Читать книгу Gott finden. Wie geht das? - Matthias Beck - Страница 5
HINFÜHRUNG
ОглавлениеJeder Mensch ist mit sich selbst allein. Selbst wenn er in Gemeinschaft mit anderen lebt, ist jeder zunächst eine Einzelperson. Die Mitmenschen können helfen, das Alleinsein auszuhalten. Aber auch im Kreis anderer Menschen kann man sehr allein sein und sich einsam fühlen. Alleinsein kann für den, der es aushält, sehr erfüllend sein. Einsamkeit hingegen ist bedrückend und kann krank machen.
Jeder bleibt immer er selbst. Er ist sich zugemutet. Er kann sich nicht entfliehen. Er kann in irgendein Land auswandern und nimmt sich doch immer mit. Er kann nicht aus sich heraus. Er kann sich nicht ausweichen. Er kann mit niemandem tauschen. Manchmal könnte man vor dieser Erkenntnis erschrecken: Ich bin ich. Ich lebe. Ich lebe mein Leben, nicht das des Anderen. Ich kann mir nicht entkommen. Niemand kann mir das abnehmen. Ich kann mein Leben nicht abgeben. Ich kann es nur annehmen oder ablehnen. Es ist mir aufgegeben und zugemutet. Wir sind in die Welt hineingeworfen, so ähnlich sagt es der Philosoph Martin Heidegger (1889 –1976). Wie kann ich das aushalten? Wie kann ich mich aushalten?7
Können andere mir bei meiner Lebensbewältigung helfen? Tatsächlich sind wir aufeinander angewiesen. Wir kommen vom Du der Eltern her. Sie haben uns gezeugt. Niemand ist gefragt worden, ob er leben will. Andere haben entschieden, dass ich lebe. Manche finden es gar nicht gut, in dieser Welt zu sein.8 Jetzt aber bin ich da in dieser Welt. Was Dasein heißt, weiß ich, weil ich da bin. Ich bin in meiner Welt, der Andere in seiner Welt. Sind dies abgeschlossene Welten?9 Jeder in seiner Welt? Wie können wir uns da verständigen? Gibt es Gemeinsames? Gibt es nur meine Welt und die Welt des Anderen, oder gibt es auch eine gemeinsame Welt, die uns verbindet? Eine Welt dahinter oder dazwischen? Eine Welt für mich, für den Anderen und die Welt an sich?
Immanuel Kant (1724 –1804) würde sagen, dass die Menschen durch Prinzipien verbunden sind, die dem Ganzen zugrunde liegen. Sicher ist, dass die Welt mir vorausliegt. Sie war schon da, bevor ich kam. Ich muss mich auf sie einstellen. Aber nicht nur die Welt liegt mir voraus, sondern auch Menschen mit den Generationen zuvor bis hin zu meinen Eltern. Von dort her kommen genetische Ausstattungen und psychische Prägungen. Diese Prägungen stammen nicht nur von den Eltern und ihrer Erziehung, sondern auch aus der Kultur, der Religion, der Tradition. Zunächst muss sich jeder in das Vorgegebene einfügen, bevor er beginnen kann, seine Welt und die Welt insgesamt zu gestalten. So wird das Vorgegebene langsam zum Aufgegebenen und zur Aufgabe.
Ich sehe die Welt mit meinen Augen, höre Geräusche mit meinen Ohren, taste mit meinen Fingern, fühle und spüre die Dinge in meinem Leib. Ich weiß gar nicht, wie die Welt »wirklich« ist, ich kenne sie nur durch meine Wahrnehmungen. Das »Ding an sich« können wir nicht erkennen, so hat es Immanuel Kant formuliert. Der Andere hat eine andere Wahrnehmung und einen anderen Zugang zur Welt als ich. Jeder hat seine Perspektive. Ich kenne die Welt nur so, wie ich sie wahrnehme. Der Andere kennt sie nur so, wie er sie wahrnimmt. Vielleicht kann ich mich mit ihm darüber austauschen, und wir können uns gegenseitig bereichern: meine Sicht, seine Sicht. Ich kann mich auch in ihn hineinversetzen, »in seinen Schuhen gehen«. Aber es bleibt meine Wahrnehmung seines Lebens. Ganz der Andere kann ich nie sein. Während ich die Welt und den Anderen wahrnehme, nehme ich mich wahr, wie ich mich bei einem Gespräch fühle, wie es mir mit den Ereignissen geht, die ich erlebe. Diese Selbstwahrnehmung kann geschult werden. Davon handelt das Buch.
