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Das Licht

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Die Realität ist

immer noch schräger

als alle Fiktion.

Doris Dörrie

Antarktika: Eine Fläche von fast vierzehn Millionen Quadratkilometern, rechnet man die gewaltigen, der Landmasse vorgelagerten Schelfeistafeln und Inseln mit ein. Ein Kontinent der Superlative. Seine Landmasse ist stellenweise von einer über vier Kilometer starken Eisschicht bedeckt. Insgesamt lagern (noch!) an die siebenundzwanzig Millionen Kubikkilometer Eis in diesem größten Süßwasserreservoir der Erde. Die Temperaturen schwanken, örtlich und jahreszeitlich bedingt, zwischen etwa null Grad Celsius an den Küsten bis fast minus neunzig Grad Celsius im Landesinnern; Stürme, die mit einer Geschwindigkeit von über dreihundert Kilometern pro Stunde über die schier endlosen Eiswüsten fegen, sind keine Seltenheit. Ein halbes Jahr lang sinkt die Sonne nicht unter den Horizont, während der Kontinent danach bis zur erneuten Tag- und Nachtgleiche in ebenso lang andauernde Dunkelheit gehüllt bleibt.

Man schrieb den sechsten Oktober des Jahres Zweitausendneun, den Tag der geglückten Notlandung und den wohl schwärzesten für die Europäische Fluggesellschaft. Rainer hatte, sofern ihnen nicht schnelle Rettung zuteil werden würde, keine Bedenken, die verplombten Container öffnen zu lassen; schließlich befanden sie sich in einer Notlage. Da man jedoch das deformierte Bugtor nicht bewegen konnte, war das Herankommen an die Ladung nur eingeschränkt möglich.

Es gab, sofern es von den Fenstern aus festzustellen war, keine Lecks in den Tragflächen, aus denen Kerosin austrat. Schwelbrände waren glücklicherweise nicht aufgetreten. Da der Laderaum von der oberen Etage im Buckel isoliert war, fand die eisige Kälte keinen unmittelbaren Zugang zu diesem Bereich, solange die Stromversorgung gewährleistet blieb.

Der Kapitän sah die Ladelisten durch. Die Maschine hatte, außer vierzig Propangasflaschen, keine gefährlichen Güter an Bord. Die beiden Container, in denen sie untergebracht waren, befanden sich im hinteren Teil des Laderaums. So kam die Crew an sie heran und stellte erleichtert fest, dass sie unversehrt geblieben waren. Zwei Propangasheizungen fanden sich auch. Das zweite Glück im Unglück.

Andreas hatte das defekte Funkgerät nicht reparieren können. Optisch war damit alles in Ordnung; es gab keine erkennbaren Schäden, und doch kam auf allen Wellen und Frequenzen nicht eine einzige Verbindung zustande. Selbst das typische Rauschen fehlte. Zu allem Überfluss funktionierten auch das bordeigene und die tragbaren GPS-Geräte nicht mehr, ganz zu schweigen von sämtlichen Handys. Das Einzige, das sich als Information auf den Displays fand, waren die Worte: Kein Netz!

Es war für fünf Personen etwas eng in der Kombüse. Sie hatten Decken auf den Boden gelegt und sich darauf niedergelassen. Der frisch gebrühte Kaffee dampfte in den Bechern. Rainer hielt einen Notizblock in der Hand und trommelte nervös mit dem Kugelschreiber auf dem zur Hälfte beschriebenen Blatt herum. Gerade hatte er ihnen seine Einschätzung der Lage mitgeteilt.

„Tja, im Groben ist das der Stand der Dinge. Habe ich was vergessen?“ Er schaute in die Runde.

