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Kapitel 2. Kontakt

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Die MARQUIS DE LAPLACE war in eine hohe Umlaufbahn um den Asteroiden mit der zwanzigstelligen Kennnummer eingeschwenkt. Es war kein Orbit, wie ein Mond oder Planet ihn ermöglicht hätte. Dazu war die Masse des Körpers zu gering. Streng genommen waren es synchronisierte Bahnen, die in leichter Resonanz zueinander standen. Immerhin war die Tonnage der MARQUIS DE LAPLACE, die abermals als größtes Schiff der Menschheit gelten durfte, ebenfalls nicht zu verachten. Die beiden Massen – der Asteroid und die MARQUIS DE LAPLACE – umkreisten einander, sie drehten sich um ihr gemeinsames Gravitationszentrum und schrieben dabei eine helixförmige Struktur, eine langgezogene, zweigleisige Schleife in die Raumzeit.

Der Kommandant hatte Wert darauf gelegt, einen gehörigen Sicherheitsabstand zu dem Fundort einzuhalten. Andererseits hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, das Artefakt (die Gruppe von Artefakten) an Bord zu nehmen. Einige seiner Wissenschaftler hatten ihm das allen Ernstes vorgeschlagen und ihm versichert, von den Fundstücken gehe keinerlei Gefahr aus. Als ob man das wissen könne! Es war ein Präzedenzfall. Derartiges war in der Geschichte der Raumfahrt bisher nicht vorgekommen. In der Geschichte der Menschheit! Aber da war eben die Frage: Hatte man es mit einer Spezies zu tun? Oder nicht doch mit etwas noch ganz anderem?

Die Begeisterung über den Kontakt als solchen hatte das Ersterkundungsteam seinerzeit gepackt wie eine Designerdroge. Die Leute waren kaum noch in der Lage, rational zu agieren und sich vernünftig und nachvollziehbar zu artikulieren. Als dann noch herauskam, auf was man da im einzelnen gestoßen war, kannte die Zutraulichkeit der gestandenen Wissenschaftler keine Grenzen mehr. Es war eine Art hysterischer Erleichterung. Ein vorauseilender Rausch. Die Wesen war nicht biologisch, das machte die Umständlichkeiten der Quarantäne unnötig. (Machte es das?) Sie waren ihrem äußerlichen Bauplan nach humanoid, was die Fremdheitsschwelle drastisch senkte und sie zu dankbaren Objekten der Untersuchung machte. (War das so?) Sie kooperierten und erlaubten Einblicke in ihre Funktionsweise und Sprache – Sie hatten eine Sprache! –, was ein Goldenes Zeitalter interstellarer Zusammenarbeit und profitablen Technologietransfer in Aussicht stellte. (Tat es das?)

Alexander Wiszewsky stand am großen Panoramafenster der Backbordseite seiner Brücke und sah in den Raum hinaus, wo der namenlose Asteroid, dessen Kennziffer Generationen von Schülern würden auswendig lernen müssen, gerade noch als silbergrauer Lichtfleck auszumachen war. Ein stumpfer Brillant, ein körniger Brocken Sein in den Ozeanen des Nichts. Auf der Kommandoebene der MARQUIS DE LAPLACE herrschte konzentrierte Stille. Die Mission stand prinzipiell unter der Leitung der Planetarischen Abteilung. Aber natürlich liefen sämtliche Daten erst einmal hier auf. Direktor Dirk Schleuner, der amtierende Chef der Planetarischen, und Vizeadmiralin Doina Gobaidin studierten schweigend ihre holografischen Konsolen. Schleuner, hochgewachsen, mit graumeliertem Haar, hatte die Angewohnheit, ungefähr zweimal pro Minute in die Luft zu sehen und laut und vernehmlich zu seufzen. Wenn man ihn nicht kannte, konnte man meinen, er trage einen unerhörten seelischen Ballast mit sich herum. Aber es war einfach nur seine Art, sich angestrengt mit geistigen Problemen zu befassen.

Die Gobaidin strahlte die finstere Unnahbarkeit aus, die ihr Markenzeichen geworden war, seit sie erfahren hatte, dass nicht sie Kommandant Wheeler nachfolgen würde, sondern der deutlich jüngere und weniger erfahrene Wiszewsky. An Wheelers Seite hatte sie den Jungfernflug geleitet. Es gab Stimmen, die behaupteten, die eigentliche Verantwortung habe bei ihr gelegen, zumindest habe sie die meiste Arbeit gehabt. Als Wheeler, hochdekoriert und zweifelsohne als verdienter Held der Union in den Ruhestand gegangen war, rechnete alle Welt damit, dass sie ihn beerben werde, sie selbst natürlich auch. Aber es kam anders. Ohne diesen Schritt einer eigenen Begründung für würdig zu halten, verkündete die oberste Unionsführung – eine Clique unverheirateter Männer – bei der Vorstellung der nächsten Exkursion, dass diese unter dem Kommando eines gewissen Alexander Wiszewsky stehen werde, ebenfalls ein Veteran des Jungfernfluges und erfahrener Befehlshaber der Enthymesis-Flotte. Von nun an herrschte Eiszeit zwischen den beiden. Die Gobaidin war zu stolz, sich ein anderes Kommando geben zu lassen. Man hatte sie sogar mit Kusshand für eine Frühpensionsregelung vorgeschlagen. Aber auch das wies sie mit Empörung ab. Lieber blieb sie auf dem, was sie nonchalant als ihr Schiff bezeichnete, um dem grünen Jüngling, der Wiszewsky in ihren Augen war, noch das eine oder andere Jahr lang das Leben zur Hölle zu machen. Rein optisch schnitt sie schlecht neben dem hochgewachsenen, blonden, blauäugigen Mann ab, der sogar während der Endphase der Fertigung dreieinhalb Jahre in die Hibernation gegangen war, um seinen Teint nicht zu sehr erschlaffen zu lassen. Die Gobaidin, deren Vorfahren vom Balkan stammten, war klein, von korpulenter Statur, ihre Haut war olivfarben, was die Gerüchte nährte, sie habe ein paar Schnipsel Zigeuner-DNS in ihrer Erbreihe – und nicht eben nur ein paar Schnipsel –, und ihr kurzes, haubenförmig drapiertes pechschwarzes Haar wirkte immer irgendwie ein bisschen fettig.

Wiszewskys Berufung, genauer gesagt: die Übergehung Doina Gobaidins, hatte einen Proteststurm bei Frauenrechtlern und Minderheitenverbänden entfacht, dabei würde sie nie öffentlich zugeben, dass sie eine Roma war. Die Führung der Union hatte alle Vorwürfe kategorisch von sich gewiesen. Der Oberbefehl über ein Schiff wie die MARQUIS DE LAPLACE werde nicht nach äußerlichen Kriterien wie dem Geschlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit vergeben, sondern einzig und allein nach dem der besten Tauglichkeit, und die vereine nun einmal Alexander Wiszewsky auf sich.