Diese Selbstwahrnehmung
kann geschult
werden. Davon
handelt das Buch.
Ich nehme nicht nur die Welt und mich in dieser Welt wahr, sondern auch andere Menschen. Ich nehme sie wahr, sie nehmen mich wahr. Wie kann man sich da verständigen? Wie komme ich aus mir heraus? Wie werde ich befreit aus meiner »Ich-Verfangenheit«? Zunächst ist es der Andere, der mich infrage stellt oder auch bereichert. Die Auseinandersetzung mit dem Anderen und den Ereignissen der Welt sind eine Anfrage an mich. Aber beide – der Andere und die Ereignisse – sind auch ein Gewinn. Der Andere führt mich über mich selbst hinaus, er zeigt mir andere Perspektiven auf, er erweitert meinen Blick. Es kommt zum Dialog. Und die Ereignisse fordern mich heraus.
Man merkt oft erst in der Einsamkeit, dass da etwas fehlt, nämlich der Andere. Lerne ich mich erst durch den Anderen kennen? In jedem Fall gibt es die Sehnsucht, sich mit dem Anderen auszutauschen. Das hat die Corona-Krise gezeigt. Die Menschen wurden in die Isolation geschickt, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Und doch haben sich viele bemüht, Kontakte über Telefon, Handy oder Computer aufrechtzuerhalten. Viele lernten auch neu, dem Anderen zuzuhören. Bei Video-Konferenzen können nicht alle gleichzeitig sprechen. So gibt es verschiedene Herausforderungen: Einerseits stehen wir im Austausch mit anderen Menschen, sonst könnten wir gar nicht überleben, und andererseits müssen wir lernen, es mit uns selbst auszuhalten.
Verständigung mit anderen Menschen vollzieht sich zunächst nonverbal zwischen Eltern und kleinsten Kindern, später auch mithilfe von Worten und Begriffen. Kinder können die Dinge anfassen und mit den Händen begreifen, später müssen sie die Welt geistig begreifen und das Begriffene auf den Begriff bringen. Wir sprechen mit Worten, wir haben etwas zu sagen. Durch das Wort ereignet sich etwas. Durch das Sprechen geben wir nicht nur Informationen weiter, sondern teilen uns als Person mit. Dadurch geben wir immer auch etwas von uns selbst preis. Alles Sprechen und Handeln ist zudem von Emotionen begleitet.
Das heißt allerdings noch nicht, dass der eine Mensch den anderen Menschen auch versteht. Dieser kann das gesprochene Wort akustisch hören, und es inhaltlich doch nicht verstehen. Daher muss man bezüglich des Inhalts manchmal nachfragen: Habe ich dich richtig verstanden, dass du das sagen wolltest? Wenn der Andere das bestätigt, kann man darauf antworten. Diese Art und Weise der Gesprächsführung würde viele Missverständnisse vermeiden helfen: Erst fragen, ob ich den Anderen verstanden habe, und ihm dann antworten. Es geht nicht nur darum, den Inhalt dessen zu verstehen, was der Andere sagt, sondern auch um das, wie er es sagt und wie er sich als Person darin ausdrückt. Er spricht sich als Mensch in seinen Worten aus, aber auch in und mit seinen Emotionen, Gesten, Blicken und inneren Haltungen. Erst wenn Menschen sich in dieser Ganzheit von Wort und innerem Wesen miteinander verständigen können, kommt es zu wirklicher Begegnung. Wenn dies nicht geschieht, kommt es statt zu einer Begegnung oft zu einer »Ver-gegnung«, wie Martin Buber (1878 –1965) das genannt hat.
Aus welchen Gründen können und möchten sich Menschen gut verstehen? Zunächst einmal will jeder vom Anderen angenommen werden. Dann kann es sein, dass Menschen beruflich miteinander zu tun haben, gemeinsame Hobbies pflegen, zusammen Kinder großziehen oder einfach gerne miteinander Zeit verbringen. Aristoteles (384 –322 v. Chr.) hat diese verschiedenen Ebenen anhand von Freundschaften beschrieben10: Es gibt Freundschaften, die man pflegt, weil man einen Nutzen davon hat oder wegen der gemeinsamen Lusterfahrung, oder – als höchste Form – weil es einem um die Freundschaft als Freundschaft geht.11 Man will mit dem Anderen befreundet sein, weil man mit ihm zusammensein will. Mit diesen Menschen will man sein Leben teilen und um des Zusammenseins willens zusammensein, ohne weitere Zwecke damit zu verbinden.
