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Bruchlandung im ewigen Eis

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In der Welt gibt es bloß

einen großen Gegenstand,

der unserer Anstrengungen wert ist:

das Wohl der Menschheit.

Albert Schweitzer

Andreas, der Zweite Copilot, erschrak, als Walter ihm von hinten auf die Schulter klopfte. „Guten Morgen!“

„Was?“ Er starrte seinen Ersten Offizier mit offenem Mund an.

„Du warst doch nicht etwa tatsächlich eingenickt?“

„Blödsinn.“ Andreas verschränkte die Hände im Nacken und streckte sich. „Alles in Ordnung. War nur in Gedanken.“

Walter musste lächeln. „Da war ich gerade mal fünf Minuten weg, vier, um genau zu sein …“

„Ich hab nicht geschlafen!“

Walter hob beschwichtigend die Hände. „Hab ich das behauptet?“

Andreas runzelte die Brauen und sog die Luft geräuschvoll ein. Sein Partner kannte dieses Gebaren und kam ihm zuvor: „Alles klar. Keine weiteren Fragen mehr.“

Der Zweite schälte sich, demonstrativ stöhnend, aus dem Pilotensitz. „Hat der Doc Kaffee gemacht?“

„Ich denke schon.“

„Denkst du es oder weißt du es?“

„Er hat Kaffee gemacht. Bringst du mir einen mit?“

„Muss ich mir noch sehr überlegen“, brummte Andreas. „Hättest ja deinen Toilettengang gleich damit verbinden können.“

„Du hast mich erst jetzt auf die Idee gebracht.“

Andreas verließ murrend das Cockpit.

Kopfschüttelnd überflog Walter die Instrumente, während er auf dem Sitz des Copiloten Platz nahm. Typisch Andy. Immer „gut“ gelaunt. Doch er kannte ihn zur Genüge, um zu wissen, dass er es nicht so meinte.

Walter atmete tief durch. Wenn alles glatt ging – und warum sollte es das nicht? –, würden sie in etwa anderthalb Stunden am Bestimmungsort, der erst vor einigen Jahren errichteten Polarstation EUROPANIA, eintreffen. Er lehnte sich beruhigt zurück. Die Daten des Flugverlaufs stimmten mit den Sollwerten überein. Kurz vor der Landung, in einer halben Stunde etwa, wollte der Kapitän wieder übernehmen.

Eigentlich war es fast schon ein Routineflug. Sie hatten diese Versorgungsflüge schon oft unternommen. Und immer mit ihrem vertrauten Jumbojet: einer Frachtmaschine des Typs Boeing 747-200F, für die neben der Forschungsstation ein riesiger Hangar errichtet und eine entsprechend lange Eispiste angelegt worden waren. Letztere wurde unmittelbar vor Ab- und Anflug präpariert, damit sie mit normalem Fahrwerk starten und landen konnten. Auch diesmal hatte die alte Lady, wie sie die Maschine ihres betagten Alters wegen liebevoll nannten – sie hatte immerhin achtzehn Jahre auf dem Buckel –, wieder Ausrüstungsgegenstände, Geräte, Lebensmittel und eine Vielzahl anderer Dinge geladen, die für eine Polarstation unentbehrlich waren.

Von Frankfurt am Main bis zur Forschungsstation auf der Antarktis waren es etwa sechzehntausend Kilometer, die nicht im Non-Stopp-Flug bewältigen werden konnten, weshalb zum Auftanken in Kapstadt zwischengelandet werden musste.

Walter blieb nur eine Sekunde, sich über den plötzlichen Ausfall des Autopiloten und den Warnton zu wundern, dann blendete ein gleißender Blitz seine Augen, und alles um ihn herum erstrahlte in grellgrünem Licht. Im gleichen Moment brach die Maschine nach links aus und beschrieb einen weiten Bogen. Sofort trat er in die Ruderpedale, griff zum Steuerhorn, zog sie auf ihren alten Kurs. Gleich darauf war der Spuk vorüber. Die Maschine ließ sich ohne Probleme steuern und auch der Autopilot funktionierte, nachdem er den Kippschalter betätigt hatte, wieder einwandfrei.

Sein Blick flog über die Instrumente. Es schien alles in Ordnung zu sein. Er überlegte. Ein Blitzschlag kam angesichts der Wetterlage nicht infrage. Turbulenzen? Unfug, die Symptome passten nicht dazu. Nie zuvor waren diese in Verbindung mit einer solch seltsamen Lichterscheinung aufgetreten. Walter checkte sämtliche Instrumente abermals. Keinerlei Anzeichen für eine Unregelmäßigkeit. Merkwürdig. Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Sollte er den Kapitän rufen? Ach was, der würde sich schon von allein melden oder nach vorn kommen; schließlich konnte ihm das Manöver nicht verborgen geblieben sein.

Kapitän Rainer Langgold hatte selbst drei Jahre lang bei der Luftwaffe schwere Frachtmaschinen geflogen und als ehemaliger Offizier Erfahrungen in Einzelleitung und Menschenführung gesammelt, wenngleich auch Andreas, der ihn gern neckte, ihm insgeheim letztere Fähigkeiten absprach.

Langgold war eine Berliner Pflanze oder besser: ein Berliner Bär, der sich, je nach Gemütslage, auch in einen Elefanten im Porzellanladen verwandeln konnte. Nach außen hin lange Zeit ohne Regung, brodelte es in seinem Innern wie Magma in einem Vulkan. Es bedurfte einiger Menschenkenntnis, sein überwiegend undurchdringliches Minenspiel richtig deuten und entsprechend darauf reagieren zu können. Selten kam es vor, dass er sofort explodierte. In der Regel riss er sich zusammen und fraß, indem er mit den Schneidezähnen des Unterkiefers an der Oberlippe nagte, den Ärger in sich hinein, um dann bei der nächstbesten Gelegenheit Dampf abzulassen.

Er hatte die passende Figur zum Vorgesetzten: groß und kräftig, ja regelrecht muskulös. Sein mittelblondes, äußerst kurz geschnittenes Haar, die buschigen Augenbrauen, sein wulstiger Stiernacken und der leicht vorstehende Unterkiefer verliehen ihm schon rein optisch eine gewisse Rohheit. Letztlich aber – wie so oft bei derartigen Hünen – barg seine raue Schale ein weiches Herz.

