Читать книгу Persephone - Matthias Falke - Страница 3

Kapitel 1. Der Test

Оглавление

Das orbitale Forschungslabor ERIS bewegte sich schweigend auf seiner annähernd kreisförmigen Umlaufbahn um den zweiten Planeten. Die fliegende Wissenschaftsplattform bot zwanzig Personen Platz. Sie war mit dem Modernsten ausgerüstet, was den Planetologen der Union derzeit zur Verfügung stand. In ihren Einrichtungen steckten Milliarden an Entwicklungskosten. Die meisten ihrer virtuellen, interaktiven, vollintegrierten und von KIs der dritten Generation gesteuerten Anlagen waren noch geheim. Sie würden, wenn überhaupt, erst in vielen Jahren für den öffentlichen Markt freigegeben werden.

Die Aufgabe von ERIS war es, den Planeten zu erforschen, der sich träge unter ihr drehte und dem die Scherzkekse von der Wissenschaftlichen Abteilung den Namen Orkus gegeben hatten. Der eigentliche Zweck der Mission war es jedoch, das High Tech-Labor selbst und seine hochgezüchtete, kostspielige Ausstattung zu testen.

Aktuell war die Station nur mit sieben Wissenschaftlern besetzt. Die Lebenserhaltungssysteme waren für zwölf Monate autark. Seit dem letzten Versorgungsflug waren erst wenige Wochen vergangen. Ein Frachter der TERMIT-Klasse hatte Wasser, Sauerstoff, frische Lebensmittel sowie Synthetisatorsubstanz gebracht. Außerdem persönliche Gegenstände, Wechselwäsche, zwei Forschungsmodule des Typs AIGIS, Plasma für die beiden Shuttles der ERIS und ein Containment, das auf der Nutzlastkapsel einer Lambda-Ionensonde basierte und das auf der höchsten Geheimhaltungsebene eingestuft war: Nur für den Kommandanten.

Wie alle kleineren Sprungschiffe der Frühzeit der interstellaren Exploration wiesen auch die TERMIT-Frachter ein groteskes Missverhältnis zwischen Nutzlast und Ruhemasse auf. Der noch wenig erprobte Flug im Überlichtbereich machte es nötig, den Schiffen zu einer gewissen Trägheit zu verhelfen. Einheiten, die kleiner als eine Million Tonnen waren, konnten bis jetzt nicht zuverlässig genug navigieren. Unbemannte Versuchseinheiten waren viele Millionen Kilometer abseits der vorherberechneten Koordinaten aus den Transportkorridoren gekommen, was für den regulären Betrieb unzumutbare Risiken barg. Ein Schiff konnte sich im Inneren eines Mondes materialisieren oder zu tief im Gravitationstrichter eines Planeten, den es eigentlich ansteuern sollte. Die Forschungen steckten fest. Die superrelativistische Physik des Überlichtfluges ließ sich mathematisch schlechter in den Griff bekommen, als die Chefentwickler der Union und der konkurrierenden Vereinigungen bislang erklären konnten.

Solange leichtere und zielgenauere Schiffe nicht zur Verfügung standen, behalf man sich mit zweierlei. Zum einen mussten die Einheiten zuerst bei Unterlichtflug das innere System verlassen und den relativ freien Raum der äußeren Planeten gewinnen, um zu springen. Dort betrugen die Distanzen zwischen den Massen viele Milliarden Kilometer oder mehrere Lichtstunden, was jenseits der kritischen Toleranzen der Aggregate lag und eine entsprechende Sicherheit gewährleistete. Erkauft wurde das mit einem manchmal mehrwöchigen Flug der schweren Einheiten bei Unterlichtflug, was zu nicht unerheblichen Zeitverlusten führte. Zum anderen schleppten die Schiffe dieser Generation gewaltigen Ballast mit sich herum, um ihren Flug zu stabilisieren. Da es dichte Masse sein musste und nicht Fracht sein konnte, die nicht in der gleichen Weise berechenbar war, ergab sich die für Ökonomen schwer zu ertragende Unwucht von bis zu einer Million Tonnen Ballast bei einer Nutzlast von gerade hunderttausend Tonnen. Das verschlang Treibstoff und, während der Beschleunigungsphase, Zeit. War im Augenblick aber technologisch nicht anders darzustellen. Die Schiffe – und das Prinzip galt für nahezu alle derzeit in Dienst stehenden Typen – ähnelten so den aufgedunsenen Königinnen der Termiten, Ameisen und anderen staatenbildenden Insekten. Der winzige Kopf und Vorderkörper wurde fast erdrückt und in den Schatten gestellt von dem bizarr aufgeblähten Unterleib. Statt Eier zu produzieren und den Erhalt der Population sicherzustellen, befanden sich in den zwei Dritteln der Gesamtlänge einnehmenden Hecksektionen der TERMIT-Frachter jedoch riesige Barren aus unverhüttetem Erz, das man der Einfachheit halber aus Asteroiden gebrochen hatte.

Die beiden Notfallshuttles der ANT-Klasse, die an der ERIS angedockt waren, folgten vom Grundsatz her dem gleichen Bauplan. Da sie jedoch keine Fracht zu bewegen hatten, sondern nur der Besatzung der Station eine Fluchtmöglichkeit bieten sollten, waren die bewohnbaren Module inklusive Normalraum-Antriebssektion um den Faktor sechs kleiner als die der Transporter. Das Prinzip war jedoch dasselbe: der winzigen Wohnkapsel war ein kolossaler Rumpf angehängt, der außer dem Überlichtantrieb nichts als sonst nutzlose Materie enthielt. Da Kommunikation schneller als Licht in dieser bedauernswerten Frühzeit der Erkundung der Galaxis ebenfalls noch nicht möglich war, konnte sich die Crew eines abgelegenen Außenpostens wie ERIS nicht darauf verlassen, in einer Notfallsituation einen Hilferuf absetzen zu können und daraufhin gerettet zu werden. Sie musste sich selbst helfen und die Station verlassen. Da man, wie der Stationsleiter, Dr. Rogers, zu sagen pflegte, von allem Wichtigen immer zwei Exemplare zur Verfügung haben soll, waren es zwei ANT-Module, die an den entgegengesetzten Seiten der Orbitalstation festgemacht hatten. Dabei: Was sollte denn passieren?

Die Straße folgte dem Geruch des nahen Meeres und schmiegte sich, als der Ozean in Sicht kam, dem Verlauf der Küste an. Rechterhand flimmerte die subtropische Pracht des Golfs, als die Fahrbahn nach Osten einbog. Sie verlief während der ganzen Zeit auf Stelzen, die so hoch wie fünfstöckige Bauwerke waren. Das erlaubte dem Passagier, der an die Automatik übergeben hatte, den Blick auf die sandgefüllten Buchten und palmenbestandenen Strände zu genießen. Es war Nachmittag. Die Sonne stand im Südwesten und schlug aus der unbewegten Fläche des Meeres einen platinfarbenen Glanz heraus. Villen und Feriensiedlungen zogen auf der Landseite dahin, Golfplätze und Appartementanlagen. Dann stakte die Fahrbahn wieder wie auf Zehenspitzen über Urwald und Mangroven, in denen sich seit den Zeiten der ersten europäischen Entdecker nichts geändert hatte.

Das Ziel lag etwas außerhalb von Pensacola. Dabei waren die Grenzen zwischen Weichbild und Umland fließend. Pensacola, Hauptsitz der Union, zu dem auch deren Verwaltung, die Akademie und der mit Abstand größte Raumhafen des Planeten gehörten, fraß sich wie ein Krebsgeschwür ins Hinterland. Aus dem Orbit oder aus der Luft betrachtet, präsentierte es sich als grauer Tumor, dessen Metastasen mehrere Fahrstunden weit in die Umgebung ausgriffen. Werften, Forschungseinrichtungen, Bürokomplexe, wissenschaftliche Institute, Wohnraum und Freizeitanlagen für mehrere zehntausend Menschen. Pensacola war die Union, und die Union war inzwischen eine der größten Institutionen der Welt, auch wenn ihr Werbeslogan, demzufolge sie die Galaxis beherrschte, dem einen oder anderen übertrieben und, was schlimmer war, geschmacklos erscheinen mochte.

