Читать книгу Schlacht um Sina - Matthias Falke - Страница 3

Kapitel 2. Die Verlassenen

Оглавление

»Sei bloß vorsichtig! Wenn sie uns entdecken, ist alles aus.« Jill drückte sich in eine Nische, die sich im zerborstenen Quarzbeton gebildet hatte. Ihr Atem ging stoßweise. Im schiefrigen Licht, das den Stollen erfüllte wie stehendes Wasser, war die zitternde Fahne kondensierender Luft das einzige was von ihr zu sehen war.

»Ich pass’ schon auf«, gab Taylor mit gutmütigem Brummen zurück.

Er stützte die Brust an den Wall aus zerbröselndem Zement und schob sich millimeterweise über die Kante. Dabei vergewisserte er sich, dass die Polarisierung der Objektive auf einhundert Prozent geschaltet war. Dann setzte er das Scheren-HoloSkop an und spähte in die rußige Nacht. »Irgendwas geht vor«, flüsterte er. »Der ganze Horizont scheint zu kochen.«

Lamberts blauer Anzug war ganz in die Kuhle der zertrümmerten Bewehrung eingeschmolzen. Die enganliegende Haube verdeckte ihr Haar. Ihre Hände und Füße steckten in schwarzen Schuhen und Handschuhen aus sensoriellem Tloxi-Leder. Ängstlich beobachtete sie, wie Taylor über die Kante aus zerschossenem Obsidianquarz und die herausstehenden Stahlstifte lugte. Sie war nur ein hechelnder, von Angst durchtobter Brustkorb, der sich im tiefen Schatten der schmalen Nische hob und senkte.

»Was siehst du?«, zischte sie, als Taylor den virtuellen Fokus betätigte, aber weiterhin schwieg.

Er antwortete nicht. Die Servos in seinem linken Arm surrten und die Relais in seiner Schulter klickten, als er das HoloSkop nachführte und systematisch den nördlichen Horizont abtastete. »Irgendetwas ist da los«, sagte er nach einer Weile gedämpft. »Aktivitäten.«

Er schaltete das hochauflösende Nachtsichtgerät ab, wandte sich um und ließ sich mit dem Rücken die nackte Steinwand heruntergleiten. Dann saß er neben Jill und streckte die rechte Hand nach ihr aus. Er wusste, dass das Tloxi-Implantat sie immer noch ein wenig gruselte, und achtete daher darauf, ihr stets die Rechte zuzuwenden, die intakte und organische Körperhälfte. Er selbst hatte sich an die sensorielle, durch mehrere KI-Entitäten gestützte Prothese längst gewöhnt. Vom ersten Augenblick an, als er aus der Narkose erwacht war, hatte er sich ihrer wie einer gewachsenen Extremität bedienen können. Kein Einlernen, keine zeitraubende Reha, keine Phantomschmerzen oder das unangenehme Gefühl, das ihn bei dem ersten Ersatzarm immer gestört hatte, dass das ehemalige Glied irgendwie auch noch vorhanden war und der Wahrnehmung des neuen in die Quere kam. Von all dem konnte diesmal nicht die Rede sein. Die Tloxi-Ingenieure hatten ganze Arbeit geleistet. Kraft und Feingefühl, Tastsinn und Körperbild waren vom ersten Moment an vollkommen natürlich gewesen. Immer öfter vergaß er, dass er überhaupt eine Prothese trug, und er hätte es auch längst vollständig vergessen, wenn Lambert nicht mit einer Miene unterdrückten Angewidertseins seiner linken Seite ausgewichen und stets seine Rechte gesucht hätte.

Das war umso erstaunlicher, als sie ihn schon als Prothesenträger kennengelernt hatte. Sie hatte ihn nie anders erlebt. Als sie sich auf der MARQUIS DE LAPLACE näher kamen, in WO Reynolds’ Sondenbauprogramm und bei Taylors Einführung in der Crew der ENTHYMESIS, hatte er seinen natürlichen linken Arm längst eingebüßt. Das hatte Lambert nie gestört. Vielleicht hatte das mechanische Surren der integrierten gravimetrischen Kupplungen und die manchmal noch etwas unbeholfenen Bewegungen sie sogar auf den jungen Corporal aufmerksam gemacht, der im Lauf der nächsten Jahre zu Reynolds’ Nachfolger als WO in General Nortons Team aufstieg. Mit der puren Tatsache, dass sein dreißigjähriger, zierlicher und doch kraftvoller Körper einen Defekt aufwies, konnte es also nichts zu tun haben. Taylor vermutete, dass Jills Vorbehalte gegen die Tloxi und die sonderbar kalte und anonyme Perfektion ihrer Technik hereinspielten. Auch im tagtäglichen Umgang mit dem höflichen, besorgten, aufmerksamen und aufopferungsvollen Volk konnte Lambert eine letzte Distanz und Reserviertheit nie überwinden. Sie störte sich an dem unpersönlichen Stil des Androiden-Kollektivs, und gerade die lückenlose Geschlossenheit seiner Organisation schien sie abzustoßen. Taylor konnte nur hoffen, dass zumindest der Teil dieser Abneigung, der sich auf seine linke Leibeshälfte, genauer: auf die Strecke von Schulter und Schlüsselbein bis zu den Fingerspitzen, bezog, mit der Zeit legen würde.

Noch immer waren sie Gäste und Schutzsuchende der Tloxi, des geheimnisvollen Sklavenvolks der Sineser. Noch immer wanderten sie allnächtlich von einer der Enklaven und Vorstädte zur nächsten. Noch immer lebten sie in ständiger Gefahr und Todesangst, die durch die beinahe alltäglichen Berichte über Tloxi, die den brutalen Nachstellungen der Herrenkaste zum Opfer gefallen waren, nicht gerade gelindert wurde. Wie Symbionten in einem Ameisen- oder Termitenstaat bewegten sie sich durch die Quartiere und Verstecke der Tloxi. Sie lebten ausschließlich in dem Katakombensystem des insektenhaften Robotervolkes, das seine Schlafstädte miteinander verband, Industriebrachen, Hafen- und Fabrikgelände und Teile der Kanalisation mit einbezog und wie ein lymphatisches Geflecht ganz Sina City unterhalb seiner monumentalen Oberfläche durchzog. Tagsüber schliefen sie in den roten Ziegelstädten, die entlang der großen Magistralen und Radialstraßen in die Außenbezirke der Megalopolis eingelassen waren, und nachts nahmen sie ihre ruhelose Wanderung wieder auf. Durch Tunnel und Stollen, miteinander vernetzte Bunker, leerstehende Lagerhallen, stillgelegte Produktionsstätten, verfallene Schächte und sogar Pipelines gingen ihre Wege, selten auch unter freiem Himmel, über riesige Abraumhalden, Depots ausgebrannter thermischer Elemente, Müll- und Schrottplätze und ganze Schiffsfriedhöfe, auf denen komplette Raumflotten in den ätzenden Winden und dem sauren Regen dieses unwirtlichen Planeten vor sich hinrotteten. Das alles sahen sie nur in den kalten windigen Nächten von Sina, und unterschwellig blieben sie dabei immer auf das Zentrum der Metropole ausgerichtet, dessen Türme sie stets in der Ferne leuchten sahen und das sie wieder und wieder umkreisten.

Zu Lamberts Argwohn gegenüber den Tloxi mochte auch die unverhohlene taktische Rationalität beigetragen haben, deren Zeuge und beinahe auch deren Opfer sie geworden waren. Jennifer hatte recht behalten: es war den Tloxi ein leichtes, Taylors verlorene Gliedmaße zu ersetzen, aber sie warteten damit bewusst, bis Norton und seine Frau den Planeten verlassen hatten. Es war eine unausgesprochene Geiselnahme, mit der die Tloxi sicherstellten, dass die Mitglieder der Union ihr Interesse an ihrer Sache nicht wieder verloren. Während das Scharmützel am Raumhafen noch andauerte, in dessen Verlauf Frank und Jennifer ein kleines sinesisches Shuttle kapern und darin fliehen konnten, wurden Taylor und Lambert zu einer der rätselhaften Tloxi-Fabriken geführt. Der Atem stockte ihnen, als sie die mehrere hundert Meter lange, aus gelbgrünen Elastalplatten gefügte Halle betraten. Es war eine Fertigungsstätte, das sah man auf den ersten Blick, und das Produkt, das hier hergestellt wurde, war kein anderes als die Tloxi selbst. Gegenwärtig standen die Bänder still. In großen Vorratscontainern stapelten sich halb- und dreiviertelsfertige Wesen, die unverkennbar dazu bestimmt waren, das arbeitsame Sklavenvolk zu ergänzen. Gliedmaßen, Torsi, Köpfe, Hände und Füße in separaten übermannshohen Glocken aus durchscheinendem Elastilglas – alle Elemente waren vorhanden. Ihr Innenleben wurde anderswo fabriziert; hier wurden die Teile nur noch zusammengefügt. Auch Bauteile, die auf den ersten Blick nichts von ihrem anthropoformen Zweck verrieten, waren zu sehen. Feldgeneratoren von der Größe einer Faust oder eines Fingergelenks, optische, akustische und andere Sensoren, deren Aufgabengebiete nicht prima vista zu erkennen waren, Servos und Holo-Schnittstellen, stählerne Korsagen und halbkugelförmige grünschimmernde Gebilde, die wie große Walnüsse geriffelt waren und an Hirnschalen erinnerten – alles war bereichsweise in Vorratsbehältern gestapelt oder schwebte an langen Förderbändern quer durch die riesige Halle. Allerdings waren die Maschinen abgeschaltet. Dutzende Köpfe baumelten gleichsam an einer langen Wäscheleine, die sich diagonal durch den unzureichend erleuchteten Raum zog. Am Tag schien eine neue Ladung von KI-Entitäten eingetroffen zu sein; ihre Wafer füllten mehrere Bottiche. Auf Pritschen – oder ruhenden Förderbändern? – lagen Tloxi, die äußerlich unversehrt schienen. Sie waren bereits fertiggestellt, aber noch nicht zum Leben erweckt. Oder sie waren zur Instandsetzung hier, zur Reparatur.

Atemlos von dem Anblick, den in sich aufzunehmen er nicht nachkam, und gekrümmt von den Schmerzen, die ihn marterten, war Taylor in die Halle gewankt. Man geleitete ihn zu einer der Pritschen, die den vorderen Teil der Fertigungsstätte einnahmen. Vielleicht wurden hier auch neue Prototypen erprobt?, durchzuckte es ihn. Er tauschte einen letzten Blick mit Jill und versuchte ihr tapfer zuzulächeln. Dann wurde er auf die Pritsche gelegt und verlor wenige Augenblicke später das Bewusstsein. Lambert wandte den Blick ab, als man seinen Körper auf die gesunde Seite drehte, den von Blut, Schweiß, Schmutz und seröser Flüssigkeit verunstalteten Anzug von ihm löste, den Knochen bloßlegte, der von Eitergeschwüren und vernarbtem Gewebe überzogen war, und den Bohrer ansetzte. In der folgenden Stunde saß sie abseits auf einem Schemel, starrte in die albtraumhafte Halle, deren groteske Details vom flackernden Licht der Instrumente erleuchtet wurden, und versuchte den Brechreiz niederzukämpfen, den der Anblick der vielen herumliegenden Gliedmaßen und Körperteile und die schmatzenden Geräusche in ihr auslösten, die von der Pritsche zu ihr drangen.