„Was ist mit der Ortung?“, fragte Walter. „Ich meine, wir sind immerhin ’ne ganze Strecke ziemlich tief geflogen und werden beizeiten vom Radar verschwunden sein.“

„Ziemlich tief schon, sicher. Aber ohne Kursänderung. Die werden sich denken können, dass wir nicht über die Berge gekommen wären.“

„Was glaubst du wie lange die brauchen, bis sie hier sind?“

Rainer atmete tief durch, schloss die Augen und sagte: „Keine Ahnung – möglicherweise nur sechs oder sieben Stunden. Rein theoretisch natürlich. Die europäische Station ist zu weit entfernt, doch von MCMURDO aus könnten die in ein paar Stunden mit ihren Helikoptern bei uns sein.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Ich rechne jeden Moment damit.“

„Ein Glück, dass die Maschine größtenteils orangerot lackiert ist. Da fällt sie schon von Weitem auf.“

„Aber finden die uns denn so schnell, wenn Funk und Radar ausgefallen sind?“, fragte Michael. „Und das GPS obendrein. Da könnte es Tage dauern. Inzwischen sind wir erfroren.“

„Die wissen, dass wir kommen“, sagte Rainer. „Die hatten uns auf dem Radar, und der Zeitpunkt unseres Eintreffens ist bekannt.“

„Aber wir sind an die achthundert Meilen vom Kurs abgekommen.“

„Dann wird ’s eben noch ein Weilchen dauern, bis sie hier sind. Überlegt mal: EUROPANIA liegt mindestens eintausend Meilen nordöstlich. Die Station RUSSKAJA sechshundert Meilen hinter unserem Heck. Und MCMURDO irgendwo südwestlich hinter dem Gebirge dort vorn. Vielleicht zweihundert oder zweihundertfünfzig Meilen entfernt. Luftlinie wohlbemerkt. Auch für Helikopter nicht gerade ein Katzensprung.“

„Wie sicher bist du dir mit dem Gebirge?“, fragte Walter. „Ich meine, könnte es nicht auch Enderby Land sein?“

„Witzbold.“

„Na hör mal …“

„Denk doch nach! Du hast es selbst gesagt, als du nach unten schautest: Das ist kein Schelfeis, hast du gesagt. Das ist Inlandeis. Kannst du dich erinnern?“

Walter runzelte die Stirn „Ja und?“

„Also befanden wir uns zu dieser Zeit bereits über dem Festland. Und die Berge des Enderby Landes liegen direkt an der Küste. Abgesehen davon, dass sie nur halb so hoch sind wie die da vor uns. Unseren Kurs haben wir danach nicht geändert. Und wenn, dann nur sehr geringfügig. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Recht habe.“

„Und was sollen wir tun, bis die uns finden?“

„Abwarten und Tee trinken. Was sonst?“

„Ich weiß nicht recht, vielleicht wär ’s besser, wir verließen uns nicht zu sehr darauf, dass man uns geortet hat.“

„Was schlägst du vor?“

„Einen Peilsender zu aktivieren. Wir haben Rettungsflöße. Also ist das kein Problem.“

„Einverstanden. Der funktioniert zwar nur im Umkreis von wenig mehr als einer Meile, aber falls sich die Wetterverhältnisse verschlechtern, kann sein Einsatz entscheidend sein.“

„Na ja“, grinste Michael. „Und bis dahin haben wir ja alles, was wir zum Leben brauchen, nicht wahr?“ Er holte eine Flasche Spätburgunder hervor, die er hinter seinem Rücken bereitgehalten hatte. „Zur Feier des Tages. Ich meine – auf unsere Wiedergeburt, was Käptn?“

Rainer starrte ihn ein paar Sekunden lang wie abwesend an, schob dann den Unterkiefer vor und nahm seine Oberlippe zwischen die Zähne. Schließlich hoben sich seine Mundwinkel.

Draußen heulte der Sturm. Seit zwei Stunden rüttelte er nun schon an der lädierten Außenhaut des Wracks, pfiff durch die abgeschalteten und langsam vereisenden Turbinen und ließ Eiskristalle millionenfach mit hellem Klirren gegen die Scheiben prasseln. Etwas Hartes flog gegen den Rumpf, schrammte daran entlang und zerbarst scheppernd. Ein Eisbrocken? Ein Teil des Jumbos? Großer Gott, dachte Walter, wenn dieser Sturm während der Landung getobt hätte – nicht auszudenken! Manchmal vibrierte die Maschine derart, dass er sie noch in der Luft wähnte.