Das üppige Klima und die robuste Vegetation, die im Handumdrehen noch aus jeder Brachfläche aufschoss, verhinderten, dass das ganze so hässlich und deprimierend war, wie es vielleicht in höheren Breiten geworden wäre. Auch legten die Architekten und Landschaftsplaner wert darauf, immer wieder Grünflächen, Gärten und botanische Oasen zwischen den Verwaltungstrakten, Hangars und Laborgebäuden einzuschalten. Pensacola als Ganzes glich so einem Campus, beinahe einer Sommeruniversität. Es war abgasfrei, erfüllte problemlos alle Forderungen der Rassen- und Geschlechtermischung, der ethnischen Vielfalt und der religiösen Toleranz. Über dem Pensacola der Werbevideos schien permanent die Sonne. Alle Menschen trugen weiß. Und alle lachten. Das empirische Pensacola kam dem erstaunlich nahe, was das eigentliche Unionsgelände anging. Aber es gab auch Schattenseiten. Pensacola Stadt etwa, das sich westlich der genannten Einrichtungen am Golf dahinzog, wies Ansichten auf, die kaum von einem Slum zu unterscheiden waren, als wolle es vehement leugnen, dass man sich noch in Nordamerika befinde. Die hier vorherrschende Ethnie waren Latinos, die auf den Straßen gesprochene Sprache war ein karibisch getöntes Spanisch. Hier wucherten Prostitution, Drogenmissbrauch, organisierte Kriminalität. Die statistischen Werte für Einkommen, Bildung oder etwa Kindersterblichkeit unterschieden sich nicht von jenen auf der Südhälfte des Kontinents oder in Afrika. Der Union war das schmuddelige Ambiente ihres Hinterhofs einigermaßen peinlich. Aber bis jetzt waren alle Anstrengungen, die Übel zu beseitigen, gescheitert. Einstweilen fand man sich damit ab, sie zu ignorieren.

Der Scooter zeigte an, dass er die Küstenstraße an der nächsten Ausfahrt verlassen werde. Aus einer Laune heraus übernahm Laertes die Steuerung manuell. Er folgte den Anweisungen der Automatik und bog in eine kleinere Straße ein. Die sichelförmige Bucht in der Tiefe bildete an ihrem östlichen Abschluss eine Halbinsel, die auf einer hohen Felsklippe thronte. Die Interstate verlief hier weiter landeinwärts, da sie die Halbinsel abschnitt. Die Nebenstraße, der er nun folgte, ließ sich jedoch auf das Abenteuer eines Abstechers zu diesem idyllischen Dead End ein.

Laertes drosselte das Tempo, um sich besser ein Bild machen zu können. Er bestaunte schmucke Villen und geräumige Privatgrundstücke. Daneben fiel ihm auf, dass dieser herrliche Flecken Erde bevorzugt zur Ansiedlung von Altenstiften, Pflegeheimen, Seniorenkliniken und Rehazentren genutzt wurde. Er lächelte in sich hinein und konzentrierte sich dann wieder auf sein Fahrzeug. Das Display zeigte an, dass er so gut wie da war. Dann hielt der Scooter auch schon vor einem schlichten Einfamilienhaus, das schön zum Meer hin gelegen war, auf drei Seiten von Rasen und Blumenbeeten umgeben. Er stieg aus und ging zum Tor. Noch ehe er sich bemerkbar machen konnte, wurde ihm geöffnet.

Eine attraktive Frau von noch nicht vierzig Jahren kam ihm entgegen.

»Sie müssen Laertes sein!«

Sie trug nur eine kurze Leinenhose und eine helle Bluse. Ihre Arme und Beine waren braungebrannt. Die modische Kurzhaarfrisur verstärkte noch den jugendlichen Eindruck, der von ihr ausging.

»Und Sie Beth.« Laertes reichte ihr die Hand, die sie mit festem Griff packte und schüttelte. Er vermutete, dass sie eine gute Tennisspielerin war.

»Franklin ist im Garten«, sagte sie, als er an ihr vorbeiging. Dann setzte sie noch hinzu: »Ich denke, wir können Du sagen.«

»Ja, natürlich.«

Beth führte ihn um das Haus herum. Es waren Blumenrabatten und Gemüsebeete zu unterscheiden, Spalierobst und ein kleiner Rosengarten. Das war Beths Domäne, so viel sah man auf den ersten Blick. Ihre nackten Füße waren voller Erde, und sie hielt eine Gartenschere in der Linken.

»Franklin ist bei der Kleinen.« Beth deutete auf die Wiese hinaus, die sich hinter dem Haus öffnete und meerwärts bis zum Ende des großzügigen Grundstücks verlief. »Er kann nicht von ihr lassen.«

Laertes war unwillkürlich hinter ihr zurückgeblieben, deren burschikose Art ihn einschüchterte. Über einige Hecken und Beete hinweg sah er seinen ehemaligen Kameraden in einem Gartenstuhl sitzen. Ein etwa dreijähriges Mädchen kletterte auf ihm herum.

»Geh ruhig«, ermunterte ihn Beth. »Ich wasche mir die Hände und sehe mal in der Küche, was ich für euch tun kann. Trinkst du einen Kaffee, Laertes?«

»Ja, gern.« Er hörte sich selber sprechen, während er das Bild betrachtete, dessen Harmlosigkeit etwas mit ihm machte, für das er noch keinen Begriff gefunden hatte.

Beth verschwand im Haus. Er ging um die Hecke aus Kotoneaster herum. Auf der Wiese war ein einfacher Plastiktisch gedeckt.

Ash reichte ihm sitzend die Hand.

»Entschuldige«, sagte er grinsend mit Blick auf das Mädchen, das wie ein Äffchen an seiner Brust und Schulter herumturnte.

»Kein Problem.« Laertes strengte sich an, das unbefangene Lächeln zu erwidern. Er sah zu, wie Ash die Kleine mit sanfter Gewalt von sich löste und sie dann wieder richtig herum auf seinen Schoß setzte. Das Mädchen war ausgesprochen hübsch. Ihr braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gefasst. Die dunklen, temperamentvollen Augen hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Und wie Beth war auch sie sonnengebräunt. Jeder Zoll ihres energiegeladenen Wesens strahlte Unternehmungslust und einen nicht zu bändigenden Willen aus.

»Darf ich vorstellen«, sagte Franklin B. Ash, der seinen Vaterstolz kaum noch bemeistern konnte. »Jenny, unsere Jüngste.«

»Hallo Jenny«, sagte Laertes unbeholfen.

»Jenny, Liebes, gib Onkel Laertes die Hand.«

Die Kleine streckte ihm ihre Rechte entgegen und gleichzeitig die Zunge heraus. Laertes lachte und schüttelte das kleine Händchen, das von irgendwelchen Süßigkeiten klebrig war. Dann schaute er seinen Freund aus den Tagen des Jungfernfluges an.

»Wieso die Jüngste?«

»Wie sieht es aus?« Dr. Randolph Valerian Rogers trat an den Hauptbedienplatz der Orbitalstation.

»Alles bereit zum finalen Test«, erklärte sein Stellvertreter, Seten Brini.

»Dann bin ich mal gespannt.« Rogers sah über das holographische Pult hinweg. Einige hundert Kilometer unter ihnen dehnten sich die sandfarbenen Ebenen des Planeten. Dünne Wolkenschatten wanderten über die Salzseen und die kargen Gebirge. Es war eine trostlose Welt, auch wenn der Name Orkus ein bisschen melodramatisch für die ereignisarmen Basaltwüsten und kontinentgroßen Schotterflächen anmutete. Ein Planet, so groß und einladend wie der Mars. Nicht ungeeignet fürs Terraforming, auch wenn er dafür offiziell noch nicht freigegeben war.

»Gehen wir’s an.« Dr. Rogers hatte noch einen Moment innegehalten, als habe er einen letzten Zweifel niederzukämpfen. Seine Mitarbeiter, mit dem Exogeologen Brini an der Spitze, kannten ihn allerdings gut genug, um zu wissen, dass er keine Zweifel und keine Vorbehalte kannte. Eher war es ein Augenblick der Besinnung, wie man ihn einem Hochgenuss vorausgehen lässt. Noch einmal die Augen schließen und tief durchatmen, ehe man den ersten Schluck Champagner trinkt oder an der Qatlette zieht.

