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Kapitel 1. Casus Belli

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Die Kraftfelder ließen nur leichte Brisen durch. Die eisigen Böen, die von den Bergen herunterkamen, prallten von ihnen ab. Es war, als säße man tausend Meter tiefer im alpinen Sonnenschein und genieße das Panorama, das in der Tat atemberaubend war. Der klare, wolkenlose Märzenhimmel hatte etwas Euphorisierendes, er schien elektrisch zu prickeln. Das Licht war hell und rein wie Elastalstahl. Die Gipfel, die noch weit über uns aufragten, schimmerten grünlich, als habe sich auf den kristallischen Basaltformationen ein Flor von Grünspan angesiedelt. Aber es war nur die froststarre Vorfrühlingssonne, die um die höchsten Spitzen und Zinnen webte. Einen Kilometer tief, fast senkrecht unter uns, wand sich der junge Fluss durch das zersägte und treppenförmig eingeschluchtete Tal. Dort blühten schon die wilden Mandelbäume, die das andesitische Braun der Geröllhänge mit einem Duft von zartestem Rosa überzogen.

»Vor einer Woche lag noch Schnee«, sagte Gordon Kauffmann und blickte zu den Bergzügen hinauf.

Jetzt war überall der anstehende Fels zutage getreten. Nur in den Rinnen und Schrunden, die niemals die Sonne zu sehen bekamen, hielt sich noch schwarz schimmerndes Eis. In den nächsten Tagen würde sich die Talsohle zu begrünen beginnen. Die ganze Szenerie würde dann allmählich ihre Wildheit einbüßen und eine feriale Milde gewinnen.

Wir sahen der Ordonnanz zu, die das Geschirr abräumte. Mit versonnenem Lächeln weilten unsere Blicke auf der schlanken Gestalt der zwanzigjährigen Offiziersanwärterin, die eine Uniform aus hellgrauem Leinen trug. Aus echtem Leinen, wie ich mit einer leichten Verdutztheit feststellte. Kauffmann missinterpretierte die wohlwollende Verweildauer meines Blickes, dem er mit süffisantem Lächeln folgte. Er bot mir eine Zigarette an. Ich lehnte dankend ab, denn ich hatte das Qatten seit langem aufgegeben. Von einem Tag auf den anderen vertrug ich es nicht mehr, und meine derzeitige, immer noch geschwächte Verfassung war nicht dazu geeignet, wieder damit anzufangen. Aber als er sich seine Zigarette ansteckte und der Ausläufer einer Windböe die ersten gekräuselten Rauchflocken zu mir trieb, stellte ich fest, dass er Tabak rauchte. Innerhalb weniger Momente war das die zweite Überraschung, die einen nostalgischen Anflug hatte. Ich war mir nicht im klaren darüber, ob diese Nostalgie angebracht war. Sie hatte etwas von sauren Trauben. Die Menschheit, die ihre interstellaren Ambitionen hatte begraben müssen, entdeckte rustikalere Freuden wieder und wies mit cowboyhaftem Grinsen ihre handgemachten Lederstiefel und bestickten Westen vor.

Ich behielt diese Gedanken für mich. Schließlich war Kauffmann, der Persönliche des Kanzlers, noch der Wohlwollendste und Verständnisvollste unserer Gesprächspartner. Seit unserer Landung auf der Plattform der Bunkerstadt waren einige Tage vergangen. Während der ersten achtundvierzig Stunden waren wir künstlich ernährt worden. Ich hatte diese Zeit liegend verbracht. Die besten Ärzte, die der Zivilregierung zur Verfügung standen, hatten uns untersucht. Sanitätsroboter hatten uns von Kopf bis Fuß gescannt, um festzustellen, ob unsere Unterernährung und die Strahlenbelastung während des beispiellosen Fluges bleibende Schäden in unseren inneren Organen hinterlassen hatten. Schließlich hatten sie Entwarnung gegeben. Wir waren abgemagert, aber kerngesund. Jennifer hatte es schon während der Quarantäne nicht im Bett gehalten. Sie war zwischen den Visiten immer auf den Beinen und versuchte Kontakte zu knüpfen und Informationen über den Stand der Dinge einzuholen. Alles, was wir dabei erfuhren, war, vorsichtig ausgedrückt, ernüchternd.

Der Kanzler, Seine Eminenz Cole Johnson, ließ sich zu einem persönlichen Besuch auf unserer Station herab, die hermetisch abgeriegelt war. Er tauschte ein paar Höflichkeitsadressen und andere Floskeln und stellte uns eine Auszeichnung in Aussicht. Auf Jennifers forsch vorgetragene Erkundigung nach dem Stand der Rüstungsanstrengungen reagierte er verstimmt und erklärte die Audienz für beendet. Er stellte Kauffmann zu unserer Begleitung ab.

Auf mehr Verständnis stießen wir bei der Unionsverwaltung der Fliegenden Abteilung. Hier wies man unser Ansinnen zumindest nicht vollkommen ab. Aber auch der zuständige Minister verhielt sich ausweichend. Er sagte, wir müssten zunächst wieder zu Kräften kommen, womit er plump auf Zeit spielte.

Das Mittagessen war eine meiner ersten festen Mahlzeiten gewesen, die ich ohne ärztliche Aufsicht hatte zu mir nehmen können. Nach einer leichten Hühnerbrühe servierte die Ordonnanz im schlichten Feldgrau eine zarte Lammkeule mit echtem Reis und einer dünnen Sauce aus gedämpften und passierten Gemüsen. Alles war echt, in Erde gewachsen, unter den Strahlen der Sonne gereift. Der Saft aus Blut, Fett und der glasierten Kruste, in dem das Lammfleisch schwamm, weckte animalische Instinkte in mir. Am liebsten hätte ich die Keule in die Hand genommen und mit den Zähnen abgenagt, aber ich wusste mich zu beherrschen. Dennoch blieb mein Appetit, der schon eher ein Wolfshunger war und der jetzt erst mit ganzer Macht erwachte, Kauffmann nicht verborgen. Er schmunzelte, als er zusah, wie ich die letzten Saucenreste mit weißem Brot auftunkte und dann mit gierigen Blicken die Bedienung herbeirief, als habe ich vor, ihr das rohe Fleisch von den Schenkeln zu fressen. Leider war mein Magen noch zu entwöhnt, als dass ich die Tafelfreuden schon hätte strapazieren können. Ich verzichtete auf den Nachtisch ebenso wie auf Kauffmanns atavistisches Tabakangebot, brachte aber nicht die Willenskraft auf, dem Mokka zu widerstehen. Während ich in kleinen Schlucken an dem winzige Tässchen nippte – sinesisches Porzellan, wie ich mit leichtem Schwindel feststellte – und den langbeinigen Schritten der Ordonnanz folgte, kam Jennifer auf die Terrasse gestürmt. Sie registrierte meinen Blick und erfasste mit gerunzelter Stirne sein Objekt. Sofort ließ sie die ahnungslose Offiziersanwärterin antreten und Meldung machen. Sie stauchte sie zusammen und schickte sie mit der Bestellung einer Kokos-Mango-Milch in die Küche. Dann nahm sie neben uns Platz. Kauffmanns Züge malten eine Maske des Bedenklichen.

Die Ordonnanz kehrte wieder, knallte die Hacken zusammen, pfefferte den hohen, safranfarbenen Kelch vor Jennifer auf den Tisch, salutierte und bellte den Namen des Getränks heraus. Dann wirbelte sie wie im Formaldienst auf dem Absatz herum und zog sich in Warteposition zurück. Der ganze Auftritt war ein Affront. Niemand nahm ihn zur Kenntnis.

»Sekretär«, begann Jennifer, nachdem sie den ersten Schluck aus dem langen Strohhalm gesogen hatte, »wir müssen uns unterhalten.«

Kauffmann lehnte sich gönnerisch zurück, breitete die Arme aus und paffte auf seiner Zigarette, die er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hielt. In der voraufgegangenen Stunde hatte ich in freundlichem Konversationston mit ihm geplaudert. Alle neuralgischen Themen hatten wir säuberlich ausgespart. Nur unterschwellig war es ein gegenseitiges Belauern und Umkreisen gewesen. Jennifer wischte die Höflichkeit des Protokolls mit einer Geste vom Tisch und ging zum Klartext über.

»Wir vergeuden kostbare Zeit«, sagte sie schroff. »Seit zweiundsiebzig Stunden sind wir hier, und dieser Umstand wird den Sinesern kaum verborgen geblieben sein.«

Kauffmann reagierte mit einer abschwächenden Geste, die besagte, dass er ihre Hartnäckigkeit nicht nachzuvollziehen vermochte. Ihre oder unsere Fixiertheit auf die Sineser hielt er für eine paranoide Marotte, die er, wenn überhaupt, nur aus Anstand zur Kenntnis nahm. Was ich bisher aus ihm herausgebracht hatte, war, dass sinesische Warpraumsonden und Aufklärungsdrohnen im Sonnensystem patrouillierten. Ich sprach ihn nun darauf an, nicht zuletzt, um Jennifer zu bedeuten, dass wir unser gemeinsames Mittagessen keineswegs ergebnislos vertan hatten.

»Es sind immer mindestens zwei«, nickte er, »maximal fünf, die gleichzeitig im erdnahen Raum anwesend sind. Meist fliegen sie auf Höhe der ehemaligen Jupiterbahn ein und durchkreuzen die Region. Wir überwachen sie genau. Bis jetzt ging keinerlei Bedrohung von ihnen aus.«

Jennifer brach in ein schrilles Gelächter aus. »Die Gefangenen schreiben die Schichtpläne der Gefängniswärter mit und sind stolz darauf, dass sie von ihnen nicht geschlagen werden.« Sie schüttelte den Kopf und dreht ihr Cocktailglas zwischen den Händen. »Im Ernst, Herr Sekretär«, sagte sie in bewusster Betonung des Offiziellen, »wir reden hier nicht über Touristenschiffe. Was wissen Sie über die Routen dieser Sonden, über ihre Muster, über den Rhythmus ihrer Ablösung?«

Kauffmann drückte seine Zigarette aus. Mit leichtem Seufzen ließ er den letzten Rauch durch die Nase strömen. »Sie sind mit Semi-KI-Einheiten ausgestattet, aber sie scheinen auf programmierten Algorithmen zu operieren. Unseren Flugverkehr zu den Marsbasen haben sie nicht beeinträchtigt, obwohl unsere Versorgungsschiffe ihnen manchmal unabsichtlich recht nahe gekommen sind.« Er sah mich genervt an, aber ich hielt seinem Blick stand und erlöste ihn nicht aus Jennifers Verhör. »Sie kommen und gehen unregelmäßig. Bis jetzt ist es uns nicht gelungen, das Muster dahinter aufzuschlüsseln. Im statistischen Mittel vergeht jeweils etwa ein Monat, bis wieder eine von ihnen ankommt oder verschwindet.«

Jennifer biss sich auf die Lippe und dachte angestrengt nach. »Wann war das letzte Ereignis dieser Art?«, fragte sie.

»Vorige Woche«, sagte Kauffmann schlicht. »Ich wiederhole, dass es sich nur um einen Mittelwert handelt und dass uns das Muster, das dem zugrunde liegt, mathematisch nicht aufzulösen gelungen ist.«

Jennifer sah durch ihn hindurch. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich eine Sinesische Warpsonde im Trümmerfeld des einstigen Jupiter-Systems materialisierte, sich auf die inneren Planeten ausrichtete und dann in einem komplizierten Zickzack den Raum zwischen Mars- und Venus-Bahn durchforschte. Ein Monat, wenn das die Zeit war, die zwischen zwei Ablösungen verging, mochte als langer Zeitraum erscheinen in einer Epoche, die in Nano- und Femtosekunden rechnete. Andererseits war es ein vernachlässigbares Intervall verglichen mit den vielen tausend Jahren, die ein Funksignal nach Sina City unterwegs gewesen wäre. Wieder mussten wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass »Echtzeit« auf galaktischer Ebene ein dehnbarer Begriff war. Und was konnte die unter Kuratel gestellte Menschheit in ein paar Wochen ausrichten? In der scheinbar großzügig bemessenen Beobachtung lag auch etwas von Herablassung. Die Restmenschheit auf der Erde und den wenigen verbliebenen Außenposten glich einem Gefangenen, dessen Kerkertür man offen stehen ließ, um ihn zu demütigen. Nur ab und zu kam einer der Aufseher vorbei, klopfte mit dem Schlagstock an das unverriegelte Gitter und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war.

»Es gibt kein Muster«, warf Jennifer ein. »Sie arbeiten eine Random-Reihe ab. Alles, was sie uns gegenüber tun, tun sie mit Hochnäsigkeit. Die Sonden sollen gar nicht reagieren. Sie scannen automatisch die Region, als ob sie ein unbesiedeltes Gebiet erforschten, und übermitteln die Ergebnisse dann in mehr oder weniger regelmäßigen Routinen nach Sina, wo sie von gelangweilten Beamten der Sicherheitsbehörden ausgewertet werden. Im Grunde leben wir in einem Reservat, in einer Art Tierpark. Man achtet darauf, dass keine Krankheiten ausbrechen, die den Bestand gefährden, und kümmert sich nicht weiter um das Treiben, das dort stattfindet.«

Ihre Stimme gewann an Schärfe. Eine tiefe Furche schlitzte ihre Stirn. Es war schwer zu entscheiden, was sie mehr aufbrachte, die arrogante und selbstsichere Überheblichkeit unserer Bewacher – oder die Gleichgültigkeit der Überlebenden, die uns bis jetzt auf jeder Stelle und bei jedem Gespräch gegenübergestanden hatte.

»Ich bitte Sie«, sagte Kauffmann sichtlich beherrscht. »Wir leben in gutem Einvernehmen mit ihnen. Seit dem Jupiter-Ereignis haben sie sich keinen aggressiven Akt mehr zuschulden kommen lassen.«

Jennifer stieß nur verächtlich die Luft durch die Nase aus; sie sah es als unter ihrer Würde an, darauf zu antworten.

»Wir haben«, fuhr der Persönliche des Kanzlers der Zivilverwaltung fort, »unsere Toten begraben und die Schäden beseitigt. Die Erdbahn ist stabilisiert. Die Landwirtschaft kann die Bevölkerung versorgen. Wir halten den Kontakt zu den Marsbasen aufrecht, und wir konnten sogar neue Werften im Asteroidengürtel gründen. Keiner unserer Schritte wurde in irgendeiner Weise beeinträchtigt oder kommentiert.«

Jennifer schlürfte geräuschvoll an ihrem Drink. Sie schwieg und ließ die Blicke über die vorfrühlingshafte Helle der Hochgebirgslandschaft gleiten. Hoch oben, zwischen den Zinnen der Grand Teton-Gipfel, zog ein Steinadler seine Kreise. Ein Schwarm Dohlen strich unter seiner Annäherung von einer der Spitzen ab und trudelte vor der sonnenbeschienenen Felswand nach unten. Jeder dieser Vögel vollbrachte eine fliegerische Meisterleistung, und doch sah es aus, als riesele welkes Laub vor dem gleichgültigen Felsmassiv herab.

»Landwirtschaft ...«, Jennifer spuckte das Wort aus, als habe sie einen ekelhaften Geschmack im Mund. »Wir sind in Sina City gewesen, und wir haben gesehen, wo diese Art von Landwirtschaft endet.« Sie beugte sich über den Tisch und legte Kauffmann eindringlich die Hand auf den Unterarm. »Sekretär«, sagte sie mit gesenkter, aber fester Stimme. »Sie sind der einzige Gesprächspartner, auf dessen Verständnis wir hoffen können. Machen Sie Ihren Einfluss auf den Kanzler geltend. Die sinesische Bedrohung ist kein Hirngespinst. Sie ist Realität. Dass sie hier nicht wahrgenommen wird, liegt daran, dass man hier überhaupt nichts wahrnimmt, was sich jenseits des Distrikts Wyoming ereignet.«

Kauffmann schluckte. Dass sie ihm unsere persönlichen Erfahrungen ins Gedächtnis rief, verfehlte seine Wirkung nicht. Er war sichtlich beeindruckt.

»Nur, wer sich nicht rührt, spürt seine Ketten nicht«, versuchte ich ihr zu Hilfe zu kommen.

Aber weder sie noch der Sekretär gingen darauf ein. Jennifer ließ seinen Arm los und richtete sich stolz in ihrem gravimetrischen Stuhl auf. »Heute Nachmittag werde ich einen Truppenbesuch vornehmen. Und am Abend werde ich dem Obersten Stab unsere Pläne vorlegen. Veranlassen Sie das Notwendige!«

Selbst mir dämmerte erst nach einer Weile, dass diese Ankündigungen in Wahrheit eine Bitte gewesen war. Aber durch die sprachliche Form hatte sie ihr Gegenüber einem starken rhetorischen Druck ausgesetzt. Es war ein primitives Mittel, aber es verfing.

