindustriellen Pilgern bestellt wird. „In den Problemvierteln hast du drei Möglichkeiten, wenn du ausbrechen willst. Du kannst dich dem Sport widmen, du kannst in der Fabrik arbeiten, wenn sie gerade ein paar Autos verkaufen, und du kannst dich dem Militär anschließen. Wir sind hier ja so was von gefickt. Der Kapitalismus frisst der Demokratie den Arsch ab.“

Und dennoch stellte sich immer noch die Frage, ob die Stadt – vielleicht, nur vielleicht – wieder von einem Aufschwung erfasst werden könnte. „Wer weiß das schon? In Detroit sind schon verrücktere Dinge passiert“, sinnierte Mark Binelli 2013. Es ist ein so durchgeknallter Ort, dass die wildesten Experimente, Ideen, die in keiner funktionierenden Stadt jemals ernst genommen würden, hier vielleicht eine Chance hätten.“19

Jeder, der während des Movement-Festivals im Mai 2014 rund um die Hart Plaza abhing, konnte sich eventuell weismachen, dass diese Art von Optimismus nicht fehl am Platze war. Vielleicht, ja nur vielleicht … Wenigstens ein Wochenende lang war Downtown Detroit zum Leben erwacht. Immerhin machten die Kinder des Transmat, des Metroplex, des KMS, von UR und Submerge sowie Carl Craigs Planet E und all die anderen ihre Aufwartung. Die Straßen der Innenstadt waren voller Technoheads: obsessive Electronic-Music-Fans in kultigen T-Shirts mit Plattenlabel-Motiven, jugendliche „Candy Raver“ in farbenprächtigen Cyber-Outfits, mit kindischen Rucksäcken und fluffigen Moonboots ausstaffiert, Hipster mit akribisch gestylten Bärten, aufgepumpte Sportskanonen in Shorts und geschmeidige Disco-Queens in Hotpants sowie gewöhnliche Männer und Frauen jeglicher Hautfarbe, die Techno schon immer geliebt hatten – und immer lieben werden. Ein paar Ausgeflippte waren sogar kostümiert erschienen. Da fanden sich etwa ein Captain America und ein Mann, der sich als Sternenbanner verkleidet hatte, sowie ein wunderlicher Kleinwüchsiger, der von Kopf bis Fuß in einem purpurnen Bodystocking steckte, was ihm die Optik eines Zeichentrick-Kobolds verlieh. Außerdem präsentierte sich ein Mädchen nur in Höschen und BH, dafür aber mit chirurgischen Bandagen, die ihr ganzes Gesicht verhüllten.

Techno war selbstverständlich omnipräsent an diesem Wochenende: überall in der Innenstadt und nicht nur auf dem Festival, sondern auch bei Afterpartys, Symposien, Vorträgen, spontanen Raves, die mithilfe tragbarer Soundsystem auf Gehwegen initiiert wurden, in Plattenläden, im Rahmen von Internet-Broadcasts und zufälligen Begegnungen von Gleichgesinnten aus allen Ecken der USA und auch darüber hinaus. Sogar ein ältlicher frommer Prediger hatte Lautsprecher auf dem Bürgersteig postiert und bolzte nun Hard Trance, während er dazu bizarre atonale Riffs auf seinem Keyboard improvisierte. Neben seinem Kommandostand ermahnte ein Plakat die Passanten: „Gebt euer Herz Jesus.“

In einer Reihe von Verkaufsständen wurde eine Auswahl von T-Shirts mit Slogans und Motiven feilgeboten, die die Loyalität der Partygäste zur Stadt, ihrem Stamm und den Drogen zum Ausdruck bringen sollten: „Detroit Hustles Harder“, ein Siebdruckporträt von Frankie Knuckles mitsamt dem Motto „Frankie Forever“, eine Karikatur eines Aliens, der sich gerade ein paar bunte Pillen gönnte.