Andreas Mehnert, der zweite Copilot, war aus anderem Holz geschnitzt. Er rieb sich gern am Kapitän und gab auch sonst nicht ohne Weiteres klein bei, wenn es galt, Meinungsverschiedenheiten verbal auszutragen. Möglicherweise waren seine privaten Verhältnisse dafür verantwortlich: Als Einziger von ihnen lebte der gebürtige Rheinland-Pfälzer in einer festen Beziehung und war – so behauptete er zumindest – des Öfteren gezwungen, seiner Lebensgefährtin Paroli zu bieten. Die übrigen Mitglieder der Crew kannten seine Angebetete nicht persönlich; gesetzt den Fall, dass er nicht übertrieb, musste es sich bei dieser um eine äußerst dominante Dame handeln. Die bislang kinderlose, wilde Ehe hielt bereits seit Jahren.

Im Gegensatz zum Kapitän gelang es Andreas kaum, Emotionen zu unterdrücken; er musste seinem Ärger Luft machen, ob es nun angebracht schien oder nicht. Zu allem Überfluss konnte er sich nur selten das letzte Wort verkneifen, was regelmäßig zu Spannungen führte. Dass er mit diesen Eigenschaften, die einem Unterstellungsverhältnis nicht gerade förderlich sein konnten, überhaupt einer Crew angehörte, lag nur daran, dass er im Großen und Ganzen ein guter Pilot war und schlussendlich tat, was von ihm erwartet wurde.

Sebastian Pohl, kurz „Sepp“ genannt, war der Bordingenieur. Abgesehen von seinem Kosenamen hatte er nichts Bayerisches an sich. Er stammte wie Walter aus Sachsen. Die sprichwörtliche sächsische Gemütlichkeit hatte er allerdings nicht gepachtet; er war das, was man landläufig einen „unruhigen Geist“ nannte. Auf seine Tätigkeit an Bord hatte dies seltsamerweise keine negativen Auswirkungen; er war zuverlässig, bescheiden und handelte in Stress-Situationen stets umsichtig und hoch konzentriert. Dass er nebenbei Kugelschreiber zerkaute oder nach und nach die Knöpfe von seiner Uniformbluse drehte, war da zweitrangig.

Walter Ahrends gehörte der Crew von jeher als Erster Offizier an und ging allen zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen tunlichst aus dem Wege. Zugegebenermaßen eine nicht gerade kämpferische Einstellung, doch entschuldigte er seine Zurückhaltung regelmäßig mit der Ausrede, nicht noch Öl ins Feuer gießen oder nur der Form halber Partei ergreifen zu wollen. Im Allgemeinen fuhr er damit ganz gut.

Andreas, Sebastian und Walter waren Mitte Dreißig, der Kapitän knapp zehn Jahre älter, doch spielte dieser Altersunterschied nie eine Rolle.

Auf diesem Flug hatten sie noch einen besonderen Passagier an Bord: den Krankenpfleger Michael Fuchs, welcher auf EUROPANIA für das nächste halbe Jahr im medizinischen Dienst eingesetzt werden würde. Als ehemaligen Klassenkameraden von Sebastians Bruder, welcher ihm infolge weitreichender Beziehungen den Job vermittelt hatte, behandelten sie ihn von vornherein so, als gehöre er zur Crew.

Er stammte aus Thüringen, war Ende Zwanzig, einen Kopf kleiner als der Kapitän, schmächtig und von ruhiger, ausgeglichener Natur. Sie riefen ihn meist nur Micha. Der Kapitän allerdings nannte ihn „Doc“. Anfangs war Michael diese Art der Anrede peinlich, schließlich war er so weit von einer Promotion entfernt wie unser Sonnensystem vom Ort des Urknalls, doch er gewöhnte sich schnell an seinen Spitznamen. Möglicherweise war er ja sogar stolz darauf.

In Ermangelung eines Flugbegleiters, und um sich während des Fluges nützlich zu machen, übernahm er freiwillig die Zubereitung der Speisen und Getränke in der Kombüse. Nichts konnte dem Team lieber sein.

Kaum hatte sich Walter nach dem Instrumenten-Check in den Sitz zurückgelehnt, als die Cockpittür aufgerissen wurde.

„Was war los?“, fragte der Kapitän. „Gab es Turbolenzen oder hattest du ’n anderes Problem?“

„Ich weiß nicht, ob man ’s direkt als Problem bezeichnen kann. Der Autopilot fiel plötzlich aus. Weiß der Teufel, wieso. Ich habe den Kurs manuell korrigiert und dann die Automatik wieder zugeschaltet. Jetzt scheint alles in Ordnung zu sein.“

Von dem seltsamen Blitz sagte Walter nichts. Rainer hätte ihn sofort abgelöst. Einen Piloten mit Halluzinationen – das war so ziemlich das Letzte, das er brauchen konnte.

„Wo ist Andy?“

„Kaffee holen.“

„Ich bleibe hier“, sagte er und setzte sich. „Ist eh nicht mehr lang hin bis zum Landeanflug.“

„Wie du willst.“

„Ihr wisst, dass ich es nicht gern sehe, wenn jemand ohne zwingenden Grund das Cockpit verlässt. Der Doc oder ich hätten euch den Kaffee auch bringen können.“

„Aye, Captain.“

Die nächsten Minuten verstrichen ohne weitere Zwischenfälle.

Wie sehnte sich Walter nach einer Dusche. Und nach der gemütlichen Atmosphäre in einem der kleinen Wohncontainer, in dem sie die wohlverdiente Entspannung fänden. Sie würden diesmal vier Tage auf EUROPANIA bleiben. Eine lange Zeit im Gegensatz zu ihren letzten Besuchen. Sicher hatte sich dort viel verändert. Die für antarktische Verhältnisse riesige Station, auf der während des Sommers mehr als zweihundert Beschäftigte aus mittlerweile sieben Staaten der Europäischen Union tätig waren, expandierte ja noch immer …

Ein unerträgliches Geräusch aus dem Bordfunkgerät riss Walter aus seinen Gedanken. Es rauschte und knackte, dann Stille. Die grüne Leuchtdiode der Bereitschaftsanzeige erlosch.

„Was zum Teufel …“

Rainer nahm das Head-Set ab und klopfte mit den Knöcheln seiner Rechten auf das Chassis.

„Totalausfall. Auf allen Frequenzen. Kein Rauschen, nichts.“

„Rainer?“

„Nicht mal ’n Knacken.“

„Rainer!“

„Was denn?“

„Wir haben keinen Sprit mehr.“

Walter deutete auf die Tankanzeigen. Sie standen auf Null. Während sie darauf starrten, schlugen die Zeiger plötzlich wieder aus, um Sekunden später erneut in den roten Bereich zu wandern.