»Ich will sehen, was sich arrangieren lässt«, sagte Kauffmann kleinlaut.

Aber Jennifer hatte sich schon erhoben. Die Ordonnanz war zur Stelle, um den Tisch abzuräumen.

»Lassen Sie mich in Ruhe«, fauchte Jennifer das Mädchen an, das trotz eiserner Beherrschung zusammenzuckte. Dann war sie verschwunden. Ihre Schritte hallten noch auf dem Marmor der großen Halle wider, die für Empfänge und Staatsbankette genutzt wurde. Kauffmann wechselte einen gequälten Blick mit mir. Er schien zu überlegen, ob er mich bewundern oder bedauern solle. Ich verzog keine Miene. Während wir hineingingen, lenkte ich das Gespräch auf die Kapazität der Werften, über die er sich aber nur ausweichend äußerte.

*

Der Chronist

Dies ist die Geschichte der Diaspora. Die Geschichte einer Diaspora ist zwangsläufig die Geschichte eines Krieges, denn die Diaspora ist selbst nur ein Zwischenblatt und eine Episode in einem Zeitalter des Krieges. Keiner der großen Kriege bestand aus unablässigem Schlachten. Weder im Peloponnesischen, noch im Punischen Krieg, weder im Dreißigjährigen, noch in jenem anderen dreißigjährigen Krieg, der aus den beiden sogenannten Weltkriegen bestand, wurde ununterbrochen gekämpft. Es gab Sommer und halbe Jahr, vielleicht sogar ein eingestreutes Dezennium, in dem die Waffen schwiegen, so wie es auch in der Eiszeit einen Sommer gibt. Und dennoch sprechen wir von diesen Jahreszeiten nur im Hinblick auf den ganzen Jahreskreis, der im Zeichen des Mars begonnen und geschlossen wurde. Im Nachhinein, auf dem Schreibpult des Chronisten, der die Ereignisse im sonnigen Post festum aufzeichnet, ist auch die Diaspora nur ein solcher Einschub und Schalttag im großen feurigen Rad des Sinesischen Krieges. Dieser Krieg hatte seinen ersten Abschluss, sein Zama, in der Schlacht von Persephone, und sein Versailles im Vertragswerk von Lombok. Es wurde gefeiert als Beginn eines Jahrtausends des Friedens, wie die meisten derartigen Abmachungen im Laufe der Geschichte, die auserkoren waren, den Frieden dauerhaft auf Erden zu verankern, und die doch nur ein vergängliches Intermezzo eröffneten und den Vorwand, ihn zu brechen, in der Regel gleich mitlieferten. Im blutigen Nachhinein ist der Frieden oft nur ein Atemholen; oft genug dient er nichts anderem als neuen Anstrengungen der Rüstung. Der Frieden von Lombok wurde durch die Aggression gebrochen, die zum Thronsturz des Jupiters und um ein Haar zur Auslöschung der Menschheit führte. Die Überlebenden zerstreuten sich in die Diaspora. Die Diaspora, sagten wir, mündet bisweilen in einen neuen Krieg – der für den Historiker nichts anderes als das Wiederaufflammen von Bränden ist, die im Unsichtbaren schwelten, aber nie gelöscht waren –, so wie ein Winter bisweilen in einen Frühling und wie auch die dunkelste Nacht bisweilen in einen neuen Morgen mündet. Kein Volk kann dauerhaft in der Diaspora leben, denn wie ein Mensch sich nicht ein Leben lang dem Aufruf, der vom Schicksal an ihn ergeht, entziehen kann, so kann auch kein Volk auf Dauer außerhalb dessen leben, was seine Aufgabe und sein Wesen im Geschichtsprozess zu sein hat; denn nichts und niemand kann außerhalb seiner selbst sein. Das heißt nicht, dass, diese Aufgabe anzunehmen, gleichbedeutend damit wäre, ihr gewachsen zu sein. Nicht jeder, der sein Kreuz auf sich nimmt, vermag es auch zu tragen; aber keiner kommt umhin, es aufzunehmen. Und nur darum geht es. In keiner Schlacht gibt es eine Garantie dafür, dass sie siegreich entschieden wird. So gesehen gibt es immer zwei Parteien, und nur eine kann als Sieger aus dem Treffen gehen. Aber dennoch muss die Schlacht geschlagen werden. Der Sinn einer solchen Handlung liegt nicht in ihrem vordergründigen Zweck. Darin verbirgt sich das Mysterium des Opfers. Leonidas wusste ganz genau, wofür er und tausend Spartiaten bei den Thermopylen fielen. Es war nur vordergründig der Zeitgewinn, der den restlichen Truppen den Rückzug und die Räumung Athens ermöglichte. Es wäre ein sehr oberflächliches Verständnis des geschichtlichen Vorgangs, wollte man den Ruhm einer solchen Tat und Selbstaufopferung in einer bloß taktischen Überlegung sehen. Leonidas und die Seinen kämpften nicht, um zu fallen, auch wenn eine utilitaristische Betrachtungsweise nicht umhin könnte, den aussichtslosen Kampf in solchen Kategorien zu erfassen; sie fielen, weil sie kämpften, und das ist ein Unterschied. Kein Soldat, der wissentlich und mit innerer Bejahung in den Tod geht, fällt »für« irgendetwas. Wer gäbe schon sein Leben für einen taktischen Vorteil, einen Geländegewinn, ein Kreuz auf einem Messtischblatt, einen Zeitvorteil von ein paar Stunden, einen Acker, »nicht groß genug, die Erschlagenen drauf zu begraben«, oder für so etwas Abstraktes wie einen strategischen Punkt? In Pompeji fand man die Überreste eines römischen Soldaten, den die pyroklastischen Ströme des Vesuvs auf seinem Posten überrascht hatten. Die Hohlform seines Körpers, von der Asche, die ihn tötete, umschlossen und konserviert, stand aufrecht, in voller Rüstung und tadelloser Haltung. Er hatte, im Angesicht des sich heranwälzenden Stroms aus glühendem Gesteinsmehl, seinen Posten nicht aufgegeben. Man hatte wohl im Durcheinander vergessen, ihn vorschriftsmäßig abzulösen, und so blieb er auf dem Flecken stehen, auf den der morgendliche Wachantritt und das Schicksal ihn gestellt hatten. Ein solches Verhalten mag unsinnig sein, aber ist es deshalb auch schon sinnlos? Keiner von uns hat unterschrieben, ehe er ins Dasein geworfen wurde; keiner von uns hat entschieden, ob er groß oder klein, dick oder dünn, blond oder braun sein wolle. Und doch muss jeder den Weg gehen, den die Moira für ihn vorgesehen hat. Keiner hat einen Einfluss darauf, an welcher Stelle des großen Maelstroms, den der Geschichtsprozess darstellt, er ins Wasser fällt, an welcher Schwelle er über das Große Katarakt schießt. Unsterblich ist keiner, und den wenigsten wird es vergönnt sein, »für« etwas zu sterben, für die gerechte Sache, das Vaterland, den Durchbruch, der die Schlacht entscheidet, oder das kleine Wunder, das gerettete Kind. Aber wir sollten dem Beispiel des römischen Soldaten von Pompeji folgen und aufrecht sterben, in Haltung, und dem Geschick in voller Rüstung entgegentreten. Das hat am Ende etwas mit dem Verhältnis des Menschen zu Freiheit und Knechtschaft zu tun. Der Unterschied liegt in der Beziehung, die der Mensch zum Tode hat. Der Herr ist bereit, für seine Sache zu sterben, während der Knecht das Leben vorzieht. Der Herr will lieber auf Leben und Tod für seine Freiheit kämpfen; der Knecht gibt sich mit dem Leben in Unfreiheit zufrieden. Es leuchtet ein, dass es hier nicht mehr darum geht, worum man kämpft und wofür einer stirbt. Auch das äußerlich ganz sinnlose Opfer kann einen sinnvollen Tod begründen. Denn es gibt hier Zonen, die jenseits des Widerspruches von Sinn und Sinnlosigkeit stehen: dort ist die metaphysische Freiheit des Einzelnen, der seinen Tod auf sich nimmt. Nicht darum geht es, die Schlacht zu gewinnen oder zu verlieren, sondern darum, sie zu schlagen. Denn die Schlacht ist nichts anderes als eine krude Metapher für das Leben.

*

Ich fand Jennifer in der kleinen Suite, die man uns zugewiesen hatte. Sie war kaum größer als unsere Kabine auf der MARQUIS DE LAPLACE. Ein Zimmer mit gravimetrischem Doppelbett, eine winzige Nasszelle und einer Kommunikationseinheit. Durch ein schmales, schießschartengroßes Fenster konnte man auf das wilde Hochtal hinaussehen. Und, immerhin, es gab einen kleinen Balkon, den man durch eine Tür betrat, die tiefer als breit war und so schon eher einem kurzen Stollen glich. Sie ließ die Dicke der durch Quarzbeton verstärkten Felswände ahnen, in die die gesamte Anlage hineingebaut war, eine Bunkerstadt für mehrere zehntausend Menschen. Draußen fand man sich auf einer Plattform wieder, kaum zwei mal drei Schritte groß, weit oberhalb des Talgrundes, in dem das grüne Flüsschen schäumte. Ein Geländer verhinderte, dass man in die Tiefe stürzte; ein Kraftfeld hielt den scharfen Wind ab, der von den Gipfeln und den Eisfeldern herunterkam.

Hier stöberte ich Jennifer auf, die, die Arme vor der Brust verschränkt, auf der winzigen Fläche hin und her stiefelte. Natürlich hatte sie recht: die Zeit lief uns davon. Etliche Wochen waren vergangen, seit wir aus Sina City hatten fliehen können. Wir hatten Taylor und Lambert dort unter ungewissen Umständen zurücklassen müssen. Gegenwärtig wussten wir nicht einmal, ob sie noch lebten. Taylor war schwer verletzt gewesen. Der abermalige Verlust des linken Arms hatte ihn sehr geschwächt, und zumindest während unseres Aufenthaltes hatten die Tloxi keine Anstalten gemacht, für Ersatz zu sorgen. Wir konnten nur hoffen, dass es sich dabei um eine, wenn auch grausame, Taktik zu ihrer eigenen Sicherheit gehandelt hatte. Eigentlich dürfte die Beschaffung einer Prothese sie nicht vor unüberwindliche Hindernisse stellen; deshalb mussten wir davon ausgehen, dass der Verweigerung ein Kalkül zugrunde lag – und dass Taylor geholfen werden konnte, nachdem wir in dem gekaperten Shuttle davongeflogen waren. Andererseits war davon auszugehen, dass die sinesischen Nachstellungen nach unserer Flucht an Brutalität zunahmen. Was Jills und Taylors gegenwärtiges Schicksal betraf, konnten wir uns nur in Schweigen hüllen und alle diesbezüglichen Spekulationen zu unterdrücken versuchen.

Und mehrere Monate waren vergangen, seit wir die MARQUIS DE LAPLACE verlassen hatten und dem rätselhaften Museumsschiff, über dessen Herkunft wir immer noch nichts Endgültiges wussten, in die Falle gegangen waren. Zum damaligen Zeitpunkt war die Situation unseres Mutterschiffes ebenfalls traurig gewesen. Zu den neugegründeten Kolonien in der Eschata-Region fehlte jeder Kontakt. Die Bemühungen der Planetarischen Abteilung, mit der sinesischen Technologie gleichzuziehen und eine verlässliche Erschließung des Warpraums bereitzustellen, kamen aus der Experimentierphase nicht heraus. Auch hier konnten wir nur hoffen, dass die Anstrengungen der Sineser, die zweifellos nochmals intensiviert worden waren, noch nicht zum Erfolg geführt hatten, denn weder die MARQUIS DE LAPLACE, noch die Kolonien auf Eschata wären einer Attacke gewachsen. Freilich wussten wir nicht, wie es jetzt dort aussah, aber eine intergalaktische Streitmacht konnte man nicht aus dem Boden stampfen. Auch die vereinigte Entschlossenheit solcher Männer wie Commodore Wiszewsky, WO Reynolds und General a.D. Dr. Rogers konnte keine Wunder bewirken.

Und dennoch schmiedeten wir Pläne. Alle unsere Hoffnungen ruhten auf den irdischen Stellen, die wir in einem niedagewesenen kosmischen Salto mortale erreicht hatten. Aber hier stellte man sich taub. Wir wurden hingehalten und abgewiesen. Die zivilen Stellen ließen offen durchblicken, dass sie sich den Status quo nicht vermiesen lassen würden. Sie hatten sich in dem Stillhaltefrieden häuslich eingerichtet. Dass es ein entwürdigender und noch dazu höchst fragiler Zustand war, der jeden Augenblick dadurch beendet werden konnte, dass eine graue Eminenz in Sina City eine Taste betätigte und einen Befehl grunzte, schien sie dabei nicht im geringsten zu stören. Es war ein Lombok mit umgekehrten Vorzeichen. Aber während die Union nach der siegreich verlaufenen Schlacht von Persephone ihre Bedingungen diktiert und schriftlich festgehalten hatte, fehlte bis heute jede Erklärung von Seiten der Sineser, die die Verantwortung für den Warpsonden-Angriff auf Jupiter übernahm oder sich der Mühe unterzog, den seither herrschenden völkerrechtlichen Schwebezustand in Worte zu fassen.

Das alles beunruhigte niemanden. So herzlich man uns aufgenommen hatte, so ausweichend verhielt man sich nun – und umso ungehaltener, je mehr wir darauf beharrten, dass weitreichende Schritte in die Wege geleitet werden mussten.

»Am Ende müssen wir sie vor vollendete Tatsachen stellen«, brummte Jennifer düster und sah brütend in den Abgrund hinunter, der sich vor ihr öffnete. Sie ließ offen, was das im einzelnen heißen könnte, aber ich konnte mir in etwa vorstellen, was sie ausheckte. Ihr waren das Temperament, die Verzweiflung und die kreative Aggression zuzutrauen, um in einer wohldurchdachten Kurzschlusshandlung eine sinesische Reaktion zu provozieren. Dann würden die irdischen Stellen gezwungen sein, zu handeln. Ich hoffte, verhindern zu können, dass es soweit kam. Wir wären unweigerlich zwischen die Fronten geraten. Gegenwärtig hatten wir nicht einmal mehr Zugang zu unserem Shuttle, das uns unermüdlich einmal um die Welt getragen hatte. Nach unserer Landung auf einer der Außenplattformen hatte man es zu einem der inneren Decks geschafft, wo es seither von gelangweilten Technikern untersucht wurde. Jennifer hatte sich angeboten, ihnen dabei zu assistieren und ihnen die Funktionen des Gefährts wie auch die Modifikationen, die sie daran vorgenommen hatte, zu erklären, war aber abgewiesen worden. Wovor fürchtete man sich eigentlich? Hielt man uns für Doppelspione? Es war nicht einzusehen, was hier vor sich ging. Man musste wohl die typische Psychologie der Situation heranziehen. Die Hiergebliebenen verharrten in dem Trotz all derjenigen, die den Krieg zuhause mitgemacht oder die Diktatur in der »inneren Emigration« überdauert hatten. Sie wollten sich von denen, die von außen kamen, nichts sagen lassen. Was kosmische Katastrophen waren, das wussten sie nun nachgerade, und sie waren nicht auf Wiederholungen begierig. Wie die Überlebenden, die nach dem Bombenangriff aus dem Keller kamen, leckten sie lieber ihre Wunden, hätschelten ihre Traumata und freuten sich an jedem Schneeglöckchen, das wieder zwischen den Trümmern blühte. Wir wissen bescheid, schienen sie mit jedem Blick zu sagen. Ihr braucht uns nicht belehren.

Es war zum Verzweifeln.

»Du musst deinen Einfluss geltend machen«, sagte Jennifer.

Sie hatte recht. Ich war General. Ranggleich mit Dr. Rogers, als dessen designierten Nachfolger ich mich ausgeben konnte, ohne zu übertreiben, und »Persönlicher« – im hiesigen Jargon zu sprechen – von Commodore Wiszewsky, ranghöchster und dienstältester Offizier der Fliegenden Crew, kommissarischer Chef beider Stäbe. Wir waren in Sina City gewesen, was nur wenige Sterbliche von sich behaupten konnten, und wir hatten einmal die Reise um die Welt gemacht, wozu noch nicht einmal die Idee in eines Dritten Hirn Gestalt angenommen hatte. Aber an wen sollte ich mich mit dieser Vita wenden? Der Kanzler, Seine Eminenz Cole Johnson, hatte sich von unserem Bericht höflich beeindruckt gezeigt und war dann zur Tagesordnung übergegangen. Seine Adjutanten vertrösteten jede unserer Anfragen auf später, »wenn wir wieder zu Kräften gekommen waren“. Ich redete den ganzen Nachmittag auf Jennifer ein und flehte sie an, sich in Geduld zu üben. Da ich seit meiner Ernennung zum ENTHYMESIS-Kommandanten mehr administrative als wissenschaftliche Aufgaben gehabt hatte, kannte ich besser als sie die ganz eigene Luft dieser Stellen. Zuletzt hatte ich mich während des Jupiter-Ereignisses mit den Behörden auf Luna herumschlagen müssen, die bis unmittelbar vor ihrer Evakuierung auf ihren absonderlichen Ritualen bestanden hatten.