Als man sie herbeirief, um das Resultat zu begutachten, war es mit ihrer Selbstbeherrschung zuende. In dem Moment, als ihr Blick auf die schwarzen Stahlklammern fiel, mit dem Taylors Brust und die künstliche Schulter zusammengetackert waren, brach sie in die Knie und sank in sich zusammen.

Die beiden erwachten nebeneinander, in einem der austauschbaren, ihnen bis zum Überdruss vertrauten Quartiere. Taylor war schmerzfrei. Er konnte sich des neuen Arms ohne jede Anpassungsschwierigkeit bedienen und klagte einzig über Hunger und reißenden Durst. Lamberts Kommentar war, warum man nicht schon längst diesen Weg beschritten hatte. Dass die Tloxi Taylors Qualen mit angeschaut und seinen Tod in Kauf genommen hatten, um zu verhindern, dass er und sie sich an der Flucht beteiligten, konnte sie ihnen nicht verzeihen. Umso einfacher die Lösung nun gelungen war, umso schwerer wog ihre monatelange Aufschiebung.

Taylor war damit zufrieden, dass er geheilt war. Er erholte sich rasch. Sein Körper, der in den Latinoslums von Pensacola groß geworden und schon vor der Pubertät nicht nur Unterernährung und Tritte, sondern auch Messerstiche kennengelernt hatte, hatte dem Schmerz, dem Blutverlust und den Infektionen getrotzt. Jetzt blühte er schnell wieder auf. Innerhalb weniger Tage gewann der junge WO seine Zuversicht und seinen Tatendrang zurück. Er ließ es nicht mehr zu, dass Jill oder die Tloxi ihn bei den allnächtlichen Wanderungen stützten, und bald war er es, der die Trupps führte und an der Spitze kleiner Kommandos die Wege auskundschaftete, deren Sicherheit niemals garantiert war.

Etwas anderes begann sie zu beschäftigen, während sie die unglaubliche Stadt Stein für Stein und Rohrleitung für Rohrleitung durchkreuzten und auswendig lernten. Nachdem er sein Handicap überwunden und sein Gewicht wiedergewonnen hatte, entdeckte Taylor andere, längst vergessen geglaubte körperliche Bedürfnisse wieder. Er war ein junger Mann, der gerade ein Martyrium durchgestanden hatte. Jetzt entdeckte er die stimulierende Wirkung der Genesung. Die raschen Fortschritte, die er in der Rekonvaleszenz machte, riefen auch andere virile Energien in ihm wach. Mit Blicken, Gesten, halben Worten näherte er sich Jill nun auch von dieser Seite wieder an. Sie waren längst ein Paar. Noch auf der MARQUIS DE LAPLACE hatten sie die Phase keuschen Kennenlernens hinter sich gelassen. Lambert hatte das Bewusstsein ihres deutlich höheren Alters überwunden und in Taylor einen ebenso kraftvollen wie einfühlsamen Liebhaber entdeckt. Nichts stand der Wiederaufnahme auch dieses Teils ihrer Beziehung im Weg, mit einer Ausnahme: sie waren niemals allein.

Nachts krochen und schlichen sie durch die Katakomben Sina Citys, hetzten über Freiflächen, die in der sternlosen Dunkelheit dalagen, und warteten stundenlang in zugigen Durchgängen, bis das Vorauskommando das Zeichen zum Nachkommen gab. Und tagsüber ruhten sie in den Quartieren aus, die die Tloxi ihnen anwiesen und wo sie niemals ohne Begleitung blieben. Ihnen war klar, dass diese Bewachung nicht nur ihrem Schutz diente; sie wurden auch beobachtet. Sie waren gleichermaßen Gäste wie Gefangene. Sie sollten nicht fliehen. Ihrem Bedürfnis nach Intimität standen stets mehrere Tloxi-Aufpasser buchstäblich im Weg. Sie suchten sich in den schmalen Stockbetten oder Pritschen zu verkriechen, in denen die Kollektivwesen selbst zu nächtigen pflegten und die tagsüber leerstanden, sie drückten sich in Erker, unerleuchtete Winkel und dunkle Ecken, oder sie suchten mit Ausrüstung und den dünnen, aber warmen Elastildecken, die sie bei sich führten, ein Liebesnest auszustatten. Immer blieben ihnen mehrere Tloxi so nahe, dass an den Austausch von Zärtlichkeiten nicht zu denken war. Selbst als Taylor sich eines Tages ein Herz fasste und die Wachhabenden bat, sie für eine Stunde in Ruhe zu lassen, rückten diese nur wenige Meter von ihnen ab und sahen dann mit automatenhafter Neugierde zu, wie sie sich aus Decken, Planen und einem Teil ihrer Kleidung ein gemeinsames Bett richteten. Schließlich überwanden sie in einem Anfall von praktischem Trotz alle Scham. Sie beschlossen, dass die Zeit und die Umstände es nicht zuließen, zimperlich zu sein.

»Wer sind denn diese Tloxi schon?«, flüsterte Taylor Lambert ins Ohr, als sie neben ihn unter die Decke gekrochen kam und ihren schmalen, ewig fröstelnden Leib an ihn schmiegte. »Geschlechtslose Maschinen. Wahrscheinlich begreifen sie gar nicht, was wir hier machen.«

Jill kicherte und drängte sich noch dichter an ihn. Er spürte ihre kalten Füße, ihre schwitzigen Hände, die sie zu kleinen Fäusten ballte; ihr blasses Gesicht, auf dem die Erregung in roten Säumen blühte, war direkt vor dem seinen. Nur ihr struppiger, schlohblonder Haarschopf sah oben aus der Masse der aufgetürmten Textilien heraus. Während ihr Flüstern in ein verliebtes Gurren und schließlich in gedämpftes Keuchen überging, bewegte der Deckenberg sich rhythmisch, in immer gleichmäßigeren, rascheren und tieferen Wogen.

Ein Dutzend Tloxi standen im Abstand weniger Schritte halbkreisförmig um das Geschehen herum. Im Infrarot- und im Röntgenspektrum nahmen sie an dem Tumult der Gliedmaßen und Säfte teil. Dabei tauschten sie auf unhörbaren Frequenzen Hypothesen über den Sinn des Gesehenen aus. Sie kamen zu dem Schluss, dass es sich um eine der vielen menschlichen Marotten handeln müsse, nicht restlos erklärbar, aber im Grunde ungefährlich. Aus den unmittelbaren wie auch aus den langfristigen Folgen leiteten sie ab, dass der Vorgang die Verbundenheit der Beteiligten untereinander und auch ihre Kampfmoral im allgemeinen förderte.

Längst hatten Jill und Taylor die letzten zerschlissenen Überreste ihrer Raumanzüge ablegen müssen. Sie trugen die blauen, aus sensoriellem Leinen gewebten Kleider der Tloxi, die ihnen vor allem während der nächtlichen Streifzüge wesentlich besser zustatten kamen als die weißen Schutzanzüge aus leuchtendem und reflektierendem Elastil. Sie schmolzen so auch äußerlich immer mehr in die anonyme Völkerschaft der Tloxi ein. Sie bekamen ihre Nahrung von ihnen, das geschmacksneutrale, aber nahrhafte Granulat, sie trugen ihre Kleidung, sie lebten unter ihnen und liebten sich in ihrer Mitte. Sie teilten ihren Tagesablauf, wenn auch in antizyklischem Sinn, ihre Quartiere, ihre Gefährdung durch die Nachstellungen der sinesischen Polizei. Sie wurden Teil der vielköpfigen und gesichtslosen, pflichtbewussten und nomadisierenden Familie, die die Tloxi darstellten. Sie nahmen die unterschiedslose Rollenverteilung hin, bei der jeder jeden Posten einnehmen konnte, bei der es keine Hierarchien, keine Privilegien und keine Berufe gab, sondern jeder augenblicklich für jeden anderen einspringen konnte. Und sie lernten trotz allem, hauchfeine Nuancen zu unterscheiden. In den Stimmen, in den maskenhaften Gesichtszügen, im Verhalten. Es kam vor, dass sie einen Tloxi bei einer Anwandlung von Humor ertappten. Andere gingen mit grimmigem Landserethos zu Werke. Manchmal glaubten sie in den grünen, kaltflammenden Augen so etwas wie Neugierde oder Anteilnahme funkeln zu sehen, während die gleichgültige Funktionalität bei einem freundlich, beim nächsten abweisend getönt schien. Das alles machte noch keine Personen aus den Tloxi. Sie unterschieden sich so voneinander, wie ein Ei sich eben in der Realität vom anderen unterscheidet. Wenn man sich die Zeit nahm, sie lange und eingehend genug zu betrachten, konnte man individuelle Eigenschaften feststellen. Und Zeit hatten sie mehr, als ihnen lieb war. Tage und Wochen vergingen, seit Frank und Jennifer geflohen waren. Dann war es schon ein Monat. Sie hatten versprochen, dass sie zurückkommen würden. An diesem Wort war nicht zu zweifeln. Aber wir wollten sie das bewerkstelligen? Wollten sie diplomatische Kontakte aufnehmen und sie austauschen, sie freikaufen? Was hatten sie, was hatte die Union in einem solchen Handel zu bieten? Und wenn sie sie mit Gewalt herausholen wollten – wie sollte das gehen? Mit einem kleinen Expeditionskorps landen und sie heraushauen? Mitten in Sina City, im Zentrum des Sinesischen Imperiums, das die gesamte Galaxis unterworfen hatte, in die Höhle des Löwens kommen wegen zwei Menschenleben? Weder Jill noch Taylor konnten das ernstlich glauben. Durch Späher und Informanten der Tloxi hatten sie erfahren, dass die Flucht der beiden geglückt war. Sinesische Verbände hatten ihnen nachgesetzt, die Verfolgung aber schließlich aufgegeben. In untätigen Stunden versuchten sie sich auszumalen, wie Jennifer die Sinesische Flotte ausgetrickst und abgehängt hatte. Aber dann verlor sich ihre Spur im Dunkeln. Und an dieser Stelle endeten dann auch die halblauten Gespräche der beiden Zurückgebliebenen. Konnten die, die entkommen waren, sich zur Erde durchschlagen? Sina kontrollierte den gesamten nordöstlichen Bereich der Galaxie. Man musste schon weiträumig um die ganze Milchstraße herumfliegen, hunderttausende von Lichtjahren. Und wenn sie die Erde erreichten, welche Hilfe konnten sie von dort zu gewärtigen haben, wo man, wenige Jahre nach der Katastrophe, noch im Wiederaufbau befangen war? Am wahrscheinlichsten war es, dass sie sogar gewillt waren, die Abmachung einzuhalten, aber an den Fakten scheiterten, lagen diese nun in der sinesischen Übermacht, der irdischen Bürokratie oder dem desaströsen Zustand der unierten Flotte. Jill und Taylor verfolgten die Gespräche nicht über diesen Punkt hinaus. Sie wussten, dass alle Spekulation und alles menschliche Vertrauen hier versagte und dass der weite, nebelverhangene Bereich der Hoffnung und des Glaubens begann.