Der Kapitän schaltete den Bordfunk ein. „Bordingenieur sofort ins Cockpit! Ich wiederhole: Bordingenieur sofort ins Cockpit!“ Rainers Stimme klang belegt. Sie waren unter sich; er hätte Sebastian getrost bei seinem Vornamen rufen können, doch in solchen Fällen handelte der Kapitän stets dienstlich korrekt. Er nahm den Finger vom Knopf der Sprechanlage, wandte sich an seinen Ersten Offizier: „Wollen hoffen, dass nichts Ernstes dahinter steckt. Wir könnten nicht mal ‚Mayday‘ senden, wenn ’s notwendig wäre. Ich meine, ist doch seltsam, dass alle Tanks gleichzeitig betroffen sein sollen, wie? Was meinst du?“

„Ich glaube auch, dass es sich nur um einen Anzeigenfehler handelt. Die optische und akustische Warnung ist immerhin nicht ausgelöst worden.“

„Das klingt ja unwahrscheinlich beruhigend.“

Der Erste, der das Cockpit betrat, war Andreas.

„Käptn, irgendwie riecht es komisch im Treppenaufgang. Wie verschmort.“

„Hast du Sebastian gesehen?“

„Der kommt gleich. Was ist denn eigentlich los?“

„Die Tankanzeigen spinnen. Und das Funkgerät ist ausgefallen. Was meinst du mit ‚verschmort‘?“

„Keine Ahnung. Als wäre Elektronik zu heiß geworden.“

„Rauchentwicklung?“

„Nichts gesehen. Riecht auch nur sehr schwach.“

„Dann geh der Sache auf den Grund. Nimm den Doc mit. Sucht alles ab. Sofortige Meldung, wenn ihr den Herd lokalisiert habt. Aber spielt nicht die Helden und unternehmt nichts auf eigene Faust. Wir müssen uns erst ein Bild von der Sache machen.“

„Denkst du, es könnte ein Kabelbrand sein?“

„Es könnte alles mögliche sein. Schaut zunächst in der Kombüse nach. Vielleicht kommt ’s ja von dort her.“

Andreas ging und Sebastian schob sich durch die Tür.

„Sind wir denn schon da?“

„Noch nicht. Setz dich und check die Anzeigen. Nach denen haben wir nicht eine Gallone Sprit mehr.“

Ein paar Sekunden lang überflog Sebastian die Instrumente.

„Ich kann nichts finden. Hier ist alles okay. Die Triebwerke arbeiten normal.“

Rainer und Walter blickten gleichzeitig auf die Tankanzeigen. Die Werte waren tatsächlich in Ordnung. Sie hatten seit Kapstadt etwas über ein Viertel der dort nachgetankten Menge verbraucht.

„Vorhin standen sie allesamt bei Null.“

„Seltsam. Klingt, als hätten wir ein Mikrobenproblem.“

„Aber alle Anzeigen gleichzeitig? Das hat nichts mit verseuchtem Kerosin zu tun, da bin ich sicher.“

„Hast du auch was gerochen?“, fragte Walter Sebastian.

„Gerochen?“

„Draußen. Andy meinte, da könnte was schmoren.“

„Mir ist nichts aufgefallen.“

Rainer lehnte sich zurück. „Gut. Dann gehn wir mal davon aus, dass es nur ’ne bedeutungslose Störung war.“

Die Deckenlampen funktionierten nicht. Abgesehen von der schwachen Notbeleuchtung, herrschte im Laderaum undurchdringliche Dunkelheit. Zu beiden Seiten des schmalen Mittelgangs stapelte sich die durch Spanngurte und Netze gesicherte Ladung. Kein Problem, hier schnell vorwärts zu kommen, wenn die Kisten und Aluminiumcontainer allesamt die gleichen Maße aufgewiesen hätten. So aber musste man Ecken und Kanten ausweichen, über Spannstreben und Gurte steigen und den Kopf einziehen, wenn eines der oberen Teile besonders vorwitzig in den Gang hineinragte.

Michael stieß mit dem rechten Knie unsanft gegen eine Verstrebung und fluchte. Andreas schwenkte seine Taschenlampe in seine Richtung.

„Alles okay?“

„Ja.“ Michael rieb sich das Knie. „Hier riecht ’s stärker, findest du nicht auch?“

„Schon. Ich will nicht hoffen, dass es irgendwo hinter der Ladung ist. Da kommen wir nicht ran.“

„Oder gar die Ladung selbst.“

„Glaube ich nicht. Was soll da schmoren?“

„Keine Ahnung. Wer weiß schon, was die in ihren Containern haben.“

Sie hatten das Heck erreicht.

„Hier ist Schluss. Aber der Geruch ist intensiver geworden.“ Andreas leuchtete umher. „Wenn es in einem der Kabelschächte …“

„Da! Leuchte nochmal da hinauf.“ Michael wies in Richtung der oberen linken Innenverkleidung. „Ist das Rauch oder Nebel?“

„Mein Gott, ja, da qualmt was. Ich hab ’s doch gewusst!“

„Und was jetzt?“

„Wir müssen nachschauen, woher das kommt. Hier, halte mal.“ Er gab Michael die Lampe, zog ein Taschenmesser hervor und reckte sich.

„Was hast du vor?“

„Ich öffne den Kabelschacht.“

„Ist das nicht gefährlich?“

„Nicht gefährlicher als einen Kühlschrank zu öffnen. Man muss nur irgendwann die Tür wieder zumachen.“

Andreas drehte mit dem Schraubenzieher seines Schweizer Messers ein paar Plastiknute um fünfundvierzig Grad nach links und nahm die Verkleidung ab. Vier übereinanderliegende Kabelstränge aus verschiedenfarbigen isolierten Drähten kamen zum Vorschein. Ein leichter Luftzug war zu spüren, der dünne Rauchfahnen mit sich führte.

„Das ist der Kamineffekt. Kann sein, dass der Brandherd am anderen Ende des Schachtes liegt. Oder gar auf der anderen Seite. Aber vielleicht haben wir ja Glück.“ Er löste auch die nächst Blende.

„Volltreffer! Siehst du den Kasten über den Kabeln?“

„Ja, da qualmt ’s raus. Scheiße, Mann, an der Seite ist schon alles verschmort.“

Andreas stellte sich auf die Zehenspitzen, löste die Verschraubungen des Kastens und nahm den Deckel ab. Rauch quoll hervor, zwei Sekunden später schoss eine Stichflamme heraus. Im Nu brannte das Innenleben des Kastens.

„Den Feuerlöscher. Schnell!“

„Wo denn?“

„Da drüben an der Bordwand!“

Michael bekam den Pulverlöscher nicht aus der Halterung. Andreas musste einspringen.