»Hier haben wir es mit Politikern zu tun«, sagte ich ein ums andere Mal. »Da zählt der Ton mehr als die Worte. Da muss man zwischen den Zeilen lesen, den Herrschaften Honig in den Bart schmieren und sich in den protokollarischen Nuancen von Unterwürfigkeitsgesten und Ergebenheitsadressen ergehen. Ein schroffer Auftritt wie deiner heute Mittag kann die behutsamen Vorstöße von Wochen zunichte machen.«

Sie verdrehte die Augen, packte das Geländer, dass das Holofeld zitterte, und beugte sich darüber, als wolle sie sich übergeben.

»Wir müssen intelligent und mit Zähigkeit vorgehen«, dozierte ich. »Vertrauen schaffen, für gute Atmosphäre sorgen, freundschaftliche Kontakte aufbauen.«

»Ich kotze gleich«, knurrte sie.

Ihr Kopf war außerhalb des knisternden Kraftfeldes, das sie auf Höhe der Schultern umschloss. Der frische Bergwind zauste ihr offenes Haar; die kalte Luft rötete ihre Wangen. Schließlich richtete sie sich auf und ging ins Zimmer. Ich folgte ihr. Die schmale Balkontür schloss sich schmatzend hinter uns.

Wir mussten auf Zeit spielen. Gleichzeitig rann uns die Zeit durch die Finger. Dieses Dilemma raubte Jennifer beinahe den Verstand. Hinzu kam die schreckliche Ungewissheit. Möglicherweise waren unsere Freunde und Kameraden in Sina City, auf der MARQUIS DE LAPLACE und in Eschata längst tot. Aber diesen Gedanken durften wir erst gar nicht in uns aufkommen lassen.

Wir hatten die Hoffnung darauf, dass unserer Bitte entsprochen werde, schon beinahe aufgegeben, als die Automatik der Lokalen Kommunikation Sekretär Kauffmann meldete. Er empfing uns in der kleinen Vorhalle unserer Suite und geleitete uns nach der Begrüßung zu den Elevatorschächten, die in abgerundeten sechseckigen Durchgängen auf jeder Etage angebracht waren. Er war allein, aber jedes seiner Worte machte deutlich, dass sein Hiersein im Wissen und mit Billigung der allerhöchsten Stellen stattfand. Die Überwachungsmöglichkeiten, die die unzählbaren Augen und Ohren der Lokalen Kommunikation boten, waren gar nicht nötig, damit wir uns beobachtet fühlten. Ohnehin konnte es keinen Zweifel darüber geben, dass selbst unsere Privaträume abgehört wurden.

Kauffmann plauderte unverfänglich. Erst als wir die Fahrstuhlkabine betraten, wurde er vertraulicher. Die Türen glitten sanft ineinander. Der Feldgenerator heulte gedämpft auf. Dann stürzten wir, wie wir den Anzeigen entnahmen, mehr als tausend Stockwerke in die Tiefe. Der Sekretär spähte unsere Gesichter aus. Für ihn als Zivilisten war das wohl eine tolle Sache. Aber er hatte nicht mit der Abgebrühtheit der Fliegenden Crew gerechnet, insbesondere mit zwei so alten Hasen wie uns, die jenseits der Großen Mauer gewesen waren. Jennifer erwiderte seine Neugier mit frechem Feixen. Ich beeilte mich, ihn wieder ins Gespräch zu bringen, während das HoloBoard über unseren Köpfen die Decks in Zwanzigerschritten herunterzählte.

»Ich habe über unsere letzte Unterhaltung nachgedacht«, sagte Kauffmann, »und mich auch mit dem Kanzler besprochen.«

Mehr gab er nicht preis. Er vermied es auch geflissentlich, es so aussehen zu lassen, als gebe er Jennifer unverschämter Forderung nach. Umgekehrt machte ich ihr ein Zeichen, alle Rückstände des Triumphs aus ihrer Miene zu verbannen.

»Mir scheint«, fuhr Kauffmann in der typischen verklausulierten Weise fort, »dass Sie einen falschen Eindruck gewonnen haben. Das möchten wir richtig stellen. Und da der Augenschein immer stärker als die bloße Auskunft ist, möchte ich Ihnen etwas zeigen.«

Er sonnte sich in seiner Eloquenz. Ich sah, dass Jennifer innerlich kochte. Dicht neben ihr stehend, fasste ich ihre Hand und presste sie nachdrücklich.

»Da bin ich aber gespannt«, sagte ich. »Im übrigen wissen wir die Anstrengungen, die hier unternommen worden sind, durchaus zu würdigen. Allein diese Festung, die Sie hier ins Werk gesetzt haben.«

Ich ließ die Blicke anerkennend über die vierstellige Skala des generatorgetriebenen Fahrstuhls wandern. Kauffmann grinste geschmeichelt. Jennifer verdrehte die Augen.

»Sehr schön«, sagte der Sekretär, als setze er seine Unterschrift unter ein staatstragendes und belangloses Dokument. »Dann sind wir uns ja einig. – Gestatten Sie, dass ich vorangehe.«

Der Grund des Schachtes war erreicht. Obwohl das künstliche Kraftfeld die Beschleunigungs- und Verzögerungskräfte weitgehend eliminierte, konnte es einem in den Magen gehen. Aber was war das schon verglichen mit den Fliehkräften, die auftraten, wenn Jennifer die ENTHYMESIS bei vollen Schub aus ihrem Hangar im Großen Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE jagte?! Während Kauffmann in den Vorraum hinaustrat, riss Jennifer mich am Arm zu sich.

»Noch ein solcher Satz«, zischte sie, »und ich werde mich übergeben.«

Ich schloss die Hand um ihren Oberarm und führte sie wie eine Gefangene einen halben Schritt vor mir. »Reiß dich zusammen!«

Wir waren in einem Stollen, der direkt aus dem massiven Felsen gebrochen war. Wie in einem Bergwerk war der nackte Stein noch an den meisten Stellen zu erkennen, dunkler, von schwarzen Gängen geäderter Basalt. Nur hier und da hatte man die Wölbung mit Bauquarz und Spritzbeton ausgekleidet und verstärkt. Offene Flammer erhellten den Stollen, der an einen alten Steinkohleflöz erinnerte. Auf dem Boden standen Pfützen aus Kondenswasser, das überall rieselte und tropfte. Kauffmann ging voran. In seinem teuren Anzug, mit seinem sanften Gang, den manikürten Fingern und der weichen Aussprache hätte er schwerlich irgendwo so fehl am Platze sein können wie hier. Was wollte er uns vorführen? Eine Mine? Dieses Gestein war vulkanisch, da würde man kaum Erz schürfen.

Wir folgten ihm um einige Biegungen. Ab und zu öffnete sich der Gang zu engen Kreuzungen, an denen andere Stollen abzweigten. Niemand sprach ein Wort. Wir mussten die Köpfe einziehen, da manchmal rohe Felsquader aus der niedrigen Decke vorsprangen, und hintereinandergehen, da der Stollen sehr schmal war. Ein Moment der Bedrückung war nicht zu leugnen. Kilometerdicke Gesteinsdecken lasteten auf uns. Und wenn uns der freie Fall und vervielfachte Erdbeschleunigung nichts ausgemacht hatten, so machte uns dieses Eingeschlossensein in engen unterirdischen Räumen zu schaffen.

Endlich weitete sich der Stollen. Er führte auf eine Art Galerie, die auf der einen Seite vom nackten, grobbehauenen Fels, auf der anderen von einem hüfthohen Geländer begrenzt wurde. Es schien sich um einen Umgang zu handeln, der sich nach rechts und links hinter Stahlträgern und Felsvorsprüngen verlor. Da er mehr als zehn Meter tief war, konnten wir nicht über das Geländer hinwegsehen. Sekretär Kauffmann blieb stehen und wandte sich mit theatralischer Gebärde zu uns um. Dann gingen wir gemeinsam die letzten Schritte nach vorne.

Jennifer schüttelte meine Hand ab und pfiff leise durch die Zähne. »Gar nicht schlecht«, sagte sie. Sie hatte das Geländer mit beiden Fäusten umklammert und lehnte sich darüber hinaus, als stehe sie an der Reling eines großen Schiffes, hebe die Füße vom Boden und wiege sich über der Weite des abendlichen Ozeans. Ich trat neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter, die andere auf das Geländer und sah in die Tiefe. Der Anblick war nicht von schlechten Eltern. Ich musste mein Bild, das ich mir in den letzten Tagen von der Notstandsregierung gemacht hatte, revidieren.

Wir befanden uns auf einem Balkon, der etliche Meter über dem Boden einer riesigen Halle an deren kuppelförmiger Seitenwand umlief. Die Halle war fünfzig Meter tief und unabsehbar breit, da sie sich nach beiden Seiten in der düsteren Beleuchtung verlor. Direkt unter uns standen Jäger, schwere Abfangjäger und Jagdbomber. Sie waren gegeneinander versetzt, sodass die Schnauze des einen zwischen die Heckflossen der beiden anderen zielte. Die Deltaflügel waren eingeklappt, Cockpits und Geschütze durch Überwürfe aus zähem Elastil geschützt, die offenen Bombenschächte glänzten leer. Hier und da waren Rampen an die Geschosse herangefahren. Dort fanden tagsüber Wartungsarbeiten oder Messungen statt. Aber gegenwärtig war die Halle menschenleer. Vermutlich hatte Kauffmann bewusst die abendliche Stunde abgewartet, um uns herzuführen.

Wir gingen langsam an dem Geländer entlang und musterten schweigend das Geschwader, das dort in Stille und Verborgenheit auf seinen Einsatz wartete. Auf Jennifers Gesicht malte sich ein erregter Schimmer. Mit einem raschen Seitenblick holte sie sich meine Redeerlaubnis ein. Indem ich den Finger an das Augenlid legte, bedeutete ich ihr, sich unserer Abmachung zu entsinnen und keine verfänglichen Fragen zu stellen.

»Wie sind sie bewaffnet?«, erkundigte sie sich arglos.

Kauffmann lächelte eingebildet, wie alle Politiker, die stolz auf das sind, was sie weder hergestellt, noch bezahlt, sondern lediglich in Auftrag gegeben haben. »Es sind unterschiedliche Modelle«, sagte er. »Schwere strategische Langstreckenbomber, taktische Kampfbomber, schnelle Jäger, Aufklärer. Die Aufzählung der technischen Daten würde sie nur langweilen.«

Jennifer versicherte ihn, dass das keineswegs der Fall wäre. Kauffmann sah sich in die Enge gedrängt. Die Floskel war nur eine diplomatische Umschreibung dafür, dass die Einzelheiten ihm nicht präsent waren. Jennifer dagegen glühte vor Begeisterung. Am liebsten wäre sie in die erste beste Maschine gestiegen und hätte eine Runde gedreht.

»Lassen Sie’s gut sein«, sagte sie nonchalant. »Ich seh’s schon selber.«

Wir gingen weiter in Tribünenhöhe über der Flotte dahin, während sie halblaut aufzählte, was sie von hier oben erkennen konnte. »Zwillingsgeschütze auf Röntgenlaserbasis als Bordkanonen. Thermische Granaten. Antimaterietorpedos. KI-gestützte Lenkwaffen. Wie ist die Leistung der Generatoren?«

Kauffmann lief rot an. Eine solche Examinierung war er nicht gewohnt. »Ich glaube Mach 1000«, sagte er und gönnte sich die Jovialität eines unsicheren Lachens. »Kann das sein?«

»Als Gefechtsgeschwindigkeit«, nickte Jennifer. »Aber ich hoffe doch, sie sind warptauglich?!«

Kauffmann machte eine ausweichende Geste. Jennifer sah es ein. Trotzdem setzte sie den Katechismus fort, das ganze machte ihr einfach zu viel Spaß. »Wie viele?«

Der Sekretär schöpfte Luft. »Achthundert Maschinen in dieser Halle«, sagte er. »Weltweit etwas über zweitausend. Auf den Marsbasen und in den Asteroiden betreiben wir ebenfalls Werften. Dort bauen wir einige Großraumtransporter und Schlachtschiffe.«

Jennifer hatte sich vom Geländer gelöst. Sie ging auf der breiten Empore im Kreis, das Kinn in die Faust gestützt, während sie Überschlagsrechnungen vor sich hinmurmelte. Kauffmann musterte sie ängstlich, als erwarte er, eine persönliche Zensur für seine Leistung ausgestellt zu bekommen.

Ich zog seine Aufmerksamkeit auf mich und bemühte mich um einen offiziellen Tonfall. Dabei kam ich mir vor wie ein Staatsmann auf Truppenbesuch, der für das Protokoll ein druckfertiges Statement abgeben soll. »Es beruhigt uns sehr, das zu sehen«, stellte ich fest. »Verstehen Sie uns nicht falsch. Eine sinesische Invasion steht zwar nach unseren Informationen nicht unmittelbar ...«

Jennifer schob mich aus dem Weg, als sie wieder zum Geländer nach vorne ging und sinnend in die Tiefe sah. »Für den Anfang nicht schlecht«, sagte sie. »Aber gegen einen sinesischen Verband, der auf einem Ikosaeder stationiert ist, haben sie keine Chance.«

Ich versuchte ihr verzweifelt Zeichen zu machen, die Klappe zu halten. Auch wenn Kauffmann vermutlich kein Wort von dem verstand, was sie sagte, und auch wenn Ikosaeder ihm zum letzten Mal im Geometrieunterricht begegnet waren, bestand die Gefahr, dass sie sich verplapperte. Die eigentliche Pointe ihrer Bemerkung musste dem Sekretär ohnehin verborgen bleiben: er konnte nicht ahnen, dass sie allein einen Ikosaeder und einen sinesischen Jägerverband ausgetrickst hatte. Aber darum ging es gar nicht. Wenn Kauffmann Witterung davon bekam, dass unsere Überlegungen gar nicht defensiver Natur waren, konnten wir augenblicklich einpacken. Man würde uns eher noch einsperren als unterstützen.

»Die Verteidigung des erdnahen Raumes«, beeilte ich mich zu sagen, »ist damit sichergestellt. Eine Aggression wird zurückgeschlagen werden.«

Kauffmann blickte irritiert zwischen Jennifer und mir hin und her. Offenbar hielt er uns beide für mitgenommen von all dem, was wir mitgemacht hatten. Als er meine anerkennenden Worte hörte, heiterte seine verunsicherte Miene sich auf. Er machte Anstalten, zum Fahrstuhlschacht zurückzukehren, aber Jennifer nahm das nicht zur Kenntnis. Sie stolzierte am Geländer auf und ab und inspizierte weiter die darunter geparkte Jägerflotte.

»Es geht hier nicht um Heimatschutz«, knurrte sie zwischen den Zähnen, als sie auf ihrer Wanderung an mir vorbeikam.

»Halt bloß die Klappe«, zischte ich. »Wenn er davon Wind bekommt, können wir einpacken!«

Sie lachte hell auf, lehnte sich über die Stahlstange und starrte in die Tiefe. Ich wollte gar nicht wissen, welches Szenario vor ihrem geistigen Auge ablief. Würde sie es fertigbringen, dieses ganze Geschwader, das Unsummen gekostet haben musste, ins Feuer zu schicken? Es in einem Gefecht zu opfern? Wie absurd war doch der moderne Krieg, der nur noch von der technischen Rüstung und nicht mehr von der Tapferkeit der Soldaten entschieden wurde. Im Grunde traten die Manufakturen und Fabriken, die Waffenschmieden und Labors, die Geschützgießereien und Munitionshersteller gegeneinander an. Dass all das im Kampf aufeinander losgelassen wurde, war von hier aus gesehen nebensächlich. Wer in der Entwicklung der neuesten Waffensysteme die Nase vorne hatte, wer die größten Massen herzustellen vermochte, wer über Rohstoffe, Logistik, Arbeitskraft und Ingenieurswissen verfügte und sie am rücksichtslosesten ausbeutete, entschied den Konflikt für sich. Alle das wurde nur geschaffen, um zerstört zu werden.