»Irgendetwas ist da im Gang«, flüsterte Taylor immer wieder. Seit Stunden turnte er in dem Stollensystem herum, das für Jill so aussah, wie sie sich die Schützengräben des Weltkriegs vorstellte. Er lief zwanzig Meter vor, um dort über den Rand zu spähen, und kletterte an zerborstenen Elastalstahlträgern hinauf, um einen besseren Standpunkt zu gewinnen. Endlich ließ er sich wieder in den Graben hinab und sank schwer atmend neben sie auf den Grund aus zerbröselndem Quarzbeton. Kondenswasser schwitzte von den mannshohen Seitenwänden und sammelte sich in bleifarbenen Pfützen. Beide gaben sie nicht darauf acht, dass sie in einer solchen Lache saßen; die sensoriellen Tloxi-Anzüge hielten die Feuchtigkeit ab. Sie würden im Weitergehen die Selbstreinigungsfunktion aktivieren. In ihrem Inneren war es stets gleichmäßig warm. Dennoch fröstelte Lambert, wenn auch mehr aus Nervosität, Müdigkeit und Furcht. Es war ein Uhr morgens. Sie schmiegte sich an Taylor und legte den Kopf auf seine rechte Schulter. Für einige Minuten verharrten sie so, aneinandergedrängt, schweigend, von der Erschöpfung ausruhend, die dauernde Todesangst in sie eingegraben hatte.

»Wir müssen weiter«, sagte Taylor schließlich. »Wir müssen näher ran.«

Jill hob seufzend den Kopf von seiner Seite. »Wo ran«, fragte sie ergeben.

Der WO war schon aufgesprungen. Er betätigte den Tloxi-Kommunikator, den ihre Gastgeber ihm nach seiner Genesung ausgehändigt hatten. »Weiter nach vorne«, brummte er und winkte mit dem Arm in die Richtung des Grabens. Allerdings brach der Stollen, in dem sie sich befanden, hundert Meter vor ihnen abrupt ab. Sie mussten zurück und einen anderen Weg suchen.

»Mir ist kalt«, jammerte Jill, die ihre roten Hände aneinander rieb und versuchte, sie in die Ärmel des blauen Tloxi-Overalls zurückzuziehen. »Wenn es gefährlich ist, sollten wir lieber sie das machen lassen.«

Taylor betätigte wieder den Kommunikator, einen daumengroßen Taster, der am Revers seiner einteiligen Tloxi-Uniform baumelte. Er gab dem kleinen Trupp, der sie begleitete, zu verstehen, dass er wieder benötigt wurde. Taylor vermutete, dass das Gerät sich dazu einer der Frequenzen bediente, die das Androidenvolk bei seiner kollektiven Telepathie benutzte. Er hoffte, dass sie für die sinesische Polizei nicht zu orten war, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie das zugehen sollte. Wahrscheinlich, überlegte er, gingen die Signale einfach im Weißen Rauschen unter, das von Millionen Tloxi in der riesigen Stadt erzeugt wurde.

Sie schlichen geduckt durch den kaum meterbreiten Stollen zurück und tauchten in die tiefere Finsternis eines aufgelassenen Bunkers ein. Dort ließ Taylor den Handflammer aufleuchten, der auf die geringste Leistung geschaltet war. Im schwachen, neongrauen Licht waren fünf oder sechs Tloxi zu erkennen, die in der Dunkelheit gewartet hatten und sie nun mit der automatenhaften Aufmerksamkeit musterten, die Taylor nicht mehr wahrnahm und an die Jill sich nie gewöhnen würde.

»Wir müssen weiter vor«, sagte Taylor und deutete mit einem Kopfnicken in nördliche Richtung.

Die Tloxi bestätigten wortlos, mit sparsamen Bewegungen, dass sie verstanden hatten. Sie schlugen einen Weg ein, der sie über Treppen, Schächte und freischwebende Leitern aus korrodiertem Onyxstahl zunächst mehrere Stockwerke in die Tiefe führte. Hintereinander gehend, marschierten sie dann durch Stollen, die so schmal waren, dass selbst die schmächtige Jill rechts und links mit den Schultern anstieß. Andere waren so niedrig, dass sie sich nur geduckt weiterbewegen konnten. Immer wieder mussten sie durch kreisrunde Irisschotte kriechen, die mitten im Schließvorgang abgeschaltet worden zu sein schienen, oder sie drückten sich durch oktogonale Schleusen. Mehrere Stunden lang wurde kein Wort gesprochen. Auch die Tloxi schienen nicht miteinander zu kommunizieren. Taylors Kommunikator taugte zwar nicht als Empfänger, er zeigte aber an, ob die rätselhaften Frequenzen – falls es sich um ein elektromagnetisches Verständigungssystem handelte – aktiv waren. Die ganze Nacht hindurch zeigte die entsprechende Anzeige nur ein finsteres und griesgrämiges Schwarz. Nur ihr Keuchen war zu hören, das Schlurfen ihrer Schritte auf dem rauen Untergrund, der meist aus verwittertem Obsidianstahl und Bauquarz bestand, und das Rascheln ihrer Anzüge, die an den Seitenwänden streiften.

Jill hatte Taylor und zwei der Tloxi voraus gelassen. In dem zertrampelten Licht, das zwei stark polarisierte Handflammer um ihre Beine flattern ließen, marschierte und kroch sie vor sich hin. Dabei hing sie ihren Gedanken nach. Sie kehrte immer wieder zu Norton und Jennifer zurück. Vor dem Kommandanten hatte sie Angst. Selbst jetzt dachte sie mit Furcht an ihn. Seine unberechenbare Art, die mal phlegmatisch war, dann wieder zu cholerischen Ausbrüchen neigte, schüchterte sie ein. Obwohl sie seit Jahrzehnten seinem Team angehörte, hatte sie nie gelernt, damit umzugehen. Sie wusste nie, wie sie ihn ansprechen sollte. Manchmal fragte sie sich, wie Major Ash mit diesem unbeherrschten Mann klar kam. Die beiden waren das Traumpaar der MARQUIS DE LAPLACE, auch wenn in den letzten Jahren Gerüchte kursiert waren, dass auch in ihrer Beziehung nicht alles zum besten stand. Unter der Oberfläche von märchenhaftem Erfolg, der sie zum höchstdekorierten Team in der Geschichte der Fliegenden Crew gemacht hatte, schien es auch bei ihnen Krisen und Schattenseiten zu geben. Lambert hatte sich an dem Tratsch darüber nie beteiligt. Sie wollte auch nicht, dass ihr Verhältnis zu dem wesentlich jüngeren und attraktiveren Taylor durchgehechelt wurde, obwohl ihr klar war, dass die Klatschtanten der MARQUIS DE LAPLACE auch darüber längst hergezogen waren. Häme und Schadenfreude waren ihr fremd. Ihr tat es vor allem um Major Ash leid, die von allen Menschen, die sie kannte, derjenige war, vor dem sie den größten Respekt hatte. Und das betraf nicht nur die Pilotin, die zweifellos die begnadetste Offizierin war, die jemals in den Reihen der Union anzutreffen war. Sie mochte Jennifer vor allem wegen ihrer ausgeglichenen und fairen Persönlichkeit. Sie war, das, was man als einen »feinen Menschen« bezeichnete. Nie hätte sie sich dazu hinreißen lassen, verletzend zu werden. Dazu mochte auch ihre Unterweisung in den Riten und Meditationspraktiken des Prana-Bindu-Ordens beitragen. Sie hatte sich vollkommen im Griff, in einer Weise, die Jill beeindruckte und die ihr fast übermenschlich vorkam. Manchmal fragte sie sich, ob eine solche, schon beinahe maschinenhafte Selbstbeherrschung überhaupt erstrebenswert war. Selbst in den ärgsten Stresssituationen verlor sie nie den Überblick. Meistens hatte sie ausgerechnet dann noch Sinn für Ironie. Ihre geistige Überlegenheit blitzte manchmal in einer Neigung zum Sarkasmus auf, und die roboterartige Geschwindigkeit und Verwachsenheit, mit der sie das Schiff in kritischen Momenten zu führen verstand, entlud sich bisweilen in Ungeduld. Auch Jill hatte dann schon Ermahnungen und Verweise einstecken müssen. Aber sie wusste, dass diese nicht persönlich gemeint und im selben Augenblick schon wieder vergessen waren. Deshalb arbeitete sie gern mit dem Major zusammen, während die pure Anwesenheit des Kommandanten sie befangen machte.

Seltsam, dachte sie und musste beinahe über sich selbst lächeln, wie tief diese Befangenheit sitzen musste, wenn sie ihr selbst jetzt nicht aus dem Sinn ging, da der General Lichtjahre entfernt war und seine Rückkehr ebenso unwahrscheinlich wie lebensnotwendig für sie war.

Sie schleppten sich weiter durch die Katakomben. Manchmal war ein fernes Dröhnen zu hören. In unterirdischen Kavernen stoppten die Vorausgehenden plötzlich. Alle hielten den Atem an. Staub rieselte von Decke und Wänden. In den Pfützen, die auf dem nackten Betonboden standen, kräuselte sich das ölige Wasser. Orgelnde Geräusche glitten über sie hinweg. Suchte der sinesische Polizeiapparat sie mit schweren Gleitern? Es klang, als zögen Schwebepanzer in geringer Höhe über die aufgegebenen Gebäude, in deren Eingeweiden sie sich bewegten. Dann wieder schien das Grummeln unterirdisch zu sein. Wie ferner Donner erschütterte es die engen Stollen, in denen die Luft bebte. Manche dieser Erschütterungen waren so stark, dass die sensoriellen Overalls an ihrer Haut zu flattern begannen. Sie klangen wie Detonationen. Waren Gefechte im Gang? Der Tumult verebbte, sie setzten ihren Marsch fort. Aber die Geräusche kehrten wieder, und zwar umso lauter und häufiger, je weiter sie auf ihrer stundenlangen nächtlichen Wanderung vorankamen. Sie schienen mit einer Sicherheit, über die Jill nicht recht froh werden wollte, direkt auf das Zentrum dieser seltsamen und beängstigenden Aktivitäten zuzusteuern.

Schließlich gelangten sie wieder ins Freie. Sie löschten die Handflammer und vereinbarten Funkstille und Schweigen. Durch eine mannsdicke Stahltür, die schräg in ihren verrotteten Scharnieren hing, traten sie in die graue sinesische Nacht. Jills Zeitgefühl sagte ihr, dass es in einer Stunde hell werden würde. Bis dahin mussten sie sich weit genug zurückgezogen haben, um ein sicheres Quartier für den Tag zu finden. Jetzt stand sie schaudernd im böigen Wind, der sie trotz der selbstwärmenden Kleidung zittern ließ. Taylor und ein Tloxi gingen vor. Im Schutz einer langgezogenen Mauer, die aus den charakteristischen roten Tloxi-Ziegeln bestand, schlichen sie auf eine Halde aus Trümmern und Schrott zu. Lambert überlegte, ob es sich um eine zerstörte Tloxi-Kaserne handelte. Wenn das der Fall war, musste die Zerstörung entweder schon lange zurückliegen – oder die Zerstörer hatten ganze Arbeit geleistet und es so aussehen lassen, als bewege man sich durch ein Labyrinth jahrhundertealter Ruinen. Während sie dem Vorauskommando folgte und in abgehackten Sätzen von einer Deckung zur anderen schnellte, durchzuckte sie die Möglichkeit, dass bald alle Hervorbringungen der genügsamen Tloxi-Kultur so ausschauen konnten.