„Leuchte!“

Das Löschpulver traf den Kasten mit hohlem Fauchen, hüllte ihn in eine weiße Wolke. Andreas senkte die Löschpistole. Geräuschvoll atmete er aus.

„Ich glaube, wir haben gerade mal noch so …“

Weiter kam er nicht. Die Maschine legte sich plötzlich nach links und ging in den Sinkflug über. Andreas und Michael verloren das Gleichgewicht. Die Triebwerke heulten auf. Der Rumpf der Maschine erbebte. Langsam drehte sie sich wieder in die Horizontale. Die Notbeleuchtung erlosch.

„Wir müssen nach vorn!“, schrie Andreas. „Ins Cockpit. Los!“ Er rappelte sich auf, schnappte sich die am Boden liegende Lampe, stürzte davon. Michael heftete sich an seine Fersen. Auf der Hälfte der Strecke, die sie bis zum Schott zurückzulegen hatten, neigte die Maschine abermals den Bug. Dabei krängte sie nunmehr nach Steuerbord.

„Rainer verliert die Kontrolle!“, schrie Andreas. Er stolperte über eine Spannstrebe.

„Wir stürzen ab!“, kreischte Michael und griff ins Leere, als er sich an einem der oberen Gurte festhalten wollte. Dann gingen beide unsanft zu Boden. Grellgrüne Blitze zuckten vor ihren Augen. Sie rasten an den Kanten der Metallcontainer entlang und tauchten den Laderaum für Sekunden in ein gespenstisches Licht.

Die Maschine hob die Nase, legte sich in die Horizontale, dann wurde das Dröhnen der Triebwerke leiser. Der Kapitän war wohl endlich wieder Herr der Lage.

Die beiden kamen auf die Beine. Michael hatte sich den Hinterkopf gestoßen und Andreas eine kleine Platzwunde an der rechten Braue. Ansonsten waren sie mit einigen Prellungen und Schürfwunden davongekommen.

Sie rannten zum Treppenaufgang und gelangten über diesen zum Cockpit. Der Kapitän und Walter saßen angespannt in den Sitzen. Die Knöchel ihrer Finger traten infolge der Anstrengung, die Steuerung zu bändigen, weiß hervor. Als Rainer die beiden bemerkte, fuhr er herum. Schweißtröpfchen spritzten auf die Konsole.

„Was war los? Was habt ihr gemacht?“

Andreas erstattete in knappen Worten Bericht. An der Schläfe des Kapitäns hoben sich hellblaue Äderchen ab. Er war außer sich.

„Ich habe nichts vom Öffnen der Kabelschächte gesagt. Du solltest nur den Ort der Störung lokalisieren und mir dann Bescheid geben.“

„Es war Gefahr im Verzug. Ich musste etwas tun. Wer weiß, wo wir jetzt wären, wenn …“

„Ich weiß, wo wir jetzt sind!“, bellte Rainer. „In einem riesigen Schlamassel. Und was daraus wird, ist auch so gut wie sicher.“

„Aber wir mussten doch löschen!“, warf nun auch Michael ein, der sich mitverantwortlich fühlte. „Es brannte ja bereits.“

„Nur durch eure Eigenmächtigkeit. Wir hätten Zeit gewonnen, wenn ihr die Schächte und die Abdeckung in Ruhe gelassen hättet.“

„Was jetzt nicht mehr zu beweisen ist“, knurrte Andreas. „Undank ist der Welt Lohn.“

Rainer antwortete nicht. In seinem Gesicht arbeitete es. Dann sagte er: „Geht nach hinten und schnallt euch an. Die alte Lady muss noch zwanzig Minuten durchhalten. Betet zu Gott, dass sie ’s tut.“

Das Steuerhorn schien ein Eigenleben zu besitzen. Mal wollte es Walters Hände in Flugrichtung ziehen, dann wieder nach rechts oder links.

„Wir verlieren langsam an Höhe“, rief er über seine linke Schulter. „Dreißigtausendfünfhundert Fuß. Bei vollem Schub. Jetzt fünfzig Fuß weniger. Sinken weiter.“

„Was ist mit dem Druck?“, fragte Rainer zurück.

„Keine Anzeichen für einen Abfall, wenn ich der Anzeige glauben darf.“

„Der Autopilot reagiert nicht mehr. Und nicht nur der. Es geht nur noch nach rechts oder geradeaus. Ich krieg die Lady nicht mehr auf Kurs.“

„Wie weit, glaubst du, sind wir bisher abgedriftet?“

„Keine Ahnung. Hundert Meilen sicherlich. Und aller paar Sekunden kommt eine dazu. Die Koordinaten wechseln ununterbrochen. Da is’ kein Verlass drauf. Der Kompass macht, was er will. Nicht die geringste Chance, neue Daten zu speichern.“

Das Dröhnen der Triebwerke nahm zu. Die Steuerung setzte den Piloten keinen Widerstand mehr entgegen. Sie wurden, da sie in diesem Moment die Steuerhörner zu sich heranzogen, in die Lehnen der Sitze geschleudert. Sämtliche Instrumente fielen mit einem Schlag aus. Eine Sekunde später senkte die Maschine ihre Nase. Ein wenig nur, aber fühlbar.

„Oh Scheiße“, stöhnte Sebastian.

„Behaltet die Nerven!“ Rainers Finger flogen über die Schalter, tasteten die Armaturen ab, als könnte er die toten Anzeigen damit wiederbeleben. „Wir sinken relativ langsam. Der Druck scheint stabil zu bleiben. Aber das will nichts bedeuten. Sobald ihr erste Anzeichen verspürt, greift euch die Masken. Auf die Automatik werden wir uns nich’ verlassen können.“

„Was schätzt du, welche Höhe wir haben?“, fragte Walter.

„Fünfundzwanzigtausend Fuß. Vielleicht weniger. Der künstliche Horizont scheint noch intakt zu sein, aber der Höhenmesser spielt verrückt.“ Er schaute durch das Seitenfenster. „Ich kann nichts erkennen.“ Er presste, um einen besseren Blickwinkel zu erhalten, seine linke Schläfe gegen das Glas. „Grünliche Streifen. Wie ’n Funkenregen.“ Er schüttelte den Kopf und blickte wieder nach vorn. Seine Pupillen zuckten unstet in alle Richtungen. Walter sah ebenfalls hinaus. Tatsächlich. Hellgrüne Schlieren waberten vor dem Fenster. HELLGRÜN!