*

Der Chronist

Die Geschichte ist eine Geschichte der Kriege; und die Geschichte der Kriege ist eine Geschichte der Kriegswirtschaft. Seit alters her geht es um Nachschubwege und Versorgungslinien. Um die Ernährung und Ausstattung der Truppe. Um die Beschaffung, den Transport, die Bereitstellung des Materials, das zur rechten Stunde am rechten Ort sein und auch funktionieren muss. Zwanzigtausend eigens geschneiderte und geschmiedete Rüstungen fanden ihren Weg von den makedonischen Manufakturen über tausende Kilometer zum Kriegsschauplatz des verbissenen und verlustreichen Baktrienfeldzuges. Dreitausend Panzer neuen Typs, eilig unter Kriegsbedingungen entwickelte Tiger und Panther, wurden im dritten Sommer des Russlandfeldzuges an die Front gekarrt. Die meisten von ihnen wurden innerhalb weniger Tage, auf dem Höhepunkt der Schlacht von Kursk, zusammengeschossen. Unersetzliche Werte gingen verloren, unwiederbringlich, denn ein solcher industrieller und logistischer Kraftakt war nicht noch einmal zu bewältigen. Dass nebenbei auch einige zehntausend Mann getötet wurden, fiel unter diesem Gesichtspunkt wenig ins Gewicht. Menschen, um sie in Massen totzuschießen, gab es noch immer genug. Aber man kann sie nicht unbewaffnet oder mit dem Karabiner in der Hand gegeneinander anrennen lassen. Und am Ende behält der die Oberhand, der die größeren Kapazitäten der Stahlerzeugung, der Rohstoffgewinnung, des Energiezuflusses in seinen Einflussbereich gebracht hat. Im Grunde könnte man es bei einer Leistungsschau der heimischen Industrien bewenden lassen. Wer die höheren Stückzahlen, die bessere Qualität, den rascheren Durchsatz vorzuweisen vermag, bekommt den Preis zugesprochen. Leider geben sich die kriegführenden Parteien damit in der Regel nicht zufrieden. Sie müssen die Probe aufs Exempel machen. Erst wenn der Säbel nicht mehr an der Wand hängt, sondern am gegnerischen klirrt, zeigt sich, aus welchem Stahl er wirklich geschmiedet ist.

*

In diesem Sinne erfüllte der Anblick dieser nagelneuen, auf Hochglanz polierten Armada mich mit Melancholie. Sie war irrational, denn ebenso unsinnig wäre es gewesen einem Tank voller Plasma nachzutrauern, weil es zur thermischen Verbrennung bestimmt war, oder um eine Halle voller Saatgut zu weinen, weil es auf die Felder ausgebracht werden würde. Und vor allem war sie menschenverachtend, denn sie galt dem Material, aber in jeder Maschine, die zerstört werden würde, würden zwei, bei den schweren Bombern vier Mann den Tod finden. Unterschwellig hatte ich mir die Sichtweise eines Feldherrn zu eigen gemacht: Menschen waren am einfachsten zu ersetzen. Ein neues Bataillon war schneller auszuheben als auch nur eine Tonne Titanstahl. Allerdings war es in einem modernen hochtechnisierten interstellaren Krieg nicht ganz so einfach.

Während Jennifer und ich unseren düsteren Gedanken nachhingen, stand Kauffmann unschlüssig abseits. Er räusperte sich ab und zu in dem halbherzigen Versuch, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und uns zum Gehen zu bewegen. Sein Gesichtsausdruck war besorgt. Offenbar bereute er es bereits, uns hierher geführt zu haben.

»Wie steht es um die Mannschaften?«, fragte ich. »Diese Maschinen fliegen nicht von alleine, zumindest nicht in einem Raumgefecht unter Echt-Bedingungen.«

Der Sekretär griff die Frage dankbar auf. Er setzte eine Plaudermiene auf und schickte sich an, ganz beiläufig den Rückweg einzuschlagen, als wolle er uns die Details im Fahrstuhl auseinandersetzen. Aber weder Jennifer noch ich rührten uns von der Stelle, und so musste er wohl oder übel die paar Schritte, die er schon gegangen war, wieder zurückkommen.

»Wir bilden in großem Umfang Besatzungen aus«, sagte er. »Aus Gründen der Geheimhaltung findet diese Ausbildung ausschließlich hier unten, an KI-Simulatoren statt.«

Jennifer verzog verächtlich das Gesicht. Sie stieß sich vom Geländer ab und kam auf Kauffmann zu. Dabei strahlte sie eine solche Entschlossenheit aus, dass der Sekretär unwillkürlich zurückwich.

»Simulatoren«, stieß sie hervor. »Auch der beste KI-Simulator kann keine Echt-Bedingungen herstellen. Der Pilot weiß, dass er sich in einem HoloFeature befindet und dass es nicht um sein Leben geht. Haben Sie auch Männer mit Gefechtserfahrung?«

Kauffmann wand sich.

»Wir haben einige Piloten, die noch in der alten Flotte gedient haben. Unter den Ausbildern sind Veteranen von Persephone!«

Das war der letzte Trumpf, den er im Ärmel hatte. Er spielte ihn sehr ostentativ. In Jennifers Augen war er allerdings kaum halb soviel Wert wie nach Kauffmanns eigener Meinung.

»Ausbilder, Veteranen, Simulatoren.« Sie stöhnte. Mit eigentümlichem Gesichtsausdruck musterte sie die matt schimmernde Armada in ihrem unterirdischen Hangar. »Am Ende werde Sie unerfahrene Kinder ins Feuer schicken, die sich in die Hose machen, wenn ein scharfer Schuss auf sie abgegeben wird!«

Kauffmann zuckte die Achseln. Er konnte sich Männer und Frauen, die den bitteren und stimulierenden Geschmack der Todesgefahr gekostet hatten, nicht aus den Rippen schneiden. Und über Krieg und Frieden zu befinden, lag außerhalb seiner Kompetenz. Sein routiniertes Lächeln, das immer müder und angestrengter wurde, schien das auszudrücken.

»Kommen wir zu etwas anderem.« Jennifer fixierte Kauffmann, der sich gepeinigt unter dem Zugriff ihres mitleidlosen Blickes wand. »Ich benötige ein paar wirklich gute Techniker. Können Sie mir einige vertrauenswürdige WO’s mit mathematischer Begabung nennen?«

Kauffmann sah irritiert zwischen ihr und mir hin und her. Ich ahnte, worauf sie hinauswollte, und versuchte ihr Zeichen zu machen, sich am Riemen zu reißen.

»Ich verstehe nicht«, stammelte der Sekretär.

Jennifer grinste breit.

»Es ist doch so«, sagte sie in gefährlicher Harmlosigkeit und deutete mit einer generösen Geste über die schlafende Flotte, als handele es sich um Hydrorasenmäher. »Wir müssen diese Flotte auf volle Warptauglichkeit aufrüsten, und ich habe in meinem MasterBoard die mathematischen Tools dazu.« Sie schob sich näher an Kauffmann heran und blinzelte ihm vertraulich zu. »Es ist, unter uns gesagt, weit mehr ein algebraisches als ein physikalisches Problem, aber wir dürfen behaupten, es gelöst zu haben.«

»Ich kann Ihnen, fürchte ich, nicht ganz folgen«, stotterte der Sekretär. »Diese Flotte ist warpfähig.«

Jennifer winkte ab. Sie schnitt ein Gesicht, als habe er ihr vorgeschlagen, zu Fuß von hier nach Texas zu laufen. Natürlich war auch das nicht unmöglich; aber wozu sich der Mühe unterziehen, wenn man in ein paar Augenblicken mit Mach 25 dort sein konnte?

»Ich spreche von oszillierendem Warp«, machte sie herablassend. »Sinesisches Prinzip, wir haben es ihnen abgeschaut. Sehr ökonomisch. Intergalaktische Reichweite.«

Ich war bestrebt, mich stets in Kauffmanns Rücken aufzuhalten, um Jennifer Zeichen machen zu können. Mit einer Geste des Halsabschneidens versuchte ich sie dazu zu bewegen, jetzt endlich die Klappe zu halten. Aber sie ignorierte mich. Kauffmann seinerseits registrierte, dass wir ihn in die Zange nahmen und dass ich außerhalb seines Sichtfeldes herumhampelte. Er musste uns für gefährliche Irre und potenzielle Staatsfeinde halten. Vielleicht lag dieser Gedanke auch Jennifers halsbrecherischer Gesprächsführung zugrunde. Nach diesem Abend würde er uns nie wieder vorlassen, geschweige uns Zutritt zu solchen geheimen Anlagen verschaffen. Wir mussten also jetzt und hier so viel wie möglich aus ihm herauspressen.

»Ich begreife immer weniger, wovon Sie eigentlich sprechen«, sagte er ungehalten. »Wozu sollte dieser Verband, der ausschließlich zu defensiven Zwecken aufgestellt wurde, mit intergalaktischer Reichweite ausgestattet werden?«

Er schüttelte sich, als habe er ein unanständiges Wort in den Mund genommen, das man in vornehmer Gesellschaft für nicht auszusprechen pflegte. Ich machte Gesten, die man mit Cut! und Time Out! hätte übersetzen können. Jennifer amüsierte sich zu Tode, während in Kauffmann der Verdacht reifte, dass wir ihn zum Narren halten wollten.

»Was fummeln Sie denn herum?«, fuhr er mich an. Seine Geduld war am Ende. Nur seiner elitären Erziehung und seinem diplomatischen Drill war es zu verdanken, dass er uns nicht längst an die Luft gesetzt und uns ein für allemal unserem Schicksal überlassen hatte.

»Entschuldigen Sie, Sekretär«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich wollte meiner Frau lediglich bedeuten, dass es nun wirklich genug ist. Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht weiter beanspruchen.«

Jennifer rollte mit den Augen. »Es geht nur darum«, sagte sie, »dass es den Piloten auch in einem erdnahen Gefecht zugute käme, wenn sie der Technik der Aggressoren nicht hoffnungslos unterlegen wären.« Und mit einer letzten Aufgipfelung von Arroganz setzte sie noch hinzu: »Aber das müssen Sie gar nicht verstehen.«

»Sie haben recht«, seufzte Kauffmann resigniert. »Alles weitere besprechen Sie am besten mit dem Kanzler.«

Und seine Augen sagten: Wenn Sie jemals Zutritt zu ihm erhalten sollten, was ich zu verhindern wissen werde!

Ich schob mich neben Jennifer, legte den Arm um sie und bewegte sie mit sanftem Nachdruck dazu, uns wieder dem Elevatorschacht zuzuwenden. Sie war fürs erste verstummt. Ich konnte mir halbwegs ausmalen, über was sie brütete, und dabei nur hoffen, dass sie es für sich behielt, bis wir wieder auf unserer Suite waren. Wir bewegten uns langsam und, was Jennifer anging, eher widerstrebend dem Ausgang zu. Sie lehnte sich immer wieder über das mattgraue Geländer und spähte nach rechts und links über die ehrfurchtgebietende Ansammlung von Waffentechnik hinweg ins Halbdunkel. Nur die gegenüberliegende Wand war zu sehen. An ihr lief eine Balustrade um, die der unseren glich. Serviceschächte, Kräne, Munitionsdepots und Lager von Brennzellen waren dort zu erkennen. Während unsere Seite offiziellen Besuchen vorbehalten schien, wurde dort gearbeitet, mit schwerem Gerät hantiert und hochexplosives Material bewegt. Aber nach rechts und links war kein Ende der unterirdischen Halle auszumachen. Sie verlor sich im tropfenden, basaltfarbenen Licht. Was argwöhnte Jennifer, dass uns dort verborgen wurde? Sie schien eine Witterung aufgenommen zu haben, und da ich wusste, dass sie über einen sechsten Sinn verfügte, konnte ich mir ausrechnen, dass sie dem Verdacht nachgehen würde.

Wir hatten die Höhe des Stollens erreicht, der zu den Elevatorschächten führte. Kauffmann bog in den niedrigen Gang ein. Ich hielt mich zurück, während Jennifer vorne am Geländer entlangging und sich nun in der Gegenrichtung absetzte. Ich machte dem Sekretär ein Zeichen, dass er sich nur noch einen Moment gedulden solle. Er seufzte, ließ die Arme in einer perfekten Geste der Machtlosigkeit hängen und folgte uns dann langsam, während Jennifer immer schneller linkerhand den breiten Balkon hinunterlief. Ich war jetzt sicher, dass sie etwas entdeckt hatte, wenn ich mir auch beim besten Willen nicht zu erklären wusste, was es hätte sein können.

Sie war mir schon fünfzig Schritte voraus. In dem diffusen, seltsam schmierigen Licht, das die offenen Flammer über die Bergwerksszenerie warfen, löste sich ihre Gestalt schon beinahe auf. Das Knallen ihrer Schuhsohlen auf dem nackten Felsboden wies mir eher den Weg, als die sichtbare Bewegung ihres Körpers. Man hatte uns in dem hier üblichen monotonen Feldgrau eingekleidet, das schon auf wenige Meter Entfernung mit dem porösen Farbton des Gesteins verschmolz. In einen langsamen Trab fallend, der mir bewusst machte, wie geschwächt ich noch immer war, folgte ich ihr. Ihre Schritte entfernten und beschleunigten sich, bis sie plötzlich aufhörten. Ein unterdrückter Juchzer hallte stattdessen durch das unheimliche menschenleere Gewölbe. Ich beeilte mich zu ihr aufzuschließen und winkte auch Kauffmann heran, der uns langsam, auf seine Haltung bedacht, nachkam. Jennifer lehnte über dem Geländer und sah in die Tiefe. Sie rieb den linken Fuß an der rechten Wade, wie sie es nur in Augenblicken großer Erregung tat, und als sie mich kommen hörte und zu mir aufblickte, sah ich, dass Tränen in ihren Wimpern zitterten.

Ich trat neben sie, und dann fasste auch mich die gleiche Ergriffenheit. Es war wie ein Wiedersehen mit jemanden, den man für tot gehalten hat, die Begegnung mit einem Geliebten, die man nicht mehr für möglich gehalten hatte.

»Warum haben Sie uns davon nichts gesagt?!«, rief Jennifer dem Sekretär zu, der keuchend herbeigelaufen kam.

Trotz meines abgemagerten Zustandes war ich immer noch wesentlich schneller gewesen als er, was mich mit einer kaum wiederzugebenden Genugtuung erfüllte. Kauffmanns Gesicht war gerötet. Er hatte keine Puste mehr. Zu dem Unwillen über diese Eskapade gesellte sich nun noch blanke Verständnislosigkeit. Er fuhr sich mit dem Finger durch den Kragen, um sich Luft zu verschaffen, und starrte uns irritiert an.

»Ich hatte doch keine Ahnung«, schnaufte er.

Wir ließen ihn stehen und wandten uns wieder um. Selten habe ich einen so schönen Anblick genossen. Die Halle hatte sich unmerklich vergrößert. In dem schummerigen Licht war der Effekt kaum aufgefallen, aber auf den mehreren hundert Metern, die wir vom Stollenausgang bis hierher zurückgelegt hatten, hatten sich ihre Breite und Höhe annähernd verdoppelt. Auch die Tiefe, in der der riesige Hohlraum unter uns hinabreichte, hatte zugenommen. Die Jäger standen auf großen treppenartigen Plattformen. Ich vermutete, dass es sich um gigantische Hebebühnen handelte, die die Schiffe zu tiefergelegenen Werften und Hangars absenken oder sie in mehreren Decks übereinander anordnen konnte. Schließlich kam hinzu, dass der breite Balkon, auf dem wir uns befanden, plötzlich in rechtem Winkel nach links abknickte. Die Balustrade folgte dieser Bewegung in entsprechendem Abstand, wobei sie an der Ecke zu einem spitzen Dorn vorstieß; der Balkon war hier zu einer Kanzel ausgezogen, die frei über dem Zentrum der Halle hing. Denn an dieser Stelle zweigten weitere große Räume ab, die wie Querbalken an dem langgestreckten Hauptgewölbe saßen und es zu einer Kreuzform ergänzten. Wir standen im Zentrum dieses Kreuzes. Nach allen vier Seiten gingen gewaltige Hallen ab. Der Hohlraum im Kreuzpunkt war vom abgesenkten Boden bis zur Felskuppel zweihundert Meter hoch. In der Diagonale von einem Eck zum schräg gegenüberliegenden maß er ebenfalls wenigstens ebensoviel. Es war ein Raumeindruck, der dem des Großen Drohnendecks auf der MARQUIS DE LAPLACE nahe kam und der doch ganz anders wirkte. Durch die fahle Beleuchtung, die feuchte Atmosphäre und die wuchtigen, grob zugehauenen Felsmassen kam man sich eher wie in einer Krypta als wie in einem Raumhangar vor, wenn auch in einer Krypta von den Ausmaßen eines sehr großen Domes.