Zwanzig Meter vor ihr lehnte Taylor an einem zertrümmerten Mauerrest. Er spähte mit dem HoloSkop darüber hinweg. Sie hörte, wie er leise vor sich hinzischte. Es klang, als wolle er »Scheiße« sagen, aber eine ungeheure Verstörung ließ ihn nicht über den ersten atemlosen Laut hinwegkommen. Er setzte das Scherenfernrohr ab und winkte sie heran. Mit einem letzten Blick sicherte sie das Gelände. Dann rannte sie, den Oberkörper waagerecht vorgebeugt, die letzten Schritte zu ihm. Scherben aus geborstenem Elastal knirschten unter ihren Stiefeln. Durch das weiche Tloxi-Leder spürte sie jede Unebenheit, aber die scharfkantigen Splitter drangen trotzdem nicht durch. Schwer atmend drückte sie sich neben Taylor in den Schatten der Mauer. Er drehte sich zu ihr um und reichte ihr wortlos das Sichtgerät. Von irgendwelchen fernen Raffinerien, Verwaltungstürmen und Plasmafabriken fiel ein fahles, rötliches Licht auf sein junges Gesicht, das in einem unaussprechlichen Entsetzen versteinert war. Jetzt erst, als ihr Puls sich beruhigte und ihr Keuchen nachließ, fiel ihr auf, wie laut es hier war. Die Luft schien zu kochen. Die ganze Atmosphäre zitterte und tobte in Bebungen, die im Infraschallbereich angesiedelt zu sein schienen. Sie teilten sich eher über das Bauchfell und über die Vibrationen des Untergrundes mit. Aber auch im hörbaren Bereich war schrilles Singen und Pfeifen zu vernehmen.

Sie atmete noch einmal tief durch, um ihre hechelnde Lunge und den stolpernden Herzmuskel unter Kontrolle zu bringen. Dann nahm sie das Nachtsicht-Holoskop in die Hand, das klobig, aber leicht war. Sie vergewisserte sich, dass das Kopfteil ihres Overalls sauber an Stirn, Wangen und Kinn abschloss und keine ihrer hellen Haarsträhnen durchließ. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, stützte sich mit Brust und Ellbogen an die bröckelnde Mauer und hob das Scherenfernrohr an die Augen. Was sie sah, als die automatische Nachführung sich adaptiert und das Bild scharfgestellt hatte, ließ sie erbleichen. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Ihr ganzer Körper schien wie nasser Lehm gegen den kalten Stein der Mauer zu lehnen. Aus eigener Kraft war sie fast unfähig, ihn zu tragen.

Das ganze Sichtfeld war ein einziger Aufruhr. Schwefelgelbe, rauchigrote und heliumblaue Farbflecken tauchten durcheinander. Es war wie ein Blick in ein überfülltes Aquarium, wenn der Fokus nicht weiß, auf welches der vielen Objekte er scharf stellen soll. Sie nahm den Zoom zurück, verbreiterte den Ausschnitt und gewann zusätzliche Schärfentiefe. Das erste, was sie erkennen konnte, war ein riesiger schwarzer Käfer. Eine abgeplattete Masse, völlig lichtundurchdringlich, ruhte auf acht untersetzt wirkenden Beinen. Die Luft unter der Bauchseite siedete, deshalb fiel es schwer, Größenvergleiche anzustellen. Indem sie den Bildausschnitt wieder zusammenzog und das Objekt heranholte, erkannte sie die winzigen Punkte, die im wabernden Dunst unter der schwarzen Masse herumliefen. Es waren Sineser. Und das Objekt war ein Schiff, es musste wenigstens fünfhundert Meter lang sein. Das Hitzeflimmern im Bild verstärkte sich. Dann schmolz der Käfer zu einem verschwommenen Fleck ein, der langsam, auf strontiumfarbenen Explosionen reitend, in die Höhe stieg. Mit etlichen Sekunden Verspätung, die etwas über die Entfernung von dem Geschehen sagte, drang ohrenbetäubender Donner heran. Das Schiff hob ab, stand geraume Zeit bewegungslos in der Luft, drehte dann bei – und kam direkt auf sie zu. Das Fauchen und Dröhnen seiner Triebwerke klirrte in den Trommelfellen. Es ließ lose Kiesel und Ziegelbrocken auf dem Boden tanzen und zerrte an ihrer Schutzkleidung, die wie in einem Orkan zappelte und knallte. Das Schiff flog in geringer Höhe auf sie zu. Sie warfen sich zu Boden und versuchten sich in der Deckung der Ziegelmauer zu verkriechen. Wenige hundert Meter hoch, blubbernd und brüllend, zog es über sie hinweg. Die gewaltigen Stelzen wurden eingezogen. An der narbigen Bauchseite arbeiteten die Triebwerke und die Korrekturdüsen. Es war ein automatisches Chaos von Ionenstrahlen, Raketenmotoren, hydraulischen Elementen und aerodynamischen Flossen, die die träge Flugbewegung mechanisch kontrollierten. Dann hob das Schiff die Schnauze. Der ganze Luftraum war nur noch flüssiges Feuer, das in sehr breiten Wellen flutete und tobte. Der Pilot gab vollen Schub auf das Haupttriebwerk. Das Schiff gewann rasch an Höhe und verschwand in der schmierigen Wolkendecke. Es war ein schwerer Sinesischer Kreuzer.

Betäubt und hustend, fast besinnungslos von Lärm, Hitze und Ozongeruch, richteten sie sich auf. Sie setzten die Beobachtung fort. Abwechselnd reichten sie sich das Scheren-HoloSkop und spähten den Raumhafen von Sina City aus. Auf der ganzen Breite des nördlichen Horizontes, und Dutzende Kilometer in der Tiefe, wie sie der Nachführautomatik entnehmen konnten, bestand die Nacht nur aus startenden Schiffen. Große Zerstörer, Sternenkreuzer wie der, der über sie hinweggezogen war, Kampfschiffe und gewaltige Trägerplattformen, die Staffeln schneller Jäger bargen, erhoben sich aus ihren Hangars und stiegen donnernd in den Orbit auf. Überall standen Säulen aus gezähmtem Feuer in der Nacht. Schwarze Stahlwesen putzten ihr tödliches Gefieder und breiteten knirschend ihre kantigen Schwingen aus. Positionslichter, Signalstrahlen, starke Scheinwerfer und die blauen Rückstoßflammen veranstalteten ein exakt choreographiertes Ballett der Vernichtung. Über eine Stunde dauerte allein der Start eines Jagdgeschwaders, der in einem der östlichen Sektoren des riesigen Raumhafens stattfand. In unablässiger Folge, von monotonem, sirenenartigen Heulen begleitet, brachen hunderte Maschinen auf. Es sah aus, als feuere ein schwerer Raketenwerfer pausenlos in den teigigen Nachthimmel, aber jedes der weißblauen Lichtpakete, das stöhnend davonschoss, war ein schnelles, wendiges, bis an die Zähne bewaffnetes Kampfschiff. Ein überlichtschneller Jäger, dessen Besatzung darauf gedrillt war, Feinde durch den Hyperraum zu Tode zu hetzen und sie in Manövern, deren Elemente in den Quantenspeichern, unüberbietbaren Tloxi-Fabrikaten, abgelegt waren, zur Strecke zu bringen. Strategische Bomber entfalteten ihre weiten Tragflächen, unter denen in dichter Reihe taktische Projektile, thermische Plasmatorpedos und schwere Antimaterie-Bomben hingen. Jill zweifelte nicht daran, dass sie auch mit Annihilationswaffen bestückt waren. Eine Staffel nach der anderen röhrte im Tiefflug über sie hinweg, zog dann hoch, schaltete auf Kernantrieb um und bohrte sich in den weichen Wolkensaum, an dessen unterem Rand mit fahlem, aschigem Glosen der Morgen zu dämmern begann. Längst hätten sie sich zurückziehen müssen. Aber sie hingen gebannt in der Deckung der Mauer, die unter dem anhaltenden Motorendonner schwankte, und zählten die Schiffe und Geschwader. Eine einzige dieser Maschinen, konnte eine Metropole in Schutt und Asche legen, einen Konvoi vernichten oder einen Planetoiden zu Staub mahlen. Jede der Staffeln, die stundenlang über sie hinwegjagten, konnte eine Welt auslöschen, eine Erde sterilisieren. Die Streitmacht, die sich da auf den Weg machte, war die Große Sinesische Flotte. Keine Macht im bekannten Universum konnte sich ihrer Feuerkraft entgegenstellen. Ein einziges Mal in der Geschichte der interstellaren Auseinandersetzungen, hatte eine Armee der Union es gewagt, mit ihr anzubinden. Dieser Konflikt war in der Schlacht von Persephone kulminiert. Aber seither waren Jahrzehnte vergangen. Sina hatte nicht nur gleichgezogen, sondern sich auch mit der Annihilationstechnologie einen Vorteil verschafft, dem die Menschheit nichts entgegenzusetzen hatte. Doch allein durch ihre schiere Quantität konnte diese Armada jeden Widerstand erdrücken. Es war die größte interstellare Streitmacht, die die Galaxis je gesehen hatte; keine bekannte Macht im Universum war ihr gewachsen.

Obwohl sie die Sonne nicht aufgehen sahen, die hinter wächsernen Wolkenschichten verborgen blieb, erlebten sie den Tagesanbruch im Freien. Das kalte farblose Licht von Sina lag auf der Landschaft aus Trümmern und Ruinen, während am Raumhafen der Aufbruch der gewaltigen Flotte andauerte. Schließlich zogen sie sich in das Bunkersystem zurück, um dort den Tag zu verbringen und sich auszuruhen. In einem unterirdischen Stollen, halb in einer Pfütze aus Plasmarückständen und Schmieröl sitzend, an die nasse Wand gelehnt, lauschten sie dem fernen Grollen, dessen Ausdauer die Stunden zermalmte wie die Faust eines Riesen einen zerbröselnden Stein. Von Tloxi umgeben, die die Ausgänge sicherten und ansonsten in einer Art von unansprechbarem Stand By verharrten, hockten sie da. Jill hatte sich an Taylors rechte Seite geschmiegt. Mit mechanischen Bewegungen stopften sie nach nichts schmeckendes Granulat in den Mund und starrten über ihre Fußspitzen hinweg auf den feuchten Boden, auf dem braunschwarze Algen siedelten.

»Ist das jetzt ein gutes Zeichen für uns?«, fragte Lambert irgendwann.

Nichts hätte die verzweifelte Absurdität ihrer Lage besser zum Ausdruck bringen können. Taylor antwortete nicht. Obwohl sie mehr als vierzehn Stunden unterwegs gewesen waren, vom Abend bis in den fahlen sinesischen Vormittag hinein, fanden sie keinen Schlaf. Wie ausrangierte Puppen, die man achtlos fortgeworfen hatte und die mit verdrehten Gliedern in der Ecke lagen, lehnten sie aneinander, kauten, schwiegen und sahen vor sich hin. In regelmäßigen Abständen zog Jill die Nase hoch.

Die Nacht reichte von drei bis etwas über acht Uhr. Dort herrschte Finsternis; eine Art von Finsternis, an die zu gewöhnen ihm bisher nicht gelungen war. Auf dem Kugelkompass erstreckte sie sich von vierzig bis hundertdreißig Grad. Ein riesiger Vorhang aus Dunkelheit und Nichts. Er achtete darauf, ihn im Rücken zu haben, wobei auch das die beklemmende Wirkung nicht linderte. Manchmal stahlen sich Bänke und feine Filamente vor und ragten seitlich ins Blickfeld, selbst wenn er dieses penibel auf zwölf Uhr ausgerichtet hatte. Was war unangenehmer: dem Grauen ins Gesicht zu sehen – oder eine Entität, über deren Qualität man bislang nichts Verlässliches herausgefunden hatte, in seinem Rücken zu wissen?