Auch in der Crew der MARQUIS DE LAPLACE, von denen die meisten ebenfalls auf das neue Flaggschiff gewechselt hatten, war die Personalie auf Unmut gestoßen. Die Vizeadmiralin war beliebt. Sie galt als unerhört fleißig und zudem als schon beinahe übermenschlich fair und gewissenhaft. Sie arbeitete angeblich vierundzwanzig Stunden am Tag und die halbe Nacht. Aber sie hatte immer ein offenes Ohr für die Belange ihrer Besatzungsmitglieder, die sich auch nicht scheuten, sie in privaten oder genierlichen Fragen zu behelligen. Während des Jungfernfluges hatte sie die ganze Drecksarbeit gemacht und insgesamt mehrere Jahre weniger in der Hibernation verbracht als selbst ihr einziger und direkter Vorgesetzter, Kommandant Wheeler. Das hatte sie mit einem nicht mehr ganz taufrischen Äußeren bezahlt. Allerdings konnte nicht die Rede davon sein, dass ihr Wille oder ihre Einsatzkraft gelitten hatten. Arbeitswütig wie eh und je war sie die erste, die bei Schichtbeginn die Brücke betrat, die letzte, die sie verließ, und das auch nur, um in ihr schlichtes Büro zu wechseln, wo sie, so hatte es den Anschein, rund um die Uhr die Fäden der Mission in Händen hielt und via Stabslog anzutreffen war. Seit Wiszewskys Berufung hatte ihr Eifer, der vormals leicht und unaufgeregt gewesen war, allerdings etwas Verbissenes angenommen.

Die beiden duzten sich, weil sie das irgendwann vor über zweihundert Jahren – in Raumzeit gerechnet – einmal so angefangen hatten. Aber sie brachten es fertig, eine solche Schärfe in dieses Du zu legen, dass der kälteste und verächtlichste Kasernenhofton annehmlich dagegen geklungen hätte.

»Status«, sagte Wiszewsky in den Raum hinein.

»Einen Moment noch.« Schleuner fingerte auf seinem Display herum. »Wird gerade neu aufbereitet.«

Auf dem Hauptschirm erschien das Bild eines geodätischen Zeltes aus durchscheinendem Elastil. Es war vier Meter hoch, hatte einen Durchmesser von zehn Metern und befand sich im Inneren eines nicht allzugroßen, flachen Kraters.

Die Quarantänestation auf dem Asteroiden.

Die imaginäre Kamera, die eine Zusammenschaltung hunderter Einzelsensoren war, fuhr langsam auf das transparente Gebäude aus strapazierfähiger Folie zu und durchstieß sie scheinbar. Dann lag das Innere der Station vor den Betrachtern auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE, die sich in angemessenem Sicherheitsabstand befanden. Selbst eine thermische Bombe hätte der Abschirmung des Schiffes auf diese Entfernung nur ein Kopfschütteln entlockt.

Aber es waren nur fünf kleinwüchsige Humanoide, die in einem erstaunlich regelmäßigen Kreis beieinander standen und ungerührt die Prozeduren der Wissenschaftler über sich ergehen ließen. Die Wesen war so groß wie zehnjährige Kinder. Sie trugen blaue Anzüge, die an Maokittel erinnerten. Ihr »Haar« war ein bürstenförmiger Antennenwald aus Kupferdraht. Ihre Augen glimmten im teilnahmslosen Rot opto-elektronischer Elemente.

Mehrere Spezialisten der Union waren in dem Zelt beschäftigt. Sie trugen weiße Schutzanzüge und Helme. Sie untersuchten die Wesen, wobei sie aktive und passive Scanner und Sensoren einsetzten. Direkte Berührungen versuchten sie auf ein Mindestmaß zu reduzieren, auf invasive Methoden hatten sie bislang ganz verzichtet.

»So, da wären wir«, sagte Schleuner. »Das aktuelle Update ist jetzt aufgesetzt.«

Er ließ noch einen konzentrierten Blick über seine Anzeigen kreisen und trat dann einen Schritt zurück, um die aufbereiteten Bilder zu kommentieren.

»Die ersten Aliens, die wir treffen, sind keine Aliens, sondern Bots«, sagte er im Ton eines Referats, das ein Sachverständiger vor seinem Bereichsleiter hielt. »Dass sie humanoid sind – zwei Arme, zwei Beine, aufrechter Körperbau, ein Kopf mit zwei Augen – ist erst einmal irgendwie – schade. Da hatten wir uns etwas Spektakuläreres erhofft. Ich denke, daran dürfen wir zweierlei Hoffnungen knüpfen: zum einen wird die Menschenähnlichkeit aller Voraussicht nach rapide gegen Null gehen, wenn wir erst einmal zur Autopsie eines dieser Gesellen fortschreiten, zum anderen wird sie sich, was das rein Anatomische betrifft, vermutlich erklären, wenn wir erst einmal ihrer Erbauer ansichtig geworden sind, die sich ja wohl früher oder später bei uns melden dürften.«

»Schleuner«, sagte Doina Gobaidin mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme, und nicht eben nur mit einem Anflug.

»Vizeadmiralin?«

»Ersparen Sie uns ihre persönlichen Erwartungen oder Enttäuschungen«, sagte die stellvertretende Kommandantin streng. »Bringen Sie uns einfach auf den neuesten Stand.«

»Wie Sie meinen.« Schleuner räusperte sich.

Alexander Wiszewsky, der etwas näher an den Schirm herangetreten war, ignorierte den Zwischenwurf, während die anderen Wissenschaftler und Brückenoffiziere amüsierte Blicke wechselten. Dass die Gobaidin, seit ihrer Zurücksetzung, auch im täglichen Umgang schwieriger geworden war, gereichte ihr nicht nur zum Vorteil. Sie büßte viel von dem Charme ein, den sie zuvor verströmt hatte, und verlor auch die Sympathien der Crew, die sie ironischerweise in Wiszewskys Arme trieb. In seiner Strategie, sich als väterlich über allen Nickligkeiten stehender Patriarch zu präsentieren, der die MARQUIS DE LAPLACE weniger kommandierte als regierte, sammelte der neue Oberbefehlshaber Pluspunkte, vor allem bei den jüngeren Besatzungsmitgliedern. Diesen, die die Causa Gobaidin nicht durchschauten und denen sie auch herzlich gleichgültig war, erschien er wie ein gütiger Duodezfürst, der die dreitausend Personen umfassende Gemeinde an Bord des riesigen Schiffes sicher und unaufgeregt anleitete.

»Fahren Sie fort«, sagte er jetzt nur, ohne seine Vize eines Blickes zu würdigen.

»Bis jetzt«, erklärte Schleuner, »haben wir also nur den Augenschein und alles, was sich mittels einfacher optischer und nichtoptischer Sensoren in Erfahrung bringen lässt.«

Er holte Luft. Wiszewsky nickte ihm aufmunternd zu.

»Die Bots, denn darum handelt es sich, kommunizieren auf einer Frequenz, die derjenigen unserer Lokalen Kommunikation nicht unähnlich ist. Es sind Engstrahlverbindungen von limitierter Reichweite. Die Signale sind mit einem zwanzigdimensionalen Code verschlüsselt. Unsere Leute arbeiten dran. Aber zumindest kurzfristig kann ich Ihnen hier nicht allzu viel versprechen.«

Während der letzten Sätze hatte er sich unwillkürlich an die Vizeadmiralin gewandt, aber diese wies ihm die linke Schulter und reagierte nicht. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah sie regungslos zur Panoramafront hinaus.