Das Christentum sagt
darüber hinaus, dass es
darum gehe, den Anderen
um seiner selbst willen zu lieben, ohne weitere Bedingungen.
Immanuel Kant spricht davon, dass es darum gehe, den Anderen um seiner selbst willen zu achten. Er entwickelt dies im Zusammenhang mit dem Begriff der Menschenwürde. Das Christentum sagt darüber hinaus, dass es darum gehe, den Anderen um seiner selbst willen zu lieben, ohne weitere Bedingungen. Man soll den Anderen nicht (vollständig) verzwecken. Allerdings weiß jeder, dass es in Beziehungen immer wieder geschehen kann, dass der Eine mit dem Anderen berechnend umgeht.12
Das Berechnende stört das Vertrauen zwischen Menschen. Der Andere wird nicht mehr um seiner selbst willen angenommen, sondern nur unter bestimmten Bedingungen. Diese muss er erfüllen. Dadurch wird das Verständnis füreinander abnehmen. Daher muss man an Freundschaften arbeiten. Sonst passiert es, dass man einander nicht mehr versteht, sich auseinanderlebt und womöglich auseinandergeht. Es gibt ein wohlwollend-liebendes Miteinander, aber auch das Gegenteil davon: Streit, Hass und Verachtung.
Wir suchen nach
Phänomenen, die diesem
»um seiner selbst
willen« oder dem
»aus sich selbst
heraus«
entsprechen.
Die Frage ist, ob es so etwas wie das »Um seiner selbst willen« oder »Aus sich selbst heraus« überhaupt gibt, oder ob nicht alles einer Berechnung unterliegt. Im alltäglichen Leben mag vieles dem Kalkül unterliegen. Die Frage ist aber, ob das schon alles ist. Denn wenn wir in diesem Buch auf die Suche nach dem Absoluten gehen, dann suchen wir nach Phänomenen, die diesem »Um seiner selbst willen« oder dem »Aus sich selbst heraus« entsprechen. Um bei Letzterem zu bleiben: Allein dasjenige (oder derjenige), das (oder der) durch nichts Anderes geworden ist, sondern aus sich selbst heraus ist (nicht geworden ist), ist das Göttliche – wenn es das überhaupt »gibt«. Doch wenn es das gibt, kommt es nicht von woanders her, sondern ist aus sich selbst heraus: ohne Raum, ohne Zeit, ewig. Es ist in diesem Sinne das Selbstverständliche, das sich aus sich selbst heraus versteht und aus sich selbst heraus ist und den Anderen um seiner selbst willen annimmt.
Wenn es so sein sollte, dass das Göttliche aus sich selbst heraus ist, dann ist die Frage, warum es aus sich selbst heraus ist, sinnlos. Das »Aus-sich-selbst-heraus-Seiende« kann nicht durch etwas Anderes begründet werden. Es begründet sich selbst, es ist, was es ist, es erklärt sich aus sich selbst heraus. Es ist wie ein mathematisches Axiom, das auch nicht mehr durch etwas Anderes erklärt werden kann. Das »Aus-sich-selbst-heraus-Sein« kann dann etwas Anderes, von sich Unterschiedenes, aus sich entlassen. Sollte am Anfang eine Energie gewesen sein, dann stellt sich sofort die Frage, woher diese Energie stammt. Da besagt das Wort »En-ergie« etwas Treffendes: En-ergeia bedeutet im Griechischen: etwas ins Werk setzen. Das kommt in die Nähe dessen, was christliche Theologie als Schöpfung bezeichnet. Die Energie kann etwas ins Werk setzen, sie kann aber sich selbst nicht ins Werk setzen, sie kommt von woanders her. Zusammengefasst: Alles innerweltlich Endliche ist von einem Anderem her. Allein das Göttliche ist aus sich selbst heraus und nicht von etwas Anderem her. Es kann aus dem Nichts etwas schaffen (»creatio ex nihilo«).