»Go!« Rogers zwinkerte seinem Assistenten munter zu.

Brini aktivierte ein seit mehrere Minuten rot pulsendes Sensorfeld in der Mitte der virtuellen Konsole. Umfangreiche Aktivitäten tief im Inneren des fliegenden Labors liefen an, viele Decks unter ihnen und natürlich vollautomatisch. Ein Projektil wurde ausgestoßen. Durch Korrekturdüsen verringerte es seine Orbitalgeschwindigkeit, woraufhin es hinter der Station zurückzubleiben und nach unten zu driften begann. Als ein gewisser Sicherheitsabstand erreicht war, zündete das Projektil ein konventionelles Triebwerk, das auf der bewährten Lambda-Reihe basierte. Es schoss senkrecht nach unten, wobei es hart beschleunigte und bei Atmosphäreneintritt einen magnesiumfarbenen Schweif aus Plasma ausbildete.

»Alle Systeme arbeiten einwandfrei«, kommentierte Seten Brini, was auf den Anzeigen zu sehen war.

Die übrigen Mitarbeiter bildeten eine Traube um die beiden Chefwissenschaftler. Einige hatten sich auch an anderen Konsolen postiert, um den Vorgang von dort aus zu verfolgen. Eingreifen musste oder konnte jetzt niemand mehr. Die Dinge gingen ihren Lauf, der Millionen Male durchgerechnet, aber noch nie unter Echtbedingungen und in realem Maßstab ausprobiert worden war.

»Zehn Sekunden bis zum Impact«, sagte Brini.

Der senkrechte Strich der schwarzen Rauchfahne, die als leere Hülle zurückblieb, stand dürr am südwestlichen Horizont und wurde von der Eigendrehung des Planeten und der Orbitalbewegung der Station rasch in die Unsichtbarkeit entrückt.

Mit bloßen Augen war jetzt nichts mehr zu erkennen. Aber ERIS hatte in den letzten Wochen ein vollintegriertes Satellitennetz über Orkus installiert, so dass der Kontakt zu dem Projektil sichergestellt war. Zahllose Sensoren waren auf den übermannshohen Konus gerichtet, der sich jetzt mit mehrfacher Überschallgeschwindigkeit der staubigen Oberfläche des Planeten näherte, von optischen Kameras bis zu Röntgensonaren, von Mikrowellenempfängern bis hin zu Gravitonendosimetern.

Die letzten Sekunden. Dann zeigte das nachgeführte Bild, wie das Projektil sich senkrecht in die Kruste bohrte.

»Impact«, sagte Seten Brini.

Auf sämtlichen Schirmen entfaltete sich ein Feuerwerk an Daten. Gewaltige Massen an Informationen brandeten auf die Station ein und wurden von ihren Systemen aufbereitet. Die Besatzung würde Wochen damit zu tun haben, den Anfall an Messergebnissen zu interpretieren. Im Augenblick gab es nur eine Frage.

»Hat es geklappt?« Dr. Rogers beugte sich, als sei er kurzsichtig, über die Konsole. Das optische Bild zeigte eine Staubsäule, die sich langsam und majestätisch über der Einschlagstelle in die Luft erhob. Da jeder Größenvergleich fehlte, waren ihre Dimensionen zunächst nicht festzustellen. Sie musste aber mehrere hundert Meter hoch sein. Ihre Form war die einer schlanken Fontäne.

Mit einigen Sekunden Verzögerung brach nun das eigentliche Inferno über ERIS herein. Die meisten Daten kamen von den Satelliten, was eine gewisse Pufferung mit sich brachte. Eine hochauflösende 3D-Konsole etablierte sich unaufgefordert. Sie zeigte die Totale des Planeten, die nun durchscheinend wurde und den komplizierten Schalenbau im Inneren der Welt offenbarte.

»Bingo.« Brini nickte seinem Vorgesetzten zu. Er strahlte über beide Ohren. »Sieht so aus, als hätten wir einen Volltreffer gelandet.«

»Ins Schwarze!« Auch Rogers wirkte zufrieden.

Sie verfolgten noch eine Weile, wie der Tsunami der hereinkommenden Daten von den hochentwickelten KIs der Bordsysteme gebändigt wurde. Dann reichten sie einander feierlich die Hand.

»Ich denke, das war ein voller Erfolg«, sagte Rogers.

»Das sehe ich ganz genauso.« Brini wusste kaum noch, wohin mit sich. Er trat von einem Bein auf das andere und wollte sich von Rogers losmachen, der immer noch seine Rechte festhielt.

»Immer langsam.« Der Stationsleiter schien amüsiert. »Was haben Sie denn vor?«

»Ich würde sagen, wir haben etwas zu feiern.«

In der Crew machte ein vorfreudiges Raunen die Runde.

»Auf die Gefahr, Sie zu enttäuschen«, sagte Dr. Rogers, der Brinis Hand jetzt endlich losließ und sich an die gesamte Besatzung des Orbitallabors wandte. »Aber ich fürchte, die eigentliche Arbeit fängt erst an!«

»Nimm doch noch ein Stück Kuchen.« Beth reichte Laertes die Platte, und er nahm sich ein weiteres Stück des frischen Erdbeerkuchens.

»Selbst gebacken?«, fragte er höflich.

»Natürlich«, sagte Ash anstelle seiner Frau. »Beth ist eine hervorragende Hausfrau.«

Er betonte das Wort und sah seinen ehemaligen Kameraden dabei lauernd an.

»Was?« Laertes kaute mit vollen Backen. Auch Kaffee, wie Beth ihm mit einer Geste anbot, ließ er sich noch einmal einschenken.

»Ich weiß genau, was du jetzt denkst!« Ash hatte den jovialen Freizeitton drauf.

»Ich habe kein Wort gesagt.«

Ash wartete, bis Beth aufstand und ins Haus ging, um frischen Kaffee und Limonade zu holen. Auch letztere schmeckte hervorragend! Selbstgemachte Zitronenlimonade!

»Du denkst, da hat er sich aber eine ins Bett geholt«, fuhr Ash dann fort. »Eine die Kuchen backt und Blumen gießt und ihm süße Kinderchen schenkt.«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt oder gedacht.« Laertes hatte den Mund leer und konnte sich endlich verteidigen. Er sah Jenny zu, die in einem kleinen Sandkasten spielte. Dann schaute er seinem Freund ins Gesicht. »Niemals würde ich in solchen – Kategorien denken! Ich glaube, Beth ist eine ganz patente Frau, die ...«

»Sie hat einen Master in Triebwerkstechnik und arbeitet im Forschungszentrum in Pensacola!« Ashs Triumph klang ein wenig angestrengt. Laertes fragte sich, ob die rhetorische Vorbereitung nötig gewesen wäre.

»Schön«, sagte er nur.

Beth kam mit einer weiteren Kanne Kaffee und einer Karaffe voll Limonade zurück.

»Stell dir vor«, rief Ash ihr empört entgegen, als sie die Treppe von der Terrasse herunterkam und über die Wiese ging. »Mein Freund hier hat den Verdacht geäußert, du seist ein Hausmütterchen ohne Bildung, das nur kochen und backen kann.«

»Das stimmt doch überhaupt nicht!« Laertes sprang auf, um Beth das schwere Tablett abzunehmen. Dabei bemerkte er das breite Grinsen, das seine Gastgeber wechselten. Offenkundig war das ganze ein Spiel, das sie öfter mit ihren Gästen spielten. Ein festes Ritual.

»Blödmann!« Er boxte Ash im Vorbeigehen in die Schulter und setzte sich dann wieder auf seinen Platz.

Jenny kam von ihrem Sandkasten gelaufen und verpasste ihrem Vater ebenfalls einen Fausthieb auf den Oberarm. Ash krümmte sich in vorgetäuschtem Schmerz. Dann packte er die Kleine, um sie durchzukitzeln. Laertes sah ihnen versonnen dabei zu. Er wartete, bis auch Beth ihren bequemen Stuhl wieder eingenommen hatte.

»Du arbeitest für die Union?«, fragte er dann.

»Wir alle sind die Union«, lachte sie.

»Ja, das stimmt.« Er trank einen Schluck Limonade. »Alle eine große Familie.«

Ash attackierte seine Tochter mit Kitzelangriffen. Die Kleine kreischte vor Vergnügen. Genau so plötzlich, wie sie gekommen war, wurde sie der Sache dann wieder überdrüssig. Sie machte sich von ihm los und kehrte in ihre Spielecke zurück.