»Wir haben jedoch folgendes«, fuhr Schleuner fort. Er machte einem seiner Assistenten ein Zeichen, der daraufhin an seinem eigenen Display einige Einstellungen änderte. Das Bild auf dem großen Schirm sprang um. Man sah nun nur noch eines der niedlichen Robotwesen in Großaufnahme. Die mattroten Augen glühten stumpf vor sich hin. Die Gesichtszüge der Maske aus einem noch nicht näher definierten Synthetmaterial waren starr. Von Nahem sah der Bot schon gar nicht mehr so menschenähnlich aus. Es waren wirklich nur optische Sensoren und vielleicht, wer konnte es sagen, Zeichengeber, keine »Augen«, was da in dem ausdruckslosen Gesicht saß. Keine Nase, keine Ohren, keinerlei Mimik. Der »Mund« nur ein Ausgabeschlitz für akustische Signale?

Gerade als die Zuschauer auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE sich damit abgefunden hatten, dass diese Wesen doch fremdartiger waren, als es zunächst geschienen hatte – was sonderbarerweise mit Erleichterung verbunden war –, erstarrten sie. Der Mund des Kind-Roboters bewegte sich, wenn auch nur sparsam und ruckartig. Er sonderte Laute ab. Es war ein Mund. Und er sprach!

»Können Sie das noch etwas deutlicher machen?« Wiszewsky war unwillkürlich noch ein paar Schritte weiter nach vorne getreten. Er hielt die Hand hinter das Ohr, wodurch er plötzlich wie ein alter, schwerhöriger Mann aussah.

»Kommt.« Schleuner genoss seinen Auftritt wie der Conferencier einer großen Bühnenshow. »Greifen Sie dem Programm nicht vor!« Er schickte einen schüchternen Blick zu seinem Vorgesetzten, um auszutesten, ob dieser mehr Humor mitbrachte als seine Stellvertreterin. Der Kommandant nickte und setzte ein joviales Grinsen auf. Schleuner hatte sein Einverständnis, die Sache ruhig ein bisschen zu inszenieren – und wenn es nur war, um die Gobaidin mit ihrer ironiefreien Amtsauffassung zu ärgern.

»Im Gegensatz zu uns«, erläuterte der Oberste Wissenschaftler der MARQUIS DE LAPLACE, »scheinen die Knirpse keinerlei Probleme damit gehabt zu haben, unsere Kommunikation zu hacken und zu dechiffrieren. Hören Sie zu.«

Man konnte sehen, wie der Film diverse Aufbereitungsroutinen durchlief. Aber dann waren Bild und Ton gestochen klar.

Der Roboter sah selbstbewusst in die Kamera. Seine Mundöffnung ahmte souverän menschliche Sprechbewegungen nach. Dann sagte er: »Wir heißen euch willkommen. Unsere Absichten sind friedlich. Es freut uns, dass wir euch getroffen haben.«

»Das ist Uniertes Standard.« Alexander Wiszewsky hatte Schwierigkeiten, den Mund wieder zu schließen.

»Scheiße«, war ein unterdrückter Fluch aus der Richtung Doina Gobaidins zu vernehmen.

Schleuner versuchte zu überspielen, dass er zusammengezuckt war. Er hielt auch jetzt an der Strategie fest, nur zu Wiszewsky zu sprechen und die Vizeadmiralin außen vor zu lassen.

»Wie ich bereits sagte: Sie haben unsere Kommunikation entschlüsselt und sich zu eigen gemacht.«

»Sie empfangen uns in unserer eigenen Sprache«, staunte der Kommandant. »Grammatikalisch richtig und in geschliffener Diktion.«

»Nichts, was eine KI aus unseren Beständen nicht auch hinbekäme«, beeilte Schleuner sich zu sagen. »Im umgekehrten Falle.«

»Faktisch haben wir aber noch nichts von ihnen«, fauchte die Gobaidin.

»Sie nennen sich Tloxi.« Schleuner spielten seinen letzten und, wie er meinte, größten Trumpf. Leider musste er mit ansehen, wie er wirkungslos verpuffte.

»Sie haben uns gehackt«, fuhr die stellvertretende Kommandantin fort, ohne sich im übrigen vom Fleck zu rühren. »Sie wissen alles über uns.«

Über Schleuner hinweg wandte sie sich an die anderen Wissenschaftler. Unter ihnen war Dr. Kopertnik, der Leiter der KI-Verwaltung.

»Haben wir Anzeichen dafür, dass sie unsere Systeme unterwandern?«, fragte Doina Gobaidin ihn.

»Bis jetzt nicht«, sagte Kopertnik rasch. »Ich verstehe Ihre Besorgnis, Vizeadmiralin. Aber bis jetzt liegen keinerlei Anzeichen vor, dass sie auch nur versucht hätten, unsere Bordcomputer auszulesen.« Er lächelte ein wenig selbstgefällig. »Ich wage zu behaupten, dass unsere Firewall sie da auch vor gewisse Schwierigkeiten stellen würde.«

»Solche Schwierigkeiten wie die, im Handumdrehen Uniertes Englisch zu beherrschen!«

»Das ist für eine KI keine besondere Herausforderung«, versuchte Schleuner das Gespräch zurückzuholen. »Sie haben unsere Lokale mitgehört, vielleicht auch die akustischen Unterhaltungen unserer Mitarbeiter vor Ort. Das ist etwas ganz anderes, als wenn es beispielsweise darum ginge, sich in ein solches Schiff zu hacken.«

»Denn Schlüssel haben sie jetzt schon«, sagte die stellvertretende Kommandantin. »Unsere Frequenzen, unsere Sprache, unsere Grammatik. Im Grunde müssen sie uns gar nicht mehr hacken. Wir haben ihnen alles auf dem Silberteller präsentiert.« Dann tat sie, als würde sie sich selbst ins Wort fallen. »Aber entschuldige, Alexander«, sagte sie giftig. »Ich wollte deiner Einschätzung der ganzen Sache keineswegs vorgreifen.«

Sie ließ einen strengen Blick über die gesamte Brückencrew schweifen und wandte sich dann wieder ab.

Ein Moment der Stille entstand, in dem man Schleuner und Kopertnik durchatmen hörte. Wiszewsky gab sich dagegen unbeeindruckt.

»Was war das mit diesem Wort«, fragte er. »Wie nennen sie sich?«

»Tloxi.« Schleuner war froh, im Text fortfahren zu können. Sein Assistent spielte einen kurzen Filmschnipsel ein, in dem einer der Roboter eine unidentifizierbare Lautfolge von sich gab. Ein seltsames Knacksen.

»Sie haben unsere Sprache bis auf die Ebene der einzelnen Phoneme analysiert«, erläuterte der Wissenschaftler. »Parallel zu diesem Versuch einer akustischen Kommunikation senden sie Signale auf der Frequenz unserer Lokalen. Von daher haben wir eine digitalisierte Version dessen, was in der mündlichen Aussprache ein wenig interpretationsbedürftig ist.«

Vom anderen Ende der Brücke hörte man die Vizeadmiralin genervt schnaufen.

Wiszewsky lächelte seinem Chefwissenschaftler auch jetzt gewinnend zu.

»Von daher«, sagte Schleuner, »können wir ganz sicher sein. T-L-O-X-I. Tloxi!«

»Und was soll das heißen?«, fragte der Kommandant.