Am Flussufer hypnotisierte der Berliner DJ Dixon (bürgerlich: Steffen Berkhahn) die Hörerschaft mit seinem brummend-dröhnenden Sound und Tönen, die sich wanden und dahinschlängelten und miteinander harmonierten wie die tiefen Register einer Kirchenorgel, während sie von einem voluminösen Dub-Bass untermalt wurden. Schwaden von Marihuana-Rauch stiegen von der nahegelegenen Jungle-Stage auf, während ein paar junge Tänzer mit hyperkinetischer Beinarbeit zu bestechen wussten, Crusties in Kampfstiefeln durch die Gegend hoppelten und Männer mittleren Alters um einen mit aufwendigen Schnitzarbeiten verzierten Holzstab zappelten.

Doch der harte Kern der Techno-Aficionados hatte sich vor der „Made in Detroit“-Stage versammelt. Dort hatten sich die urbanen Bohemiens in Tanzzirkeln arrangiert, um zu den Grooves lokaler Legenden wie Mike Huckaby, Delano Smith, Terrence Dixon, Kenny Larkin und Stacey Pullen ihre anmutigen Moves der Öffentlichkeit zu präsentieren. Allein schon die Energie und der Elan, den die jüngere Generation lokaler DJs im Verlauf des Wochenendes auf die Bühne brachte, ließ erahnen, dass Techno der Marke Detroit als Genre noch längst nicht zum alten Nostalgie-Eisen zählte und ausschließlich von seiner ruhmreichen Vergangenheit zehrte.

Dennoch war es ein Mann aus der Frühphase des Hi-Tech Soul, ein Produzent, der schon auf jener Techno-Compilation von 1988 vertreten war, der allen anderen die Show stahl. Anthony „Shake“ Shakir, der an multipler Sklerose litt und dem Publikum von seinem Rollstuhl aus einheizte. Er vermengte Old-School-Techno mit „Wheel Me Out“ von Was (Not Was) aus Detroit, bevor er Derrick Mays „Strings of Life“ droppte und damit Detroiter sämtlicher Ethnien, Teenager wie Menschen mittleren Alters, Jungs mit Afros ebenso wie Männer mit ergrauten Schläfen, in einem transzendentalen Augenblick gemeinschaftlicher Ekstase in die Höhe springen ließ. Shakir kratzte die Kurve mit einem erstaunlichen, überaus virtuos vorgetragenen Mix, bei dem er zehn Minuten lang hin und her switchte und malende Beats aufeinanderprallen ließ, bevor er wieder in den Groove zurückfand, bei dem der Rhythmus sich von avantgardistischer Percussion über pulsierenden Eurobeat bis hin zu Disco-Tollerei transformierte. Während er weiterhin sein Ding durchzog, schwang eine große Rothaarige in Cowgirl-Jeans einen Hula-Reifen um ihren Körper. Sie wand und drehte sich, von himmlischer Euphorie ergriffen.

Am Sonntagabend nach dem Festival trat Derrick May im White House in der nahegelegenen Shelby Street auf. Selbst in seinen frühen Fünfzigern noch so dynamisch wie eh und je, rackerte May am DJ-Pult hoch über dem Floor. Die Hi-Hats zischten wie gläserne Regentropfen, die von der Decke herabzuprasseln schienen, und Synthie-Wellen breiteten sich aus wie reinste MDMA-Dosierungen.

Das erste Detroit Electronic Music Festival, der Vorgänger vom Movement, fand im Jahr 2000 statt, nachdem die Polizei gegen illegale Raves vorgegangen war. Das von May initiierte und von Carl Craig gebuchte Festival war als großes Techno-Homecoming geplant. „Diese Musik hat die ganze Welt erobert. Nun erobern wir Detroit“, erklärte Craig im unveröffentlichten Dokumentarfilm The Drive Home über das Ereignis.

Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die Stadt ihren wichtigsten musikalischen Export seit Motown im großen Stil präsentieren musste, wie mir Craig erzählte: „Das Festival war als Statement gegenüber der Community gedacht, da Techno hier unterschätzt und zu wenig respektiert wurde. Wir fragten uns, warum das überall sonst möglich ist, aber nicht hier?“

Das liegt daran, dass Techno im Ausland stets angesagter war als in den USA. Trotz des Aufstiegs von EDM, Amerikas eigener verwässerter, aufgeplusterter und hetero-freundlicher Variante elektronischer Tanzmusik, die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts regen Zulauf verzeichnet, gelten Leute wie May, Atkins, Saunderson, Craig und all die anderen zwar in den Augen vieler Europäer als echte kulturelle Pioniere, werden in ihrem Heimatland aber immer noch eher als Randfiguren wahrgenommen. Frankreich etwa zeichnete Jeff Mills 2017 für seinen Beitrag zur Bereicherung der französischen Kultur mit dem prestigeträchtigen Orden der Kunst und der Literatur aus. Doch als er einmal gefragt wurde, ob er mit seinem neuesten Projekt durch die USA touren würde, antwortete er traurig: „Amerika interessiert sich einfach nicht für das, was ich tue – und das war eigentlich schon immer so.“20

Ich fragte Robert Hood, wie er die Sache sah. „Die Nordamerikaner haben doch keinen blassen Schimmer, woher diese Musik stammt. Hier glauben alle, sie kommt aus Europa“, winkte er ähnlich resigniert ab. „Rasse spielt dabei eine Rolle. Im Verlauf der Zeit hat sich die Tendenz herauskristallisiert, schwarze Kunst und die Errungenschaften schwarzer Innovatoren abzuqualifizieren und zu belächeln. Doch die Frage, die sich nun stellt, lautet: Was wollen wir dagegen unternehmen? Wollen wir uns auflehnen und weiterkämpfen – oder sollen wir uns zurücklehnen und die Situation, so wie sie ist, einfach zur Kenntnis nehmen? Ich denke, dass wir aufstehen und uns zu Wort melden müssen. Wir dürfen uns nicht länger mit dem Platz hinten im Bus zufriedengeben.“

Sogar Ghetto Tech – jener unflätig krakeelende ortsansässige Verwandte von Miami Bass und Chicagoer Juke, der sich auch von Cybotron und frühem Electro hatte beeinflussen lassen und für den DJ Aussaults Track „Ass N Titties“ von 1996 (Textauszug: „Ass. Titties. Ass and titties. Ass ass ass ass ass and titties“) als Paradebeispiel gilt – schien in der City nicht weniger populär zu sein als klassischer Old-School-Techno. Auf dem Weg zum Movement Festival vibrierte und schnarrte die Karosserie des Taxis zu tiefergelegten, mit dem Arsch zuckenden Ghetto-Tech-Bassläufen und vulgären Tiraden testosterongesteuerter MCs, die sich aus dem Autoradio in den Innenraum des Wagens ergossen. „Do you want to fuck?“, fragt einer von ihnen rüde – als ob er noch einen Termin hätte und rasch zur Sache kommen müsste, um nicht in Zeitnot zu geraten. „Dirty fucker“, knurrt ein anderer. „Jump on this dick!“

Außerhalb der USA wurden Detroiter Techno-DJs – von Veteranen der alten Schule wie dem über 50 Jahre alten Delano Smith bis hin zu neuen Talenten wie dem noch nicht 30-jährigen Kyle Hall – immer noch frenetisch abgefeiert, ganz egal, wo auf der Welt sie gerade auftraten. Und trotz seines „Ruhestands“ bezüglich neuer Studioaufnahmen hatte sich Derrick Mays Backkatalog auch weiterhin als reichhaltiger Quell großer Freude erwiesen, auf den er immer noch gerne zurückgriff. 2014 begab er sich zusammen mit den mazedonischen Philharmonikern auf eine Tournee, in deren Rahmen er orchestrale Versionen seiner Transmat-Klassiker zum Besten gab. Jeff Mills brachte ein ähnliches Projekt mit den Philharmonikern aus Montpellier an den Start. Obwohl dieser musikalische Transfer von den Clubs in die Konzerthallen so gewirkt haben mag, als ob der Detroiter Techno sein Dancefloor-Mojo gegen hochkulturelle Anerkennung eingetauscht hätte, brachte die Stadt nach wie vor bahnbrechende Akteure hervor, die fortlaufend neu definierten, was diese Musik alles sein konnte.