„Als rasten wir durch Polarlichter.“

„Unsinn. Die beginnen erst in zehnfacher Höhe!“

„Dann ist es was anderes. Ich habe es vorhin schon bemerkt, als der Autopilot verrückt spielte.“

„Was hast du bemerkt?“ Rainer wendete nicht den Kopf. Er stierte mit weit aufgerissenen Augen auf die toten Anzeigen, als könne er sie auf diese Weise reanimieren. Schläfen und Wangen glänzten vom Schweiß. Seine Finger kneteten nervös das Steuerhorn.

„Dieses grüne Licht. Unmittelbar nach dem Blitz.“

„Wovon, zum Henker, redest du eigentlich?“

Walter erklärte es ihm und setzte nach kurzem Zögern hinzu, dass er es selbst nicht hatte wahrhaben wollen in diesem Moment. Er glaubte, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein. Deshalb hatte er es verschwiegen.

Der Kapitän schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf, sagte aber nichts.

„Wenn wir wenigstens abspringen könnten …“

Rainer warf Sebastian einen missbilligenden Blick über die Schulter zu. „Es hätte keinen Sinn, abzuspringen. Es sei denn, wir kämen in unmittelbarer Nähe einer Station runter.“

„Ja, mein Gott“, schrie Sebastian, „was haben wir denn überhaupt für Alternativen?“

Rainer blieb wider Erwarten ruhig. „Überleg doch mal: Angenommen, wir hätten Fallschirme und kämen heil aus der Maschine – was dann? Weißt du, wo wir landen und wie wir unten aufkommen würden? Auf Festland oder auf dem Schelfeis? Oder im offenen Meer? Mit weiß Gott wie vielen Knochenbrüchen? Und dann, mein Lieber, vorausgesetzt, dass das abgeworfene Rettungsfloß mit einem intakten Peilsender nicht zu weit davon geweht würde, wir es fänden und nicht von vornherein im eisigen Wasser landeten, müssten wir uns auf Tage gefasst machen, bis die uns zu Hilfe kommen könnten. Was meinst du, wie lange du das bei der Lufttemperatur von minus sechzig oder siebzig Grad Celsius aushieltest?“

Betretenes Schweigen.

„Wozu dann die Schwimmwesten?“, knurrte Andreas.

„Wir fliegen ja nicht immer über Polargebiete. Außerdem ist es Vorschrift. Sofern wir wassern müssen, haben wir noch eine Überlebenschance. Wenn man uns schnell fände, heißt das.“

„Das wäre wie ein Sechser mit Zusatzzahl und hoher Quote.“

„Es gibt immer wieder Glückstreffer. Sonst würde niemand mehr Lotto spielen. Meine größte Sorge ist, dass die Heizungen der Windschutzscheiben nicht versagen. Ohnehin verwunderlich, dass die noch funktionieren.“

Es wurde dunkler in der Kanzel und schließlich finster. Die Maschine kämpfte sich durch dichte Wolken, die sie mit einem Bombardement aus Eiskristallen empfingen. Wie Sperrfeuer aus Maschinengewehren prasselte es gegen die Scheiben. Ein paar Minuten banges Warten, dann wurde es wieder hell. Doch es war eine seltsame Helligkeit.

„Was in aller Welt …“, murmelte Rainer. Er reckte den Kopf. Grellgrüne Schlieren zuckten über die Scheiben und formierten sich schließlich zu ineinander greifenden, pulsierenden Ringen. Obgleich ihre Intensität schwankte, waren sie deutlich zu erkennen.

„Das ist mein Polarlicht von vorhin“, sagte Walter. „Nur viel intensiver.“

„Es kann kein Polarlicht sein. Völlig unmöglich. Nicht in dieser geringen Höhe. Und schaut euch die Form an. Wie ein leuchtender, beweglicher Schlauch, der uns in sich hineinzieht. Jetzt wird es schwächer. Jetzt wieder stärker.“

„Und unten?“, fragte Sebastian. „Könnt ihr was ausmachen?“

Rainer presste seinen Kopf wieder gegen die Seitenscheibe. „Ich kann nichts erkennen. Keine Konturen. Keinen festen Punkt. Nichts.“

Die Lichtverhältnisse änderten sich. Der grünliche Farbton wurde von einem orangeroten überblendet. Die Strahlen der zu zwei Dritteln über dem Horizont stehenden Sonne drangen durch die Scheiben der Steuerbordseite zu ihnen herein. Der blasse, grüne Leuchtschlauch war plötzlich verschwunden.

„Wie hoch werden wir jetzt noch …“

Walter kam nicht mehr dazu, die Frage zu beenden, denn in diesem Moment erklangen sämtliche Alarmsignale. Die Armaturenbeleuchtung glomm auf; die Zeiger der Instrumente erwachten zu neuem Leben. Und die Crew mit ihnen. Sollte es doch noch Hoffnung geben, die Maschine auf den alten Kurs zu bringen? Schnell wurde ihnen klar, dass es keinen Grund zum Jubeln gab: Einige Instrumente schienen zwar wieder intakt zu sein – das Navigationssystem und mit ihm das Radar, die Funkanlage und insbesondere Teile der Steuerung waren jedoch nach wie vor funktionsuntüchtig. Rainer stellte die nervige Alarmakustik ab.

Ungläubig starrte Walter auf die Höhenanzeige, die endlich wieder zur Ruhe gekommen war. „Neuntausendfünfhundert Fuß!“

„Können wir der Anzeige trauen?“

Walter schlug mit den Knöcheln gegen die Armatur. Die Zahl änderte sich nicht. „Keine Ahnung. Ich will es hoffen.“

Beim Blick aus den Seitenfenstern konnte man jetzt Einzelheiten erkennen: Das rotgoldene Licht der durch die Wolkenfetzen blinzelnden Sonnenscheibe wurde von einer matt glitzernden, endlosen Eisfläche reflektiert, die – zumindest stellenweise – durch zerklüftete, dunkle Erhebungen unterbrochen wurde.

„Das ist kein Schelfeis“, sagte Walter. „Das sieht aus wie Inlandeis. Aber auch nicht gerade eben. Da können wir nicht runter.“

„Witzbold“, entgegnete Rainer. „Wir können hier nirgendwo runter. Nicht mit dieser Maschine. Nicht mit diesem Fahrwerk. Und doch werden wir es müssen. So oder so. Achte auf den Höhenmesser!“ Er drückte das Steuerhorn ein klein wenig nach vorn, zog es einige Sekunden später wieder zu sich heran und gab etwas mehr Schub. Sanft gehorchte die Maschine dem Kommando.