»Aber das müsst ihr mir trotzdem noch einmal erklären«, sagte Laertes, als die Erwachsenen wieder unter sich waren. »Wieso ist sie die Jüngste? Und wie geht das zu?«

Beth reichte ihrem Mann über den Tisch hinweg die Hand und drückte sie lange. Die beiden sahen einander mit einem warmen Lächeln an.

»Jenny ist unsere Kleine«, sagte Beth. »Donnan und Garth gehen auf die Schule. Und der Große ...«

Laertes hätte sich beinahe an seiner Limonade verschluckt.

»Ihr habt noch drei weitere Kinder?«, platzte er heraus. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Er funkelte Ash böse an.

»Wir wollten dich überraschen.« Der Beamte strahlte vor Begeisterung über seinen gelungenen Coup.

»Das ist euch gelungen.« Laertes sah von einem zum anderen. »Also! Ihr habt noch drei Söhne, und einer davon ist erwachsen, oder was?«

»Donnan und Garth sind Zwillinge.« Beth lehnte sich stolz in ihrem Gartenstuhl zurück. »Alwyn geht aufs College.«

»Aufs College.«

»Wenn du zum Abendessen bleibst, kannst du die beiden Mittleren kennen lernen«, sagte Beth. »Der Große hat gerade einen Lehrgang. Er kommt nur an den Wochenenden nach Hause.«

»Okay.« Laertes wirkte ein wenig konsterniert. Er schüttelte den Kopf, als Beth ihm noch ein Stück Kuchen auftun wollte. Stattdessen fixierte er Ash. »Bitte!«

»Von dem Programm Semen hast du also nie gehört?«, erkundigte sich Ash.

»Offenbar nicht, nein.«

»Ich muss sagen, das war ein außerordentlich feiner Service, den die Union uns da geboten hat.«

»Ein Service? Ich wusste nur, dass Du dich bei der speziell eingerichteten Kontaktbörse angemeldet hattest.«

»Ja genau. Aber das hier ist etwas anderes. Ein äußerst umfangreiches Programm«, fiel Beth ein. »Es ging ja nicht nur um das Material als solches, um das sich schon vor dem Abflug gekümmert werden musste, sondern auch um die ganze Organisation, die Logistik, die psychologische Betreuung, die finanzielle Ausstattung, all diese Dinge.«

»Es ist ein gewaltiger Apparat, der da im Hintergrund agiert«, sagte Ash. »Und offenbar arbeitet er so diskret, dass selbst Angehörige der Crew nichts mitbekommen haben.«

»Hat das etwas mit unserer MARQUIS DE LAPLACE zu tun?«, fragte Laertes.

»In gewisser Weise.« Ash schmunzelte. »Notgedrungen.«

»Verstehe.« Laertes schüttelte den Kopf. »Also wenn ich etwas derartiges mitbekommen hätte oder dazu eingeladen worden wäre, hätte ich sicher dankend abgelehnt.« Er dachte eine Weile nach. »Nichts gegen dich, Beth, aber das alles ist sehr – seltsam.«

»Was ist daran seltsam?«, fragte sie.

»Na, hör mal.« Da das Thema ihnen anscheinend überhaupt nicht peinlich war, ließ er sich auf den plaudernden Tonfall ein. Ihm wäre es unangenehm gewesen. Selbst so, als Unbeteiligter, musste er dagegen ankämpfen, sich zu genieren. Aber offenbar genossen es die beiden geradezu, darüber zu reden.

»Wie habt ihr das arrangiert?«, fragte er, um ihnen den Gefallen zu tun. »Ich meine, wie habt ihr euch überhaupt kennen gelernt? Ich vermute mal, du warst noch nicht geboren, als wir aufgebrochen sind. Oder warst du mit an Bord?«

»Nein, war ich nicht.« Beth lachte. »Ich kam zur Welt, als ihr längst auf dem Rückflug wart. Während ich aufwuchs, lagt ihr in Hibernation.«

»Und dann?«

»Ich interessierte mich für alles, was mit Raumfahrt zu tun hatte. Nach dem College bekam ich die Zulassung für die Akademie der Union in Pensacola. Ich schrieb mich in Triebwerkstechnik ein. Überlichtflug war das große Thema!«

»Und dann?« Laertes hielt es kaum noch auf seinem Sitz.

»Ich erfuhr von dem Programm. Man machte unter jungen Kommilitonen ziemlich Werbung dafür. Die MARQUIS DE LAPLACE würde in einigen Jahren von ihrem Flug, ihrem buchstäblichen Jahrhundertflug, zurückkehren. Ein großer Teil der Crew setzte sich aus Singles zusammen, die auf eine Welt ohne Angehörige treffen würden.«

»Eine Kontaktbörse!«

»Ja, auch. Aber noch sehr viel mehr.«

»Eine umfassende Unterstützung. Das Rundum-Sorglos-Paket zur Familiengründung.«

»Naja, sorglos.« Ash wirkte auf einmal nicht mehr so begeistert.

»Am Anfang brauchte es natürlich ein wenig.«

»Ich habe ziemlich lange gebraucht«, sagte Ash in Richtung seines Kameraden. »Bestimmt ein halbes Jahr. Du hast es ja selber mitgemacht. Man kommt hier an. Alles ist anders, einfach alles. Und da ist niemand mehr, den man kennt.«

»Ja, ich weiß.« Laertes wandte den Blick ab und atmete tief durch.

»Tut mir leid, Mann. Wir alle mussten da durch, auf die eine oder andere Weise.«

»Nur dass du« – Laertes schluckte. Dann zwang er sich, Beth in die dunklen Augen zu sehen, die jetzt ganz ernst waren. – »dass du am Gate von deiner Familie abgeholt wurdest?«

»Von meiner Frau und meinen drei Söhnen.« Ash strahlte. »Und als Beth vor vier Jahren mit Jenny schwanger war, waren wir auf Luna III, weil dort ein Symposium über die aktuelle Triebwerkstechnik stattfand.«

»Aber ihr kanntet euch doch vorher gar nicht!«

»Ich hatte ja sein Profil von der Kontaktbörse«, erzählte Beth unbefangen. »Was willst du. Er sieht gut aus. Er ist wohlhabend. Und er ist so lustig!«

»Ja, das ist er allerdings«, seufzte Laertes. Den Büro-Ash, dachte er, bekam sie ja vermutlich nie zu sehen.

»Oder findest du die Idee einer arrangierten Ehe per se anstößig?«

»Nein, auf keinen Fall.«

»Also doch.« Beth lächelte. Seine Antwort war ein bisschen zu schnell gekommen. »Das muss jeder für sich selbst entscheiden.«

»Ich würde es nie verurteilen«, sagte Laertes hilflos. »Aber für mich käme es eben nicht in Frage.«

»Keiner wird gezwungen.« Sie hob die sonnengebräunten Schultern. »Aber ich muss sagen, in diesem Fall war es schon eine feine Sache. Ihr hattet ja nun einiges hinter euch. Die Wiedereingliederung, um es im offiziellen Jargon zu sagen, würde so oder so schwierig werden. So war das Nest schon bereitet, in das die Heimkehrer sich fallen lassen konnten.« Sie betonte das Wort im Stil eines markigen Propagandavideos.

Laertes nickte geistesabwesend und kaute auf der Lippe.

»Natürlich mussten wir uns kennen lernen«, fuhr Beth fort. »Aber das hat eigentlich ganz gut geklappt. Als die MARQUIS DE LAPLACE sich dem Sonnensystem näherte und man wieder halbwegs normal kommunizieren konnte, haben wir angefangen, uns Videos zu schicken.«

»Da war«, Laertes überschlug ein paar Daten im Kopf, »da war der Große aber schon geboren.«

»Ja, Allie war schon da.«

»Und wenn ihr nun gemerkt hättet, dass es – nicht geht?«

Beth sah ihn nachdenklich an. »Wenn man sich zu einem solchen Schritt entschließt«, sagte sie ruhig, »dann ist man auch bereit, sich darauf einzulassen. Man rechnet nicht mit dem Blitz, mit der großen Liebe.«

»Man arrangiert sich.«

»Man lernt sich kennen. Man gibt einander Zeit. Man akzeptiert einander. Man lernt den Anderen lieben.«

»Wow.« Laertes lächelte schüchtern. »Das klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein.« Er sah prüfend von einem zum anderen. »Wie es aussieht, hat es bei euch ja geklappt.«

»Wir sind sehr zufrieden.«

Beths nüchterne Art imponierte ihm.