Randvoll beladen mit Detroiter Mythologie, schafften es der funkige Minimalismus und die pervertierten Disco-Schnitttechniken des in Chicago aufgewachsenen Theo Parrish, der spätabendliche, halbseidene Groove eines Moodymann, die ungezähmte Anrüchigkeit und die durchgeknallte Psychedelia eines Omar S sowie die schrägen Epen Stacey Pullens alle, dem Genre im Verlauf der Jahrzehnte neue faszinierende Formen zu verpassen. Hier handelte es sich außerdem um einen Haufen eigensinniger Nonkonformisten, die, ganz in der freiheitsliebenden Tradition der Stadt, ihre Musik in der Regel lieber auf ihren eigenen Labeln veröffentlichten, um jegliche Einmischung von außen zu vermeiden. Auch Interviews, in denen sie sich selbst erklärten, blieben Mangelware – doch sobald sie einmal sprachen, gaben sie sich oft so direkt wie etwa Mad Mike Banks. Die meisten von ihnen galten als resolute Verfechter ihrer Heimatstadt. „Detroit ist eine sterbende Stadt, aber ich werde mit diesem Motherfucker zusammen draufgehen“, insistierte Moodymann alias Kenny Dixon Jr. „Ohne Detroit wäre ich nämlich nicht der Motherfucker, der ich heute bin. Ich lasse mein Baby also nicht im Stich, sondern bleibe hier.“21

Einer der Jüngsten unter ihnen, Kyle Hall, erblickte 1991 – dem Jahr, in dem „Riot“ von UR erschien – das Licht der Welt. Seit seiner Pubertät bediente sich Hall schon bei Elementen von House und Techno, um ihnen neue, originelle Formen zu verleihen. Das war noch bevor er je einen Rave besucht hatte. Als er endlich alt genug war, um Einlass zu finden, lag die Detroiter Szene ihm bereits zu Füßen. „Der ganze ‚War on Drugs‘ hat die Clubkultur praktisch gekillt. Deshalb hatte meine Generation kaum Gelegenheit, diese Erfahrung zu machen“, erklärt er. „Die Regierung ging so rigoros vor, dass alles mehr oder weniger illegal war, als ich erst mal volljährig war.“ Sein erstes Album The Boat Party erschien 2013 und steckte in einem markant spöttischen Cover, das Hall zeigte, wie er auf einem Motorboot saß, das inmitten einer desolaten, verschneiten urbanen Wüste gestrandet schien. Das Foto wirkte wie eine beabsichtigte Umkehrung des Playboy-Images à la Duran Duran, das DJs vermittelten, die auf Eintagesausflügen im Mittelmeer und der Adria den Ton angaben – ein Seitenhieb auf den in seinen Augen so dekadenten Mainstream. „Damals gab es in Europa, in Kroatien und so, viele Partys auf Booten, wo DJs auftraten“, erzählt Hall. „Es war, als ob sich Dance-Music zu einem Luxusartikel entwickelte, zu einer elitären Aktivität, aber gleichzeitig wurden DJs engagiert, die mit Benachteiligung und Rassismus zu kämpfen hatten und aus entrechteten Städten stammten. Diese Typen wurden angeheuert, damit sie einer bestimmten Klientel dienten, von denen wiederum keiner wirklich mit diesen Problemen vertraut war. Sie befanden sich in einer privilegierten Position. Deshalb sah ich darin ein ironisches Statement: Hier habt ihr eure Bootsparty!“