Er warf sich in seiner Koje hin und her. An Schlaf war nicht zu denken. Dabei hatte er das Glück, eine der beiden Vierer-Kabinen ganz für sich allein zu haben, denn sein permanentes Schnarchen ging den übrigen Crew-Mitgliedern verständlicherweise auf die Nerven.

Man war überein gekommen, dass das Ausbringen einer Rettungsinsel mit dem integrierten Peilsender angesichts des Sturmes nicht infrage kam: Sie wäre auf Nimmerwiedersehen davon geweht worden. Andreas’ Idee, den Sender auszubauen und an der Außenseite eines Seitenfensters im Cockpit zu befestigen, war dagegen vielversprechend und wurde in die Tat umgesetzt.

Noch lieferte das Hilfstriebwerk im Heck die notwendige Energie, um wenigstens Cockpit, die Kombüse und die Kabinen des oberen Decks zu versorgen. Wenn der Kapitän mit seiner Berechnung richtig lag, würde ihnen gegen drei Uhr morgens der Sprit ausgehen. Die Isolation der Maschine hielte dann die Wärme noch einige Zeit – zumindest hier oben im „Buckel“. Ja, und dann würde man wohl oder übel die Propangasheizungen in Betrieb nehmen und sich Gedanken um die Frischluftzufuhr machen müssen.

Walter war todmüde und konnte doch lange nicht einschlafen. Durch das Kabinenfenster drang nur wenig Licht. Dunkle Wolken jagten über den Himmel und verdeckten die tiefstehende Sonne. Das Schneegestöber, das zwischenzeitlich eingesetzt hatte, ließ nach, und auch der Sturm schien sich legen zu wollen. Sein Pfeifen und Jaulen …

… klingt ihm in den Ohren, dass er befürchtet, taub zu werden. Die Triebwerke arbeiten mit vollem Schub. Es hat keinen Sinn, Gas wegzunehmen oder hochzuziehen – die Maschine reagiert nicht. Kalter Schweiß steht auf Walters Stirn. Er wischt ihn mit dem linken Ärmel fort, während er mit der Rechten versucht, das sich wild gebärdende Steuerhorn zu bändigen. Er will den Kapitän rufen und tastet nach der Sprechanlage, aber Andreas, der plötzlich hinter ihm steht, ist schneller. Mit irrem Funkeln in den Augen, blutüberströmtem Gesicht und einem überdimensionalen Schraubendreher in den Händen attackiert er die Funkanlage und die Armaturen der Mittelkonsole. Das heisere Lachen, das er dabei ausstößt, lässt Walter das Blut in den Adern gefrieren. Er kann ihn nicht daran hindern; kann sich nicht bewegen. Dann geht es abwärts. In steilem Winkel rast die Maschine auf die glitzernde Eisfläche zu. Walter schreit, schließt die Augen, versucht mit letzter Kraft, sich aus seiner Starre zu befreien und …

… machte die schmerzliche Feststellung, dass die Koje über ihm aus solidem Material gefertigt worden war. Benommen rieb er sich den Kopf. Michael würde nun nicht länger der Einzige sein, der mit einer Beule herumlief. So ein blöder Traum aber auch – ja, träumte er denn noch? Oder schon wieder? Leuchtend grüne Lichtreflexe an der weißen Kabinentür …

Walter sprang aus der Koje, trat ans Fenster und rieb den Beschlag von der Scheibe. Die Außenseite war fast vollständig vereist, doch die wenigen Stellen, durch die er noch halbwegs freie Sicht hatte, reichten, um das Phantastischste wahrnehmen zu können, das er bis dahin geschaut hatte: In weitem Umkreis erstrahlte die Eisfläche da draußen in einem unheimlichen grünen Licht, das seine Intensität ständig änderte, allmählich schwächer wurde und schließlich ganz erlosch. Nun war wieder tiefe Dunkelheit ringsumher.