Sie schwiegen eine Weile. Jeder hing seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Laertes nippte ab und zu an der Zitronenlimonade, die herrlich erfrischend war. Beth stocherte in ihrem Kuchen, stellte den Teller dann aber weg. Ash sah zu der kleinen Jennifer hinüber, die in ihr Spiel vertieft war. Mit einem Modell eines Enthymesis-Explorers übte sie Starten und Landen in der Kraterlandschaft ihrer Sandkiste.

»Ihr hattet bestimmt viel Spaß auf eurem Trip«, sagte Beth schließlich, um das Schweigen zu brechen. »Franklin hat mir da so ein paar Anekdoten erzählt.«

»Spaß?« Laertes wirkte entgeistert.

»Du natürlich nicht.« Ash lachte amüsiert. An seine Frau gewandt, sagte er noch: »Er ist und bleibt ein Eigenbrötler.«

»Stimmt es«, fragte Beth, »dass du dich nur mit diesem Computer unterhalten hast, diesem Bordrechner?«

»Nicht nur, aber auch, ja.« Laertes grinste entschuldigend. »Das war mein Job.«

»Eine KI?«

»Madeleine.« Er nickte. »Sie war zur Zeit des Abflugs die am höchsten entwickelte Künstliche Intelligenz, die je geschaffen worden war. Während der Mission erlangte sie ein vollgültiges Bewusstsein. Das war im wesentlichen meine Aufgabe.«

»Respekt.« Beth schaute ihn anerkennend an.

»Er hat sie hervorgebracht«, rief Ash in dem Bemühen, sich in dem Genie seines Freundes zu sonnen. »Es ist, als wenn er einen Menschen geschaffen hätte!«

»Ja«, sagte Beth leise und mit mildem Spott. »Und es klingt, als sei er verliebt in sie. Madeleine?«

Laertes beschrieb nur eine ausweichende Geste.

»Was ist eigentlich aus ihr geworden?«, erkundigte sich Ash. »Nach allem, was ich mitbekommen habe, wurde unsere MARQUIS DE LAPLACE komplett umgerüstet. Da wurden doch sicher auch neue Systeme aufgespielt.«

»Die Software wurde komplett ausgetauscht«, sagte Laertes. »Das Schiff wurde generalüberholt und technisch auf den neuesten Stand gebracht. Immerhin waren einige Jahrhunderte nachzuholen. Die Entwicklung des Überlichtfluges zum Beispiel hatten wir buchstäblich verpennt. Das musste alles nachgerüstet werden. Und das ging natürlich nur mit einer vollständig neuen KI-Architektur.«

»Und Madeleine?« Beth klang erschrocken.

»Ich habe mir ihre Persönlichkeit heruntergeladen.« Laertes nestelte ein Medaillon aus dem Kragen seines Freizeithemds. Er betrachtete es unschlüssig. Dann reichte er es Beth, die sich das eingelegte Mini-Hologramm neugierig besah.

»Ist sie das?«

»Das ist Kathy«, sagte Laertes.

Beth wirkte irritiert.

»Seine Verlobte«, fiel Ash ein. »Ich habe dir davon erzählt.«

»Madeleine ist auf dem Chip gespeichert, der in das Medaillon eingearbeitet ist«, erklärte Laertes noch. »Ein Quantenspeicher der neuesten Generation.«

Beth betrachtete das Schmuckstück eingehend. Dann gab sie es ihm zurück.

»Bei Frauen hast du kein Glück, was?«

Er lächelte schief und verstaute das Medaillon mit einer linkischen Bewegung.

»Das einsame Genie«, sagte Ash tonlos.

»Was weißt du eigentlich von den anderen?«, fragte Laertes, um das Thema zu wechseln. »Wiszewsky? Rogers?«

»Die Frage ist, was du weißt.«

»Ich war viel unterwegs«, erklärte er ausweichend. »Reisen, Vorträge.«

»Wiszewsky hat sein Ziel erreicht. Die neue MARQUIS DE LAPLACE steht unter seinem Kommando.«

»Ja, stimmt. Das habe ich mitbekommen.«

»Von Randy weiß ich nur, dass er wohl eine ziemliche Karriere hingelegt hat. Er hat ja schon auf dem Rückflug ziemlich aufgedreht.«

Laertes nickte.

»Dann ist er in die Forschungsabteilung eingestiegen.« Ash schrieb mit den Händen wolkige Strukturen in die Luft. »Irgendwelche obskuren Entwicklungsprojekte. Alles natürlich streng geheim.«

Nicht ohne Murren hatte sich die Besatzung der ERIS an die Arbeit gemacht. Die Leute wussten, dass Rogers der erste sein würde, der sich nach Feierabend ein Glas einschenkte, wenn auch eher Whisky als Champagner. Aber wann dieser Feierabend sein würde, das konnte man nicht wissen. Rogers selbst arbeitete wie ein Besessener, und das erwartete er auch von seiner Mannschaft. Der Umfang an Daten war ungeheuer. In nur einer Schicht war er nicht zu bewältigen. Sie würden Wochen und Monate daran zu rechnen haben. Aber wann würde der Stationsleiter ein Einsehen haben und erklären, dass es für heute genug war?

Als sie auf einem der nächsten Umläufe die Stelle des Einschlags wieder überflogen, war die kilometerhohe Fontäne aus Sand und Staub verschwunden. Sie war in sich zusammengesunken und von den Jets der dünnen, sturmgepeitschten Atmosphäre ausgewischt. An ihrem ehemaligen Fußpunkt klaffte nun ein riesiger Krater.

»Strahlung?« Rogers beugte sich neben seiner rechten Hand über die Protokolle, die den ganzen Hauptbedienplatz der Station einnahmen.

»Sehr gering.« Seten Brini spielte zufrieden mit seinen schwarzen Locken. »Das ist einer der Vorteile dieses Systems. Die Reaktionsmasse wird vollständig vernichtet. Es bleibt nichts übrig. Kein Fallout. So gut wie keine Kontamination.« Er sah seinen Chef über seine Datenbrille hinweg an.

Rogers nickte.

»Ja, das könnte wirklich etwas Feines werden«, murmelte er in sich hinein. »Und das Profil?«

»Ich blicke auf eine gewisse Laufbahn als Exogeologe zurück«, erklärte Brini selbstverliebt. »Aber ich darf behaupten, dass ich einen solchen Scan noch nicht gesehen habe. Der ganze Planet liegt vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch. Die Kruste, der Schalenbau. Die mineralogische Zusammensetzung, der Temperatur- und Viskositätsverlauf. Einfach alles. Auf einen Schlag!«

»Ein Schlag mit dem Hammer.« Dr. Rogers grinste.

»Als wäre der ganze Planet ein einziger großer Gong.«

»Boing!«

»Wahnsinn.« Brini schüttelte den Kopf, fassungslos und begeistert.

»Dieser Gong hat einen schönen satten Klang«, sagte Rogers. Dann wurde er wieder ernst. »Wissen wir schon etwas über die Tonnage?«

»Die freigesetzte Energie, meinen Sie?« Brini schaltete an seinen virtuellen Anzeigen herum. »Nicht schlecht.« Er deutete auf ein Feld.

Rogers pfiff durch die Zähne. »Einhundert Megatonnen?«

»Eine runde Sache, würde ich sagen.«

»Rechnen Sie das nochmal durch«, sagte Rogers. »Damit wir einen vorläufigen Bericht formulieren können.« Er zwinkerte seinem Stellvertreter aus seinen kleinen blauen Äuglein zu, die immer irgendwie listig und ein wenig verschlagen wirkten. »Dann können wir die Früchte unserer Arbeit genießen!«

»Geben Sie mir fünf Minuten.« Brini verschwand in seinem Arbeitszimmer.

Der Rest der Crew war hellhörig geworden. Von den Konsolen und den holographischen Displays hoben sich die Köpfe. Fünf Augenpaare bohrten sich in den Stationsvorsteher.