Commodore Wiszewsky zog es vor, ihr den Rücken zuzuwenden. Das war eine Geste der Nichtachtung, die man naiv nennen konnte. Was ich nicht sehe, existiert auch nicht. Aber er verfügte über einen ausreichenden Vorrat sonstiger Sorgen, sodass wenigstens die undurchdringbare Materie seiner Aufmerksamkeit entzogen bleiben durfte.

Die MARQUIS DE LAPLACE dümpelte in den Ausläufern der Dunkelwolke. Das lichtjahrweite Vorkommen der unbekannten und auf hartnäckige Weise unerklärlichen Substanz hatte keine scharf umrissenen Grenzen. Es begann und endete nicht abrupt, sondern verlief über Milliarden Kilometer. Hier bildete es ein Halo, das peu a peu alles Licht verschluckte, Energie absorbierte, ohne sie in anderer Form wieder abzugeben, wodurch sie dem Hauptsatz der Thermodynamik widersprach, und sogar Warpsignaturen verschlang. Die Dunkle Materie, die keine Masse aufwies, aber ein schwaches Äquivalent von Gravitation erzeugte, bildete sich in riesigen Kissen, Flocken, Streifen und Wolken entlang der Bruchstellen der Raumzeitgeometrie. Hier im Kleinen Korridor, wo die Lokale Gruppe in einem jahrmillionenlangen Prozess auseinanderdriftete wie ein Kontinent entlang eines großen Grabenbruchs, warf der überdehnte Raum unermessliche Mengen der rätselhaften Substanz aus. Ihr Volumen musste nach Millionen Kubiklichtjahren gemessen werden. Ihre Gravitationswirkung, die die Experten von der Planetarischen Abteilung mittlerweile exakt vermessen hatten, entsprach der Masse einiger Dutzend Milchstraßen. Die scheinbare Masse der Lokalen Gruppe, soweit sie aus diesem Gravitationseffekt resultierte, hatte sich durch die Entdeckung allein dieser Dunkelwolke mehr als verdoppelt. Dadurch hatte die galaktische Drift einer radikalen Neuberechnung zugeführt werden müssen. Und Tiefenscannings, die man mit dem Deepfield durchgeführt hatte, hatten ergeben, dass außerhalb der Lokalen Gruppe, im großen Korridor und in anderen Richtungen, weitere Wolken schwebten, deren Gravitationsäquivalent sich auf viele tausend Milchstraßen summierte.

Wiszewsky war diese Substanz unsympathisch. Materie musste eine Masse haben, oder sie hatte überhaupt nicht zu sein. Der seltsame Zwischen- und Zwitterzustand der Dunklen Materie verstimmte ihn. Er forderte seinem Schulwissen eine Revision ab, zu der er sich nicht mehr bereitfand, auch wenn es nach irdischer Zeit schon über einhundert Jahre alt war. Stattdessen zog er es vor, der Dunkelwolke den Rücken zuzukehren. Er hatte die MARQUIS DE LAPLACE eben so weit in das wabernde Nichts einfliegen lassen, dass sie für einen außenstehenden Beobachter verborgen sein musste und dass auch die Emissionen, die der Betrieb des Schiffes unweigerlich mit sich brachte, von der Wolke absorbiert wurden. Der südliche Horizont, bezogen auf die Schiffsachse, war ganz von dem treibenden Schwarz bestimmt. Nur nach vorne, der Blickrichtung der Schnauze folgend, hatte man freie Sicht, die geringfügig verschleiert, aber immer noch eindrucksvoll genug war.

Abends, wenn die administrativen Routinen ihn in die immer deprimierendere Freizeit entließen, pflegte der Commodore sich in den Ausguck zurückzuziehen, eine 360°-Panorama-Kugel, die sich zwei Decks über seiner privaten Suite befand. Der gravimetrische Sessel war arretiert und auf die Längsachse der MARQUIS DE LAPLACE ausgerichtet. Hier sitzend, konnte Wiszewsky sich entspannen. Zur Linken sah er, von grauen Schleiern etwas getrübt, die Milchstraße und die anderen Hauptgalaxien der Lokalen Gruppe. Zur Rechten wellten sich die orangeroten und schwefelfarbenen protostellaren Nebel der Eschata-Region in der Protogalaxie M42. Und geradeaus, über den Antennenwald des Schiffsbugs hinweg und dem leicht einwärts gekrümmten Verlauf des Kleinen Korridors folgend, konnte er sogar das überwältigende Galaxienfeld der Großen Mauer ausmachen. Fern, schwach leuchtend, ein Vorhang aus grobkörnigem, purpurfarbenem Licht. Entfernt vergleichbar dem Anblick der Milchstraße am Erdenhimmel, wenn auch tausendmal größer und zehntausendmal so weit entfernt. Denn jeder der rötlich im Wasserstoffspektrum irisierenden Lichtpunkte war eine eigene Milchstraße.

Er kam hierher, um nachzudenken. Aber auch, um nicht nachdenken zu müssen. Es war eher ein ergebnisloses Grübeln und Sinnen, ein Brüten und Dahindämmern, dessen Gegenstand kaum zu formulieren und auszusprechen gewesen wäre. Der erschöpfte und illusionslose Zustand, dem er sich hier oben oft für ganze Nächte überließ, glich eher dem ziellosen und mahlenden Kreislauf der Schlaflosigkeit, der manischen Selbsttätigkeit der immergleichen Ängste, Befürchtungen und traumatischen Überlegungen, als einem bewussten und rationalen Nachdenken. Und dennoch suchte er den meditativen, manchmal allerdings auch albtraumhaften Zustand immer wieder auf. Denn wirklich zu bedenken, bei hellem Tageslicht besehen, gab es im Grunde wenig. Anfangs hatte er noch die Tage gezählt, seit die Crew der ENTHYMESIS unter Umständen verschollen war, die noch immer ungeklärt waren und denen etwas Mysteriöses anhaftete. Dann waren es Wochen gewesen, schließlich Monate. Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit verstrichen war, seit der Explorer selbststeuernd ins Große Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE eingeflogen war, von einer Sonde heimbeordert, von der Automatik geführt, mit menschenleerer Brücke. Seither fehlte von Norton und den anderen jede Spur. Das Geisterschiff, dessen Auftauchen in dieser Öde ein Affront gegen jede vernünftige Erwartbarkeit war, hatte sie in den Warpraum verschleppt. Über das Warum und Wohin hatten sich seit Monaten alle Spekulationen totgelaufen.

Wiszewsky seufzte. Das Alleinsein war der einzige Zustand, in dem er die metaphysische Einsamkeit, in der er hier draußen lebte, ertragen konnte. Manchmal ließ er die Kugel mit klassischer Musik beschallen. Aber auch das schien ihm zunehmend unangemessen. Selbst die erhabensten Klänge eines Bach, eines Mozart, eines Anton Bruckner kamen ihm unpassend vor angesichts der Weite und Öde, in die er immer manischer hinausstarrte. Er kam sich dabei vor wie ein Teenager, der eine Filmdiva, eine Königin, eine Göttin mit peinlicher Pennälerlyrik bedrängte. Dann zog er die Stille und das Schweigen vor.

Entgegen seiner früheren Gewohnheit, die ihm Svetlanas Nähe hatte unentbehrlich erscheinen lassen, fand er sich auch damit ab, auf ihre Anwesenheit und ihre körperliche Berührung zu verzichten, die er über Jahre hinweg kaum preisgegeben hatte. Ihre Unbekümmertheit, die ihn während des Betriebs aufgeheitert und erfrischt hatte, wurde ihm ungenießbar. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er ihr Geplapper und ihr pausenloses Herumgefummel an seinen Händen, seinen Ohren, seinem Haar enervierend fand. Und so zog er sich in den Ausguck zurück, eine winzige, an alte Planetarien erinnernde Kuppel aus polarisiertem Elastilglas, die kaum fünf Meter im Durchmesser hatte und wo er mit der unbegreiflichen Gleichgültigkeit der Schöpfung allein sein konnte.

Eine Zeitlang hatte er sich mit Laertes, dem selbsternannten Chefideologen der MARQUIS DE LAPLACE, zu unregelmäßigen Zusammenkünften in den kleinen Bars und SkyLounges getroffen, deren es unzählige an Bord des riesigen Schiffes gab. Aber der alte Philosoph hatte sich sowohl als Ratgeber, wie auch als Tröster ungeeignet erwiesen. Er dachte in Maßstäben, in denen der individuelle Tod nicht der Rede wert und das Verschwinden der Menschheit eine Belanglosigkeit war. Die aktuellen politischen oder physikalischen Ereignisse trotzten ihm kaum ein Schulterzucken ab. Und so hatte der Commodore auch diese Gespräche, wo nicht eingestellt, doch ihren Rhythmus immer langwelliger zu gestalten gewusst. Das Alltagsleben auf der MARQUIS DE LAPLACE ging seinen Gang. Die weiteren Geschehnisse lagen im Dunkeln. Die machtpolitische und militärische Lage war ebenso verworren und undurchdringlich wie die ekelerregende und nichtvorhandene Wolke, die er gesehen hätte, wenn er seinen gravimetrischen Sessel um 180° herumgeschwenkt hätte – wozu er sich aber nicht verstand.

Und doch war heute etwas anders. Zum erstenmal seit Monaten und Jahren döste er nicht schlechtgelaunt und schlaflos in die Unendlichkeit hinaus. Er wartete. Er musterte den Horizont, dieses im freien Kosmos so allgegenwärtige und erdrückende Etwas, nicht mehr wie ein alter Poet, der träumerisch aufs Meer hinausblickt, sondern wie ein Mann, der fest mit einem ganz bestimmten Ereignis rechnet und es mit fiebernden Pulsen herbeisehnt. Er hatte sich zu einer Handlung entschlossen, die ihm schon lange als Ultima ratio bewusst gewesen war, die in die Tat umzusetzen er jedoch immer wieder aufgeschoben hatte. Er war sich über das Risiko und die Unwiederholbarkeit des Schrittes im klaren. Aber es kommt bei jeder Phase der Passivität der Punkt, an dem man die Aktion dem Nichtstun vorzuziehen beginnt und sich zu Entscheidungen hinreißen lässt, die rational nicht mehr zu erklären sind. Sie speisen sich aus der Leere, die man mit ihnen füllt. Sie schlagen eine Bresche in die Zeit, die ein horizontloser Ozean zu werden drohte und die nun wieder ein gerichteter Strom ist. Lieber noch ein schäumendes Katarakt als das ortlose Überall und Nirgendwo. Wiszewsky wusste, dass ein Außenstehender seine Tat als Kurzschlusshandlung würde bewerten müssen. Er wusste auch, dass er sich der größten Herausforderung gegenübergesehen hatte, die das Raumfahrtzeitalter an den menschlichen Geist stellte, und dass er vor ihr versagt hatte. Nicht neuartige Antriebe, dachte es in ihm, während er die Unendlichkeit kontemplierte, nicht stärkere Reaktoren, raffiniertere Mathematiken oder größere Schiffe waren die eigentliche Herausforderung, die das intergalaktische Saeculum an den Menschen richtete, sondern mit der Leere fertig zu werden, mit der Weite, mit der blanken Unermesslichkeit, die den Geist angriff und das Sein infrage stellte. Jahrelang dazusitzen und zu warten und das Nichts vor Augen zu haben – das war eine Prüfung, der Wiszewsky sich am Ende nicht mehr gewachsen fühlte.