Walter löste sich vom Fenster und trat einen Schritt zurück. Nein, das war kein Polarlicht gewesen. Die geschlossene Wolkendecke hätte jegliche Beobachtung eines solchen verhindert. Und diese Intensität! Das konnte kein Polarlicht sein. Nie und nimmer!

Sollte er die anderen wecken? Drüben in der Nachbarkabine rührte sich nichts. Er schaute auf seine Uhr: Gerade Eins durch. Ha, Ende der Geisterstunde.

Nein, Unsinn. Hirngespinste …

Walter schlüpfte wieder unter seine Decke. Ja, das war es. Nur ein Resultat seines völlig überreizten Hirns. Die Auswirkung des gestrigen Tages. Der Stress. Die Todesangst. Das kam alles erst jetzt so richtig zum Tragen. Ein grünes Leuchten? Lass dich nicht auslachen, Walter. Obgleich … Der grün phosphoreszierende, durchsichtige Rüssel, durch welchen sie geflogen waren – war das nicht auch so ein unerklärliches Phänomen? Hing das etwa alles zusammen? Mit ihrer Notlandung? Aber was war die Ursache?

Nein, es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Nicht jetzt. Nicht in diesem Augenblick. Er hätte ja doch keine Antwort gefunden. Die Augenlider wurden immer schwerer. Immer schwerer …

„… schnell nach vorn. Kommt nach vorn ins Cockpit. Alle Mann. Das müsst ihr sehen. Dalli, dalli!“ Rainers Stimme aus dem Lautsprecher der Bordanlage! Walter richtete sich erschrocken auf und zuckte im gleichen Augenblick zurück. Beinahe wäre er wieder mit der Unterseite der oberen Koje kollidiert.

Ihm war klar, noch ehe sich seine Augen an das Halbdunkel im Raum gewöhnt hatten: Rainer musste das mysteriöse Leuchten gesehen haben. Und richtig, da waren sie, die Lichtreflexe. Diesmal jedoch schenkte er dem Fenster keine Beachtung. Im Nu war er raus aus der Koje, riss die Kabinentür auf und stürzte auf den Gang. Sebastian, der vor Michael und Andreas aus der Nachbarkabine kam, wich ihm aus und prallte mit dem linken Oberarm unsanft gegen die Tür der gegenüberliegenden Toilette. Walter musste lachen. Sebastian warf ihm einen zornigen Blick zu, rieb seinen Arm und rannte weiter. Sie folgten ihm. Obwohl sie sich am Abend beim Zubettgehen nicht ihrer Sachen entledigt hatten und somit keine Zeit mit dem Ankleiden zu verschwenden brauchten, trafen sie einige Sekunden zu spät im Cockpit ein. Das geheimnisvolle Leuchten war gerade verschwunden.

„Es war überirdisch!“, empfing sie Rainer und bedauerte, dass sie es nun nicht mehr hatten sehen können. Mit fliegenden Fingern nestelte er eine Zigarette aus seinem Etui. „Einfach phantastisch. Ein Wahnsinn. So was hab’ ich noch nie zuvor gesehen.“

Höchstwahrscheinlich auch Michael, Andreas und Sebastian nicht, denn die drei standen mit emporgezogenen Brauen und offenen Mündern da und starrten den Kapitän an.

„Meinst du das komische grüne Leuchten da draußen?“, fragte Walter. Rainer, der sich wieder den Windschutzscheiben zugewandt hatte, fuhr herum. „Du hast es also auch gesehen?“

Walter zuckte die Schultern und schaute auf sein Handgelenk. „Na ja, sicher. Vor ’ner halben Stunde etwa. Hielt sich etliche Sekunden, möglicherweise eine Minute – so genau kann ich das nicht sagen –, und dann verschwand ’s wieder. Wird ’n Polarlicht sein, keine Ahnung.“

„Ein Polarlicht? Du liebe Zeit, Walter, seit wann kommen Polarlichter aus der Erde?“