Und mitten in diesem Kreuzungspunkt, die Schnauze uns zugewandte, während das Heck noch einhundert Meter in den Seitentrakt hinausreichte, stand ein Schiff, ein einzelnes, klobiges, schwarz lackiertes Schiff, das die Jäger und Kampfbomber lässig überragte und in den Schatten stellte. Trotz der Höhe unserer Balustrade reichten seine Antennen und Aufbauten über uns hinauf. Der schwere, vierkantige Schädel schien in einer Mischung aus Treue und Demut gesenkt. Das ganze stählerne Wesen strahlte eine robuste Verlässlichkeit aus, wie ein gutmütiges Arbeitstier, ein Wachhund oder ein Ackergaul. Seine Schleusen, Druckkammern, Rampen und Torpedoschächte hielten still. Sie schienen sich uns darzubieten. Und Jennifer streckte die Hand aus, als könne sie über den riesigen leeren Raum hinweg die ölglänzenden Lefzen und die bullige Schnauze dieses Ungetüms kraulen und tätscheln. Es ragte über die Geschwader auf wie eine Termiten-Königin über ihr Volk und war in diese Halle gequetscht wie eine Bulldogge, die sich vorübergehend mit einem viel zu engen Zwinger bescheiden muss.

»Was soll ich sagen«, stammelte Kauffmann, dem unsere Ergriffenheit nicht entgangen war. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie ...«

Jennifer ließ ihn nicht ausreden. »Können Sie es nicht ein bisschen«, begann sie, aber als sie seine perplexe Miene sah, winkte sie ab und begab sich selbst auf die Suche. Sie fand ein stationäres HoloBoard, das in die rückwärtige Felswand eingelassen war. Es gelang ihr, es zu aktivieren. »Beleuchtung!«, befahl sie. »Hochfahren!«

Gewaltige Scheinwerfer flammten in dem riesigen Kreuzgewölbe auf, die das Schiff in seiner ganzen Wucht erhellten und seine stählernen Flanken und die sechs mächtigen Klauen, auf denen es ruhte, aus dem Halbdunkel stanzten. Gleichzeitig war ein fernes Dröhnen zu hören, mit dem tief unter uns, in den Fundamenten dieser erstaunlichen Anlage, ein schwerer Feldgenerator anlief. Dann ging ein Zittern durch den dreihundert Meter langen Rumpf, und langsam, Meter für Meter, schwebte das Schiff vor uns in die Höhe. Die Schnauze kam uns dabei so nahe, dass wir beinahe von der Balustrade aus hätten hinüberspringen können. Die mächtigen Kraftfelder hoben die Bodenplattform soweit an, dass das Schiff bis zu den mittleren Decks auf die Höhe unseres Standpunktes gehievt wurde. Wir konnten durch die Fenster in die Brücke und die Messe sehen und sogar das Innere unserer einstigen Kabine ausmachen.

Kauffmann wollte sich immer wieder an mich wenden, auch wenn ich kaum auf ihn acht gab. Nachdem Jennifer von der Steuereinheit zurückgekehrt war, standen wir ganz vorne auf der Kanzel. Ich hatte den Arm um sie gelegt und spürte ihren Kopf an meiner Brust. Schweigend ließen wir unsere Blicke über das Schiff gleiten, über unser Schiff, über die ENTHYMESIS. In unserem Rücken quengelte Kauffmann herum. Ein unwiderstehlicher Drang, sich zu rechtfertigen, schien sich seiner zu bemächtigen. Vermutlich hatte er erst jetzt, als er das Schiff sah und spürte, was es uns bedeutete, begriffen, mit wem er es zu tun hatte. Sein Tonfall war um etliche Grade ins Kleinlaute abgerutscht.

»Es wurde beschlagnahmt«, erklärte er. »Im zeitlichen Umfeld des Jupiter-Ereignisses. Der Kommandant, der es geflogen hatte, wurde degradiert, später allerdings rehabilitiert. Mit den Details habe ich mich nie beschäftigt. Die Akte ging über den Tisch eines meiner Beamten.«

Jennifer gab ihm zu verstehen, dass er die Klappe halten konnte.

»Ob wir an Bord gehen können?«, fragte sie mich leise.

Ich wiegte den Kopf. »Wie ich sehe«, wandte ich mich an Kauffmann, »haben sie einige Modifikationen vorgenommen.«

Der Sekretär schob sich neben uns und spähte neugierig auf das Schiff hinaus, dessen gewaltiger Leib jetzt im grellen Weißlicht kräftiger Strahler glänzte. »Nun«, sagte er ausweichend. »Alles, was ich weiß, ist, dass es ziemlich mitgenommen war. Es wurde von Grund auf überholt und gewartet, und wohl auch auf den neuesten Stand gebracht.« Er sah mich ratlos an. »Wenn Sie wünschen, kann ich morgen den Leitenden Ingenieur einbestellen, der dafür verantwortlich war.«

Ich registrierte daran zunächst die ganz neue Bereitschaft eines Entgegenkommens. Deshalb beließ ich es vorläufig dabei, ihm dankend zuzunicken.

»Die Torpedoschächte wurden auf Omega-Kanonen umgerüstet«, sagte Jennifer. »Und in das Leitwerk wurde eine Zett-Zwei-Flosse eingezogen.« Sie blickte Kauffmann voller Anerkennung an, der aber offenbar nur Bahnhof verstand. »Ich glaube, ich habe euch Zivilisten unterschätzt“, säuselte sie. »Darauf kann man aufbauen!«

In den nächsten Tagen setzten wir unsere diplomatischen Bemühungen fort. Jennifer überließ das weitgehend mir. Ich war der Besonnenere, und ich hatte auch wesentlich mehr Erfahrung in diesen Dingen. Während sie sich einen kleinen Stab von Technikern und Ingenieuren zusammensuchte und eingehend die Jägerflotte und die ENTHYMESIS inspizierte, kletterte ich auf der Leiter der Hierarchien und Zuständigkeiten auf und ab. Ich ging mit aller Behutsamkeit und Langmut zu Werke, die wir uns unter den gegebenen Umständen leisten konnten. Das Bewusstsein, dass uns die Zeit davonlief, war dabei mein ständiger Begleiter. Zustatten kam mir, dass der Persönliche Sekretär Gordon Kauffmann eine unerwartete Kooperationsbereitschaft an den Tag legte. Irgendetwas musste in den unterirdischen Hangars mit ihm vorgegangen sein. Hatten wir ihn anfangs so in die Enge gedrängt, dass ich zwischenzeitlich fürchtete, er werde nach diesem Lokaltermin jeden weiteren Kontakt mit uns verweigern, so zeigte er sich im Nachhinein plötzlich umgänglich, aufgeschlossen und über alle Maßen hilfsbereit. Rational war es kaum zu erklären. Ich vermutete, dass es mit dem Anblick der ENTHYMESIS zusammenhing, der auf einen Zivilisten beeindruckend, um nicht zu sagen: furchteinflößend genug war. Wir hatten ihm unser Schoßhündchen gezeigt, und dieses Schoßhündchen war zufällig eine Dänische Dogge. Jetzt wusste er jedenfalls, was für Leute wir waren, und er beeilte sich, uns zu Diensten zu sein.

Diese Dienste konnte ich auch dringend brauchen. Ohne seine Funktion als Türöffner, juristischer Berater, Dolmetscher des politischen und verwaltungstechnischen Jargons und nicht zuletzt seelischer Beistand hätte ich es nicht geschafft. Zunächst ging es darum, meinen Anspruch auf die ENTHYMESIS geltend zu machen. In rascher Folge wurde ich von einem Zimmer ans nächste verwiesen. Mehrere Tage brachte ich in den Vorzimmern der Herren und Damen Minister, Direktoren und Sekretäre, Beauftragten und Kommissare, Generale und Behördenleiter zu. Meine Aufenthalte in den eigentlichen Büros und Besprechungszimmern der Herrschaften währten stets nur wenige Minuten. Ich sagte stets mein gleiches Sprüchlein auf, das Ergebnis war ebenfalls stets das gleiche, nämlich keines. In der Regel nannte man mir einen weiteren Namen, eine neue Zimmernummer, eine andere Abteilung. Am Ende stand zu befürchten, dass die Vorgänge in der Nacht von Pensacola in einem förmlichen Revisionsprozess neu aufgerollt werden würden. Das würde Monate dauern, aber wir hatten nur noch Wochen, vielleicht nur noch ein paar Tage. Ich beschloss daher, meine Taktik zu ändern.

Statt zu bitten und Rat einzuholen, stellte ich Forderungen und erhob Ansprüche. Statt höflich zu sein, wurde ich auftrumpfend. Statt mich abspeisen zu lassen, leistete ich mir einige Ausfälle. Statt mich auf der Ebene des mittleren Verwaltungsbaus hin und her schieben zu lassen, schrie ich mich zum jeweiligen Vorgesetzten durch. Statt zu fragen, ordnete ich an. Statt zu grüßen, erteilte ich Befehle. Statt diplomatisch vorzugehen, wurde ich unverschämt. Schließlich richtete ich mich direkt an den Kanzler, die Zuständigkeit des Ministers großzügig überspringend. Es kam zu einer persönlichen Unterredung, der ersten seit seinem Fünfminuten-Besuch an unserem Quarantäne-Bett. In eindringlichen Worten und sekundiert durch Kauffmann, den ich zuvor noch einmal ins Gebet genommen hatte, versuchte ich ihm die Situation klarzumachen. Wir waren in einem Shuttle hierher gekommen, das wir auf dem Raumhafen von Sina City im Rahmen eines verlustreichen Feuerüberfalls entwendet hatten. Die Sineser wussten, dass wir hier waren, oder sie würden es durch die nächste Warpsonde erfahren, die in spätestens zwei Wochen das Sonnensystem verlassen würde. Ich erläuterte ihm die Situation der MARQUIS DE LAPLACE und legte ihm die Lage der neugegründeten Kolonien in der Eschata-Region dar. Das prekäre Schicksal Jill Lamberts und WO Taylors verschwieg ich ihm, ebenso unsere Abmachung mit den Tloxi. Ich hütete mich, Jennifers Plan, den sie noch in den Katakomben von Sina City entwickelt hatte, auszuplaudern.

Der Kanzler hörte mir wohlwollend und konzentriert zu, aber er machte den Anschein, als rede ich in einer ihm nicht geläufigen Sprache. Er hatte die Ochsentour durch die Zivilverwaltung gemacht. Weiter als bis zu den Mondstationen und den Marsbasen war er nie gekommen. Er konnte sich unter den Räumen jenseits des Asteroidengürtels genauso wenig vorstellen wie unter einem generatorgestützten, phasenverschobenen Warpantrieb. Als Mann des Volkes, der er im Grunde war, war er froh, dass die Seuchen abgeklungen waren und dass die Ernährung der Bevölkerung wieder sichergestellt war. Er empfand Erleichterung darüber, dass die Ringe, die aus dem Jupiterdurchgang hervorgegangen waren, sich stabilisiert hatten und dass der Meteoritenregen, den sie anfänglich gespeist hatte, zurückging. Auf seine defensiven Maßnahmen, von deren Entschlossenheit wir uns hatten überzeugen können, war er zu recht stolz. Alles weitere überstieg seinen Horizont. Er war im Inneren seines Herzens ein bodenständiger Mensch, der schlechterdings nicht glauben wollte, was ich ihm an Bedrohungsszenarien an die Wand malte. Er hatte im Leben keinem Sineser gegenübergestanden, und obwohl er selbst dieser Partei nicht angehörte, wusste er, dass es eine wachsende Fraktion von Leuten gab, die schlechterdings leugneten, das Jupiter-Ereignis stünde überhaupt in einem kausalen Zusammenhang mit Handlungen, die von Sina ausgegangen seien. Dass Sina nie die offizielle Verantwortung für die Attacke übernommen hatte, erwies sich von hier aus als genialer Schachzug. Tragischerweise waren es die potentiellen Opfer, die darauf hereinfielen und die sich noch etwas darauf zugute hielten.

Ich musste meine gesamte Überredungskunst aufbieten, um ihn davon zu überzeugen, dass Sina existierte und dass dort keine guten Menschen wohnten. Glücklicherweise kamen mir nicht nur Gordon Kauffmann, sondern auch einige der anderen Adjutanten und Sekretäre des Kanzlers zuhilfe, die der Auseinandersetzung gefesselt folgten. Ich vermutete, dass auch sie von ihren eigenen Beweggründen getrieben wurden. Sie standen dem militärischen Stab näher als dem zivilen und erhofften sich etwas für ihre eigene Karriere, oder sie hatten einen Onkel, der eine Fabrik für Torpedoplasma betrieb. Das alles konnte mir gleichgültig sein, solange es meine Position stärkte. Kauffmann kannte sich hier besser aus, und er wusste es geschickt zu benutzen. Ich merkte es daran, wie er einzelne Berater des Kanzlers mehr ins Gespräch zog, während er anderen das Wort abschnitt. Das meiste, was dabei hinter den Kulissen ablief, musste mir verborgen bleiben. Ich legte auch keinen Wert darauf, in die persönlichen Intrigen eingeweiht zu werden, die bei einem solchen Vorgang auch noch alle berücksichtigt werden mussten.

Am Ende kam ein klassischer Formelkompromiss heraus. In der Präambel des Papiers, das dazu aufgesetzt wurde, wurde der rein defensive Charakter unserer Maßnahmen hervorgehoben. Der Kanzler übergab mir weitreichende Kompetenzen, und ich verpflichtete mich, diese einzig zur Beförderung des Friedens und zum Wohle der unierten Menschheit zu benutzen. Dann kam das Kleingedruckte. Mir wurde das sinesische Shuttle, die ENTHYMESIS, sowie die Hälfte der Jägerflotte unterstellt. Ihr offizieller Auftrag war es, in die Eschata-Region verlegt zu werden, um die dort neu gegründeten Kolonien zu sichern. Für den Konvoi selbst bekam ich außerdem das zeitlich befristete Kommando über zwei schwere Transporter und, als Geleitschutz, ein Schlachtschiff, das vor einiger Zeit in den Asteroidenwerften vom Stapel gelaufen war. Diese letzten Schiffe mussten am Ende der Mission in den erdnahen Raum zurückgeschickt werden. Gelesen und gezeichnet: der Kanzler und ich.

»Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte«, sagte Jennifer, als ich am Abend zu Tode erschöpft neben ihr ins Bett fiel. »Dass ein Teil der Jägerstaffeln hier bleibt, deckt sich mit meinen Absichten. Schließlich müssen wir auch an den Tross denken.«

Der »Tross«, das war die Erde, das Sonnensystem, unsere Heimat und unser Rückzugsgebiet, unsere Basis, von der wir schon so lange abgeschnitten gewesen waren. Seit sie sich in strategischen Planungen erging, gewöhnte sie sich ein militärgeschichtliches Vokabular an. Nicht nur ihr Vater, der alte Ash, war ein begeisterter Hobby-Historiker gewesen, der seine Pensionszeit zur Abfassung eines anerkannten Standardwerkes über die Punischen Kriege genutzt hatte, auch sie hatte dieses Faible nie verleugnet. Als Jugendliche hatte sie sich kreuz und quer durch die umfangreiche althistorische Bibliothek ihres Vaters gelesen, sie entdeckte ihre Leidenschaft jetzt wieder und verschlang Dutzende von alten Chroniken und Militaria. Ihr Jargon troff von Wörtern wie Nachschublinien und Flankenbildung, Zentrum und Keil, Flügel und Hauptmacht, Versorgung und Durchstoß. Und eben Tross. Sie saß stundenlang über ihrem MasterBoard, auf dem sie kleine Symbole hin und her schob. Eine blaue Spindel war ein Jagdgeschwader. Ein rotes Dreieck war ein Schlachtschiff. Ein langer gelber Balken war die MARQUIS DE LAPLACE. Sie konfrontierte mich mit Details aus der Kriegsgeschichte. Waterloo, Cannae, Issos, Tannenberg gingen ihr wie Alltagsbegriffe von den Lippen. Ihr Codename für das, was sie in bezug auf die Sineser ausheckte, war kein geringerer als »Gaugamela«.

In den nächsten Tagen forcierten wir unsere Anstrengungen noch. Die Vollmacht in der Tasche, ging es nun darum, das alles auch in die Tat umzusetzen. Jennifer verbrachte jede freie Minute in den unterirdischen Hangars, wo sie den Teil der Flotte auswählte, der uns nach Eschata begleiten sollte. Mit den Technikern sprach sie die Reprogrammierung der Warpgeneratoren durch. Glücklicherweise ließ diese sich zentral bewerkstelligen und von der Automatik auf viele Einheiten überspielen. In improvisierten Seminaren unterwies sie die Piloten im Gebrauch der neuen Technologie. Die wenigsten konnten sich darunter etwas vorstellen. Sie waren an Simulatoren ausgebildet worden und fieberten dem Augenblick entgegen, da sie zum ersten Mal in den Orbit aufsteigen würden. Dennoch waren sie begeistert bei der Sache, und es meldeten sich mehr Freiwillige, als wir in unserem Geschwader unterbringen konnten.