Und die Ereignisse schienen ihm recht zu geben. Plötzlich ging etwas vor. Er spürte, dass sich etwas ergab. Dazu war es nicht nötig, dass Alarm gegeben wurde oder dass sein privater Kommunikator, dessen Code nur eine Handvoll Menschen an Bord des Schiffes kannten, aktiviert wurde. Er war mit dem ganzen Leib der MARQUIS DE LAPLACE – trotzdem große Segmente herausgelöst worden waren, immer noch mehr als zehn Kilometer Titanstahl – so verwachsen, dass er mit dem sechsten Sinn registrierte, wie etwas passierte. Es bedurfte keiner Sirenen und keiner aufgeregten Adjutanten. Er hatte es selber in die Wege geleitet, und er hatte es herbeigewartet. Außer Svetlana und den Mitarbeitern seines engsten Beraterstabes wusste niemand, was unternommen worden war. Umso größer würde die Überraschung nun für die vieltausendköpfige Besatzung werden.

Und während er noch spürte, wie das Schiff unter ihm erwachte, wie Instrumente ansprachen, Blinklichter rotierten, Mannschaften auf Posten kommandiert wurden und tausenderlei automatische Routinen anliefen, sah er es schon. Der Anblick trieb ihm das Wasser in die Augen. Sie kamen von der Backbordseite, um eine Ausbuchtung der Dunkelwolke herum, die eine frühere Entdeckung verhindert hatte. Die Bewegung war erst schemenhaft, dann wuchs sie rasch zu einer kompakten Machtdemonstration heran. Aus einer flächigen Ansammlung weißer und blauer Lichtflecken stachen einzelne hervor. Ihr Strahlen schwoll an, gleichzeitig bekam es einen schwarzen Corpus. Die Flotte war sehr weitläufig auseinandergezogen. Nur die größten und nächsten Schiffe waren als solche zu erkennen. Sie schwebten in einem Hof von Positionslichtern wie Klumpen von Neutronen in der flimmernden Elektronenwolke. Ein schweres Schlachtschiff führte den Verband. Obwohl er noch nicht offiziell alarmiert worden war, wusste Wiszewsky, dass es auf allen Frequenzen den Friedenscode der Union funkte. Es musste ein neugebautes Schiff sein. Als die MARQUIS DE LAPLACE vor etlichen Jahren den erdnahen Raum verlassen und die leidgeprüfte Menschheit sich selbst überlassen hatte, hatte die Union über kein Schiff mehr verfügt, das größer als ein ziviler Frachter war. Aber das hier war eindeutig ein Zerstörer. Er wurde eskortiert von einer gewaltigen Armada sekundärer Unterstützungsschiffe, deren Funktionen im einzelnen nicht auszumachen war. Eines davon setzte gerade eine Drohne aus. Wiszewsky konnte den gleißenden blauen Lichtpunkt erkennen, der sich von der klobigen schwarzen Schiffsmasse löste. Er rechnete damit, dass eine Delegation in einem kleinen Shuttle herüberkommen würde, als der Lichtpunkt so hell aufglühte, dass die Kuppelautomatik selbsttätig die Polarisierung der Elastalscheiben verstärkte. Die blendende, weißblaue Kugel schoss mit irrwitziger Geschwindigkeit nach rechts davon – und verschwand in einem letzten Lichtblitz. Offenbar hatte sie einen Warpkorridor geöffnet. Während der Commodore sich noch fragte, was das zu bedeuten habe, britzelte und prickelte es quer durch die noch unkörperliche Wolke, in der er nur das Geschwader kleinerer Hilfsschiffe vermuten konnte. Das ganze Feld loderte auf, als sei es von einem Ionensturm getroffen. Und Dutzende der einzelnen Lichtpunkte folgten dem Beispiel des ersten, der sich in den Hyperraum katapultiert hatte. Wiszewsky kratzte sich am Kopf. Dann aktivierte er den Kommunikator, dessen Meldung er schon seit geraumer Zeit unterdrückt hatte, und begab sich hinunter in seine Suite, um die Galauniform anzulegen.

Ein untersetzter Mann im Feldgrau der Neuen Union kam mit kurzen, aber energischen Schritten auf die Brücke gestiefelt. Einige Offiziere und Adjutanten begleiteten ihn. Er hatte einen kreisrunden Schädel, graues Stoppelhaar und einen weißen, ebenso kurz gehaltenen Bart. Seine Augen leuchteten im Blau des Nordatlantiks, sein Gesicht war von Wind und Wetter zu braunem Leder gegerbt. Er sah eher aus wie ein alter Seemann als wie ein General – als den ihn die Epauletten auswiesen –, der einen intergalaktischen Kreuzer befehligte. Wiszewsky wusste, dass die Union ihre Kommandanten noch immer gerne aus Fregatten- und Corvettenkapitänen rekrutierte. Dieser Mann konnte jedenfalls nicht verbergen, dass er in seiner Jugend noch leibhaftig zur See gefahren war; auch wenn dies mehrere Jahrzehnte zurücklag.

Er nahm Wiszewsky gegenüber Haltung an, salutierte und machte Meldung in einer Art, die nachlässig war, aber nachlässig, wie nur ein von der Zeit verschliffener eiserner Drill sein konnte. Diese Form von Laxheit war durch Welten vom Schlendrian jüngerer Offiziere geschieden.

»General Andresen«, bellte er. »Kommandant des Schweren Kreuzers EREBUS, Führer der Teilstreitkräfte, die ...«

Wiszewsky winkte ab. »Ersparen Sie uns das«, sagte er. »Ich bin Commodore Wiszewsky, Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE. Seien Sie herzlich willkommen!«

Er drehte sich zu Svetlana um, die in diesem Moment auf die Brücke gelaufen kam. Der Alarm, der das Schiff durchtoste und die Ankunft der Flotte ankündigte, hatte sie geweckt, als sie über einem ihrer geliebten HoloFilme eingeschlafen war. Im gleichen Augenblick war schon Wiszewsky die feldgestützte Wendeltreppe von seinem einsamen Auslug heruntergekommen und hatte sie angeschnauzt, sich zurecht zu machen. Eine Minute nach ihm war sie fertig und folgte ihm auf die Brücke, wo die fremde Delegation, wohl eine Abordnung der Erdregierung, begrüßt wurde. Sie trug die Uniform der Fliegenden Crew und hatte ein weißes Barett auf ihre Mähne gezwickt, deren lodernde Strähnen in der Eile nur mit ein paar GraviSticks zusammenzuhalten gewesen waren. Jetzt spielte sie sich an Wiszewskys Seite, aber er ließ es nicht zu, dass sie sich bei ihm unterhängte, sondern hielt sie mehrere Schritte auf Abstand. Sie blinzelte den Männern, die eben aus Richtung der Schleusenkammer gekommen sein mussten, mit langen schwarzen Wimpern zu und vergewisserte sich, dass ihr Kragen und der samtene Kopfschmuck richtig saßen.

»Es freut mich, dass Sie so rasch erschienen sind.« Wiszewsky musste den Impuls unterdrücken, den General in die Arme zu schließen. Er wollte nicht sentimental erscheinen. Aber dann gab er sich doch einen Ruck, überwand die fünf Schritte, die ihn von Andresen trennten, und reichte dem Schlachtschiffkommandanten die Hand. Der Skandinavier erwiderte seinen Händedruck mit knochenbrecherischer Kraft. »Vor allem freut mich das unerwartet zahlreiche Erscheinen.« Er sah zur großen Panoramafront hinaus, wo hunderte von Positionslichtern und Korrekturdüsen leuchteten und blitzten. »Mit einer solchen Armada hätten wir nicht zu rechnen gewagt.« Er ließ den Blick versonnen auf dem überwältigenden Anblick ruhen, der ihm noch immer unwirklich und traumhaft vorkam.

General Andresen zog seine Hand zurück, eine rote Faust mit gelben Stoppeln auf dem Handrücken. Commodore Wiszewsky setzte dazu an, Svetlana Komarowa und den Mitarbeiterstab vorzustellen, der sich nach und nach auf der Brücke einfand.

»In Anbetracht des Ernstes der Situation«, schnitt Andresen ihm das Wort ab, »schlage ich vor, dass wir gleich zur Sache kommen.«

Wiszewsky verzog das Gesicht. Es kam nicht oft vor, dass jemand ihm übers Wort fuhr, schon gar nicht so ein ungehobelter Haudegen, den man vermutlich aus dem Ruhestand geholt hatte, den er sich vor Island mit Angeln vertrieben hatte. Aber die Ankunft dieser gewaltigen Flotte erfüllte ihn mit solcher Hochstimmung, dass er großzügig darüber hinwegsah.

»Nicht ernster als während der vergangenen drei Jahre«, sagte er wegwerfend. »Im Gegenteil: jetzt, da Ihre Streitmacht hier ist, wüsste ich nicht, was an der Situation noch ernst sein sollte.«

An Stirn und Schläfen von Andresens Rundschädel traten blaue Adern hervor. Ihm war anzusehen, dass er dem Commodore nicht ganz folgen konnte; zumindest vermochte er seine gleichmütige Haltung nicht zu teilen. Er dachte einen Augenblick nach.

»Wie dem auch sei«, räusperte er sich. »Ich darf Ihnen die allerherzlichsten persönlichen Grüße von Commander-General Frank Norton und Major Jennifer Ash überbringen. Sie sind, um keine Zeit zu verlieren ...«

Wiszewsky hob langsam die Hand. Der letzte Halbsatz Andresens, den er deutlich hervorgehoben hatte, hallte noch im Raum wider. Der Commodore fasste sich an den Kopf.

»Was sagen Sie da?«, fragte er mit einem stimmlosen Flüstern.

Andresen starrte ihn an, als habe er es mit einem Schwachsinnigen zu tun. Auch seine Begleiter murmelten ungeduldig und scharrten mit den Füßen.

»General Norton und Major Ash lassen Sie herzlich grüßen«, wiederholte Andresen mit Betonung, als spreche er mit einem Schwerhörigen. »Sie waren Gäste auf der ENTHYMESIS, haben sich jetzt aber weiter verfügt, um in der gebotenen Eile das Notwendige zu veranlassen.«

Wiszewsky glotzte ihn an, als habe er ihn vor allen Leuten ins Gesicht geschlagen. Svetlanas Mund klappte auf, um sich so rasch nicht wieder zu schließen. Auf die Mienen der Stabsoffiziere malte sich offene Bestürzung. Andresen war inzwischen überzeugt, dass die lange Exposition unter die intergalaktische Strahlung die komplette Besatzung dieses Schiffes habe verblöden lassen.

Der Commodore sah an seiner Schulter vorbei zur großen Panoramafront hinaus und musterte mit verkniffenen Augenlidern das weit auseinandergezogene Lichterfeld der Flotte. Tatsächlich: eines der größeren Schiffe, in mehreren Kilometern Distanz längsseits zur MARQUIS DE LAPLACE und in gemessenem Abstand hinter dem Heck der EREBUS, war die ENTHYMESIS. Die ENTHYMESIS, wie Wiszewsky sich schwindelnd sagen musste, während der Boden sich unter ihm drehte. Die ENTHYMESIS I, die einer ganzen Flotte von leistungsfähigen und robusten Explorern den Namen gegeben hatte.

»Ich begreife überhaupt nichts mehr«, stammelte er und sah Andresen mit solcher offenen Ratlosigkeit an, dass es dem General einen Stich gab.