„Nun ja, ich weiß, was du meinst. Dass man es eigentlich nicht hätte sehen können wegen der dichten Bewölkung da draußen. Aber, wer weiß? Vielleicht ist ja die Bewölkung gerade unterhalb der Stelle, an der es sich gebildet hat, aufgerissen? Nach oben schauen konnte ich ja nicht. Ansonsten … – wieso aus der Erde?“

„Verdammt, Walter, wovon redest du eigentlich? Was genau hast du gesehen?“

Walter beschrieb mit knappen Worten seine Beobachtung. Rainers Augen wurden zu Schlitzen. Dann rollte er, kaum dass sein Erster geendet hatte, die Zunge zwischen den Zähnen hin und her und schlug sich mit der flachen Linken gegen die Stirn. „Na aber klar doch. Du kannst es ja gar nicht sehen von deiner Kabine aus. Nur den Widerschein auf dem Eis. Ha, du wirst auf jeden Fall …“

„Pass auf die Asche auf!“, rief Sebastian.

Demonstrativ schnippte Rainer die Asche auf den Boden, ohne den Blick von Walter zu wenden.

„Du wirst Augen machen, mein Lieber. Ihr werdet alle Augen machen!“ Er nahm den letzten Zug, ließ die Kippe fallen und trat sie aus. „Ich hoffe nur, dass es bald wieder kommt.“ Er beugte sich herab, um durch die Scheiben Ausschau nach dem Phänomen zu halten.

„Beschreib es uns doch einfach“, sagte Andreas gelangweilt. Er ließ sich in den Sitz des Bordingenieurs fallen.

Rainer schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht beschreiben. Völlig unmöglich. Das müsst ihr selbst sehen.“

„Wie lange sollen wir jetzt darauf warten? Ich bin todmüde.“ Andreas gähnte ungeniert. Walter pflichtete ihm bei: „Egal was es ist, wenn es sich nicht baldigst wieder zeigt, kann es mir gestohlen bleiben. Ich bleibe doch nicht die ganze Nacht auf deswegen. Wo ich meinen Schlaf so dringend brauche.“

Bevor Rainer etwas erwidern konnte, winkte Michael ab und schlurfte aus der Tür. „Ich mach’ uns erst mal ’n Kaffee. Wenn wir schon nicht zur Ruhe kommen sollen …“

Rainer sah ihm mit emporgezogenen Brauen nach, sagte jedoch nichts. Er nahm auf dem Pilotensitz Platz und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Gut. Wenn sich bis gegen Drei nichts getan hat, verschwinden wir wieder in den Kojen. Das heißt natürlich: Es bleibt jedem selbst überlassen.“

Sebastian seufzte und setzte sich neben Rainer. Er verschränkte die Arme, lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. „Weckt mich, wenn ’s losgeht, ja?“

Na schön, dachte Walter. Auch er setzte sich und gähnte gelangweilt. Bis Drei. Keinen Augenblick länger.

Die Temperatur im Cockpit war akzeptabel, sofern man hier nicht zu lange ausharren musste. Dreizehn Grad Celsius. In manch einem ungeheizten Keller herrschen schon bei einer Außentemperatur um den Gefrierpunkt die gleichen Temperaturen.

Die Minuten schlichen im Schneckentempo dahin. Walter war nahe daran, seinem Unmut Ausdruck zu verleihen, als Rainer plötzlich rief: „Da ist es wieder.“

Heiliger Strohsack! Walter hatte nur den Widerschein des Lichtes mitbekommen, nun aber sah er erstmals dessen Quelle. Es war, da gab er Rainer Recht, wahrhaftig unmöglich zu beschreiben. Sie hatten den Eindruck, die Wolkendecke risse auf und die Sonne schicke ihre Strahlen daraus hervor. Doch diese befand sich derzeit hinter ihrem Heck und hätte wohl auch kaum hellgrün geglüht. Nein, das Licht quoll vielmehr aus den Schluchten und Felsspalten der Berge. Das gesamte Felsmassiv ähnelte einer riesigen, perforierten Gesteinshülle, aus deren Innern sich ein gigantisches Leuchten einen Weg ins Freie bahnte. Kreuz und quer zuckten grüne Strahlen bis hinauf zu den Wolken, wo sie als grelle Lichtpünktchen abgebildet wurden. Nebel stieg träge aus den Schluchten empor, wurde in blasses, grünliches Licht getaucht und waberte an den Bergflanken entlang, um sich dort, wo die Gipfel ins Wolkenmeer tauchten, mit diesem zu vermischen. Es war weiß Gott ein Schauspiel, das seinesgleichen suchte.