»Das ist ihr Eigenname.« Der Chef der Planetarischen Abteilungen wirkte für einen Moment konsterniert. »So nennen sie sich.«

»Gewiss.« Wiszewsky musste überlegen, wie er seine Frage formulieren sollte. »Aber was heißt es.«

»Ach so.« Schleuner tat auf wenig überzeugende Weise so, als sei ihm der Groschen gefallen. »Das wissen wir natürlich noch nicht. Wir müssen ihre Sprache insgesamt vorliegen haben. Ein einzelnes Wort lässt sich schlecht deuten.«

»Verstehe.«

»Aber wir sind dran«, fügte der Wissenschaftler noch an, um dem Wortwechsel einen versöhnlichen Abschluss zu geben.

»Danke, Schleuner.«

Die Crew aus Experten und Brückenoffizieren stand beklommen da, als der große Schirm fürs erste erlosch. Wiszewsky schien zu überlegen, wie es weiterging. Doina Gobaidin fuhr herum, als habe sie auf diesen Moment gewartet.

»Alexander«, sagte sie scharf. »Entschuldige, wenn ich mich einmische.«

»Du bist mein Vize«, entgegnete er zuckersüß. »Du darfst dich in alles einmischen.«

»Findest du das nicht merkwürdig«, fragte sie, ohne auf seinen süffisanten Ton einzugehen. »Sie haben unsere gesamte Sprache, unsere Frequenzen und so fort, wir haben von ihnen ein einziges Wort, mit dem wir noch dazu nicht das geringste anfangen können.«

»Wir arbeiten dran.« Wiszewsky stellte sich rhetorisch vor seine Wissenschaftler und hob dazu die Schultern.

»Das ist mir zu wenig«, sagte die Gobaidin. »Wo sind unsere KIs? Wenn es so einfach ist, unbekannte Kommunikationsformen zu knacken, warum kriegen wir das nicht auch hin.«

»Ich gebe die Frage weiter an die Spezialisten.«

Schleuner zuckte zusammen. »Wie gesagt, das, was wir für die interne Kommunikation der Tloxi untereinander halten, ist auf eine sehr anspruchsvolle Weise verschlüsselt. Die Chefprogrammierer unserer Quantencomputer sind dabei, die entsprechenden Algorithmen zu schreiben, um das zu dechiffrieren.«

»Laertes würde das an einem Nachmittag improvisieren«, murmelte die Vizeadmiralin in sich hinein. Laut sagte sie: »Warum ist unsere eigene Lokale eigentlich nicht in solcher Form verschlüsselt?«

Schleuner sandte einen fragenden Blick in Richtung des Kommandanten, der ihm die Antwort überließ.

»Um ehrlich zu sein, wir sahen nie eine Notwendigkeit dafür!«

Wiszewsky zuckte auch dazu nur mit den Achseln.

»Deine Vorsicht in Ehren«, sagte er zu seiner Stellvertreterin, »aber bis jetzt gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass diese – Dinger irgendwie gefährlich sind.«

»So!« Doina Gobaidin brauste auf. »Bezichtigst du mich der Paranoia, Alexander?«

»Das nicht, aber ...«

»Um uns allen ins Bewusstsein zu rufen, womit wir es zu tun haben: Wir wissen es nicht! Warum kommen euch diese Wesen eigentlich so harmlos vor? Ihr scheint sie nicht richtig ernst zu nehmen? Weil sie so klein sind? Weil sie aussehen wie Maidbots, die reiche Leute ihren Kindern schenken?« Sie schüttelte den Kopf.

»Bleib bitte sachlich«, mahnte Wiszewsky.

»Entschuldige«, erwiderte sie giftig. »Ich habe mich hinreißen lassen.« Sie kam jetzt auf den Rest der Mannschaft zu, der sich auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE versammelt hatte, um die Lücke zwischen sich und der Crew zu schließen. »Ich möchte nur an Sie alle appellieren«, sagte sie dann in deutlich konzilianterem Ton, »weniger vertrauensselig zu sein. Im Augenblick wissen wir gar nichts. Wir haben noch nicht einmal in die – Dinger reingeschaut.«

»Das wird einer der nächsten Schritte sein«, sagte Schleuner eilfertig. »Ich warte nur noch auf die Freigabe.«

Die Gobaidin überging ihn, als sei er nicht existent. »Wir haben nicht die geringste Ahnung, womit wir es zu tun haben. Lassen Sie sich vom Augenschein nicht täuschen. Was wir wissen, ist, dass diese – Tloxi uns anscheinend technisch haushoch überlegen sind.« Sie ließ eine Pause eintreten, in denen sie die Anwesenden einen nach dem anderen mit einem strengen Blick maß. »Lassen Sie sich nicht einlullen, bleiben Sie misstrauisch!«

Die erfahrenen Wissenschaftler und dekorierten Brückenoffiziere nickten wie eine Schulklasse, die eine Standpauke ihrer Rektorin über sich ergehen lassen musste.

»Fertig?« Wiszewsky schien sein amüsiertes Grinsen fest im Gesicht installiert zu haben.

Seine Stellvertreterin quittierte das mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Schön.« Der Kommandant legte die Hände ineinander und setzte ein zufriedenes Strahlen auf, das besagte, er werde jetzt zur Tagesordnung zurückkehren. »Wie geht es weiter?«

Die Frage war direkt an Schleuner gerichtet, der auch auf sie gewartet hatte.

»Wenn Sie uns das Go geben, würden wir jetzt mit den invasiven Maßnahmen beginnen.«

»Das heißt?«

»Wir haben vor, einen Tloxi aus der Gruppe zu entfernen und ...«

»Glauben Sie, das werden sie zulassen?«

»Warum nicht?« Der Wissenschaftler kam für einen Augenblick aus dem Konzept, das er sich so schön zurechtgelegt hatte.

»Ich weiß nicht«, sagte Wiszewsky entwaffnend. »Wie sie da so stehen, das hat so etwas von einer – Wagenburg?«

Auf ein Zeichen hin ließ Schleuners Assistent das ursprüngliche Bild noch einmal aufflammen. Fünf der kleinen Roboter bildeten einen Kreis, man konnte auch sagen: eine Studie in fünfstrahliger Radialsymmetrie.

»Ich denke nicht«, sagte Schleuner, »dass da etwas passieren sollte.«

»Woher wollen Sie das wissen«, fragte Doina Gobaidin.

»Bis jetzt haben wir keinerlei Anhaltpunkte, dass diese Anordnung etwas zu bedeuten habe. Es gibt keine Kraftfelder, über die die fünf Entitäten oder Individuen miteinander verbunden wären, oder etwas in der Art.«

Die Vizeadmiralin sah Wiszewsky mit gleichgültiger Miene an. »Keine weiteren Fragen, euer Ehren!« Die Bewegung, in der sie beide Hände anhob, deutete allerdings darauf hin, dass sie ab sofort jede Verantwortung für das weitere Geschehen ablehnte.

»In Ordnung.« Der Kommandant nickte nachdenklich vor sich hin. »Schnappen Sie sich einen von den Kerlen. Bringen Sie ihn in ein separates Labor.«

»Wir bauen gerade eine zweite Quarantäne-Einheit auf«, erklärte Schleuner.