Im Kopf des Commodore ging alles durcheinander. So sehr er sich auch bemühte, Ordnung in seine Gedanken und Empfindungen zu bringen, konnte er doch nicht verhindern, dass sich die Informationen in seinem Schädel immer wieder überschlugen, umkreisten, vertauschten und verknäuelten. Das dort draußen war die originale ENTHYMESIS, Nortons Flaggschiff, das unter chaotischen Umständen im Zusammenhang mit dem Jupiter-Ereignis auf der Erde zurückgeblieben war. Einige Kilometer entfernt, im Hangar des Großen Drohnendecks, befand sich die ENTHYMESIS II, die der Crew während der Jahre der Diaspora als Ersatz hatte dienen müssen, jenes Schiff, das vor nunmehr etlichen Monaten unbemannt und führerlos von der Mission zum Geisterschiff zurückgekehrt war. Wie sollten Frank und Jennifer von einem zum anderen, vom Nachbau zum Original gelangt sein? Worte wie Teleportation und Quantenbeamen blitzten durch Wiszewskys Hirn. Er rang sich ein Lächeln ab.

»Halten Sie von mir, was Sie wollen«, sagte er gequält, »aber ich verstehe kein Wort.«

Andresen überwand ein Moment der Irritation. Er hatte nicht damit gerechnet, den Kommandanten dieses Schiffes, dessen Name ihm den allerhöchsten Respekt einflößte, und Oberbefehlshaber der Kolonialtruppen auf einem so geringen Kenntnisstand anzutreffen, wie es offenbar der Fall war. Er wusste seinerseits nur wenig über Nortons Erlebnisse.

»General Norton hat den Oberbefehl über diese Flotte«, begann er zögernd. »Nur vorübergehend wurde die Teilstreitkraft, die Sie hier sehen, meinem Kommando unterstellt, während Norton und der Rest des Korps ein anderes Ziel verfolgen, das der höchsten Geheimhaltungsstufe unterliegt und über das auch ich nicht unterrichtet bin.«

Letzteres war gelogen, zumindest untertrieben; Andresen wusste sehr wohl, wohin Norton und Jennifer mit dem Rest der Flotte geflogen waren. Er zögerte nur, es Wiszewsky anzuvertrauen, solange er nicht sicher war, dass der Commodore als zurechnungsfähig gelten konnte.

Wiszewsky schüttelte den Kopf. »Aber wie«, stammelte er. »Wie sind sie zur Erde gelangt?«

Andresen zuckte die Achseln. Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Jede Minute, die verging, erfüllte ihn mit körperlichem Schmerz. Er fühlte wie ein Feldherr, der mit ansehen muss, wie seine Infanterie im gegnerischen Feuer schmilzt, während die Verstärkung immer noch ausbleibt.

»Ich weiß nur«, sagte er, »dass die beiden sich in einem gekaperten sinesischen Shuttle zur Erde durchschlagen konnten und dass der Kanzler der Zivilregierung, Seine Eminenz Cole Johnson, General Norton persönlich das Kommando über dieses Expeditionskorps übertragen hat.«

Wiszewsky hing an seinen Lippen und nickte bei jedem einzelnen Wort, als müsse ihm die Information wie einem Kleinkind eingelöffelt werden. Er schluckte und stierte mit erloschenem Blick vor sich hin. Dann schien er die Fakten zusammengebracht zu haben.

»Was für ein Teufelskerl!«, stieß er hervor. »Ein sinesisches Schiff gekapert!«

Er wandte sich zu Svetlana und seinem Beraterstab um und schüttelte die Faust in der Luft. Eine gewisse Entspannung breitete sich in den beiden Personengruppen aus. Andresen sagte sich, dass die Abgeschiedenheit in diesen Räumen doch sehr an den Menschen zehrte, und er rief sich ins Gedächtnis, dass dieses Schiff seit mehreren Jahren ohne jeden externen Kontakt gewesen war.

Wiszewsky ging auf den General zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Verzeihen Sie unsere Begriffsstutzigkeit«, sagte er warm. »Wir sind hier ein bisschen hinterm Mond. In einer ruhigen Stunde kann ich Ihnen ja unsere Version der Vorgänge erzählen.« Er zwinkerte vergnügt. »Wer konnte denn auch mit so etwas rechnen«, rief er aus und wies mit dem Arm zur Flotte, die in den schwarzen Ausläufern der Dunkelwolke schwebte. »Wir haben die Feuerwehr gerufen, und sie schicken uns gleich die ganze Bundesarmee!«

Er lachte heiser und hustend. Die Adjutanten und Stabsoffiziere beeilten sich, einzufallen oder zu schmunzeln. Einzig Andresens Miene blieb steinern.

»Wenn Sie gestatten, Commodore«, brummte er mit eiserner Beherrschung, »würde ich dann wirklich gerne zur Sache kommen. Ich habe umfangreiche Einsatzpläne.«

Wiszewsky kicherte vor sich hin. »Immer langsam, General«, sagte er und klopfte Andresen auf den Oberarm. »Jetzt entspannen Sie sich mal. Wir sollten feiern, dass der Warptransfer geklappt hat. Ich würde Sie gerne ein bisschen herumführen. Und dann müssen wir auf Norton und seine Frau anstoßen; wir haben die beiden nämlich längst für tot gehalten.« Er schüttelte immer wieder den Kopf. »Was für ein Zufall«, murmelte er. »Just in dem Moment.«

In diesem Augenblick glitt die automatische Tür mit einem leichten Summen der Feldgeneratoren auf. Dr. Frankel und einige seiner führenden Wissenschaftler betraten die Brücke. Der derzeitige Oberste Planetologe trug den weißen Laborkittel, dessen Schöße flatternd hinter ihm her wehten. Er hatte ihn jedoch mit Schulterstücken versehen, auf denen die Rangabzeichen eines Colonel befestigt waren. An seiner Brust prangten neben dem Handkommunikator, dessen Clip aus der Brusttasche hervorsah, mehrere Abzeichen und Orden, darunter eine Schützenschnur, wie sie im ersten Jahr der Freiwilligenausbildung erworben werden konnte. Frankel schien mit dieser Kostümierung ausdrücken zu wollen, dass er der legitime Leiter beider Stäbe war, solange Norton verschollen und Rogers auf Eschata war. Wiszewsky runzelte die Stirn ob Frankels Aufzug, ließ die grobe geschmackliche und dienstliche Verfehlung aber auf sich beruhen.

Andresen taxierte den Wissenschaftler mit der Menschenkenntnis, ohne den kein militärischer Führer bestehen kann. Auf einem Blick wusste er, dass er einen Mann vor sich hatte, der nicht einmal als Unteroffizier zu gebrauchen war und dem er niemals eine Abteilung anvertraut hätte. Seine Geringschätzung wäre beinahe in Mitleid umgeschlagen, aber eben nur beinahe.

Frankel ignorierte Wiszewsky und die anderen Stabsmitglieder der MARQUIS DE LAPLACE und stürmte unmittelbar auf General Andresen los. Dieser wich einen halben Schritt zurück. Besann sich aber und zeigte sich entschlossen, dem Ansturm standzuhalten. Nur sein Gesicht sprach deutlich aus, wie sehr er diesen Mann schon nach dem ersten Augenschein verabscheute.

»Haben Sie sie dabei?«, schrie Frankel. »Sie muss noch heute in die Wissenschaftliche Abteilung überstellt werden!«

Andresen musterte ihn kalt und regungslos. Der Wissenschaftler überragte ihn um mehr als Haupteslänge. Die wehenden Schöße seines offenen Laborkittels unterstrichen die Unruhe seines Auftritts. Er glich einem großen Hühnervogel, der aufgeregt mit den Flügeln schlug und den ganzen Hof zusammenkrähte. Andresen dagegen fasste ihn von unten her scharf ins Auge. An ihm bewegte sich nicht eine Wimper.

»Wovon reden Sie?«, fragte er nach geraumer Zeit.

Frankel warf sich auf dem Absatz herum und rannte gestikulierend zwischen den beiden Gruppen hin und her, die sich immer mehr wie feindliche Lager gegenüberstanden. Wiszewsky hob zaghaft den Arm, um seinen obersten Wissenschaftler bei seinem kreischenden Rundflug einzufangen, bekam aber nur den flatternden Kittel zu fassen.

»Beruhigen Sie sich«, mahnte er.

Frankel gab nicht auf ihn acht. Nachdem er sich etwas Luft gemacht hatte, unternahm er einen neuen Anlauf. »Der Flugschreiber«, stieß er, mehr an die Allgemeinheit als an Andresen gewandt, hervor. »Ich muss ihn noch diese Nacht auswerten.«

Andresen wusste inzwischen, dass sich etwas an Bord dieses Schiffes befand, das die Geister der Menschen verwirrte. Seit er die Schleusenkammer durchschritten hatte, war er keiner zurechnungsfähigen Person begegnet und hatte er keinen sinnvollen Satz gehört.

»Sie können auch die KI-Einheit extrahieren und Sie mir mit einer Drohne rüberschicken«, sagte Frankel gerade. »Darauf käme es jetzt vor allem an!«

Andresen gelangte zu der Überzeugung, dass dieser Mann komplett verrückt war. Es musste sich um eine Art Hofnarren handeln, den Wiszewsky sich hier zu seiner Erheiterung und zur Unterhaltung seines bizarren abgeschiedenen Hofstaates hielt. Allerdings fehlten ihm, Andresen, jeglicher Sinn und auch die Zeit für derlei Spielchen. Seine Stirn war eine dunkle bucklige Landschaft, über die die schweren Seen der Nordmeerdünung hinwegzogen. Seine wasserblauen Augen hatten sich wie unter einem Eisnebel getrübt. Die Lider schienen sich innerhalb weniger Minuten rot entzündet zu haben. An Bord seines eigenen Schiffes hätte er Frankel auf der Stelle degradieren lassen. Hier hielt er sich mit einem letzten Rest übermenschlicher Selbstbeherrschung noch im Zaum.

»Ich habe keine Ahnung«, presste er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, »wovon Sie sprechen.«

Auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE machte sich Verwirrung breit. Die Adjutanten und Stabsoffiziere, die die beiden Kommandanten begleiteten, sahen einander betreten an, räusperten sich nervös und traten von einem Bein aufs andere. Einige Ordonnanzen, die im Durchgang zur Messen erschienen waren und sich bereithielten, auf ein Zeichen Wiszewskys Getränke und Erfrischungen zu reichen, zogen sich wieder in den Verbindungsgang zurück. Die Komarowa, die immer unruhiger an ihrem Barett gezupft hatte, berührte den Commodore jetzt am Arm und bedeutete ihm so, dass er sich wieder einzuschalten habe. Wiszewsky fasste seinerseits den wie vor den Kopf gestoßenen Frankel an der Schulter und zog ihn einige Schritte zurück.

»Die Sonde«, sagte er zu Andresen.

Er wählte einen so gelassenen und jovialen Tonfall, wie es ihm möglich war. Im Grunde, besagte sein Lächeln, kam es darauf nicht an; es konnte zumindest warten. Er nahm sich vor, seinem Chefwissenschaftler später einen Verweis zu erteilen. Natürlich teilte er seine Neugierde; aber sie so zur Schau zu stellen, war wirklich schlechter Stil. Auf dem diplomatischen Parkett war so etwas vollkommen ungehörig. Er blinzelte Andresen zu und gab ihm damit zu verstehen, dass er die Sache vorderhand auf sich beruhen lassen sollte.

»Ich weiß von keiner Sonde«, knurrte der General, dessen Geduldsfaden jeden Augenblick mit einem ohrenbetäubenden Knall mitten durchreißen musste.

Wiszewsky hatte sich mit aufgesetztem, von Sekunde zu Sekunde angestrengter werdendem Lächeln abwenden wollen. Jetzt fror er mitten in der Bewegung ein.