Sie waren überwältigt. Nun konnten sie Rainers Euphorie begreifen. Diese Lasershow stand in keinem Verhältnis zu dem, was Walter beobachtet hatte.

In der Tür verharrte Michael mit weit aufgerissenen Augen, in denen sich das grüne Leuchten spiegelte. Das Tablett mit den Kaffeetassen in seiner Hand geriet gefährlich ins Wanken. Schnell griff Walter zu und nahm es ihm aus den Händen.

„Oh Mann“, sagte Michael und starrte weiter durch die Scheiben. „Oh Mann“, wiederholte er leise.

Zwei Sekunden später herrschte draußen wieder Dunkelheit, als habe jemand einfach einen Schalter umgelegt.

Sie saßen in der Kombüse des oberen Decks und schlürften, in Gedanken versunken, ihren Kaffee. Um Energie zu sparen, hatte Rainer nur das Notlicht zugeschaltet. So konnte ihnen auch das Leuchten nicht entgehen, wenn es sich abermals zeigen sollte.

Der Sturm draußen hatte sich gelegt. Ab und zu huschte ein heller Streifen am Fenster vorbei, wenn es der Sonne gelang, sich durch die Wolken zu kämpfen. Endlich brach Andreas das Schweigen: „Wenn ihr mich fragt – das ist keine natürliche Strahlenquelle.“ Er schüttelte mit starrem Blick den Kopf. „Kann ich mir jedenfalls nicht vorstell’n.“

Rainer schob die Unterlippe nach vorn. „Wer weiß? Vielleicht hat ’s nur noch keiner beobachtet? Ich meine, das ist doch möglich, oder?“

„Kann ich mir nicht denken. Ein Polarlicht – da sind wir uns wohl einig – kann ’s unmöglich sein. Und was Ähnliches kommt nun gleich gar nicht infrage. Wir hätten längst davon hören müssen.“

Rainer runzelte die Stirn. In seinem Gesicht arbeitete es. Dann senkte er den Kopf, blitzte Andreas aus den schmalen Schlitzen seiner Augen an und fragte: „Wie lange, glaubst du, gibt es schon die Tromichoten als Ursache für die fast unheilbare Keulenfußkrankheit bei den Thompson-Gazellen in Afrika?“

Andreas riss die Augen auf. „Die – was?“

„Du wirst doch schon davon gehört haben, oder etwa nicht? Stand doch in allen Zeitungen damals. Ich meine die krankhafte Veränderung des Gewebes an den Hinterbeinen der Gazellen, die deren Fesseln keulenförmig anschwellen lassen, bis sich Risse in der Haut bilden und die Viecher elendig zu Grunde gehen. Diese Krankheit, die durch eine bestimmte Insektenart übertragen wird, gab es schon vor Jahrtausenden, doch nie hat sie sich derart schnell ausgebreitet und nie sind ihr eine solche Menge Tiere zum Opfer gefallen wie vor ein paar Jahren, als die Thompson-Gazellen fast vom Erdboden verschwunden wären.“

„Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst“, knurrte Andreas. „Was hat das mit diesem Leuchten zu tun?“

„Wie gesagt, die Krankheit gab ’s schon immer, nur hat sie kaum Beachtung gefunden. Und plötzlich, als sie zu grassieren begann, fielen die Wissenschaftler aus allen Wolken und begannen fieberhaft nach einem entsprechend wirksamen Serum zu forschen. Ich meine, das hatte doch auch eine natürliche Ursache, und mit dem Licht wird es sich ebenso verhalten.“