»Ich denke, wir lassen es für heute gut sein«, sagte Dr. Rogers. »Um die Stellen hinter dem Komma kümmern wir uns ein andermal. Heute möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Der Test war erfolgreich. Das wäre ohne Ihre Mitarbeit nicht möglich gewesen.«

Irgendwo hörte man das Ploppen eines Champagnerkorkens. Die Wissenschaftler lachten. Auch Rogers schmunzelte jovial.

»Ich wage zu behaupten, dass dies ein historisches Datum ist«, sagte er noch, während weiter hinten schon eingeschenkt wurde. »Wenn das System sich bewährt, woran ich in diesem Augenblick nicht mehr zweifle, war das heute ein nicht ganz unbedeutender Tag in der Geschichte der Union. Ich denke sogar, in der Entwicklung der gesamten Menschheit!«

Die Physiker und Planetologen, durchweg junge Männer und Frauen, strahlten über das ganze Gesicht. Sie verteilten Champagner, der aus Elastilbechern getrunken werden musste. Rogers bekam ein Glas Whisky. Jemand hatte einen der Synthetisatoren angeworfen, um Salzgebäck zu erzeugen. Die gemütliche Stimmung einer Institutsfeier breitete sich aus, während die Station mit konstanter Orbitalgeschwindigkeit einem weiteren Sonnenaufgang entgegenraste.

Seten Brini kam in den Hauptraum zurück.

»Erledigt«, rief er aufgekratzt. »Alles hier drauf.« Er präsentierte einen Datenchip, der einen integrierten Quantenspeicher umfasste. »Eine Kopie habe ich in Ihrem Ordner des Stabslogs hinterlegt.«

»Vielen Dank.« Rogers legte den Kopf schief und sah zu, wie sein Stellvertreter sich einen Becher reichen ließ und durstig trank. »Das reicht«, sagte er, als Brini sich von einem seiner Assistenten nachschenken lassen wollte.

»Ich verstehe nicht.« Der Exogeologe wirkte überfahren. »Ich dachte, wir haben etwas zu feiern.«

»Wir feiern.« Rogers hatte sich bei seinen Mitarbeitern einen gewissen Ruf erworben. Er war arrogant, herablassend, ungeduldig. Nur so war es zu erklären, dass kein Widerspruch laut wurde, als er noch hinzusetzte: »Für Sie habe ich noch eine kleine Fleißaufgabe.«

»Sir?« Brini ließ konsterniert den leeren Becher sinken. Bei den Umstehenden machte eine Mischung aus Neugier und Schadenfreude die Runde.

»Ich möchte«, sagte Dr. Rogers in jenem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, »dass Sie diese Daten nehmen, einen unserer ANTs besteigen und ins Sonnensystem fliegen.«

»Ich verstehe nicht«, stammelte Brini.

»Ins solare System.« Rogers wirkte bereits ein wenig ungehalten. »Ich denke, ich habe mich klar ausgedrückt.«

»Wie Sie meinen.«

»Nehmen Sie sich jemand von den jungen Leuten hier mit«, fuhr Rogers fort. »Jemand, der noch nicht vollständig betrunken ist. Es reicht, wenn Sie in den äußeren Bereich fliegen. Dann übermitteln Sie alles, was sich auf diesem Chip befindet, an diese Koordinaten.«

Er aktivierte ein holographisches Patch, das auf seiner Unterarmmanschette aufleuchtete.

Brini studierte die Daten, die auf sein eigenes Display übertragen worden waren.

»Was sind das für Koordinaten?«

»Das braucht Sie nicht zu interessieren.«

»Entschuldigen Sie mal.«

»Machen Sie einfach, was ich sage.« Rogers klang mit jedem Wort ungemütlicher. »Wir haben hier noch viel zu tun.«

Die Stimmung war inzwischen spürbar abgekühlt. Von der kleinen spontanen Feier war nichts mehr übrig. Die jungen Wissenschaftler standen beklommen herum. Niemand wagte zu sprechen oder ein Glas zum Mund zu führen. Die Blicke waren ins Leere gerichtet

»Sir.« Brini straffte sich. »Ich kenne diese Koordinaten nicht, und ich weigere mich, diese hochbrisanten Daten ...« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

»Sie werden tun, was ich Ihnen auftrage«, donnerte Dr. Rogers, der während der letzten Sekunden dunkelrot geworden war. »Dies ist ein geheimes Entwicklungsprogramm, und ich bin sein Direktor. Und ich ...«

»Mit Verlaub, Sir!« Brini kämpfte um Haltung.

»Lassen Sie mich ausreden«, brüllte Rogers. »Ich befehle Ihnen, diese Daten an diese Koordinaten zu übermitteln, nicht mehr und nicht weniger!«

Einige der Zuhörer waren zusammengezuckt. Die anderen scharten sich unwillkürlich näher zusammen. Brini stand da und zitterte. Aber er schien fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.

»Ich protestiere gegen diese Behandlung.«

»Protestieren Sie, so viel Sie wollen. Und dann folgen Sie endlich meinen Anweisungen.«

»Das wird ein Nachspiel haben«, brachte Brini hervor. »Diese Auseinandersetzung wird dokumentiert. Ich werde das Protokoll davon an die zuständigen Stellen der Union ...«

»Schwätzen Sie nicht.« Rogers kippte den Rest seines Whiskys herunter. Plötzlich schien er ganz ruhig. Es war die drohende, brodelnde Ruhe eines Vulkans, eine Sekunde bevor er ausbricht.

»Dr. Rogers«, startete Brini einen letzten Anlauf. »Dies ist ein ziviles Projekt!«

Rogers stand da, als habe er nicht zugehört. Er hielt einem der Assistenten sein Glas hin. Der Mann beeilte sich, es wieder zu füllen. Solange herrschte gespannte Stille auf dem Hauptdeck der ERIS. Als Rogers wieder versorgt war, drehte er sich zu seinem Stellvertreter um und musterte ihn kalt und abschätzend.

»Das glauben aber auch nur Sie.«

Als die Sonne untergegangen war, wurde es kalt. Ein frischer Wind kam von der See her auf. Laertes wollte sich verabschieden. Sein langer Aufenthalt hier in diesem schmerzhaft friedlichen Familienidyll war ihm unangenehm. Störte er nicht? Aber Beth beruhigte ihn und lud ihn ein, noch zum Abendessen zu bleiben.

Sie gingen hinein. Eine Haushälterin war in der Küche bereits damit beschäftigt, das Essen vorzubereiten. Eine Latina mittleren Alters aus Pensacola Stadt. Außerdem besaßen die Ashs einen primitiven Hausbot, der einfache Arbeiten erledigte. Beth begab sich in die Küche, um das Ganze zu überwachen. Ash führte Laertes und die kleine Jennifer in das geräumige Wohnzimmer des Hauses, einen weitläufigen Salon, der sich über die Terrasse zum Garten hin öffnete und der jetzt vom Widerschein des Sonnenuntergangs über dem Meer dunkelrot erglühte.

Die Zwillinge kamen, Donnan und Garth. Ash stellte sie seinem Kameraden stolz vor. Die Buben grüßten schüchtern und verzogen sich dann auf ihr Zimmer, von wo bald die einschlägigen Geräusche eines Konsolenspiels herunterdrangen.

Wenig später gab es Abendessen. Salat und Gemüse aus dem Garten. Dazu Tapas nach einem alten Familienrezept der Haushälterin Ximena. Diese kam kurz in den Salon, um linkisch den Applaus der Tafelnden entgegenzunehmen, und zog sich dann wieder in die Küche zurück, um in regelmäßigen Abständen nach dem Rechten zu sehen. Zu den Vorspeisen tranken sie Wasser. Beim Hauptgang öffnete Ash einen leichten Wein. Die Söhne waren zum Essen wieder herunter gekommen. Sie kicherten und stießen sich an. Die kleine Jennifer saß auf ihrem erhöhten Kinderstuhl und lauschte verständig den Unterhaltungen der Erwachsenen. Sie war müde von dem langen Tag im Freien. Schließlich fielen ihr die Augen zu. Beth brachte sie ins Bett. Auch die Zwillinge wurden wieder entlassen. Ximena verabschiedete sich, für Laertes’ Geschmack etwas zu unterwürfig. Dann blieben sie zu dritt zurück. Durch die offenstehende Terrassentür wehte eine kühle auflandige Brise. Sie brachte den Geruch des Meeres mit herein, den man tagsüber, im Garten, kaum wahrgenommen hatte. In der Tiefe sah man die Lichter von Containerschiffen und fern am Horizont eine Ölplattform.