„Neuntausend Fuß“, sagte Walter. „Ja, und?“

„Versuch, sie hochzuziehen!“

Der Copilot griff nach der Steuerung und den Schubhebeln. Beides ließ sich normal betätigen, doch die Maschine reagierte nicht. Verblüfft ließ er das Horn los. „Das begreife ich nicht. Wieso klappt es bei dir? Oder hast du etwa den Autopiloten …“

„Wir fliegen manuell. Ich habe die Höhe verringert. Das funktioniert. Aber nicht umgekehrt. Und an eine Kurskorrektur ist schon gar nicht zu denken. Keine Funktion der Quer- und Seitenruder.“

„Das ist doch idiotisch“, sagte Walter. „Soll das heißen, wir bleiben jetzt bei konstant neuntausend Fuß? Du kannst nach dem Sinkflug keine Höhe halten, wenn die Höhenruder und die Geschwindigkeitsregler nicht reagieren. Wir müssten immer weiter sinken, Mann!“

„Sie reagieren ja. Aber nur solange, bis die Maschine wieder in der Horizontalen liegt. Danach nicht mehr.“

„Das ist gegen alle Gesetzmäßigkeiten. Völliger Blödsinn!“

„Das ist ein Fakt!“, sagte Rainer scharf. Ein Nebelschleier aus Speicheltröpfchen traf die Konsole. „Und damit müssen wir klarkommen. Ob es gesetzmäßig ist oder nicht. Ich verstehe es genauso wenig wie du. Aber sag mir, was ich glauben oder dagegen tun soll.“

Walter schüttelte den Kopf. „Unter diesen Umständen können wir nicht landen. Selbst wenn wir die Piste vor der Nase hätten.“

„Da ist es wieder!“, rief Sebastian. Sie schauten nach vorn. Die Sonne hatte sich hinter einer Wolkenbank versteckt, wodurch der seltsame grün leuchtende Schlauch abermals sichtbar wurde.

„Oh nein …“, stöhnte der Kapitän.

„Ja, es muss ein äußerst seltenes Phänomen sein“, sagte Walter. „Sonst hätten wir doch längst davon hören müssen. Ich meine, wir sind doch nicht die Einzigen, die diese Route …“

„Dein Phänomen macht mir zur Zeit weniger Sorgen. Strengt eure Augen an. Seht ihr, was ich meine?“ Er nickte in Flugrichtung.

Großer Gott – jetzt sahen sie es: Dort, wo der Schlauch in der Ferne verschwand, wuchs ein dunkler, unregelmäßig geformter Horizont in die Höhe: die Silhouette eines lang gestreckten Gebirgsmassivs!

„Da kommen wir nich’ rüber“, rief der Kapitän. „Wir müssen runter. Jetzt sofort!“

„Mein Gott – wie denn?“, kreischte Sebastian. „Du kannst die Nase nicht hochziehen, die Klappen nicht ausfahren, nicht auf Landegeschwindigkeit runter touren …“

Walter stimmte ihm bei. „Wir werden in tausend Stücke zerschellen. Das hält das Fahrwerk nie im Leben aus, selbst wenn wir ’ne spiegelglatte Piste mit starkem Gefälle hätten!“

„Gut“, brüllte Rainer. „Dann eben ein Ende mit Schrecken. Die Berge sind sicher an die viertausend Meter hoch. Was ist euch lieber? Dagegen krachen und Schluss oder in der Maschine qualvoll verbrenn…“

„Rainer!“, schrie Walter.

„Was denn?“ Der Kapitän sah ihm mit einem zornigen Ausdruck in die Augen.

„Sie lässt sich wieder steuern! Wenn auch – verdammt – schwer.“

Rainer packte das Steuerhorn fester. „Finger weg! Ich übernehme.“

Er gab vollen Schub und versuchte in einer weiten Rechtskurve, Höhe zu gewinnen. Die alte Lady reagierte nicht nur sehr schwerfällig, sie begann zu bocken, sobald der Kurs geändert wurde und schüttelte sich wie ein Hund, der gerade dem Wasser entstiegen war.

„Es ist, als schleppten wir ’nen Treibanker hinter uns her. Sie verliert sofort an Geschwindigkeit, wenn ich versuche abzudrehen. Wir riskieren einen Strömungsabriss.“

„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, schrie Walter. „Was sollen wir denn nun machen?“

„Wir müssen es riskieren. Landeklappen auf Fünf. Übernimm du das; ich kann sie kaum in der Horizontalen halten.“

Walter zog den Flap-Hebel in die entsprechende Stellung, während der Kapitän den Schub erhöhte.

„Zweihundertfünfzig Knoten.“ Rainer nahm für einige Sekunden die Hand von den Schubhebeln. „Die Automatik scheint sich endgültig verabschiedet zu haben. Wir müssen alles per Hand regulieren. Ich verringere um weitere vierzig.“ Mit bebender Hand, doch auch mit Gefühl, zog er die Hebel nach hinten. „Achtung – jetzt!“

„Klappen auf Zehn“, kommentierte Walter seine eigenen Handgriffe.

„Jetzt hundertneunzig Knoten.“

„Klappen auf Zwanzig.“

„Das Fahrwerk raus!“

Walter betätigte den Schalter. Rainer gab behutsam Speed, um den größeren Luftwiderstand auszugleichen.

„Hauptfahrwerk draußen und eingerastet! Bugfahrwerk auch.“

„Höchste Autobrake-Stufe!“

„Und was, wenn die Bremsautomatik auch nicht …“

„Denk jetzt nicht an sowas! Speed bei Hundertsechzig. Klappen auf Fünfundzwanzig. Los, mach schon. Und greif dir das Horn. Aber nur unterstützen. Den Rest mache ich.“

Walter griff nach dem Steuerhorn. Und spürte die Vibrationen bis in den letzten Winkel seines Körpers.

„Höhe?“

„Tausend – neunhundertfünfzig – neunhundert – achthund…“

„Du machst dich gut als Höhenansager. Was ist mit der Konservenstimme?“

„Sagt keinen Ton. Hoffe nur, dass wenigstens die Anzeige stimmt. Siebenhundert.“

„Verdammt, bei dieser permanenten Vibration des Horns krieg ich nicht mit, wenn wir zu langsam werden. Ein Strömungsabriss in dieser geringen Höhe wäre das Aus!“

„Tacho zeigt konstant hundertsechzig Knoten.“

„Wie sicher ist das?“

„Was willst du für ’ne Antwort? Wir könnten sie eh nicht abfangen. Das hast du doch gerade gesagt.“

Rainer nickte und schluckte.