Andreas runzelte die Stirn. „Unsinn. Lässt sich doch gar nicht miteinander vergleichen. Abgesehen davon, dass ich mir bei manchen Virusarten nicht sicher bin, ob sie wirklich auf natürlichem Weg entstanden sind. Aber zurück zu diesem Leuchten: MCMURDO liegt, wie du selbst gesagt hast, nicht weit von hier hinter der Bergkette. Die hätten es doch längst mitkriegen müssen.“

„Haben sie bestimmt auch und wissen, worum es sich handelt.“

„Bist du dir da sicher?“, fragte Sebastian, der der seit Minuten gedankenverloren in seiner Tasse rührte, und blickte, als er ihre nachdenklichen Minen sah, triumphierend in die Runde. „Vielleicht kann man es aus ihrem Blickwinkel heraus gar nicht sehen?“

„Quatsch“, brummte Andreas nach einer Weile. „Da glaube ich eher dran, dass die selbst was damit zu tun haben.“

„Wie meinst du das?“, fragte Sebastian. Er hielt mit Rühren inne.

„So, wie ich ’s sage. Wäre doch wohl naiv, zu glauben, dass die dort nur das Wetter beobachten oder die Zusammensetzung des Eises studieren.“

„Jetzt mach’ aber mal ’n Punkt!“, sagte Rainer scharf. „Was sollen die sonst machen? Und warum ausgerechnet MCMURDO? Genauso gut könnten deine Verschwörungstheorien auf alle anderen Stationen zutreffen.“

„Ich habe kein Wort von einer Verschwörung gesagt.“

„Wovon redest du dann?“

„Könnt ihr euch noch an die vier verplombten Container erinnern, die man vor zwei Jahren auf EUROPANIA ausgeladen hat und die für MCMURDO bestimmt waren? Die standen nicht mal auf der Ladeliste.“

„Dann müsste man auf EUROPANIA davon gewusst haben“, sagte Walter. „Die Container mussten ja schließlich später bis MCMURDO transportiert werden.“

„Das war für die auf EUROPANIA doch völlig uninteressant. Wie oft haben wir dort Dinge abgeliefert, die für andere Stationen gedacht waren, weil die nicht über eine entsprechend präparierte Piste verfügen. Und die Listen vergleichen immer diejenigen, für die die Ladung bestimmt ist.“

„Hm“, murmelte Walter. „Ich weiß nicht recht …“

Andreas nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse. „Machen wir uns doch nichts vor. Überall auf der Welt gibt es geheime Labors oder Militärbasen. Und ausgerechnet Antarktika soll davon nicht betroffen sein? Hier, wo Bedingungen herrschen, wie sie nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen? Wo man ungestört unter dem Deckmantel einer zivilen, wissenschaftlichen Polarforschung mit allem Möglichen experimentieren kann? Das kann nur jemand glauben, der sich die Unterhose mit der Kneifzange anzieht!“

Rainer spitzte die Lippen zu einer Entgegnung, brachte aber dann doch kein Wort hervor und brannte sich stirnrunzelnd eine neue Zigarette an. Walter musste lächeln.

„Was grinst du da?“, fragte ihn der Kapitän. „Bist du derselben Meinung?“

Walter zuckte mit den Schultern und griff ebenfalls nach einer Zigarette. „Was die auf den Stationen treiben, ist mir schnuppe. Ich schließe sowohl das eine als auch das andere nicht aus. Das Einzige, an das ich denke, ist unsere Rettung.“

Rainer schaute ihn zwei Sekunden lang mit offenem Mund an. Dann nickte er. „Hast Recht. Hat ja auch Vorrang. Und solange wir nicht … – was hast du denn?“ Die Frage war an Sebastian gerichtet, der hustete und die Rauchschwaden vor seinem Gesicht mit der Hand zerteilte. „Könnt ihr nicht ins Cockpit gehen mit euren Sargnägeln? Ich kriege kaum noch Luft.“

„Komm, Walter.“ Der Kapitän erhob sich.

Im Cockpit war es merklich kühler geworden.