»Sehr gut. Lassen Sie äußerste Vorsicht walten.«

»Selbstverständlich, Sir.«

Wiszewsky vermied es, die Gobaidin triumphierend anzusehen. Stattdessen musterte er kühl den Raum, der jenseits der großen Panoramafenster klaffte und in dem ein winziger staubfarbener Lichtfleck die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die Stille auf der Brücke bekam einen eigenen Ton. Wiszewsky registrierte ihn und sah seine Leute fragend an. In den Mienen las er, dass sie noch etwas vorzubringen hatten.

»Eine Sache noch.« Schleuner musste auch jetzt für die gesamte Mannschaft sprechen.

»Immer raus mit der Sprache.« Manchmal kostete es auch einen Alexander Wiszewsky eine gewisse Anstrengung, die Aura des jovialen und unerschütterlichen Vorgesetzten zu wahren. Er wirkte müde und ein kleines bisschen überfordert, gab sich aber alle Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Die KI-Spezialisten und Planetologen, die einfach nur loslegen und in die nächste Phase eintreten wollten, konnte er damit vielleicht täuschen, seine Stellvertreterin allerdings nicht. Sie wartete von Anbeginn der Mission an nur darauf, dass er sich eine Blöße gab, die es ihr ermöglichte, ihn abservieren zu lassen. Wiszewsky wusste das natürlich. Er nahm die Herausforderung an und absolvierte täglich aufs neue den Drahtseilakt, nicht vorschnell, aber auch nicht zu zögernd zu entscheiden. Denn entscheiden musste er.

»Die Quarantänemaßnahmen«, brachte Schleuner hervor.

»Was ist damit?« Diesmal konnte Wiszewsky nicht verhindern, dass ein Seitenblick direkt zur Gobaidin hinüberflog. Er war ihm einfach entwischt.

»Wir würden sie gerne aufheben.« Schleuner biss sich auf die Zunge. »Zumindest lockern. Es ist, im konkreten Ablauf, vor Ort, also es ist einfach sehr hinderlich.«

»Sie meinen die Anzüge?«

»Die Anzüge, die Schleusen, die Dekontaminierung nach jedem einzelnen Schritt.«

»Wie schätzen Sie das ein«, fragte Wiszewsky. »Haben wir eine Risikoabwägung.«

»Die Dinger sind biologisch tot und absolut inert«, sprudelte Schleuner hervor. Er hatte sich das zurechtgelegt und auf den Moment gewartet, an dem er es anbringen konnte. »Da kann wirklich nichts passieren.«

Der Kommandant atmete schwer durch. Es gab Situationen, in denen er sich einen Vize gewünscht hätte, mit dem er sich vertrauensvoll besprechen konnte. Aber das war nun einmal nicht gegeben. Das genervte Stöhnen, das auch jetzt aus der einschlägigen Ecke drang, machte jede Rückfrage überflüssig. Seine Stellvertreterin war dagegen!

Aber das war ihr Problem!

»In Ordnung«, sagte Wiszewsky und ignorierte die Gobaidin, die am Rand seines Sichtfeldes wie von der Tarantel gestochen herumfuhr. »Wir lockern die Bestimmungen um eine Stufe.« Er sah Schleuner fest in die Augen, als er eine Drohung aussprach, von der er wusste, dass sie für den Wissenschaftler die Erfüllung eines Herzenswunsches war. »Aber Sie gehen hinunter und leiten die Autopsie persönlich!«

Auf der ERIS herrschte geschäftige Stille. Seit Brini mit dem Transportmodul der ERIS A in sicherer Entfernung am Sprungmodul angekoppelt hatte und nach etwa zehn Minuten Beschleunigung in einem Korridor verschwunden war, hatten sie nur noch das Nötigste gesprochen, und das leise, mit gedämpfter Stimme und mit scheuen Seitenblicken zu Rogers, der seiner eigenen Arbeit nachging, als wäre nichts geschehen.

Die Protokolle des Ereignisses mussten ausgewertet werden. Damit hatte die auf eine Handvoll Wissenschaftler zusammengeschrumpfte Crew vollauf zu tun. Die Bordcomputer bereiteten die Daten nur auf. Interpretieren mussten sie die menschlichen Gehirne. Diese wären dem Ansturm nackter Informationen, die nach Exo- und Petabytes zählten, nicht gewachsen gewesen. Aber nur sie waren in der Lage, die Begriffe zu bilden, auf die man das ganze bringen konnte, und die Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Was Dr. Randolph Valerian Rogers anging, so musste man ihn nicht einmal sehr gut kennen, um an seinen kleinen listigen Äuglein ablesen zu können, dass er sich seinen Reim auf den Erfolg des Experimentes bereits gemacht hatte. Konzentriert, aber offensichtlich bester Dinge schob er die multiperspektivischen Displays seines Bedienplatzes hin und her, rief hier Details auf, ließ sich dort einen Spezialgrafen darstellen, und verströmte bei dem ganzen den Eindruck eines Mannes, der mit sich und seiner Arbeit vollkommen zufrieden ist. Ein anderer hätte die Lippen gespitzt und sich ein Lied gepfiffen. Das war Rogers’ Sache nicht. Er fokussierte sich ganz auf die Auswertung des spektakulären Versuchs, der einen ganzen Planeten in Schwingung versetzt hatte. Später würde er sich noch einen Whisky gönnen, nach Feierabend. Wobei seine Mitarbeiter sich seit längerem fragten, wann er überhaupt so etwas wie Feierabend machte.

Als die offizielle Schicht zuende war und die Echos und Resonanzen der ungeheuren Detonation in ein hochauflösendes Schalenmodell des Planeten umgesetzt worden waren, nahm einer nach dem anderen die Hände von der Konsole. Die Männer und Frauen traten von ihren Arbeitsplätzen zurück. Einer räusperte sich, eine andere ließ wohlig die Halswirbel knacken. Eine gespannte Stille breitete sich auf dem Hauptdeck der Orbitalstation aus. Endlich registrierte auch Rogers, das seine Leute der Meinung waren, für heute sei es genug.

Er sah von der Bedienoberfläche auf, drehte sich um und ließ einen interessierten Blick über seine Mannschaft schweifen.

Anthony Grainer, der so etwas wie der Sprecher der Crew war, gab sich einen Ruck und trat einen Schritt vor.

»Dr. Rogers, Sir?«

»Tony?«

»Mit Verlaub, meinen Sie nicht, dass wir es für heute gut sein lassen können.«

Rogers lachte trocken.

»Ihr habt genug, was?« Seine Leute fragten sich, was mehr zu seiner guten Laune beitrug: der positive Abschluss des Tests, dem monatelange komplizierte Vorbereitungen vorangegangen waren, oder die Tatsache, dass Brini aus dem Schussfeld war. Der italienischstämmige Stellvertreter kam nicht besonders gut mit seinem Vorgesetzten aus, was im übrigen auf Gegenseitigkeit beruhte. Schon Brinis Äußeres mit manikürten Händen und schulterlangen schwarzen Locken, die ihm etwas Effeminiertes gaben, war Rogers zuwider – und der Stationsleiter war auch nicht der Mann, der einen Hehl aus seinen Antipathien machte. Brinis Angewohnheit, seinem Chef zu widersprechen und seine Entscheidungen in Zweifel zu ziehen, trugen nicht eben zu einem entspannten Umgangston bei. Rogers war gewohnt, dass er Anordnungen traf und dass diesen Folge geleistet wurde, ohne Verzögerung und ohne Rücksprache. Darin kam die straffe militärische Ausbildung durch, die absolviert zu haben er mit keiner Faser seines Wesens verheimlichte. Jetzt, da Brini endlich abgeflogen war und er die ERIS unter seinem alleinigen Kommando hatte, strahlte Rogers vor Gelassenheit und Jovialität.