„Höhe vierhundertfünfzig – vierhundert …“

Rainers Kopf flog herum. Sein Blick streife den Bordingenieur. „Alles klar, Sepp? Halte durch, Junge!“

Sebastian antwortete nicht. Er verharrte in der Sicherheitsposition; den Kopf gesenkt, die Arme um die Knie geschlungen.

„Zweihundertfünfzig“, sagte Walter. „Zweihundert.“

Der Kapitän atmete tief durch. „Jetzt wird es ernst.“

„Ja. Spürst du Seitenwind?“

„Nicht wirklich. Du?“

„Kaum der Rede wert.“

„Bete zu Gott, dass das so bleibt. Ohne Landebahnbefeuerung und dann noch mit Vorhaltewinkel – das ist, als würdest du mit ’nem Sack überm Kopf beim Darts mit dem ersten Wurf mitten ins Auge treffen.“

„Achtzig Fuß.“

„Jetzt geht ’s um die Wurst!“

„Fünfzig – vierzig – dreißig …“

Die Lady hob die Nase. Das Gebirge wurde fast den Blicken entzogen. Nur noch wenige Fuß bis zum Aufsetzen. Kalter Schweiß rann ihnen über die Gesichter. Wie würde die Eisfläche beschaffen sein? Hart gepresster Schnee? Sich übereinander türmende Schollen? Eine Buckelpiste mit Verwehungen? Der Jumbo war kein Schlitten. Es würde die tief angebrachten Triebwerke samt Tragflächen abreißen.

„Wir werden in Stücke brechen“, jammerte Sebastian. „Das macht das Fahrwerk nie im Leben mit!“ Er sprach aus, was wohl jeder dachte in diesem Augenblick. Vielleicht war es gut so, dass sie sich auf die Landung konzentrieren mussten. So hatten sie das Gefühl, dies alles wäre nur ein böser Traum, aus dem sie noch vor dem Auseinanderbrechen der Maschine zu erwachen hofften.

„Ich werde beide Hände brauchen!“, schrie Rainer. „Also machst du den Rest. Schmeiß den Bremsschirm raus, wenn wir aufsetzen. Aber nicht vorher. Auf das automatische Bremssystem wette ich keinen Cent.“

Walter nickte, suchte den Schalter, den er noch bei keiner Landung hatte betätigen müssen, fand ihn und presste die Fingerrücken der linken Hand gegen die Konsole über seinem Kopf, um im entscheidenden Moment bereit zu sein.

„Touchdown!“

Ein Ruck erschütterte ihre Körper.

„Schubumkehr!“, schrie Rainer. Walter griff nach den Hebeln. Ein ungewohntes Manöver vom Platz des Copiloten aus, doch Rainer bekam die Hand nicht vom Horn. Im selben Moment pressten beide ihre Schuhsohlen gleichmäßig, doch mit aller Kraft, gegen die Pedale.

Das Hauptfahrwerk übertrug die Unebenheiten der Eisfläche auf den gesamten Rumpf. Ein erneuter Stoß. Das Bugrad hatte aufgesetzt.

„Bre-emsschi-irm raus!“

Rainers Stimme klang fremd und zerhackt. Walters Finger prallten von der Konsole ab. Er schlug mit der Handfläche gegen den Schalter, um ihn auch wirklich zu treffen. Die Maschine vibrierte derart, dass ihnen das Bild vor Augen verschwamm.

Der Klang der Turbinen hatte sich verändert. In das Dröhnen der Triebwerke mischten sich beängstigende Geräusche: Die Stahlscheiben der Fahrwerksbremsen, die auf dem Eis kaum Wirkung zeigten.

Ein Stoß erschütterte das Cockpit. Ein kurzes Absacken, ein kleiner Aufprall. Die Vibrationen wurden stärker. Sie saßen jetzt auf einem riesigen Presslufthammer, der sich horizontal durch das Eis fraß. Und der Bremsschirm, so kam es ihnen jedenfalls vor, schien seinem Namen keine Ehre zu machen.

„Da-as Bu-ugra-ad ist hin!“, bellte Rainer.

Der Rumpf übertrug nicht nur die Stöße, sondern verstärkte als riesiger Resonanzkörper auch das Jaulen und Krachen, Schaben und Stöhnen, mit dem die Unterseite des Bugs über das Eis schlitterte. Es klang, als würden tausend Trucks mit brüllenden Fanfaren durch einen Tunnel rasen und dabei mit ihren Aufbauten an den Wänden entlang schrammen.

Die Steuerung war bedeutungslos geworden. Dennoch hielten Rainer und Walter die Hörner fest umklammert.

Sie hatten nicht das Gefühl, dass sie langsamer wurden. Gedankenfetzen jagten durch ihre Hirne: Wenn jetzt das Hauptfahrwerk brach! Wenn die Flügelspitzen und das Verkleidungspaneel einer der tief sitzenden Turbinen mit dem Eis in Berührung kamen und die Tragflächen barsten, wenn – wenn …

Ein Ruck, ein kurzes Schlittern, dann ein letzter gewaltiger Stoß, der sie in den Gurten nach vorn riss und ihnen den Atem nahm – die Maschine stand. SIE STAND!

Walter sank in die Lehne seines Sitzes. Sein Brustkorb schmerzte, als hätte er sich alle Rippen gebrochen. Hatte er möglicherweise sogar. Mühsam atmete er ein und aus. Tastete sich ab. Nein, okay. Es war wohl noch einmal gut gegangen.

„Ahhh …“

Er wendete den Kopf. Rainer hatte Tränen in den Augen. Seine rechte Gesichtshälfte zuckte. Er sah seinen Partner kurz an, fragte mit einem Blick über die Schulter: „Jemand verletzt?“

Sebastian murmelte mit geschlossenen Augen unverständliche Worte, während er sich mit der Linken immer wieder über den schmerzenden Brustkorb fuhr.

Walters Hände zitterten derart, dass er die Finger, um sie ruhig halten zu können, erneut um das Steuerhorn legen musste. Er atmete flach und schnell, denn tief Luft zu holen, bereitete ihm Probleme. Du liebe Zeit, wenn er nun doch innere Verletzungen hatte …

„Wir sind unten, Walter“, sagte Rainer. „Entspann dich.“

Seine Gesichtsmuskeln zuckten noch immer und seine Stimme klang, als wäre er betrunken. Im Cockpit roch es nach heißem Metall, verschmortem Kunststoff und verbrannten Isolationen. Dünne Rauchschwaden waberten durch die Luft. Irgendwo zischte es leise. Die deformierte Metallhaut der Bugverkleidung knackte und knisterte, während sie abkühlte. Über dem unteren Rahmen der rechten dreieckförmigen Windschutzscheibe klaffte ein faustgroßes Loch im Sicherheitsglas. Unzählige Sprünge liefen von dort aus in alle Richtungen. Es sah aus wie ein riesiges Spinnennetz.