„Kann nicht mehr lange dauern, bis die Turbine ihren Geist aufgibt“, sagte Rainer. „Wenn Andy ausgeschlafen hat, muss er sich um die Heizungen kümmern.“

„Ja. Eine müssen wir hier vorn in Betrieb nehmen. Die Windschutzscheiben vereisen derart schnell, dass – ach du Heimatland!“

„Was ist?“ Rainer folgte Walters Blick.

„Der Peilsender ist verschwunden. Und mit ihm die Haltevorrichtung. Da müssen wir uns nachher was Besseres einfallen lassen.“ Walter versuchte, das Seitenfenster vollständig zu schließen, denn durch den kleinen Spalt, in welchem bis vor Kurzem noch die Klammern gesteckt hatten, drang ungehindert die Kälte herein. Es gelang ihm nicht. Das Fenster war eingefroren.

„Stopf derweil ’nen Lappen rein. Hier, den Bezug der Kopfstütze.“

„Dafür ist der Spalt nun wieder zu schmal.“

„Warte, ich habe ’ne Idee.“ Rainer verließ das Cockpit und kehrte eine Minute später mit zwei nassen Papierhandtüchern zurück. „Da, die müssten reinpassen. Einfach der Länge nach in den Spalt hineinpressen. Der Frost fixiert sie, und die Zugluft bleibt draußen.“

Walter drückte das feuchte Papier mit den Fingerspitzen in die schmale Lücke. „Gut. Besser als nichts. Mal sehen, wie lange es hält.“ Er schüttelte die Hände und rieb sie gegeneinander. Seine Fingerkuppen brannten. Er warf den Zigarettenstummel zu Boden und trat die Glut aus. Dann blickte er schuldbewusst in Rainers Augen. Der griente und machte es Walter nach. „Wozu jetzt noch Rücksicht nehmen? Die Maschine ist eh Schrott!“

„Ja. Das ist sie“, sagte Walter und nickte. Dann deutete er auf die Armaturen. Ein rotes Lämpchen blinkte. „Siehst du?“

„Das Hilfstriebwerk.“ Rainer schaute auf seine Uhr. „Zwanzig Minuten über den geschätzten Zeitpunkt hinaus. Na, immerhin. Wenn wir ausgeschlafen haben, nehmen wir die Gasheizungen in Betrieb. Solange wird die Isolation der Maschine die Kälte draußen halten. Was ist, bleibst du noch, oder haust du dich auch wieder hin?“

„Ich komme mit. Die anderen sind doch bestimmt schon längst in den Kojen.“

Rainer wollte aus dem Cockpit gehen, doch Walter hielt ihn am Arm zurück. „Sollten wir nicht abwechselnd schlafen, um mitzubekommen, wenn sich draußen was tut?“

„Keine Sorge, wenn die Mannschaften hier eintreffen, kriegen wir das schon mit.“

„Nur eine Frage noch, weil wir gerade allein sind: Was zum Kuckuck sind Tromichoten? Und dann diese Geschichte mit der Keulenfußkrankheit. Ich habe niemals davon gehört!“

Rainer sah ihm schelmisch in die Augen, grunzte, als müsse er sich das Lachen verkneifen und nagte an seiner Oberlippe. „Ich auch nicht“, sagte er. „Aber mir fiel in diesem Moment nichts Besseres ein.“

Walter schüttelte den Kopf. „Klang eigentlich ganz überzeugend. Hast dich nicht einmal verhaspelt dabei. Nur – glaubtest du wirklich, Andreas damit beeindrucken zu können?“

„Ich wollte ihm lediglich klarmachen, dass es immer eine natürliche Erklärung für Phänomene gibt, auch wenn er noch nichts von ihnen gehört hat. Hat aber irgendwie nicht verfangen bei ihm. Er kam ja gleich mit seiner These von geheimen Experimenten.“

„Sind die wirklich von der Hand zu weisen?“

Rainer starrte, seine Oberlippe zwischen den Zähnen, auf einen imaginären Punkt. Dann blinzelte er und schaute Walter fragend an. „Ich weiß es nicht. Weißt du es?“

Walter atmete tief durch und schüttelte den Kopf.

Die letzte aller Chancen

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