»Schön habt ihr’s hier.« Laertes war satt und schwer, auch schon ein wenig benommen von dem guten Wein.

»Ja, man kann es aushalten.« Ash drehte den Korken in den Händen und tauschte verliebte Blicke mit seiner Frau.

Beth nahm sich noch eine Olive und kaute gedankenverloren darauf herum. Dann sah sie Laertes lauernd an.

»Was sagst du eigentlich zu den Tloxi?«

»Was soll ich dazu sagen?« Er erwiderte ihren Blick.

»Ich weiß nicht.« Sie lachte. »Franklin reagiert auf das Thema auch immer so gereizt.«

»Entschuldige«, beeilte er sich zu sagen. »Ich wollte nicht gereizt rüberkommen.«

Sie machte eine wegwerfende Geste. Damit wurde sie schon fertig. Ash, überlegte Laertes, war einerseits sicherlich ein aufmerksamer und zuvorkommender Ehemann, andererseits konnte er aber auch ziemlich direkt sein, manchmal war er auch nervtötend, anstrengend und unerträglich. Wenn Beth es mit ihm aushielt, hieß das, dass sie nicht empfindlich war. Und so schätzte er sie nach diesem langen Nachmittag und Abend auch ein.

»Tut mir leid«, sagte er trotzdem. »Ich wollte dich nicht so abbügeln. Aber um ehrlich zu sein, ich kann es langsam nicht mehr hören.«

Beth biss schmunzelnd in die nächste Olive, erwiderte aber nichts. Ash lehnte sich mit einem genüsslichen Gesichtsausdruck zurück, als freue er sich auf eine gute Show.

»Ich weiß ja nicht, wie es dir geht«, wandte Laertes sich direkt an seinen ehemaligen Kameraden. »Aber ich wurde permanent danach gefragt, seit wir wieder hier sind. Was sagst du dazu? Was hältst du davon? Hast du sie gesehen? Du bist doch dort gewesen?!«

»So viel hast du den ganzen Tag noch nicht an einem Stück geredet«, stellte Beth grinsend fest. »Das Thema muss dir wirklich mächtig auf den Zeiger gehen.«

»Nein«, sagte Laertes rasch. »Nicht das Thema an sich. Darüber können wir uns gerne unterhalten. Wir sind ja alle sozusagen vom Fach. Aber weißt du, dann kommen Leute, die hier leben, die ihr ganzes Dasein auf der Erde verbringen, und fragen dich, ob du diese Aliens gesehen hast, du seist ja dort gewesen, dort – im Weltraum!«

»Dabei sind es zum einen keine Aliens«, fiel Beth ein, die der Ausbruch ihres Gastes köstlich amüsierte.

»Zum anderen«, sekundierte Ash, »fand der Erstkontakt erst statt, als wir schon wieder hier waren.«

»Danke, Freunde.« Laertes warf in gespielter Erleichterung die Arme in die Luft. »Warum verstehen das die Leute nicht?«

»Weil sie von den Räumen dort draußen keine Vorstellung haben«, sagte Beth.

»Mag sein.« Laertes drehte sein Weinglas in den Händen. Dann sah er wieder auf. »Um ehrlich zu sein, die Sache hat mich bis jetzt nicht sonderlich interessiert. Ich habe mich nicht damit beschäftigt, also nicht über das hinaus, was auf den Mainstreammedien läuft, und das ist vermutlich zu gleichen Teilen entstellt oder erlogen.«

»Du bist doch KI-Spezialist«, sagte Beth. »Fallen diese Wesen da nicht eigentlich in deine Domäne?!«

Laertes setzte ein desinteressiertes Gesicht auf.

»Wie gesagt, ich war viel unterwegs. Kongresse, Vortragsreisen.«

»Ich glaube dir kein Wort«, fiel Ash ein. »Du hast dich irgendwo vergraben und an deiner eigenen KI herumgefummelt.«

Laertes hob die Schultern. Und wenn schon, sagte seine Miene. Aber er blieb stumm.

»Ich finde es schon spannend«, sagte Beth, um das Gespräch vor dem Versacken zu bewahren.

»Die Sache wird ja untersucht«, erwiderte Laertes höflich. »Wenn man irgendwelche konkreten Anhaltspunkte hat, wenn man weiß, wovon man redet und womit man es zu tun hat, wird es sicher interessanter. Ich kann mir vorstellen, dass ich dann auch wieder zum Team stoße, um es mal so zu sagen.« Er sah Beth durchdringend an, die sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben schien. Dann wandte er sich an Ash. »Wiszewsky ist an der Sache dran?«

»Die MARQUIS DE LAPLACE ist vor Ort.« Der Gastgeber nickte. Ein süffisantes Grinsen spielte um seine Lippen, als er den Namen ihres früheren Kollegen aussprach.

»Vor lauter Unsterblichkeit weiß er ja gar nicht mehr wohin mit sich.« Laertes fiel in das Schmunzeln ein.

Beths Augen wanderten von einem zum anderen. »Soll ich euch eine Weile allein lassen? Wollt ihr Anekdoten austauschen? Oder sollte ich sagen: Raumfahrergarn?«

»Wir kommen zurecht«, sagte Ash. »Mit Publikum macht es mehr Spaß!«

Dabei war Laertes sicher, dass es keine Anekdote vom heroischen Jungfernflug gab, mit der er sich nicht schon vor seiner Frau und geladenen Gästen produziert hatte. Die Symbiose der beiden war gut eingespielt. Das hatte er schon am Mittag zu spüren bekommen, als sie ihn in die Gender-Falle tappen ließen. Auch jetzt machten die Blicke, die die beiden einander zuwarfen, ihn hellhörig.

»Ein bisschen seltsam war es ja schon«, sagte Beth im Ton einer unüberhörbaren Anspielung.

»Was meinst du?«

»Dass die Meldung über den Erstkontakt genau an dem Tag kam, als ihr gelandet seid.«

»Das war nicht der Erstkontakt«, sagte Laertes, wieder eine Nuance schroffer, als er eigentlich wollte. »Es war nur ein Verdacht, der von den Medien ausgeschlachtet wurde.« Er runzelte die Stirn. »Und Zufall war es sicher nicht.«

»Nein, war es nicht.« Ash sagte das so ruhig und bestimmt, dass Laertes erst recht aufhorchte.

»Was weißt du?«

Ash setzte sich umständlich zurecht und schenkte sich noch einmal Wein nach. Er genoss den Auftritt. Er hatte den ganzen Tag darauf gewartet.

»Die Vermutungen«, erzählte er, »waren schon sehr viel älter. Es gab nicht das eine Signal, wie es dann in diesem albernen Newsflash hieß. Die Sache hatte mehrere Jahre Vorlauf.«

»Während unseres Fluges?«

»Während des Rückflugs.« Ash nickte. »Die Relaisdrohnen, die wir unterwegs, auf dem Hinflug, ausgesetzt hatten, fingen bestimmte Muster auf. Es waren die empfindlichsten und gleichzeitig am weitesten draußen platzierten Sensoren, die die Menschheit bis dahin ausgebracht hatte. Die Möglichkeit war nicht ganz von der Hand zu weisen, dass sie früher oder später etwas Einschlägiges orten würden. Wenn irgendein System, dann dieses.«

»Dann hatte man es darauf abgesehen?«

»Das weiß ich nicht. So genau kenne auch ich die Interna nicht.« Er hob sein Glas und prostete erst seiner Frau und dann seinem Gast zu. »Wie du weißt, und wie du hier überdeutlich sehen kannst, bin ich kein Mauretanier. Das heißt, an die wirklich geheimen Geheimnisse komme auch ich nicht dran.«

»Hast du dich ihnen angeschlossen?«, fragte Beth dazwischen.

»Nein.« Laertes wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder seinem Freund zu.

