Читать книгу Die dunklen Bücher - Der Fluch des alten Bergwerks - Matthias Bauer - Страница 9
ОглавлениеDrei Wochen zuvor
Eine Überraschung für Familie Schaller
Die Reifen des Fahrrads quietschten. Wie immer war Augusta viel zu schnell gewesen und hatte gerade noch rechtzeitig gebremst, um die Kurve in ihre Hauseinfahrt zu nehmen. Wie immer schaffte sie die Kurve und das ganze Manöver sah auch noch elegant aus, als ob Augusta es genauso beabsichtigt hätte.
Das Mädchen sprang vom Rad und wischte sich die verschwitzten, blonden Haare aus dem Gesicht. Es war ein heißer Sommertag gewesen und auch jetzt, am Abend, hatte es kaum abgekühlt. Augusta machte das nichts aus. Die Hitze gehörte für sie zum Sommer wie Schwimmen, Pommes frites und Eis. Wenn ihre jüngere Schwester Julia jammerte, dass ihr zu heiß war, gab Augusta ihr erst einen spielerischen Hieb auf die Schulter und dann den Tipp, ins Schwimmbad zu gehen und sich nicht immer nur hinter ihren Büchern zu verkriechen. Julia verdrehte die Augen, aber hie und da befolgte sie den Ratschlag. Dafür nahm die quirlige und in der Schule nicht immer motivierteste Augusta manchmal auch einen Rat ihrer ruhigen Schwester an. Und so ergänzten die beiden einander trotz aller Streitereien ganz gut. „Ein Gleichgewicht des Schreckens“ wie es Michael Schaller, der Vater der Mädchen, scherzhaft nannte.
Augusta läutete am Tor des Mietshauses, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Der elektrische Öffner summte, Augusta drückte die Tür auf und betrat den Eingangsbereich mit den Postkästen und dem altertümlichen Treppenaufgang. Der Lift war wieder einmal kaputt, aber das kümmerte das sportliche Mädchen nicht. Sie lief die Stufen hinauf, nahm sogar zwei auf einmal, denn ihr Magen knurrte. Sie hatte den Tag mit ihren besten Freundinnen Vicki und Karla im Schwimmbad verbracht und war dann noch zwei Stunden in der Kletterhalle gewesen. „So darf es ruhig weitergehen“, dachte Augusta, „dann wird das der beste Sommer meines Lebens.“
„Wohin fahren wir? In die Berge?“ Entrüstet schob Augusta den Teller mit den erst halb aufgegessenen Spaghetti Carbonara zurück. Sie liebte Spaghetti Carbonara und es musste schon viel geschehen, dass sie sich nicht mindestens einen Nachschlag holte. Aber was ihr heute beim Abendessen eröffnet worden war, hatte Augusta den Appetit schlagartig vergehen lassen.
„Ganz genau. In die Berge.“ Franziska Schaller, Augustas Mutter, schob sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht – eine Geste, die ihre ältere Tochter in letzter Zeit immer öfter unbewusst nachahmte. „Euer Onkel Andreas besitzt dort eine Almhütte. Ein gemeinsamer Urlaub ist genau das, was diese Familie braucht.“ Ihr Blick schweifte zu Michael Schaller, einem großen Mann mit dunklen Haaren, der mit einer Hand über die Oberfläche seines Handys wischte. Die Gabel Spaghetti in seiner anderen Hand schwebte unbeachtet in der Luft.
„Außerdem ist es höchste Zeit, Onkel Andreas wieder einmal zu besuchen“, fuhr die Mutter fort. „Das letzte Mal wart ihr noch ganz klein.“
„Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte Augustas Vater jetzt und schüttelte den Kopf. Augusta wusste, dass er gar nicht zugehört hatte. Wahrscheinlich gab es wieder Stress in der Firma wo er arbeitete.
„Findest du nicht auch, dass der Urlaub eine gute Idee ist, Michael?“, hakte Augustas Mutter nach.
Der Vater reagierte nicht, seine Augen waren immer noch auf das Handy gerichtet.
„Michael Schaller!“
Jetzt zuckte er zusammen, dabei fiel ihm die Portion Nudeln von der Gabel genau auf das Handy. Ärgerlich wandte er sich Franziska zu. „Bravo! Gerade jetzt, wo ich –“
„‚Quod erat demonstrandum‘, Augusta.“ Manchmal würzte Franziska Schaller, die stundenweise an der Universität arbeitete, ihre Redeweise mit lateinischen Zitaten. Meist dann, wenn ihr etwas besonders ernst war. „Das ist lateinisch und bedeutet ‚Was zu beweisen war‘. Euer Vater ist mit seinen Gedanken nur mehr bei seiner Arbeit und du bist fast immer mit deinen Freundinnen unterwegs.“
„Und was soll daran falsch sein?“, murrte Augusta. „Ist ja schließlich Sommer.“
„Was ist mit mir? Ich bin doch immer da.“ Alle wandten sich Julia zu, die vor einem sauber leergegessenen Teller saß. Ihre Augen blickten treuherzig, ihre langen braunen Haare waren wie immer ordentlich zusammengebunden. Aber Augusta kannte ihre ach so brave Schwester und wettete, dass diese heimlich ein Buch auf dem Schoß liegen hatte.
Die Mutter lächelte. „Das stimmt zwar, aber dir würde mehr frische Luft auch guttun.“
Sie beugte sich zu Julia, nahm ihr einen dicken Schmöker vom Schoß und legte ihn auf den Tisch. „Und was habe ich über Lesen beim Essen gesagt?“
Julia wurde rot. Augusta grinste in sich hinein.
Michael Schaller legte die Stirn in Falten. „Ich kann nicht so einfach weg.
Was ist mit meiner Arbeit?“
„Als ob du keinen Urlaub hast.
Da müssen doch noch fünf Wochen allein vom letzten Jahr übrig sein“, entgegnete Franziska.
„Und was ist mit Vicki und Karla? Klettern? Internet?“ Augusta fuchtelte mit ihrem Handy herum. „Und unsere Serien, die ich immer mit Vicki und Karla ansehe? Auf einer Hütte gibt’s das doch alles nicht.“
„Sehr richtig, das gibt’s dort nicht.“ Augustas Mutter stemmte die Hände in die Hüften. „Drei Wochen kommst du sicher sehr gut ohne das alles aus.“
„Aber –“, setzte der Vater an.
„Aber –“, setzte die Tochter an.
„Nichts aber!“ Die Mutter stand auf. „Wir fahren! Punkt, aus!“
Sie nahm ihren Teller und trug ihn in die Küche.
„Also, ich find’s super. Auf einer Hütte hab ich sicher noch mehr Zeit zum Lesen.“ Julia strahlte.
Michael und Augusta sahen Julia an, sahen sich gegenseitig an und schüttelten den Kopf, einen gemeinsamen Seufzer ausstoßend …