Noch als Teenager fand Hall in Omar S einen Mentor, der seine frühen Tracks auf seinem Label FXHE herausbrachte. Außerdem kooperierte er mit dem Techno-Pionier Anthony Shakir, der einer Generation entstammte, die doppelt so alt wie er war. Doch betont er auch, dass er sich nicht durch die ästhetischen Parameter des Detroiter Erbes einschränken lassen möchte: „Jeder, der sich über seine Herkunft Gedanken macht, empfindet Stolz darüber, was er ist – ein Gefühl der Orientierung. Allerdings kann sich das nicht nur motivierend, sondern auch beschränkend auswirken.“

Eins der Ideale, das er sich voll und ganz aneignete, war Detroits Tradition der Autarkie. So wie viele andere Produzenten aus der Stadt – angefangen bei Atkins (Metroplex), May (Transmat) und Saunderson (KMS) in den späten Achtzigern – gründete er mit Wild Oats sein eigenes Label, auf dem er seine Musik auf die Art und Weise veröffentlichen wollte, die ihm richtig erschien. „In Detroit hat immer schon ein besonderer Unternehmergeist unter den Schwarzen geherrscht“, erklärt er. „Dass dort keine Leute für dich da sind, um Dinge zu erledigen, fördert eine andere Art von Mentalität. Wenn man will, dass etwas erledigt wird, muss man sich eben selbst darum kümmern.“

„Es gibt ein Detroit, das man nicht in den Nachrichten zu sehen bekommt.“

John Collins, Underground Resistance

Die Premiere des Detroit Electronic Music Festival im Jahr 2000 sollte dem Ziel dienen, dieser Art von Musik in ihrer Heimatstadt eine Plattform zu bieten, erinnert sich Rita Sayegh, die zu den Filmemachern zählt, die an jenem unveröffentlichten Dokumentarfilm über diese Veranstaltung, The Drive Home, arbeiteten. „Als das Festival anfing, Gestalt anzunehmen, begriffen wir, was dies für ein großer Augenblick für Detroit und Techno wäre“, erzählt Sayegh, die als Designerin auch schon Craig, Hawtin und Mills mit Artwork versorgt hat.

„Nachdem die Stadt den Lagerhallen-Partys einen Riegel vorschob, alle Leute dingfest machte und quasi einen Schlussstrich zog, gab es eine Zeitlang keinen Ort, an dem man etwas hätte unternehmen können“, wirft Timothy Aten ein, der ebenfalls als Filmemacher bei besagtem Projekt involviert war. „Das Festival ermöglichte ihnen daher, endlich wieder zusammenzukommen und die Musik zu feiern, draußen unter freiem Himmel.“

„Es war überwältigend“, sagt Sayegh. „Als das Festival stattfand, herrschte ein Gefühl der Verbundenheit und Nähe – ein so großes, positives Gefühl, basierend auf dieser total idealistischen Vorstellung und angetrieben von dieser kleinen, eingeschworenen Gruppe kreativer Menschen. Und Derrick May hatte einen bestimmten Ausdruck in den Augen – ich bin mir sicher, dass er schon überall auf der Welt aufgetreten ist, aber während seines Auftritts sah er auf und wirkte dabei, als könne er das alles gar nicht glauben. Als könnte er nicht fassen, dass das in Detroit passierte.“

Doch die jährliche Veranstaltung bei freiem Eintritt, um deren Programm sich später May kümmerte, bevor ihn wiederum Saunderson beerbte, stand stets an der Kippe zum finanziellen Kollaps. Einmal musste May zehntausende Dollar aus seiner eigenen Tasche investieren, um den finanziellen Engpass zu kompensieren, der dadurch entstanden war, dass die Stadtverwaltung dem Festival ihre Unterstützung entzog. Daraufhin mussten einige Kreditgeber mehrere Monate lang auf ihr Geld warten und drohten zornig damit, ihn zu verklagen. Er wandte sich sogar an die Festivalbesucher, damit sie ihm zusätzlich ein wenig Kohle spendierten, um die Party am Laufen zu halten.