»Es war ein langer Tag«, brachte Grainer hervor.

»Das war er in der Tat.«

»Und kein verschwendeter.«

Wieder produzierte Rogers ein kurzes, humorloses Lachen. Aber seine Miene war voller Wohlwollen.

»Ist gut, Kinder«, sagte er, obwohl er nicht einmal der Älteste an Bord war. »Schluss für heute.«

Ein Raunen der Erleichterung ging über das Deck. Konsolen wurden auf Stand By gesetzt, Kaffeebecher in den Recyclingschächten entsorgt. Rückenwirbel und Fingerknöchel knackten.

Rogers sah sich munter in den Reihen seines kleinen Teams um.

»Wie ich schon sagte«, begann er im Ton einer weiteren Ansprache. »Ich denke, dies war ein historischer Tag. Ein echter Durchbruch. Viel Arbeit liegt vor uns, aber für heute wollen wir es damit bewenden lassen.«

Er nickte seinen Leuten noch einmal anerkennend zu. Ein dürrer Applaus eroberte das funktionale Deck. Jetzt, da die Displays und Holoschirme weitgehend deaktiviert waren, wirkte die Arbeitsebene der ERIS beinahe geräumig.

Die Flaschen und das Gebäck, die man nach dem kleinen spontanen Umtrunk am Mittag rasch hatte verschwinden lassen, kamen wieder zum Vorschein. Die Wissenschaftler stießen miteinander an. Rogers hielt schon wieder einen Whiskytumbler in der Hand.

Tony Grainer stand immer noch da und musterte seinen Vorgesetzten. Als dieser ihm mit der Whiskyflasche vor der Nase herumwedelte, lehnte er dankbar ab. Er wirkte beinahe entsetzt. Tatsächlich war Alkohol auf Basen der Union so eine Sache. Von offizieller Seite existierte nichts dergleichen, auch wenn allen klar war, dass auf den Schiffen und Stationen gesoffen wurden, und zwar umso mehr, je abgelegener die Einsatzorte waren.

»Tony?« Rogers ließ einen Schluck des öligen goldbraunen Getränks auf der Zunge zergehen und sah dabei seinen Mitarbeiter erwartungsfroh an.

»Eine Sache noch, Sir.«

»Immer raus mit der Sprache!«

Rogers musterte den jungen Wissenschaftler. Grainer war perfekt gekleidet und adrett gescheitelt. Alles an ihm strahlte britische Contenance aus. Er trug eine dieser interaktiven Datenbrille, die seit Generationen immer wieder in Mode kamen, in der Versenkung verschwanden, um abermals hervorgekramt zu werden. Randolph Rogers war biologisch gesehen zwar erst dreißig Jahre alt, aber als Veteran des Jungfernfluges der MARQUIS DE LAPLACE hatte er schon mehrere Jahrhunderte kommen und gehen sehen und mit ihnen die einschlägigen Trends. Brillen als Sehhilfe brauchte seit langer Zeit kein Mensch mehr, und auch die optischen Interfaces, die ihre Träger mit virtuellen Projektionen bombardierten, waren eigentlich ebenfalls nicht mehr state of the art. Man trug Implantate in der Schläfe oder am Handgelenk. Die Brillen waren im Grunde Accessoires, die man sich nicht ihrer vermeintlichen Funktionalität wegen antat, sondern aus rein modischen Erwägungen. Sie waren chic, sie verliehen ihrem Träger eine intellektuelle Ausstrahlung. Rogers fragte sich zwar, ob der so überaus korrekte Grainer so etwas nötig hatte. Aber er musste seine Mitarbeiter nehmen, wie sie kamen.

»Mit Verlaub, Sir«, druckste der junge Mann. »Ihre Äußerung, heute Mittag, zu Dr. Brini.«

»Was ist damit?«

Die aufgeräumte Stimmung an Bord der ERIS war so schnell verflogen, wie sie sich nach Schichtende ausgebreitet hatte. Alle hielten die Luft an und waren eines weiteren von Rogers’ gefürchteten Ausbrüchen gewärtig.

»Sie sagten«, begann Grainer, »diese Mission ...«

»Ich weiß, was ich gesagt habe.« Rogers schnauzte ihn im Ton eines übellaunigen Chefausbilders an, behielt das gewinnende Lächeln aber bei. Auch seine kleinen Augen zwinkerten fröhlich, als wollten sie signalisieren, dass Rogers sein cholerisches Temperament heute selbst nicht ganz ernst nehme.

»Ich hätte ...«, brachte Grainer hervor. »Wir hätten das gerne geklärt, Sir. Unserer Auffassung nach ist dies eine zivile Mission, und sie untersteht den entsprechenden Statuten der Union, die eine zivile wissenschaftliche Organisation ist.«

»Sie haben vollkommen Recht, Tony«, sagte Rogers gewinnend. »Entspannen sie sich. Beinahe hätte ich gesagt: Stehen Sie bequem!«

»Ich stehe bequem!« Grainer reagierte nicht ohne einen Anflug von Trotz auf diese militärische Redeweise. Rogers quittierte es mit einem Schmunzeln.

»Sie haben recht«, wiederholte er. »Die Union ist durch und durch zivil, und diese Mission steht unter der Federführung der Union.«

Er nickte zufrieden vor sich hin, als sei damit alles gesagt.

»Aber?« Anthony Grainer registrierte, dass dies noch lange nicht die ganze Wahrheit war.

»Aber«, nahm Rogers den Faden auf, »es gibt auch Dinge jenseits der offiziellen Verlautbarungen.«

»Das heißt?« Der junge Wissenschaftler bemühte sich darum, so konziliant wie möglich zu erscheinen. »Also: Wenn Sie mit uns darüber reden dürfen. Oder möchten?«

»Nicht so unterwürfig, Tony.« Der Kommandant lächelte so breit und herablassend, wie man es von ihm gewohnt war. »Wir können über alles reden. Sie haben ein Anrecht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«

Grainer schluckte laut und vernehmlich. Auf dem einen oder anderen Gesicht spiegelte sich die Auffassung, dass man es so genau vielleicht gar nicht wissen wolle.

»Dies ist ein ziviles Projekt«, sagte Rogers jetzt ganz ruhig, im Ton eines ausführlichen Rechenschaftsberichtes. »Aber ein solches Projekt kostet Geld. Eine ordentliche Stange Geld, wie ich bemerken darf.«

»Das leuchtet ein«, sagte Grainer.

»Also haben wir Drittmittel eingeworben, wie man so sagt. Wir haben uns zahlungskräftige Partner gesucht. Geldgeber, in einem Wort.«

»Militärs?!«

Rogers schüttelte den Kopf, als sei seinem Untergebenen ein ungehöriges Wort herausgerutscht. »Sagen wir: Unternehmen, Stiftungen, Forschungsinstitute.«

»Militärs.« Grainer nickte düster vor sich hin.