»Aber«, fuhr Ash fort, »so wie ich die Brüder kenne, haben sie es von Anfang an, das heißt seit der Planungsphase der ersten Sternenflug-Mission, darauf angelegt oder es zumindest billigend in Kauf genommen, dass etwas derartiges geschieht.«

»Vielleicht konnten sie so ein paar SETI-Gelder abzweigen.« Laertes lächelte dünn.

»Wie dem auch sei. Die Relais fingen etwas auf. Es wurde herausgefiltert und untersucht. Durch Mustererkennungen und Dechiffriermaschinen gejagt. Man bekam bestimmte Frequenzen und Algorithmen. Damit konnte man gezielt weitersuchen. Von nun an war es eine Suche, die den Namen verdiente.«

»Alles auf dem Rückflug«, stöhnte Laertes. »Während ich geschlafen habe!«

»Ich will mal so sagen, Kumpel.« Ash spielte seinen Trumpf mit links aus. »Wenn du der Bande deine Seele verkauft hättest, hätten sie dich geweckt!«

»Das habe ich aber nicht getan«, sagte Laertes ruhig. »Und dann?«

»Die Sache blieb im innersten Zirkel. Auch ich kenne die Namen nicht. Wiszewsky war mit Sicherheit im Club. Wheeler natürlich.« Ash hob die Schultern. »Ich glaube nicht, dass es insgesamt mehr als fünf oder sechs Personen gewesen sind, die über alles Bescheid wussten. Dann noch ein paar Fachidioten, die man mit Teilaspekten betraute.«

Laertes nickte vor sich hin. »Aber irgendwie kam es ja doch raus!«

»Es muss ein Leck gegeben haben«, stellte Ash emotionslos fest.

»Weiß man, wer?«

»Nein.« Ash sah ihn offen an. Laertes wusste, dass der Beamte ihn nicht belügen würde. Ash war jemand, auf dessen Wort man sich verlassen konnte. Außerdem lag die Sache mehrere Jahre zurück. Inzwischen war die Katze sowieso aus dem Sack, die Entwicklung war in eine völlig neue Phase eingetreten.

»Es hat ein Leck gegeben«, wiederholte Laertes im Stil einer offiziellen Zusammenfassung, wie sie bei Briefings üblich war. »Vermutlich eine persönliche Sache. Meist ist es ja gar nichts Großes, sondern etwas ganz Kleines, Niedriges. Eine Eifersuchtssache.« Er hielt inne, als habe er sich selber beim Laut-Nachdenken zugehört. »Wiszewsky«, sagte er gedehnt.

»Er war mit Sicherheit im inner circle«, sagte Ash. »Und er muss auch gewusst haben, dass es ein Leck gibt, wer das Leck ist, wann etwas durch das Leck dringt und was!«

»Deshalb ist er vorausgeflogen.«

»Er wollte sich seinen Triumph nicht kaputtmachen lassen.« Ash wandte sich wieder an seine Frau. »Wiszewsky hatte es plötzlich sehr eilig. Er nahm einen Explorer und flog voraus, als wir noch in der letzten Abbremsphase waren. So war er ein paar Tage vor uns hier und bekam einen Roten Teppich ganz für sich allein.«

Beth nickte. »Ich erinnere mich gut daran. Diesen – Auftritt fand ich auch ein bisschen sonderbar. Aber du hast es mir ja später erklärt.«

»Es ist ja jetzt auch egal«, sagte Laertes.

»Du bist nach der Landung sofort abgetaucht?«, fragte Beth. »Franklin, also nachdem wir uns kennen gelernt hatten, wollte er mir seine Freunde vorstellen. Aber die hatten sich irgendwie in alle Winde verstreut!«

»Am Tag der Ankunft bin ich nach Budapest gefahren«, berichtete Laertes. »Ans Grab meiner Verlobten. Dort bekam ich auch die Nachricht, diesen Newsflash. Danach war ich, wie gesagt ...«

»Abgetaucht.« Ash grinste.

»Auf Reisen«, sagte Beth nachsichtig.

»Ja, und die anderen«, erkundigte sich Laertes. »Rogers?«

»Der hat einen Lehrgang nach dem anderen gemacht«, sagte Ash. »Dem konnte es gar nicht schnell genug gehen.«

»Ist er bei den ...«

»Ich denke schon.«

Die beiden Männer wechselten einen Blick.

»Aber Wiszewsky«, hakte Laertes nach. »Er muss doch greifbar gewesen sein. War er nicht hier, in Pensacola?«

Ash lachte prustend. »Du hast wirklich gar nichts mitgekriegt«, entfuhr es ihm.

»Klär mich halt auf!«

»Er forderte das Kommando über die MARQUIS DE LAPLACE«, sagte Ash. »Bekam es auch, wie wir wissen. Wheeler war alt. Er ging in den wohlverdienten Ruhestand. Wiszewsky hatte wahrlich genug vorgearbeitet. Jetzt strich er die Ernte ein.«

»Aber?« Laertes hörte sehr wohl heraus, dass es da noch ein Aber gegeben hatte.

»Aber das Schiff musste natürlich umgerüstet werden. Jahrhunderte einer irrwitzigen Entwicklung, die allein in den letzten Jahrzehnten vor unserer Rückkehr explosionsartig gewesen war. Eine echte Revolution. Das brauche ich dir doch alles nicht erklären.«

»Nein, natürlich nicht.« Laertes schüttelte den Kopf. »Aber??«

»Unsere alte MARQUIS DE LAPLACE wurde ja einer Verjüngungskur unterzogen, Hardware wie Software. Neue Triebwerke inklusive Warpspulen. Eine neue KI. Alles!«

»Das ist mir bewusst!«

»Das dauert!« Ash spitzte die Lippen und schlürfte an seinem Wein. »Es gab da aber noch eine weitere Möglichkeit. Während unseres Rückfluges hatte die Union damit begonnen, ein neues Explorationsschiff zu bauen. Moderner, größer und schneller.«

»Sag bloß!« Jetzt war Laertes überrascht. Davon hatte er nichts mitbekommen. Gut, er hatte sich auch nicht groß dafür interessiert.

»Du hast noch nicht vom Neubau gehört, einem sechs-Kilometer Forschungskreuzer?«

Laertes schüttelte überrascht und beeindruckt den Kopf. »Ist mir entgangen. Wirklich?«

»Ja. Und weil es wieder das größte Schiff der Menschheit ist, erbt es den Namen MARQUIS DE LAPLACE.«

»Aha! Und unsere MDL?«

»Haben die Scherzkekse der Union in ›THE OLD MARQUIS‹ umgetauft. Ernsthaft.«

Alle drei mussten sie grinsen.

»Aber weiter im Text. Das neue Schiff war leider auch noch nicht ganz fertig. Dennoch bestand er darauf, das Kommando über das neue Schiff zu bekommen.«

Laertes dachte einen Augenblick nach, er musste sich daran erinnern, womit sein Freund vor seiner Unterbrechung begonnen hatte, dann erhellte sich seine Miene. »Nein, oder?«

»Unserem gemeinsamen Freund ging das zu lange«, sagte Ash. »Er hat sich einfrieren lassen.«

»Damit er nicht zu alt wird?« Laertes gluckste. »Dieser eitle Fatzke!«

»Er meinte, wenn er Bauingenieur hätte werden wollen, dann hätte er das gemacht. Er sei aber Kommandant.« Ash hob sein Glas. »Er ging in Hibernation und hinterließ nichts als die Anweisung, ihn wieder zu wecken, wenn sein Schiff einsatzbereit sei!«

Laertes schüttelte den Kopf.

»Irgendwie würde ich diesen Alexander Wiszewsky gerne kennen lernen«, sagte Beth.

»Oh, er sieht sehr gut aus«, lachte Ash.

»Das weiß ich«, sagte Beth. »Es gab Zeiten, da konnte man keine Sendung anschalten, ohne sein selbstverliebtes Grinsen zu sehen.«

»Ja, er ist ein bisschen von sich eingenommen.« Laertes fiel in das Lachen ein. »Wie lange hat er geschlafen?«

»Drei oder vier Jahre.« Ash schrieb eine gleichgültige Geste in die Luft. »Irgendwann musste er ja wieder raus und die Mission vorbereiten, seine Mission. »Aber jetzt ist er an Bord?«, fragte Beth.

»Ja.« Ash wirkte immer noch außerordentlich amüsiert. »Er ist jetzt dort!«

Persephone

Подняться наверх