»Die Warpraumsonde«, hakte er fragend nach. »Ein umgebautes Lambda-Fabrikat.«

Andresen schüttelte den Kopf. Er ließ sich von seinem Chefadjutanten ein MasterBoard reichen, das er anschaltete, um endlich die anstehenden Entscheidungen diskutieren zu können.

Wiszewsky war blass geworden. Er packte den General an beiden Schultern und nötigte ihn, ihn direkt anzusehen. Andresen kniff die blauen Augen zusammen und fixierte den Commodore wie einen Eisbären, der eben die Pranke hob, der aber nicht mehr dazu kommen würde, den Schlag auch auszuführen.

»Die Sonde«, brüllte Wiszewsky urplötzlich los. »Die wir zur Erde geschickt haben, um Unterstützung anzufordern!«

Sein Blick ging verzweifelt zur großen Panoramafront hinaus, wo die Expeditionsflotte in ihrem Parkraum rangierte. Torpedoschiffe, Tankschiffe, Transporter, Kampfbomber und Jäger, gruppiert um ein schweres Schlachtschiff, dessen Kommandant zwei Schritte vor ihm stand.

»Ich sagte doch bereits«, zischte Andresen mit einer allerletzten Aufbietung von Willenskraft, »dass wir hier sind, weil General Norton nach seiner Rückkehr zur Erde den Oberbefehl erlangte. Er gab der Flotte die Positionsdaten, mittels deren wir Ihr Schiff fanden.«

Wiszewsky war mittlerweile aschfahl. »Keine Sonde?«, winselte er.

Er sah sich hilfesuchend nach Svetlana um. Sie beeilte sich, seine Hand zu ergreifen und ihn zu stützten. Gleichzeitig machte sie den Adjutanten ein Zeichen, einen GraviSessel herbeizubringen. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um den Commodore die Sitzgelegenheit unterzuschieben, als er nach hinten wegsackte. Svetlana kümmerte sich um ihn.

General Andresen tippte auf seinem HoloBoard herum. Mehrere Minuten war er nicht gewillt, den Zusammenbruch des Commodore zur Kenntnis zu nehmen. Die Temperatur auf der Brücke war um einige Dutzend Kelvin gefallen. Die Stabsoffiziere der MARQUIS DE LAPLACE sahen betreten vor sich hin, während immer größerer Unwillen die Gesichter der Männer der EREBUS furchte. Hatten sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um einer Horde von Halbverrückten zuhilfe zu kommen? Für einen Moment sah es so aus, als würden die beiden Lager aufeinander losgehen.

Wiszewsky hatte die Hand über die Augen gelegt und wimmerte vor sich hin. »Das kann nicht sein«, stöhnte er immer wieder. »Irgendwo ist ein fataler Fehler.«

Andresen atmete schwer durch. Schließlich ließ er das Board sinken. »Was hat es denn mit dieser Sonde auf sich?«, fragte er höflich. »Lassen Sie uns in Gottes Namen diese Frage klären, wenn sie für Sie von solcher Wichtigkeit ist.«

Wiszewsky ächzte nur. »Von überragender Wichtigkeit«, war alles, was er hervorbrachte.

Svetlana warf Frankel einen hilfesuchenden Blick zu. Der kommissarische Chef beider Stäbe hatte sich in den Hintergrund zurückgezogen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wodurch die albernen Orden und Abzeichen zum Teil zerdrückt wurden, und machte die Miene eines Mannes, der zum wiederholten Mal vom Schicksal übervorteilt wurde. Zu oft schon hatte man ihm den verdienten Erfolg in letzter Minute vor der Nase weggeschnappt. Er war es leid, immer wieder übertölpelt zu werden. Diesmal würde er für seine Rechte kämpfen und sich die Position erstreiten, die ihm seit langem zustand. Allerdings war seine Stunde noch nicht gekommen. Er musste seinen Auftritt wohl kalkulieren.

In seinem Sessel, dessen GraviPander schmatzten und quietschten, straffte Commodore Wiszewsky den Rücken. Er warf Andresen einen leidgeprüften Blick zu. Dann stützte er den Kopf in beide Hände. Anfangs sprach er fast unhörbar leise, vor sich hinmurmelnd, sodass alle Anwesenden sich näher zu ihm hinschieben und den Atem anhalten mussten, um ihn vernehmen zu können.

»Seit wir hier draußen gestrandet waren«, begann er, »stellte das unser größtes Problem dar. Monate und Jahre arbeiteten wir an Warpraumsonden von unbegrenzter Reichweite, um mit der Erde in Kontakt treten zu können. Wir setzten eigene Teams aus und gründeten neue Kolonien, die ausschließlich diesem Ziel gewidmet waren. Aber auch an Bord dieses Schiffes gingen die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen weiter. Federführend war zuletzt Dr. Frankel.«

Er machte eine Geste über die Schulter hinweg zu seinem leitenden Planetologen. Frankel starrte düster vor sich hin und regte sich nicht, als er angesprochen wurde.

»Schließlich«, fuhr Wiszewsky fort, »wurde mir gemeldet, dass der Durchbruch da war. Damit war uns endlich ein Instrument in die Hand gegeben, wieder Verbindung zur Erde wie auch zu den neu gegründeten Kolonien im Eschata-Nebel aufnehmen zu können. Ich wusste, dass der Schritt riskant war. Aber einige Tests überzeugten mich von der Verlässlichkeit der Technologie. Ich wartete noch mehrere Monate ab. Als aber weiterhin von außen kein Lebenszeichen an uns herandrang, entschloss ich mich zu dem Wagnis.«

Svetlana nickte stumm. Sie entsann sich noch der schweren, schlaflosen, von kreisenden Debatten erfüllten Nächte, die Wiszewsky sich mit ihr und seinen engsten Beratern um die Ohren geschlagen hatte.

Der Commodore hob den Blick und suchte Andresen, der ihm mit wachsender Betroffenheit zugehört hatte.

»Wir bestückten eine Sonde mit einem Chip, der sämtliche Positionsdaten der MARQUIS DE LAPLACE und der neuen Kolonien enthielt. Außerdem war die KI-Einheit auf die Nachricht programmiert, dass wir militärische Verstärkung anforderten, zum Schutz dieses Schiffes und zur Sicherung der Kolonien.«

Wiszewsky schluckte. Auch unter seinen Adjutanten machte sich zunehmende Unruhe und Bestürzung breit. Die wenigstens von ihnen waren in den Vorgang eingeweiht gewesen.

»Es ist keine Woche her«, schloss der Kommandant, »dass wir die Sonde abfeuerten. Wir rechneten weder damit, dass so schnell reagiert werden würde, noch hätten wir uns im Traum ausgemalt, dass unserer Bitte in so überwältigender Weise entsprochen werde. Leider ...« Seine Stimme erstarb in einem erstickten Schluchzen.

Andresen schien nicht mehr zu atmen. Seine ganze gedrungene Gestalt war nur noch ein Standbild furchtbaren Ernstes. Noch ehe Wiszewsky geendet hatte, hatte er die Konsequenzen des Gesagten durchgerechnet. Sie waren katastrophal.

»Diese Sonde ist niemals im erdnahen Raum eingetroffen«, sagte er.

Für mehrere Sekunden war es totenstill auf der Brücke.

»Oh, mein Gott«, war der Commodore schließlich zu hören, der sich stöhnend in seinem Sessel wand.

Die beiden Stäbe, die einander feindselig gegenübergestanden hatten, waren jetzt in bleichem Schrecken vereint.

»Lassen Sie uns das rational betrachten«, sagte Andresen rasch. »Soweit ich sehe, gibt es nur zwei Möglichkeiten, die die Tatsachen logisch erklären.«

Zwei Dutzend Augenpaare wandten sich ihm zu. Aber, das stand in den Mienen aller Anwesenden, was immer er sagen würde, es würde nichts gutes verheißen.

»Entweder die Sonde hat nicht funktioniert«, verkündete der General. »Sie ist vom Kurs abgekommen, in einen Stern gerast, der Generator ist krepiert.«

Er kam nicht dazu, diesen Teil seiner Überlegungen weiter auszuführen. Wie ein gereizter Kettenhund sprang Frankel auf ihn zu.

»Das ist vollkommen ausgeschlossen«, kläffte er. »Wir haben die Berechnungen hunderte Male wiederholt. Alle Tests waren erfolgreich. Wir haben sogar die Warpsignaturen, die wir nach dem Vorbeiflug des Geisterschiffs messen konnten, in die mathematischen Tools einfließen lassen!«

Andresen vernichtete den Wissenschaftler mit tödlichen Blicken. »Was für ein Geisterschiff!?«, stieß er hervor. Dieser Mann war wahnsinnig, soviel stand endgültig fest.

»Das müssen Sie nicht verstehen«, konterte Frankel in ätzender Arroganz. »Wichtig ist nur: die Sonde hat funktioniert. Dafür lege ich beide Hände ins Feuer!«

Er sah den General triumphierend an. Andresen ließ den Blick voller Ekel über seine hagere Gestalt in dem wehenden weißen Kittel gleiten. »Dann besorgen Sie sich schon mal zwei Prothesen«, sagte er kalt.

Er schob den Wissenschaftler einfach beiseite und wandte sich wieder direkt an den Commodore.

»Wenn dem so ist«, führte er weiter aus, »dann gibt es nur eine weitere Möglichkeit: die Sonde wurde abgefangen.«

Wiszewsky nickte traurig. Andresen sah sich zu seinen Männern um, die grimmig die Köpfe wiegten.

»Und es gibt nur eine Macht in der Galaxis, die dazu fähig wäre ...«

Dr. Frankel zog sich, vor Wut am ganzen Körper zitternd, zurück. Svetlana streichelte ihm im Vorbeigehen den Arm. Wiszewsky erhob sich. Zwei Adjutanten, die herbeikamen, um ihn zu stützen, schickte er fort. Er ging auf Andresen zu und sah dem General direkt in die wasserklaren Augen. Der Kommandant der EREBUS erwiderte den festen Blick.

»Dann verfügen sie jetzt über unsere Koordinaten«, stellte der Commodore fest. »Und sie haben sämtliche Positionsdaten unserer Kolonien in der Eschata-Region.«

Andresen hielt seinem Blick ausdauernd stand. »Ich fürchte, so ist es, Sir«, sagte er.

Wiszewsky nickte. Er stieß die Luft aus, als presse ein tonnenschweres Gewicht seinen schmerzenden Brustkorb zusammen.

»Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht«, stöhnte er. »Werden Sie mir helfen, ihn wieder auszubügeln?«

Andresen knallte die Hacken zusammen und legte die Handkante an die Stirn. »Selbstverständlich, Sir«, sagte er. »Und es wird uns eine Ehre sein.«

»Auch, wenn es Ihr Leben kostet?«, fragte Wiszewsky.

»Dazu sind wir da«, antwortete Andresen trocken.

Zwei Stäbe standen Spalier, als Wiszewsky quer über die Brücke zum Hauptbedienplatz ging. Er hatte das Kreuz durchgedrückt und sich hoch aufgerichtet. Der weinende Greise, der eben noch kurz vor dem Zusammenbruch gestanden hatte, gehörte der Vergangenheit an. Mit festen Schritten marschierte er zum Gefechtsstand der MARQUIS DE LAPLACE. Als er dort angekommen war, drehte er sich um und ließ die Blicke noch einmal über alle Anwesenden streifen. Dann gab er Alarm.

Schlacht um Sina

Подняться наверх