Derweil kümmerte ich mich um den Rest unserer Armada. Auch auf dem Mars standen Mannschaften und Maschinen, die mir unterstellt werden würden, und der Marschbefehl musste auch an die Asteroidenwerften übermittelt werden, die die großen Schiffe ebenfalls auf erweiterten Warp umrüsten mussten. Dazu bedienten wir uns eines Kommunikationsverfahrens, das die Zivilregierung in den Jahren seit dem Jupiter-Ereignis entwickelt und mittlerweile zur Perfektion gebracht hatte. Ich lernte aus all’ dem, dass das Verhältnis zu den Sinesern und ihren Überwachungssonden doch nicht so blauäugig war, wie es mir während der Verhandlungen geschienen hatte. Immerhin hatte man es fertiggebracht, ein beachtliches Flottenbauprogramm in die Tat umzusetzen, ohne sinesische Gegenmaßnahmen zu provozieren.

Zur Übermittlung von Nachrichten an die Marsbasen und die anderen extraterrestrischen Stellen bediente man sich alter, längst vergessen oder ausgestorben geglaubter Sprachen und Dialekte. Da man davon ausging, dass der gesamte Funkverkehr von den sinesischen Warpsonden abgehört und in Sina City ausgewertet wurde, musste man sich etwas einfallen lassen, um militärisch und logistisch brisante Mitteilungen zu verschlüsseln. Und da man ebenfalls davon auszugehen hatte, dass die sinesischen Experten jeden mathematischen Schlüssel knacken würden, besann man sich anderer Kommunikationsmöglichkeiten, deren Strukturen gewachsen und daher nicht algorithmisch zu dechiffrieren waren. Das waren die vielen Sprachen und tausende von Dialekten, die es einmal auf der Erde gegeben hatte, ehe das Unierte Englisch diesen Wildwuchs in einem groß angelegten Heckenschnitt beseitigt hatte. Freilich war es nicht damit getan, dass man alte Wörterbücher und Grammatiken aufstöberte, die sich in der Library of Congress oder in irgendeinem Regionalarchiv hätten finden lassen. Man hätte auch sie übermitteln müssen und dem Gegner damit den Schlüssel geliefert. Es mussten Muttersprachler sein, und das zu einer Zeit, in der die Menschheit durch den Jupiter-Durchgang dezimiert und verelendet war und in der die Union seit mehr als zwei Jahrhunderten eine kulturelle Gleichschaltung durchgeführt hatte. Das Verkehrsenglisch hatte die lokalen Sprachen und Literaturen beinahe vollständig verdrängt, und in den Jahren unmittelbar nach der Katastrophe war das Interesse an ausgestorbenen Dialekten naturgemäß noch sehr viel geringer. Man hatte anderes zu tun.

Es war der geniale Einfall des Kanzlers – oder eines seiner Berater, dessen Namen man nie erfahren würde –, diese halb verschollenen Sprachen nicht nur auszugraben, sondern sie zu aktivieren und sie in den Dienst der gemeinsamen Sache zu stellen. Und das große Wort von der Unierten Menschheit bekam dadurch wieder einen neuen, anderen, inhaltsvolleren Sinn. Ob es ursprünglich Cole Johnson selbst war, der die zündende Idee hatte, mag im Nachhinein als nebensächlich erscheinen; fest steht, dass es seiner Tatkraft zuzuschreiben war, dass das Projekt auch verwirklicht wurde. Mit großem organisatorischen Aufwand und bei strengster Geheimhaltung wurden die Kontinente durchforstet. Und in den anschließenden Monaten füllten sich die Fracht- und Passagierschiffe, die zu den Marsbasen, den Asteroidenwerften und den letzten Außenposten auf den Saturnmonden unterwegs waren, mit seltsamen Reisenden.

Alte Samen aus den abgelegenen Tundren Skandinaviens flogen zu Verwandtenbesuchen auf den Roten Planeten. Kauzige Professoren, die sich vor Jahrzehnten des Uigurischen, Mongolischen oder Serbokroatischen angenommen hatten, hielten Seminare und Ringvorlesungen quer durch das Sonnensystem. Man stöberte zahnlose Tibeter auf, und die Fährschiffe waren bevölkert von Indiofrauen, die noch des Qechua mächtig waren. Die Steppen- und Gebirgsregionen der Erde wurden nach einsamen Stämmen durchstöbert, deren Vertreter man zu Folkloredarbietungen und Weiterbildungen auf die weit entfernten Stationen schickte. Und allmählich verschwand das Unierte Englisch aus dem offiziellen und weniger offiziellen Funkverkehr. Ein babylonisches Stimmengewirr füllte die Kanäle. Man holte die letzten Navajo und Papua aus ihren Reservaten und ließ sie über Milliarden Kilometer hinweg Belangloses plaudern. Man verstreute Familien und Sippen, die sich ihres eigenen Idioms bedienten, über riesige Räume. Schließlich entdeckte man die Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation. HoloVideos wurden übertragen, auf denen Trachtenumzüge zu sehen waren, wobei die Nuancen der Kostümierung oder die Details der Abläufe nur noch den Bewohnern eines einzigen Dorfes verständlich waren. Die Gebärdensprache der afrikanischen Tschagga kam ebenso zum Einsatz wie das unverständliche und gehaltvolle Gestammel buddhistischer Schamanen. Das Sonnensystem verwandelte sich in einen Basar der Kulturen, bei dem nicht zwei Nachrichten in der gleichen Sprache übermittelt wurden und bei dem der Reichtum der Dialekte, der religiösen Anspielungen, der traditionsgebundenen Rituale und der Geheimwörter jeden Mithörer in die Verzweiflung treiben musste. Details der Triebwerkstechnik oder der Sondenprogrammierung wurden in korsischer oder kretischer Mundart durchgegeben. Oder man bediente sich philosophischer Zitatenschätze und Sprichwortsammlungen konfuzianischer Weistümer, um Marschbefehle und Truppenverlegungen zu transportieren. Alte Frauen aus Feuerland oder von den Sundainseln hockten, Pantoffeln an den Füßen, Wollsocken strickend, in den schweren Kreuzern und auf den wenige Mann starken Vorposten jenseits der Neptunbahn und nuschelten miteinander über Familientratsch und längst verblichene Affairen, in die sie hin und wieder ein Codewort oder eine Produktionsziffer einfließen ließen. Aus den Lautsprechern der offenen Kanäle scholl das heisere Bellen arabischer Untersprachen, die nur noch von wenigen libyschen Nomaden beherrscht wurden. Der Äther war erfüllt vom Singsang hinduistischer Tempelzeremonien oder hebräischer Gebete, in deren Variationen der Eingeweihte eine verklausulierte Information zu entdecken vermochte. Und um das Chaos perfekt zu machen, war der gesamte Funkverkehr auf eine Stunde am Tag beschränkt. Dann quollen die Kanäle über, während in der restlichen Zeit im ganzen Sonnensystem Funkstille herrschte. Das erklärte auch, warum bei unserem Anflug auf die Erde sämtliche Wellenlänge geschwiegen hatten wie nach einem Weltuntergang.

»Das Programm«, schloss Kauffmann, als er mich davon in Kenntnis setzte, »war ein voller Erfolg. Nicht nur deshalb, weil es uns eine Vielzahl von Verschlüsselungsmöglichkeiten bot, die wir kaum selbst noch überblickten, sondern auch, weil es uns den Reichtum unserer gemeinschaftlichen Überlieferung wieder zum Bewusstsein brachte, den wir beinahe dem Vergessen hätten anheimfallen lassen. Selten habe ich so viele stolze und selbstbewusste Menschen gesehen wie unter den anatolischen Hirten und indonesischen Fakiren, den singapurer Geschäftsleuten und australischen Aborigines, die wir anheuerten, weil sie über ein Wissen und eine Fertigkeit verfügten, die in der ganzen Galaxis einzigartig und nicht zu reproduzieren ist.«

Ich mochte das gerne glauben, verriet das Leuchten in seinen Augen mir doch, wie sehr das Projekt ihn begeistert hatte und noch begeisterte. Vor allem aber setzte es uns in Stand, den geplanten Aufmarsch voranzutreiben. Selbst wenn noch eine der sinesischen Sonden ablegen und ihre Informationen nach Sina bringen sollte, würde man dem zum Prinzip erhobenen Kauderwelsch dort schwerlich etwas entnehmen können. Und was für Informationen wurden in diesen Tagen nicht verschoben! Endlose Listen mussten abgearbeitet werden. Truppenstärken, Aufstellungen von Material und Nachschub, Treibstoff- und Munitionsvorräte, Organisation von Konvois und Zusammenstellung von Geleitzügen, komplizierte Staffelung von Befehlsstrukturen, Flugrouten, Computerprogrammierungen, Gefechtspläne. Alles wurde im speziellen Argot der Unterwelt von Buenos Aires oder im scholastischen Jargon theologischer Experten übermittelt.

Endlich waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Die größte interstellare Armada, die je einem Kommandanten unterstellt worden war, stand bereit, auf meinen Befehl hin in den Warpraum aufzubrechen. Selbst ein Stein hätte ein mulmiges Gefühl gehabt. Seit Tagen schlief ich schlecht. Mein Magen, dessen Dienste zur Wiedererlangung meines Kampfgewichtes dringend nötig gewesen wären, revoltierte. Ich musste mich zu den Mahlzeiten zwingen; dennoch stagnierte mein Heilungsprozess. Aber darauf durften wir jetzt keine Rücksicht mehr nehmen.

Bis jetzt war alles nur Papier und vielstimmige, babylonisch verbrämte Absicht. Noch war kein Schuss gefallen, kein Triebwerk gezündet, hatte sich kein Hangartor geöffnet. Selbst für den aufmerksamen Beobachter dürfte sich allenfalls eine Zunahme des Funkverkehrs ergeben haben. Alles andere hatte im Verborgenen stattgefunden, in unterirdischen Werften oder in der Kryptik unverständlicher Mitteilungen. Das würde sich nun ändern. Mit dem Befehl zum Abheben durchschritten wir ein Tor, das sich im selben Augenblick krachend hinter uns schließen würde. Noch konnten wir die ganze Aktion abbrechen, aber wenn morgen die ENTHYMESIS und die Jägerstaffeln die Feldgeneratoren anwarfen und die Reaktoren zündeten, gab es kein Zurück mehr. Dann waren die Würfel geworfen, die fallen würden, wie sie fallen mussten. Alles lag dann in Gottes Hand. Leider gab es keinen Gott, dessen tröstlicher Grausamkeit wir uns anvertrauen konnten. Wir mussten selbst wissen, was wir taten. Es hing alles von uns selbst ab. Das machte es nicht gerade leichter.

Am letzten Abend vor dem Starttermin kamen wir in kleinem Kreis mit dem Kanzler und seinem Persönlichen zusammen. Es wurde ein exquisites Menü serviert, dazu erlesene Weine, teilweise allerneuester Jahrgänge. Zumindest was die Agrikultur betraf, war die Menschheit wieder über den Berg. Was ihre galaktischen Ambitionen anging, das mussten die nächsten Tage erweisen. Gedämpfte klassische Musik erfüllte den Raum, ein kleines Kabinett in einer der höchsten Etagen der Bunkerfestung. Es war eine ausgeschalte Bergspitze, einige hundert Stockwerke über den Wohn- und Regierungstrakten, in denen wir die letzten Wochen verbracht hatten. Massive Felswände schlossen sich zu einer Kuppel über dem privat anmutenden Zimmer. Nach allen Seiten waren große Fenster in das Gestein gebrochen, sodass wir einen umfassenden Blick über die Landschaft genießen konnten. Tief unter uns rauschte der Fluss in seinem gewundenen Bett. Das Tal hatte sich in den vergangenen Tagen von der Sohle her zu begrünen begonnen. Die Mandelbäume hatten die Blüte beendet und hellgrün knospendes Laub hervorgetrieben. Krokusse bildeten blaue Lachen, die aus dieser Höhe wie schimmernde, vom Wind gewellte Weiher aussahen. Aber auch Magnolien und wilde Obstbäume blühten schon. Der Abendhimmel war klar. Im Lauf der Mahlzeit trübte er sich flamingofarben ein und loderte dann für wenige Augenblicke wie Lava auf, ehe er rasch erkaltete und steingrau wurde. Die ersten Sterne zogen auf. Die Ringe wurden sichtbar, die bei Tag von der Sonne überstrahlt wurden, sich jetzt aber als hauchfeine silberglänzende Filamente über das südliche Firmament zogen. Ich hatte darauf gedrungen, die Batterien, die sich dort befanden, zu verstärken. In den größeren Trümmern, die nach Kilometern maßen, waren zahlenkräftige Einheiten untergebracht, die mit ihren Geschützen einen wirkungsvollen Sperrgürtel bildeten. In den kleineren Bruchstücken bis herab zu Felsbrocken von wenigen Metern waren automatische, KI-gesteuerte Kanonen montiert worden. Man hoffte so, die erste Welle einer Invasionsarmee auffangen oder sie so lange in Schach halten zu können, bis die Jagdgeschwader aufgestiegen waren. All das war ungewiss. Aber allein die Anstrengungen der zurückliegenden Wochen hatten noch einige besonders eklatante Lücken geschlossen.

Dem Kanzler war mein sorgenvoller Blick zum Himmel nicht entgangen. »Von morgen an lastet eine schwere Verantwortung auf Ihren Schultern«, sagte er. Das war das Zeichen, dass der der Konversation gewidmete Teil des Abends beendet war. Die Teller und Schüsseln, die in meinem Fall fast unberührt waren, wurden abgetragen. Liköre, Kaffee, Qat-Zigaretten und echte Tabakwaren wurden gereicht.

»Ich kann nur hoffen«, fuhr Seine Eminenz fort, »dass Sie sich dessen bewusst sind.«

Jennifer ließ sich einen Rhabarber-Kiwi-Drink mixen, während ich befand, dass ich einen Whisky brauchen konnte. Kauffmann bestellte einen Mokka. Der Kanzler blieb beim Wein, zündete sich aber eine Zigarette an.

»Das Schicksal einer großen Flotte liegt in ihren Händen. Vielleicht das der ganzen Menschheit.« Er paffte blaue Rauchwolken und sah mich durch die kreisförmigen Kringel durchdringend an.

»Selbstverständlich sind wir uns darüber im klaren«, beeilte ich mich zu sagen.

Ich wählte den Plural, weil mir aufgefallen war, dass er mit einer Miene zwischen Jennifer und mir hin und her blickte, die zu besagen schien, dass er sie für die eigentliche Antreiberin des ganzen Unterfangens hielt. Was nicht falsch, aber auch nicht vollkommen richtig war; ich stand durchaus hinter ihren Überlegungen.

»Wenn ich recht informiert bin«, sagte Cole Johnson mit einem Seitenblick zu seinem Sekretär, »ist den Sinesern bisher sowohl der Aufenthaltsort der MARQUIS DE LAPLACE als auch die Position der von Ihnen neugegründeten Kolonien unbekannt.“ Er zögerte, als denke er über etwas nach, das ihm entfallen war.

»Die Region Eschata«, warf Kauffmann ein, »im Nebel M42.«

Jennifer und ich nickten.

»Wenn Sie nun dorthin fliegen«, fuhr der Kanzler nach einem Moment der Zerstreuung fort, »werden Sie die Aufmerksamkeit der Sineser unweigerlich auf diese Regionen lenken.«

Jennifer machte eine Bewegung, als wolle sie das Wort ergreifen, aber der Kanzler ging nicht darauf ein. Ich berührte sie am Arm, um sie zurückzuhalten.

»Wir können nur hoffen«, seufzte Johnson, »dass sie das nicht als aggressiven Akt auffassen. Ich werde deshalb ein diplomatisches Kommuniqué übermitteln, in dem ich die friedlichen Absichten dieser Kolonisierung und den rein defensiven Charakter unserer Wiederbewaffnung herausstreiche und auf eine Wiederaufnahme der Gespräche dringe.«

Er schwieg und sog an seiner Zigarette, die er dann im Aschenbecher ausquetschte. Der Geruch von echtem verbranntem Tabak, der in dem geschlossenen Raum noch sehr viel intensiver war, faszinierte mich. Allerdings war ich so schwach auf dem Magen, dass mir der bloße Gedanke daran, auch nur eine Runde zu Qatten, beinahe übel werden ließ.

»Schließlich haben wir ja nicht vor, Sina zu überfallen oder so etwas.«

Der Satz des Kanzlers hallte in der betretenen Stille wider. Wir mussten etwas entgegnen, aber mir fiel nichts ein. Glücklicherweise ergriff Kauffmann das Wort und wies darauf hin, dass die Sineser nach Lombok alle Verhandlungen abgebrochen hatten und seit dem Jupiter-Ereignis auf allen diplomatischen Kanälen geräuschvoll schwiegen.

»Das muss ja nicht immer so bleiben«, murmelte Seine Eminenz.