„Die Stadt hat mir kein Geld gegeben und ich durfte keinen Eintritt verlangen“, erinnert sich May. „Das Festival war in vollem Gange, als ich realisierte, dass ich nicht genug Geld hatte, um die Rechnungen zu bezahlen. Also stieg ich mit einem anderen Typen und einer großen Abfalltonne in einen Golfwagen. Wir schrien: ‚Gebt uns euer Geld! Das Festival muss abgebrochen werden, wenn ihr uns kein Geld gebt!‘ Wir sammelten ungefähr 20.000 Dollar. Das reichte zwar nicht aus, aber zumindest spendeten die Leute etwas.“

Letztendlich wurde der dreitägige Event, der fortan Movement heißen sollte, 2006 von einer Gruppe lokaler Veranstalter namens Paxahau übernommen, die schon in den Neunzigern mitgeholfen hatten, Raves in der Packard Plant zu organisieren. Paxahau stellte die Organisation auf professionelle Füße und fing an, Eintritt zu verlangen, womit das Überleben der Veranstaltung als großes US-Festival gesichert wurde. Doch als echte Techno-Jünger gaben sie sich auch Mühe, sicherzustellen, dass das Programm seine Underground-Credibility beibehielt.

„Wir sind aufrichtig überzeugt davon, dass wir als historische Fackelträger dieser Musik an jenem Ort agieren, wo sie ursprünglich entstanden ist“, klärte mich Sam Fotias, der operative Leiter von Paxahau, vor dem Festival im Jahr 2014 auf. „Es führt kein Weg daran vorbei, dass diese Stadt auch weiterhin ein Aushängeschild für diese Musik bleibt. Da ich ein Teil des echten Undergrounds und in der Lage war, mich mit dieser Gegenkultur zu identifizieren, sind uns diese Ideale und Prinzipien auch heute noch ein Anliegen. Tatsächlich haben sie für uns eine größere Bedeutung als alles Geld der Welt.“

Als Kraftwerk 2016 als Headliner bei Movement auftraten, war es wie eine Heimkehr, was auch der in Detroit aufgewachsenen Journalistin Tamara Warren, die schon beim ersten Festival auf der Hart Plaza 16 Jahre zuvor dabei gewesen war, nicht entging. „Als der Beat zu ‚Trans-Europe Express‘ einsetzte, zitterte ich“, schrieb sie. „Auf dem Bildschirm konnte man sehen, wie eine Projektion einer fliegenden Untertasse auf unserem Techno-Boulevard landete. Für Detroit – und jeden, der sich für die Geschichte authentischer elektronischer Musik interessiert – schloss sich in diesem Moment ein Kreis.“22

Doch wie Warren ebenfalls notierte, spiegelte das vorwiegend weiße Publikum unweigerlich die zunehmend größer werdenden ethnischen und wirtschaftlichen Klüfte der Stadt wieder, in der 40 Prozent der großteils schwarzen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Für diejenigen, die der Ansicht waren, dass das Festival etwas von seinem Geist eingebüßt hatte, als letztlich doch Eintritt verlangt wurde und neugierige Mitbürger aller Alters- und Einkommensklassen nicht länger einfach so vorbeischneien konnten, um sich selbst ein Bild von Techno zu machen, gab es nach wie vor billigere Alternativen wie das preisgünstige Charivari Festival oder das völlig kostenlose, für Einheimische konzipierte TecTroit, das fünf Jahre lang existierte, bevor es schließlich ebenfalls finanziell ins Trudeln geriet.