»Es gibt nicht nur schwarz und weiß im Leben«, erwiderte Rogers väterlich.

»Und die Verwendung unserer Ergebnisse?«, fragte Grainer. »Was ist das für eine Stelle, zu der Sie Dr. Brini geschickt haben?«

»Das ist einer unserer Kontakte«, erklärte Rogers unumwunden. »Dort verfügt man über die geballte Expertise, die nötig ist, aus unserem heutigen Test die passenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Womit ich Ihnen allen nicht zu nahe treten möchte. Aber wir sind ein halbes Dutzend. Dort beugen sich bald mehrere tausend Koryphäen mit heißen Köpfen über unsere Protokolle.«

»Sie haben uns verkauft«, stellte Anthony Grainer nüchtern fest.

Auch jetzt drückte Rogers’ Miene aus, dass er die Einwände ernst nahm, den Pessimismus, den der nur unwesentlich Jüngere damit verband, aber ganz und gar nicht teilte.

»Es hat alles immer zwei Seiten«, sagte er. »Sehen Sie, Tony. Mit einem Küchenmesser können Sie Tomaten schneiden, Sie können aber auch jemanden abstechen, einen Einbrecher zum Beispiel.«

»So weit bin ich inzwischen auch«, sagte der Wissenschaftler. Er schien selbst über die Unerschrockenheit, mit der er einem Dr. Rogers entgegentrat, verblüfft zu sein. Allerdings schwitzte er sichtlich, und sein blasser Teint war bis zum Haaransatz flammend rot geworden. »Ich frage mich nur, wen Sie abstechen wollen?«

Rogers legte den Kopf schief und musterte ihn, als habe er gerade etwas außerordentlich Interessantes an ihm entdeckt.

»Niemanden«, sagte er ruhig. »Solange nicht plötzlich ein Einbrecher in meiner Küche steht!«

Die Vorbereitungen waren nach einer Stunde abgeschlossen. Doina Gobaidin hatte ihren ausdrücklichen Protest erklärt. Wiszewsky hatte ihn ungerührt zu Protokoll nehmen lassen. Dann hatte er seinen Platz an der Konsole des Kommandanten bezogen, während die Vizeadmiralin sich an einen der seitlichen Arbeitstische begeben hatte. Eine junge Brückenoffizierin wollte ihr respektvoll aus dem Weg gehen, aber die Gobaidin sorgte dafür, dass sie an ihrem Schirm stehen blieb. Sie selbst nahm eine Position zwei Schritte hinter der rotblonden Frau ein, als führe sie einen routinemäßigen Arbeitsbesuch durch.

Das Shuttle legte ab. Eine kleine Fähre, in der außer dem Piloten nur Dr. Schleuner und sein persönlicher Assistent Platz genommen hatten. Auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE verfolgte man schweigend, wie das kastenförmige, Fluggerät die Entfernung zu dem Asteroiden überbrückte und dann auf seiner Trichterlandschaft aufsetzte. Das Vorortteam hatte unterdessen die Quarantänestation, die man um die fünf Tloxi herum errichtet hatte, weiter ausgebaut. Es waren jetzt zwei der transparenten Kuppeln, die das Zentrum bildeten. Mehrere kleinere Zelte und die tonnenförmigen Stutzen von Luftschleusen setzten an allen Seiten daran an.

Das Shuttle ging in einiger Entfernung von der Station herunter. Der Rückstoß seiner konventionellen Reaktionstriebwerke wirbelte viel Staub auf. Es war keine Luft da, die ihn hätte verwehen können. Deshalb fiel er senkrecht wieder herunter, nachdem der Pilot die Aggregate ausgeschaltet hatte. Andererseits war die Schwerkraft des nur wenige Kilometer großen Asteroiden verschwindend gering, so dass die Wolken und Schwaden dem Boden nur in Zeitlupe näherkamen.

Schleuner und sein Assistent stiegen aus, während der Pilot sitzen blieb. Die beiden Wissenschaftler gingen zu Fuß zur Doppelkuppel des Quarantänezelts hinüber. Sie betraten es durch eine von mehreren Schleusen und orientierten sich im Inneren nach rechts. Das war die zuerst errichtete Kuppel.

Das Vorortteam war eingeweiht und hatte mit den Vorbereitungen begonnen. Eine Agravliege stand am Rand der Kuppel, um einen der fünf Tloxi in das angedockte Nachbarzelt hinüber zu bringen. Dort hatte man Messtische und Instrumente aufgebaut, die jedem Hightech-OP auf einem Sternenschiff zur Ehre gereicht hätten.

Schleuner warf einen Blick durch den halbrunden Verbindungstunnel nach drüben, um sich zu vergewissern, dass alles für die Untersuchungen bereit war. Dann nickte er den Kollegen zu, die sich in einem zweiten Kreis um die fünf Tloxi gruppiert hatten, als gälte es, eine besonders geheimnisvolle okkultistische Sitzung abzuhalten.

»Hallo zusammen«, sagte er munter auf der Lokalen.

Ein diffuses Gemurmel erfüllte die Übertragung, das klang wie in einer Kantine um sechs Uhr morgens.

»Kein unnötiger Überschwang.« Schleuner lachte. »Nur weil wir heute Geschichte schreiben!«

Auch jetzt blieb die Reaktion undeutlich. Die Wissenschaftler saßen schon mehrere Tage hier herum. Die anfängliche Euphorie war bei ihnen längst konzentrierter Routine gewichen. Sie waren bereit für den nächsten Schritt. Für große Worte fehlte ihnen, die allesamt kreuznüchterne Spezialisten waren, jeder Sinn.

»Okay, ich seh’ schon«, meinte Schleuner im definitiv letzten Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern. »Geben Sie mir eine Minute.«

Er drückte sich zwischen den beiden Männern oder Frauen – das war in den dicken Quarantäneanzügen nicht zu unterscheiden – hindurch, um an den inneren der beiden Kreise heranzukommen. Die Tloxi. Zum ersten Mal sah er sie mit seinen eigenen Augen. Nur noch das hauchdünne Visier, dessen Polarisierung vollständig aufgehoben war, befand sich zwischen ihm und den ersten nicht-terrestrischen Wesens, die man in den Tiefen des Universums aufgestöbert hatte. Sie wirkten so erschreckend – banal! Sie waren klein. Harmlos. Schlimmer: Sie waren geradezu niedlich. Die Gobaidin hatte recht: Man hätte sie gut einpacken und den Kindern daheim als kleines kosmisches Souvenir mitbringen können. Schleuner hatte selbst keine Kinder, aber für einen Augenblick sah er die seiner Nachbarn vor sich, ein Junge und ein Mädchen von acht und zehn Jahren, wie sie auf der leicht abschüssigen Wiese hinter der Terrasse ihres Elternhauses spielten. Es bedurfte keiner ausgeprägten Vorstellungskraft, einen Tloxi in dieses idyllische Bild zu setzen und ihn stolpernd und betont unbeholfen mit den Kleinen Fangen spielen zu lassen.