Ich konnte ihm unumwunden beipflichten. Er hatte recht: unser Verhältnis zu Sina musste auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden. Was seinen Argwohn, wir könnten die Kolonien verraten, anging, konnten wir ihn beruhigen. Dieser Punkt hatte uns selbst die meisten Kopfschmerzen bereitet, und wir konnten nur hoffen, dass wir uns nicht selbst belogen, wenn wir seine Zweifel zerstreuten. Wir hatten vor, zunächst die Dunkelwolke anzufliegen. Die besonderen Eigenschaften der Dunklen Materie brachten es mit sich, dass Warpsignaturen geschluckt wurden. Zwar wussten wir nichts über den aktuellen Aufenthaltsort der MARQUIS DE LAPLACE. Sie musste sich aber in der Nähe der Dunkelwolke im Kleinen Korridor befinden. Und wenn ich Wiszewsky richtig einschätzte, bzw. wenn er die Situation ebenso einschätzte, wie ich es an seiner Stelle getan hätte, gab es sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass er das Mutterschiff selbst in die Dunkelwolke verlegt hatte. Das war nach unserem Verschwinden und in Anbetracht der sinesischen Späher, die den Kleinen und den Großen Korridor durchforschten, die einzige logisch erscheinende Möglichkeit. Nachdem wir unser Geschwader dorthin verlegt und den Kontakt zur MARQUIS DE LAPLACE hergestellt hatten, würden wir weitersehen. Über unsere Planungen, die über diesen Punkt hinausgingen, schwiegen wir uns wohlweislich aus.

Wenig später hob der Kanzler die Runde auf. Er verabschiedete sich feierlich und ein wenig müde von uns. Wir dankten ihm förmlich für sein Entgegenkommen und das in uns gesetzte Vertrauen. Dann packte ich Kauffmann an der Schulter. Ohne ihn hätten wir es nicht bis hierher geschafft. Die körperliche Geste war ihm unangenehm. Aber die Anerkennung für seine unermüdliche Unterstützung schmeichelte ihm sichtlich. Schwer zu sagen, wofür er uns eigentlich hielt. Für Abenteurer, Haudegen, Wahnsinnige. Für verantwortungsbewusste Leute ganz sicher nicht. Und dennoch hatte er in die Wege geleitet, dass uns Machtmittel in die Hand gegeben wurde, die kaum ein anderer Kommandant in der noch jungen interstellaren Geschichte der Unierten Menschheit jemals auf sich hatte vereinen können. Selbst General Rogers hatte erst auf dem Höhepunkt der Schlacht von Persephone, im Angesicht der drohenden Niederlage, als er alle Kompetenzen über die Flotte an sich zog und den bis heute umstrittenen völkerrechtswidrigen Antimaterieangriff befahl, eine vergleichbare Armada seiner Person unterstellt gehabt. Schon eine Stunde später, nach dem Untergang der Großen Sinesischen Flotte, hatte er einen Großteil der Befehlsgewalt wieder abgeben müssen.

»Ist das herrlich«, jubelte Jennifer. »Endlich ein Schiff, mit dem man online kommunizieren kann, ohne sinesische Hieroglyphen. Und ordentlich aufgemotzt haben sie die Alte!«

Obwohl wir auf der Passage eigentlich nur Gäste waren und die ENTHYMESIS offiziell dem Kommando eines altgedienten Captains unterstellt war, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, selbst den Hauptbedienplatz einzunehmen und den Piloten dazu zu verdonnern, die zweite Konsole einzunehmen.

»Alle Systeme arbeiten einwandfrei«, meldete sie. »Aber wir haben jetzt wesentlich mehr Saft unter der Haube. Von den militärischen Spielereien ganz zu schweigen.«

Ich ging auf der Brücke hin und her und registrierte die sanften Erschütterungen, mit denen der Reaktor des Explorers anlief. Noch konnte ich es nicht glauben. Alles war unwirklich. Die wohlvertraute Umgebung kam mir fremdartig und phantastisch vor.

Nachts hatten erschreckende Albträume mich gequält. Sinesische Geschwader waren ins Sonnensystem eingebrochen. Überall, von der Merkurbahn bis zum Uranus-Orbit, öffneten sich Warpkorridore aus denen unzählige schnelle Jäger hervorquollen wie Wespen aus ihrem Nest. Schwere Schlachtschiffe tauchten in die Erdumlaufbahn ein und nahmen die Batterien in den Ringen unter Feuer. Ikosaeder-Kampfstationen wälzten sich über ganze irdische Flottenverbände und vernichteten alles, was in ihre Reichweite kam. Warpraumsonden materialisierten sich vor sämtlichen Planeten und attackierten sie mit Annihilationswaffen. Eine Welt nach der anderen wurde aus ihrer Bahn geworfen und stürzte in die Sonne. Am Ende war auch die Erde nicht mehr als eine zerstäubte Partikelwolke, die flirrend im Raum hing und von den Protuberanzen unseres Zentralgestirns aufgeleckt wurde.

Ich erwachte um sechs Uhr morgens, maltraitiert und zerschlagen, wie ich es von keiner schlaflosen Nacht hätte sein können. Draußen graute gerade ein kalter Morgen. Vielleicht der letzte, den ich über einen irdischen Horizont würde steigen sehen. Das Bett neben mir war leer. Ich fand Jennifer auf dem Balkon, wo sie nackt in der Frostluft saß und meditierte.

Kaufmann erwartete uns im Elevatorschacht. Er geleitete uns noch bis zur ENTHYMESIS, die aufgetankt und vollständig munitioniert im Zentrum des großen Kuppelkreuzes stand. Wir verfolgten gemeinsam, wie das sinesische Shuttle verladen wurde. Auf einer komplizierten Abfolge von Generatorschächten, Kraftfeldern, Hebebühnen und Schwenkkränen hatte man es bis vor die weit geöffnete Steuerbordrampe der ENTHYMESIS bugsiert. Jetzt schwebte das erstaunliche Gefährt, das uns einmal rings um den Äquator des gesamten Kosmos getragen hatte, wenige Meter vor der Luke des Drohnendecks unseres Explorers. Die Laderäume der ENTHYMESIS waren mit warpfähigen Lambda-Ionensonden, Antimaterietorpedos, Brennzellen und Zusatztanks vollgestopft. Nicht zuletzt hatten wir vier leichte Jäger und mehrere hundert Mann an Bord genommen. Aber ein Winkel war noch ausgespart geblieben. In ihn dirigierten die Techniker, unterstützt von feldgetriebenen Robotern jetzt das Shuttle, das sonderbar plump, wie ein gemästeter Käfer, in den unsichtbaren Seilen der Gravitationsgeneratoren hing. Es war in der Zwischenzeit repariert, gewartet, auf Uniertes Englisch umprogrammiert und betankt worden. Die unverwüstliche Technik stand für neue Herausforderungen bereit. Für die Passage allerdings musste es mit einem Touristenplatz in der vollgepfropften Drohnenkammer der ENTHYMESIS vorlieb nehmen.

Als die Ladeklappen sich surrend schlossen und mit hydraulischem Schmatzen verriegelten, drückten wir Kauffmann die Hand und verabschiedeten uns von ihm. Ich hatte diesen korrekten, karrierebewussten Beamten, der so auf seine gewienerten Schuhe, den Sitz seiner Krawatten und die manikürten Fingernägel bedacht war, liebgewonnen. Beinahe hätte ich ihm vorgeschlagen, uns zu begleiten. Was er wohl gesagt hätte, wenn wir jenseits der Milchstraße aus dem Warpkorridor herauskamen? Aber er passte weder auf ein militärisches Schiff, als das wir die ENTHYMESIS jetzt wohl oder übel ansehen mussten, noch unter die raubeinigen Kolonisatoren der Eschata-Region. Sein Platz und seine Aufgabe war hier, in der Zivilverwaltung, wo er seine Fäden ziehen und seine Intrigen spinnen konnte. Es kamen größere Herausforderungen auf ihn zu, als er selbst zu diesem Zeitpunkt ahnte. Er war der Meinung, im Augenblick unseres Starts sei er uns los und aller von uns verursachten Probleme ledig; und wir sahen nicht ein, weshalb wir ihn nicht in diesem Glauben lassen sollten. Mit einem letzten Nicken wandte er sich ab und ging mit seinen weichen Schultern und seinem irgendwie femininen Gang zum Elevatorschacht zurück. Wir stapften die Backbordrampe hinauf und gingen an Bord.

Als alle Systeme hochgefahren waren und grünes Licht zeigten und als Jennifer mir über die Schulter hinweg das Good-to-go-Zeichen machte, fragte ich die Staffelführer ab. Die ganze Flotte war in Geschwader untergliedert und diese wiederum in Staffeln. Jede Staffel bestand aus zwölf bis fünfzehn Maschinen und unterstand einem Staffelführer. In rascher Folge gingen deren Okays bei mir ein. Ausnahmslos alle Maschinen waren bemannt, munitioniert, betankt und startklar. Es bereitete mir ein archaisches Vergnügen, die Außenmikrophone auf Automatik zu schalten und über einen offenen Kanal dem gewaltigen Dröhnen zu lauschen, das die kilometerlange, kreuzförmige Halle erbeben ließ. Hunderte starker Feldgeneratoren liefen heulend an. Reaktoren wurden angefahren, Ionentriebwerke waren zur Zündung bereit. Warpspulen warteten darauf, dass die Plasmakammern ihnen die nötige Energie zuführten, um lichtjahrweite Korridore auszureißen und, auf über tausend Hertz oszillierend, die Galaxis zu durcheilen. Die letzten Serviceroboter flitzten zwischen den warmlaufenden Maschinen hin und her. Hier wurde noch ein Tankschlauch entfernt, dort ein Druckausgleich hergestellt. Dann zogen die Mechanikerteams sich zurück. Die Luft in der Halle brodelte und kochte. Die Schmiede der Titanen war zum Leben erwacht, wo Hephaist und seine Gesellen die Waffen für einen neuen troianischen Krieg in ihren unterirdischen Essen härteten.

Als ich mich von der Einsatzbereitschaft der Flotte überzeugt hatte, ließ ich mich mit dem Tower verbinden, der wie ein Schwalbennest über uns unter der Decke der gewaltigen Felskonstruktion hing. Ich verspürte ein letztes Zögern. Noch war nichts geschehen. Aber schon in wenigen Minuten war alles unumkehrbar. Jennifer sah sich fragend nach mir um. Ihre Finger flatterten nervös über dem Hauptbedienpult, wie Kolibris, die darauf warteten, ihre Saugrüssel in die goldenen Nektarkelche einer prächtigen südamerikanischen Heliconia zu tauchen. Sie selbst schien ein einziger menschlicher Feldgenerator zu sein, der Funken sprühte, blaue Lichtbögen auswarf und reines Plasma aus allen Fugen schwitzte. Draußen donnerten tausend startbereite Maschinen. Die Herzen von mehreren tausend auf mich persönlich vereidigten Männern und Frauen schlugen höher im herrlichen Tumult dieses unerwarteten Morgens.

»Hangartor öffnen!«, befahl ich.

Ein vielstimmiger Jubel brach sich in der riesigen Halle. Die Piloten ließen ihre Turbinen aufheulen. Die Staffelführer riefen einzeln ihre Mannschaften und tauschten ritualisierte und verschlüsselte Anfeuerungen aus. Das Licht der großen Strahler, die die Halle bisher in ein hartes Weiß getaucht hatten, erlosch. Der grüne Widerschein der Bedienfelder und Armaturen war für einen Moment das einzig Sichtbare. Noch zweihundert Meter entfernt wurde ein schmaler Spalt erkennbar, der rasch zu einem breiten Rechteck in die Höhe wuchs. Die Jäger und Kampfbomber der ersten Reihe hoben ab und flogen in den sonnigen Morgen hinaus. Ihnen folgte nun Welle auf Welle. Noch während das riesige Hangartor nach oben wegglitt und den Blick auf die vorfrühlingshafte Gebirgslandschaft freigab, katapultierten die Maschinen sich in Dreier- und Fünferreihen über das Hochtal hinweg, drehten scharf bei und verschwanden am krokusfarbenen Himmel.

Als die Reihe an uns kam, musste Jennifer die ENTHYMESIS zunächst behutsam aus ihrer Parkposition lösen, die um neunzig Grad gegen die Längsachse der Halle verdreht war. Zentimeterweise schob sie das bullige Schiff um die Biegung des Kuppelkreuzes. Natürlich hätte sie das Park-Off auch dem Ersten Piloten oder der Automatik überlassen können, aber das kam für sie nicht infrage. Zu lange schon hatte sie den geliebten Explorer vermissen müssen. Selbst wenn man die ENTHYMESIS II mit einbezog, die uns seit der Nacht von Pensacola als Ersatz hatte dienen müssen, waren viele Monate vergangen, seit sie am Hauptbedienplatz eines großen Schiffes gesessen hatte. Und dieses Schiff, die erste und einzige ENTHYMESIS, hatte sie seit mehreren Jahren nicht mehr fliegen können.

Sie richtete uns auf die Hauptachse der großen Halle aus und beschleunigte rasch zum Hangartor. Wir jagten über das Gebirgstal hinaus und stiegen dann schnell weiter auf, während die Felsgipfel der Teton-Range und die in sie eingemauerte Bunkerstadt steil zurückfielen. An unserem Heck folgte Staffel nach Staffel. In dichten, deltaförmig gespreizten Wellen fluteten die Geschwader aus der unterirdischen Festung und steuerten im Formationsflug den erdnahen Orbit an. Was für ein Anblick! Hunderte von Maschinen, nur wenige Meter Luft zwischen den Flügelspitzen, donnerten über die friedliche Landschaft. Dort unten musste der Himmel sich verdunkeln und in einem stählernen Gewitter grollen, als er von Turbinenlärm gepflügt und vom Tosen der Feldgeneratoren umgewühlt wurde. Wir gewannen rasch an Höhe. Die Atmosphäre lichtete sich um uns, als die letzten streifigen Zirrostratus, die auf einen klaren, aber kalten Tag hindeuteten, unter uns zerflockten. Am Horizont zeichneten sich, wie weit entfernte Schwärme von Zugvögeln, weitere Geschwader ab. Sie stiegen von anderen Bunkerstädten und unterirdischen Werften in den Anden, den europäischen Alpen, den Massiven Zentralasiens auf. Und all diese Maschinen vereinigten sich mit uns zu einer einzigen stahlgrauen Wolke, die sich am Firmament verflüchtigte und in die ewige Nacht des Alls eintauchte.

Wir passierten die Ringe. Myriaden im Sonnenlicht funkelnder Brocken und Splitter, die kleinsten feiner als Staub, die größten von den Ausmaßen einer Stadt. An einem der großen Trümmer kamen wir dicht vorbei. Wir sahen die Station, die in seine sich träge drehenden sandfarbenen Massen eingebaut war. Die Besatzung stand an den Fenstern und jubelte uns zu. Der Richtkanonier winkte mit den Läufen seines schweren Zwillingsgeschützes. Die ganze Batterie bestand aus zehn solcher Kanonen, die wie die Stacheln eines riesigen Igels aus der unregelmäßig geformten Felsmasse hervorstarrten. Ein thermischer Reaktor im Inneren des einstigen Asteroiden versorgte sie mit Energie. Sie war Teil des äußeren Sperrgürtels, der, dem Verlauf der Ringe über dem Äquator folgend, die Aufgabe hatte, eine Invasion noch oberhalb der Atmosphäre abzuwehren.

Wir beschleunigten auf Fluchtgeschwindigkeit und verließen das Schwerefeld der Erde. Der blaue Planet mit dem silbernen Ring um die Taille fiel rasch zurück und wurde zu einem punktförmigen Saphir auf dem schwarzen Samt des Raumes. Die Flotte zog sich über mehrere tausend Kilometer auseinander. Ich hatte Funkstille angeordnet, um die Aufmerksamkeit der sinesischen Sonden nicht auf uns zu ziehen. Die Instrumente der ENTHYMESIS hatten die Späher übrigens längst geortet und die Koordinaten an den restlichen Verband weitergegeben. Zwar ging ich nicht davon aus, dass die Sonden per se gefährlich waren, aber man konnte es nicht wissen. Bei den Sinesern musste man auf alles gefasst sein.

Auf Subwarp-Geschwindigkeit flogen wir weiter. Ziel war zunächst der einstige Jupiterraum, wo die Flotte sich sammeln und den Sprung durchführen sollte. Das hatte zum einen praktische Gründe. Dort war jetzt genügend Platz. Das innere Sonnensystem war einfach zu kleinräumig, um die Warpreaktoren zu aktivieren. Wir mussten auch an die vielen Piloten denken, die über keinerlei fliegerische Erfahrung unter Echt-Bedingungen verfügten. Zum anderen lag darin ein psychologisches Moment. Zum Racheschwur traf man sich am besten am Grab dessen, dessen Tod man rächen wollte.