Außerdem gab es noch das Backpack Festival, das John Collins von Underground Resistance zu veranstalten half. Bei diesem Dance-Music-Benefiz spendeten die Besucher Rucksäcke gefüllt mit Schulsachen, die im Anschluss daran an bedürftige Kinder verteilt wurden. „Das passt zur Philosophie von Underground Resistance“, erklärt Collins. „Die Initiatorin heißt Judy Shelton, die zu unserer Szene hier gehört. Sie hat gesehen, wie Kids zur Schule gingen und ihre Bücher in Papiertüten trugen. Mitten im Winter. Sie hatten nicht einmal Schultaschen. Die Underground-Techno-Szene unterstützte uns und Derrick May war unser erster Sponsor. Alle sind sie hier aufgetreten – Juan, Kevin, Eddie Fowlkes. Und sie alle haben es umsonst getan. Wenn man aus den Problemvierteln stammt und später erfolgreich wird, muss man der Stadt auch etwas zurückgeben und die Leute inspirieren, damit sie wissen: Hier kommen wir her. Ich habe früher nichts gehabt und ich habe es so weit geschafft – und ihr könnt das auch.“

Idealistischer Aktivismus ist ein wenig bekannter, aber dennoch signifikanter Aspekt der Detroiter Techno-Szene. In dem kleinen Zirkel von Produzenten und DJs, die es vorgezogen hatten, in der Stadt wohnen zu bleiben, schien sich ein aufrichtiges Gemeinschaftsgefühl entwickelt zu haben. Trotz all der bitteren und entzweienden Dispute persönlicher Natur, die sich einer kleinen Szene nun einmal unweigerlich abspielen, herrschte immer noch tiefempfundene Empathie gegenüber jenen vor, die inmitten dieser sehr amerikanischen urbanen Kernschmelze am meisten leiden mussten. Ihr Mitgefühl inspirierte sie, etwas dazu beizutragen, die Stadt zu einem besseren Ort zu machen – oder zumindest das kulturelle Leben dort zu erhalten, damit man mit Stolz von sich behaupten konnte: Ich stamme aus Detroit. Die Stadt ist bankrott? Na und! Wir werden unsere Schwierigkeiten nicht nur überleben, wir werden sie auch bravourös bewältigen! „Die Dinge mussten sich ändern, und das passiert jetzt auch. Man kann es spüren, man kann es sehen“, behauptet Collins. „Nachdem Detroit ganz unten angekommen war, gab es nur noch einen Weg – nach oben!“ Und er stand nicht allein da, an diesem Wochenende in Detroit.

In einem downtown gelegenen Café, das sie für einen Abend in Beschlag genommen hatten, um dort ihre wöchentlich im Internet übertragene Radioshow aufzuzeichnen, erklären mir Tom Linder (alias T. Linder) und Bill Stay (DJ Seoul) von Detroit Techno Militia, dass sich ihre Stadt zwar zu einem sozialen Experiment in Bezug auf postindustrielles Überleben entwickelt hätte, aber dass sie auch an ein mögliches Revival der Metropole glaubten. Musik – vielleicht sogar Techno – könnte dabei eine Rolle spielen, sie wiederzubeleben. Vielleicht, nur vielleicht …

„Es gibt eine Geisteshaltung, die Menschen das Beste aus dem Mist machen lässt, der ihnen gerade zur Verfügung steht. Wir hoffen, dass wir uns so wie Berlin nach dem Mauerfall auch wieder erholen können“, erklärte mir Linder, während nahezu geräuschlos Land Cruiser auf der halb verlassenen Straße vor dem Café vorbeifuhren.

„Man sagt uns, dass es vorbei ist. Es heißt, Detroit hätte keine Zukunft – also müssen wir diese Zukunft selbst gestalten“, betonte Stacy, während Schatten sein Gesicht einrahmten, geworfen von sich ringsum auftürmenden Blocks, erbaut von Firmenmagnaten einer florierenden Metropole, die so nicht mehr existiert. „So oder so ist das hier meine Stadt – und ich bleibe hier. Ich werde mich nirgendwohin verziehen und ich werde zum Wachstum dieser Stadt beitragen. Die Seele, die es hier gibt, wird niemals sterben.“ Daraufhin verwies er auf Detroits lateinisches Stadtmotto: Speramus meliora, resurget cineribus. In etwa: „Wir hoffen auf eine bessere Zukunft, die sich aus der Asche erhebt.“

Rave On

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