Ohne sich zuvor abgesprochen zu haben, lösten Rainer und Walter gleichzeitig ihre Gurte und schoben die hinteren Seitenfenster auf, um einen Blick auf die Tragflächen werfen zu können. Sofort drang klirrende Kälte herein.

Es schien alles in Ordnung zu sein. Sie konnten die Nasenringe der Turbinen vollständig erkennen. Unter denen lagen die Paneele jedoch fast auf dem Eis auf. Von dorther stiegen Dampfschwaden empor und zogen in Richtung der Flügelspitze ab. Der Wind wehte Eiskristalle in das Cockpit, die ihnen wie Stecknadeln in die Gesichter stachen. Sie schlossen die Fenster wieder.

„Auf meiner Seite sieht ’s gut aus“, sagte Rainer. „Und bei dir?“

Walter nickte. Mit noch immer fliegenden Fingern angelte er zwei Zigaretten aus dem Etui.

„Unter den Turbinenverkleidungen verdampft das Eis. Da scheint jeweils nur noch eine Handbreit Platz zu sein. Wir haben einen so verdammten Dusel gehabt – das ist kaum zu glauben!“

Eine der Zigaretten fiel auf die Mittelkonsole. Walter hob sie auf und musste sich zusammenreißen, um sie nicht abermals fallen zu lassen, während er sie dem Kapitän anbot.

„Ja“, sagte Rainer. „Das Hauptfahrwerk hat durchgehalten. Unglaublich aber wahr.“ Er griff nach der Zigarette.

In der Tür erschienen Michael und Andreas. Auch sie pressten ihre Hände ihre Brust. „Ist bei euch alles in Ordnung?“

„Wir leben noch“, antwortete Rainer lakonisch. „Und ihr?“

Michael lächelte säuerlich. „Wir auch, wie du siehst. Haben uns die Rippen geprellt. Aber nicht weiter schlimm.“

„Ich kann ’s kaum glauben“, sagte Andreas. „Haben wir ’s wirklich geschafft?“

„Wir leben noch“, wiederholte Rainer. Er schien diese Tatsache selbst noch nicht fassen zu können. Mit zitternden Fingern brannte er sich seine Zigarette an.

„Ihr raucht im Cockpit?“

Rainer warf Andreas einen überraschten Blick zu. „Ja und? Was glaubst du, wozu man damals die Aschenbecher werkseitig eingebaut hat? Außerdem dürfte das jetzt keinen mehr interessieren.“

„Eigentlich müssten wir raus hier“, sagte Sebastian.

Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Das mag in der Sicherheit eines Flughafens oder auf unserer Piste auf EUROPANIA alles gut und schön sein, aber in diese Situation passt es nicht.“ Er fuhr sich mit der Linken über das Gesicht. „Es ist doch wohl völlig egal, ob wir zusammen mit der Maschine in Flammen aufgehen oder auf dem Eis, Hunderte Kilometer von der nächsten Station entfernt, jämmerlich erfrieren.“ Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und zeigte auf das defekte Navigationsdisplay. „Wenn das Ding in Ordnung wäre, könntet ihr ’s sehen: minus vierzig, vielleicht gar minus fünfzig Grad Celsius. Was glaubt ihr, wie lange wir das ohne spezielle Ausrüstung aushielten?“

Walter reckte den Kopf und schaute durch die Windschutzscheiben. Eiskristalle tanzten vorbei. Es war stürmisch da draußen.

„Hast du den Bremsschirm abgekoppelt?“, fragte er.

Rainer nickte. „Gleich nach der Landung.“

„Können wir der Anzeige trauen?“

„Ich denke schon. Ich spüre kaum Vibrationen.“

„Wäre gut zu wissen, wo wir sind. Meinst du nicht?“

Rainer blinzelte durch die Windschutzscheiben. „Victoria Land. Es gibt, soweit ich weiß, nur eine Bergkette dieser Ausdehnung in dieser Richtung. Wir müssen über achthundert Meilen nach Südsüdwest abgedriftet sein. Vielleicht mehr.“

„Über achthundert?“

„Mindestens.“

Betretenes Schweigen für Sekunden.

„Wir haben noch Sprit für mehrere Flugstunden. Das bedeutet neun bis zehn Stunden Energieversorgung über das Hilfstriebwerk, sofern wir nicht mehr Energie verbrauchen, als unbedingt notwendig ist.“ Er lachte gequält. „Bodenstrom kriegen wir hier ja leider keinen.“

„Solange wir kein Leck haben, ist das okay, denke ich. Laut Anzeige sind die Tanks in Ordnung. Aber – ich glaube nicht, dass wir uns darauf verlassen können.“

„Du hast Recht. Das können wir nicht. Doch es wird kaum festzustellen sein. Oder will jemand freiwillig nach draußen?“ Rainer blies geräuschvoll den Rauch in Richtung der Lüftungsschlitze.

Sebastian schüttelte leicht mit dem Kopf. „Selbst dann könnten wir wichtige Details übersehen.“ Er erhob sich aus seinem Sitz. „Was meint ihr, sollten wir nicht wenigstens das Innere der Maschine bis in den letzten Winkel inspizieren?“

„Ja, das müssen wir. Unbedingt sogar. Übernimmst du das zusammen mit Andreas?“

„Ja.“

„Okay, schaut zuerst im Laderaum nach. Ich habe hier keinen eigentlichen Feueralarm. Die Rauchschwaden haben sich verzogen. Aber sicher ist sicher. In einer halben Stunde seid ihr wieder hier, klar? Wir versuchen inzwischen, die Scheibe abzudichten. Und dann überlegen wir uns die weiteren Schritte.“

Andreas und Sebastian verließen das Cockpit. Michael setzte sich und starrte gedankenverloren auf die Mittelkonsole.

„Was hatten wir nur für ein Schwein!“ Walter starrte auf das Gebirgsmassiv, das sich nur wenige hundert Meter vor der Maschine aus dem Eis erhob.

„Ja“, sagte Rainer ohne Betonung. „Das hatten wir.“ Er betätigte ein paar Schalter. „Wenn die Eisfläche hier nicht so eben wäre, hätte es uns kurz nach dem Aufsetzen in tausend Teile zerrissen.“

Langsam erstarb das Pfeifen der vier Turbinen.

Die letzte aller Chancen

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