Auf der Höhe der Marsbahn und dann des Asteroidengürtels stießen weitere gewichtige Verbände zu uns. Es waren vor allem die sekundären Kapazitäten, die die Marsbasen und die Asteroidenwerften zur Verfügung stellten. Tank-, Munitions-, Versorgungs- und Lazarettschiffe. Gefechtsschiffe; das waren fliegende Feuerleitzentralen, denen im Gefecht die Aufgabe zukam, die vielen hundert Einzelmaschinen zu koordinieren und gleichzeitig ebenso viele feindliche Flugkörper im Auge zu behalten. Torpedoschiffe, die mit Ionensonden bestückt waren, die wiederum schwere Antimateriesprengköpfe trugen. Schließlich die versprochenen Truppentransporter: ihre Spanten aus gehärtetem Titanstahl bargen eigene Landungsschiffe, um Mannschaften auf fremden Welten absetzen zu können, und mehrere Divisionen an Infanteristen; sowie das schwere Schlachtschiff, ein Gigatonnenkreuzer, den man in weniger als zwei Jahren hier oben aus dem Erz der Planetoiden gestampft und auf den Namen EREBUS getauft hatte.

Hatte ich am Morgen mit starker Übelkeit kämpfen müssen, so überkam mich nun ein Gefühl der Unbesiegbarkeit. Welche Macht konnte dieser Armada standhalten?!

Wir näherten uns dem Jupiterraum. Ich ließ mich mit dem Kommandanten des Schlachtschiffes verbinden. Es war ein General Andresen; an den Namen glaubte ich mich vage aus der Akademiezeit zu erinnern. Ohne überflüssiges Vorgeplänkel kam er sofort zur Sache.

»Haben Sie sie auf dem Schirm?«

Jennifer ging online auf den großen Monitor und zeigte mir, was er meinte. Ich erkannte eine HoloKarte der völlig verwüsteten Jupiterregion. Einige der ehemaligen Monde des Monarchen hatten seinen Thronsturz überdauert. Gemeinsam mit einigen kleineren Bruchstücken und Trümmern, die aus Kollisionen der einstigen Trabanten hervorgegangen waren, bildeten sie eine instabile Wolke, die einen Radius von mehr als einer Million Kilometern einnahm und trudelnd um den gemeinsamen Schwerpunkt kreiste. Es waren nur noch wenige größere Körper, zwischen einigen Dutzend und über tausend Kilometern Durchmesser, aber mehrere Millionen Fragmente, vom Meter- bis zum Mikrometerbereich. Das ganze sah eher aus wie ein vorsintflutliches Atommodell, das die Verteilung der Elektronenwolken darstellte, als wie ein Planetensystem. Es konnte auch schön als Illustrierung davon herhalten, was geschah, wenn jemandem die Mitte abhanden kam und er des notwendigen Zusammenhaltes verlustig ging. Jedenfalls war es ein tödliches Gebiet, in das einzufliegen nicht ratsam schien. Nahe bei seinem Zentrum, den beiden Schwerpunkten einer Ellipse ähnlich, hob die Automatik zwei grüne Symbole hervor, in die sie das Hohheitszeichen der Sineser eintrug.

»Nur zwei?«, fragte ich ungläubig.

Jennifer hob die Achseln, ohne sich nach mir umzusehen. Aber sie hatte das Deepfield zurate gezogen und den gesamten Raum diesseits der Oort’schen Wolke hochauflösend gescannt. Anscheinend hatte sie keine weiteren Anzeichen auf die Anwesenheit feindlicher Schnüffler entdecken können.

Andresen antwortete wie aus der Pistole geschossen. »Gegenwärtig sind es nur zwei, und sie haben sich, was ungewöhnlich genug ist, auf einen sehr engen Raum zurückgezogen. Rein statistisch gesehen, dürfte in den nächsten Stunden wenigstens eine weitere hier eintreffen, und kurz danach wird vermutlich mindestens eine von diesen beiden Richtung Sina verschwinden.«

Jennifer hatte sich jetzt in ihrem gravimetrischen Pilotensessel zu mir umgedreht. Sie schnitt ein ironisches Gesicht. Der geschäftsmäßige, knorrige Ton des Generals schien sie über die Maßen zu amüsieren.

»Dann sollten wir es nicht so weit kommen lassen“, sagte ich. »Sie die linke, wir die rechte!«

Und da rechts und links im offenen Raum relative Begriffe sind, zeigte ich Jennifer auf der Konsole, welche der Sonden ich meinte. Sie markierte sie auf dem Schirm und schickte die entsprechenden Koordinaten an die EREBUS.

Ich befahl dem Rest der Flotte, zurückzubleiben und sich auf den Sprung vorzubereiten. Dann pirschten wir uns näher an den Jupiterraum heran. Die EREBUS und die ENTHYMESIS rückten einige hunderttausend Kilometer auseinander, um eine breitere Gefechtsbasis zu schaffen. Aber wir blieben dicht genug beieinander, um Kommunikation in Echtzeit zu gewährleisten. Bald sahen wir den Trümmerreigen mit bloßen Augen. Die großen, halbwegs unversehrten Monde standen abseits. Wie Schäferhunde eine Herde voller herumtollender Lämmer umkreisten sie in gemessenem Abstand das Chaos aus umeinandertrudelnden Felsbrocken und Gesteinstrümmern. Wir schoben uns bis an den Rand der instabilen Region heran, die immer noch von Gezeitenschocks und höherdimensionalen Entladungen durchtobt wurde. Der Volumendefekt, den die sinesische Annihilationssonde verursacht hatte, war noch immer nicht völlig ausgeglichen. Der Raum selbst konnte nicht gedehnt werden, um die Lücke innerhalb der Leere zu schließen. Hinzu kam, dass durch den Sturz des Jupiter und das Verschwinden seines Schwerefeldes ein weiterer Faktor, der den Raum komprimiert hatte, aus der Region abhanden gekommen war. Der Effekt war eine zusätzliche Dehnung der Raumzeitlinien, die der Überwindung des Defekts zusätzlich entgegenarbeitete. Eine Stauchung des Raumzeitkontinuums wäre nötig gewesen, um einige Milliarden Kubikkilometer schieren Volumens in die Lücke hineinzupressen. Am Ende, überlegte ich, musste man Dunkle Materie, wie sie sich an den ungleich größeren Dehnungsbrüchen der intergalaktischen Korridore bildete, heranschaffen, um das Loch zu kitten. Aber es war jetzt nicht der Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen.

Fest stand, dass ein extrem instabiles Gebiet vor uns lag, von massiven Partikeln aller Art durchkreuzt und von Verwerfungen der Raumzeit durchtost. Und tief im Inneren, im schwarzen Auge dieses Orkans aus Geschossen und Energie, funkelten zwei Lichtpunkte, dort hockten die beiden sinesischen Überwachungssonden.

»Glauben Sie, sie sind gefährlich?«, wandte ich mich an General Andresen.

Jennifer äffte mich lautlos nach. Ihr missfiel es, dass ich mir die Blöße gab, einen Rat einzuholen. Aber auf derlei Spielchen war ich noch nie versessen. Wenn man etwas nicht wusste, sollte man danach fragen. Der Kommandant hatte jedenfalls mehr Erfahrung mit diesen Dingern als wir.

»Man muss damit rechnen«, hörte ich. »Jedenfalls agieren sie selbständiger, als wir das bisher von ihnen gewohnt sind. Sie verfügen über volle KI-Fähigkeit.«

Ich tauschte einige Blicke mit meinem Copiloten und den Adjutanten, die auf den rückwärtigen Plätzen der Brücke saßen. Sie alle hatten sich seit Jahren mit den Spähern beschäftigt. In dieser Zeit war keine der Sonden einer menschlichen Einrichtung nahegekommen. Aber sie waren auch nicht mit einem Akt der Aggression konfrontiert worden, wie ihn unser Ausrücken in ihren Augen ohne Zweifel darstellen musste.

»Knipsen wir sie aus«, entschied Jennifer, und in den Mienen der anderen las ich Zustimmung. Natürlich musste jedem klar sein, was das bedeutete: ein offener Affront, der das sinesische Imperium herausforderte! Im Grunde konnte ich froh sein, in Andresen einen so entschlossenen Kommandanten zur Seite zu haben. Er würde nicht zimperlich reagieren, wenn ich den Feuerbefehl gab.

»Bringen wir’ hinter uns.«

Jennifer gab Energie auf die Feldgeneratoren. Das Schiff erzitterte, blieb aber noch an seiner Position. Sie hatte unaufgefordert gehandelt. Das belustigte mich. Hatte sie sich eben noch um meine Autorität gesorgt, trug sie nun selbst dazu bei, sie zu untergraben.

»Andresen«, rief ich in die Kommunikation. »Sie gehört Ihnen!«

Die EREBUS war zu weit entfernt, als dass sie mit bloßem Auge sichtbar gewesen wäre, aber wir hatten das Schiff auf einem unserer Schirme. Dort sah ich, wie es die Bugschilde ausfuhr und die Geschütze nachführte. Dann flammte ein unsichtbarer, nur auf den Monitoren künstlich hervorgehobener Feuerstrahl aus den schweren phasengedoppelten Röntgenlasern. Die sinesische Sonde, die ich dem General überlassen hatte, verglühte in einer grünlich irisierenden Partikelwolke. Der Casus belli war geschaffen.

Jennifer fixierte ungeduldig mein Spiegelbild in der großen Frontscheibe. Sie hatte die Hand am Drücker und wartete auf den Feuerbefehl. Aber obwohl mir bewusst war, dass wir jetzt sehr schnell handeln mussten und dass ein Zögern von Sekundenbruchteilen verhängnisvolle Konsequenzen nach sich ziehen konnte, machte ich ihr ein Zeichen, noch zu warten.

»Also mein Teil des Jobs«, schnarrte Andresen, dann brach die Leitung zusammen.

Die zweite Sonde hatte ein Störfeld geschaltet. Ich trat nach vorne, direkt hinter die Lehne von Jennifers gravimetrischem Stuhl, und legte die Hände auf die Nackenpolster.

»Liebling«, knirschte Jennifer halblaut zwischen den Zähnen, »ich hoffe, wir machen nicht gerade einen Riesenfehler!«

Gebannt starrte ich zur Bugscheibe hinaus. Der Lichtblitz, in dem die erste Sonde zerschellt war, verrieselte langsam. Er hatte das wirbelnde Chaos im Inneren der Materiewolke erhellt. Hunderte von Körpern, die umeinander und um gemeinsame Schwerezentren kreisten und die für eine Nanosekunde harte Schlagschatten aufeinander warfen. Jetzt fiel das komplexe System wieder in das Halbdunkel der Jupiterregion zurück. Die Sonde hatte unsere Peilung aufgenommen, das konnte ich körperlich spüren. War sie bewaffnet? Konnte sie sich zur Wehr setzen? Hatte sie am Ende einen Annihilationsdetonator an Bord, der die ganze Zone zu Nichts verschlucken konnte?!

Ich wusste, jede Fiber meines bebenden Körpers wusste, dass ich handeln musste. Dennoch wollte ich abwarten. Ich hatte das Gefühl, dass ich aus der Reaktion dieses feindlichen Automaten Wesentliches ablesen, womöglich sogar lernen können würde.

»Sie scannt uns«, stellte Jennifer lapidar fest. »Gammaband, Pikometerauflösung.«

Unwillkürlich wich ich einen halben Schritt zurück, als könne mich das vor den unsichtbaren Kraftfeldern schützen, die sich gerade durch unser gesamtes Schiff tasteten.

»Sie dringt doch hoffentlich nicht durch!«, rief ich. »Deflektorschilde hochfahren, Außenhaut polarisieren, Abschirmung 120 Prozent!«

Aber noch ehe ich die Meldungen abwarten konnte, überschlugen sich die Ereignisse. Im Zentrum der wirbelnden Partikelwolke wurde ein hellblauer Blitz sichtbar, das untrügliche Zeichen, dass ein starkes Ionentriebwerk gezündet worden war. Die Sonde kam auf uns zugeschossen. Es war ein zauberhafter Anblick, wie das Geschoss in Sekundenbruchteilen auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigte und sich, wie an unsichtbaren Fäden gezogen, seinen Weg durch das Chaos der herumtrudelnden Trümmer bahnte. Es schien sich in geheimnisvollen magnetischen Gleisen zu bewegen. Nach allen Richtungen ausweichend, tanzte es sich förmlich ins Freie. In Augenblicken hatte es die für uns unbetretbare Zone des ehemaligen Planetensystems durchquert und hinter sich gelassen. Es kam auf uns zugeschossen. Schon konnten wir Einzelheiten seiner Konstruktion mit bloßen Augen ausmachen.

»Frank!«, schrie Jennifer.

Ihre Hand zitterte einen Zentimeter über dem Auslöser. Die anderen Mitglieder der Crew hatten ebenfalls aufgeschrien und sich unwillkürlich in ihre Sessel gekrallt, als die Sonde wie ein stählerner Blitz auf uns losging – und wenige hundert Meter vor der Schnauze der ENTHYMESIS wieder zum Stehen kam.

»Warte«, sagte ich langsam.

Ich ließ die Automatik das Licht auf der Brücke löschen. Dann trat ich unmittelbar an die Bugscheibe heran. Aus dem Augenwinkel sah ich auf dem Monitor, wie Andresen seinen Geschützturm herumschwenkte. Wollte er mir das Ding vor der Nase wegschießen? Aber so weit würde ich es nicht kommen lassen.

Die sinesische Warpraumsonde hing keine Schiffslänge vor uns im Raum. Es war ein zwanzig Meter hoher, rauchgrauer Zylinder. Am Heck köchelte der Rückstoß des Ionentriebwerks blauweißen Dunst ins Vakuum. Die uns zugewandte Vorderseite wurde von zwei großen Halbkugeln bestimmt, die rechts und links an der konisch zulaufenden Spitze saßen. Sie beherbergten die Instrumente. Die KI-Einheit, die ich zu gerne für eine Millisekunde durchleuchtet hätte, aber ihre Abschirmung widerstand sämtlichen Anstrengungen unserer Scanner. Das Deepfield, das jede Bewegung und jeden Funkspruch im Sonnensystem registrierte und aufzeichnete. Der Quantenspeicher, der einige Tausend Exobyte fasste und in dem in diesem Augenblick sämtliche Informationen unseres Truppenaufmarsches niedergelegt waren. Jede Schiffskennung, jede Munitionsliste, jede Biographie jedes einzelnen Soldaten, die Positionsdaten jeder Batterie im Erdring, jeder Marsbase und jeder Werft diesseits der Asteroiden. Vielleicht auch eine Sprengladung zur Selbstzerstörung – oder eine Annihilationsgranate, die in dieser Sekunde scharf gemacht wurde. Die beiden opaken Halbkugeln erinnerten an die Facettenaugen eines großen todbringenden Insekts. Und genau so, wie eine auf der Stelle schwebende Wespe, hielt die Sonde ihre Position so dicht vor unserer Schnauze, dass wir sie mit einer Handfeuerwaffe hätten treffen können. Sie schien mich zu fixieren, nicht nur unser Schiff, die ENTHYMESIS, sondern mich persönlich, General Frank Norton, den Oberbefehlshaber der größten interstellaren Streitmacht, die die Unierte Menschheit jemals ausgesandt hatte. Und ich erwiderte diese Fixierung. Es war nur ein Automat, aber er starrte mich neugierig, abwartend, drohend und herablassend an. Unsere Blicke krallten sich ineinander, sie verzahnten sich wie Stahl, der sich bei einer tödlichen Kollision kreischend ineinanderfrißt. Es war ein Kräftemessen, und diese Begegnung entwickelte einen fürchterlichen Sog, dem ich mich nicht mehr zu entziehen vermochte. Jennifers spitzer Schrei erlöste mich daraus.

»Sie fährt den Warpgenerator hoch!«

»Feuer«, stöhnte ich.

Es war, als ließe eine riesige Pranke mich los – und als spüre ich erst jetzt, mit welcher Gewalt sie mich gepackt gehabt hatte.

Jennifer knallte die flache Hand auf die Konsole. Die Omega-Geschütze in den vorderen Torpedoschächten gaben zwei gedeckte Salven ab. Die Sonde zersprang in einem leuchtenden Rauchwolke, die gemächlich in der Schwerelosigkeit auseinanderrollte. Eine blaue Entladung prickelte über die Außenhaut der ENTHYMESIS, als die starken Scan- und Störfelder, die die Sonde auf uns geschaltet hatte, erloschen. Einige größere Bruchstücke verloren sich im Raum. Ich glaubte die KI-Einheit zu erkennen, einen kopfgroßen Kasten, der mit Sandwich-Platinen vollgestopft war und aus dem verschmorte Kabel heraushingen. Er schoss wenige Meter über uns hinweg und verschwand dann für immer in der Dunkelheit.

Schlacht um Sina

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