»Neue Erkenntnisse?«, fragte er, nur um noch ein paar Sekunden Zeit zu schinden. Am liebsten hätte er das ganze Team weggeschickt, zumindest in die Zwillingskuppel ein paar Meter nebenan, um mit den ergreifend alltäglichen und bestürzend vertrauten Wesen allein sein zu können.

»Nein«, sagte jemand auf der Lokalen.

Schleuner kannte die Stimme. Einer seiner engsten Mitarbeiter in der Abteilung. Er hätte auch nach rechts oben schielen können, wo die Kennung des Mannes, der gerade gesprochen hatte, in sein Visier projiziert wurde. Aber das alles interessierte ihn im Moment überhaupt nicht.

Da standen fünf Außerirdische! Sie ließen sich begutachten wie Statuen auf einer Vernissage moderner Kunst. Aber selbst in einer Ausstellung zeitgenössischer Skulpturen hätten sie höchstens durch Trivialität Skandal gemacht. An ihnen war einfach nichts – Besonderes!

»In Ordnung.« Er zwang sich, das Pathos abzuschütteln und geschäftsmäßig zu werden. »Sie haben gehört, was wir auf der Brücke besprochen haben und wozu der Kommandant uns autorisiert hat.«

Alle bestätigten durch Kopfnicken oder durch zustimmende Worte. Aus irgendeinem Grund schien deswegen niemand besonders nervös zu sein.

»Gibt es von Ihrer Seite irgendwelche Einwände?«

Er sah von einem zum anderen und hatte diesmal auch die Statuszeile seines Visiers im Blick.

»Kristina?«

Die Angesprochene schüttelte den Kopf.

»Die Jungs sind so steril, wie man nur sein kann.«

Schleuner musste eine bedauernde Bemerkung herunterschlucken. Kristina Nursin war die Exo-Biologin seines Teams. Die Entdeckung musste in ihr größere Erwartungen geweckt haben als bei jedem ihrer Kollegen, um sie dann in umso größere Enttäuschung zu stürzen. Bis jetzt hatte sie auf den Missionen nichts gefunden, das aufregender gewesen wäre als ein paar Aminosäuren auf einem Kometen oder in den Wolken eines Gasriesen. Und nun das!

»Absolut tot«, fügte sie noch an. »Ich würde sogar sagen, toter als tot.«

»Tut mir leid für Sie!« Das hatte Schleuner sich dann noch nicht verkneifen können.

»Es ist, wie es ist.« Kristina Nursin war nicht die Frau, die sich von Fehlschlägen entmutigen ließ. Jedenfalls würde sie sich das nie anmerken lassen. »Der Brocken, auf dem wir stehen«, sagte sie, »enthält wenigstens ein paar primitive proto-organische Moleküle. Methan und etwas Ammoniak. Aber die Jungs hier! Komplette Fehlanzeige.«

»Also können wir es wagen?«, fragte Schleuner noch einmal, nur fürs Protokoll.

»Von mir aus können Sie die Jungs ablecken oder mit ins Bett nehmen!«

»Ganz so schlimm ist es dann auch wieder nicht.«

»Nein, also von meiner Seite aus haben Sie ein fettes Go, Chef!«

»Das wollte ich ja nur hören.« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen die Lokale von vereinzeltem Kichern und Grunzen wiederhallte. Dann sah er noch einmal in die Runde. »Sonstige Einwände? Was ist mit den Strahlenwerten?«

Die Wissenschaftler winkten nur ab. Ihnen dauerte das alles viel zu lange. Wenn sie nicht bestimmte Vorschriften zu berücksichtigen hätten und wenn sie nicht wüssten, dass jedes Wort und jeder Handgriff in Echtzeit auf die MARQUIS DE LAPLACE übertragen wurde, hätten sie sich längst schon ihrer Anzüge entledigt und wären mit Sägen und Zangen über die Tloxi hergefallen.

»Gehen wir’s an«, verkündete Schleuner, der wider willen etwas Feierliches in der Stimme hatte.

Er aktivierte die Einleitungssequenz des Anzugs. Auf dem Unterarmdisplay verfolgte er, wie noch einmal sämtliche Daten der Umgebung abgefragt und in den internen Speichern abgelegt hatten. Nach und nach gingen alle Anzeigen auf grün. Der Druckausgleich zischte. Es knackste in den Ohren. Dann blinkte das Signal zum Abnehmen des Helmes.

Schleuner befreite sich und atmete einige Male tief durch. Die Luft im Quarantänezelt war kühl und trocken. Sie roch, wenn überhaupt, nach den Elastilfolien, aus denen die Kuppeln bestanden. Er wartete ab, bis alle seinem Beispiel gefolgt waren. Es war interessant, die Reaktionen der Leute zu beobachten, wobei er sich sagen musste, dass die meisten von ihnen schon wesentlich länger in den Anzügen steckten als er. Die Männer rieben sich das Gesicht und schnitten groteske Grimassen, um wieder ein Gefühl in Stirn und Wangen zu bekommen. Die Frauen hatten es dagegen hauptsächlich mit ihren Haaren. Kristina Nursin öffnete das Netz, das ihre Frisur im Inneren des Helmes gebändigt hatte, und entließ den dunkelblonden Pferdeschwanz daraus, der über die Helmkupplung auf ihren Rücken herabreichte.

»Das würde ich lassen«, sagte Schleuner.

Er hatte das mechanisch gesagt, um zu überspielen, warum er die Kollegin etwas zu penetrant angestarrt hatte. Kristina war eine attraktive Frau von Mitte dreißig mit strahlend blauen Augen, hoher Stirne und aparten Wangenknochen. Wenn sie das Haar ganz öffnete, musste sie noch mehr Sex Appeal haben. Aber auch das Strenge, das die Frisur ihr gab, stand ihr gut. Schleuner hatte sie nie anders gesehen. Auch an Bord, beim Routinedienst in der Planetarischen, trug sie stets Pferdeschwanz oder Netz.

»Warum?«, fragte sie nur.

»Vorschrift.« Er grinste nonchalant.

Sie hob die Schultern. »Sieht ja keiner!«

»Es sehen alle«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Und wenn etwas passiert, bin ich als Ihr direkter Vorgesetzter der Gelackmeierte.«

»Was soll denn passieren?«, fragte sie. Aber dann rollte sie das Haar doch wieder zu einer Art Dutt zusammen und verstaute es in dem farblosen Netz aus Elastil.

»Können wir dann anfangen«, rief einer aus dem Team ungeduldig.

»Selbstverständlich.« Schleuner musste lachen. Er musterte die Tloxi, die für ihn ununterscheidbar waren. »Welcher ist der Sprecher?«, fragte er.

»Der da.« Kristina Nursin deutete auf den Roboter, der ihnen beiden jetzt gerade gegenüber stand. Wenn sie selbst die Basis bildeten und die fünf Wesen die Spitzen eines fünfzackigen Sterns markierten, stand der Tloxi, der sich bereits mit einigen von ihnen unterhalten hatte, oben.

»In Ordnung.« Schleuner ging zwischen den beiden Tloxi durch, die ihm am nächsten standen und die keinerlei Regung zeigten. Die Abstände zwischen ihnen waren groß genug. Es hätte sogar die ganze Wissenschaftlergruppe im Inneren ihres Kreises Platz gefunden. Dennoch achtete Schleuner darauf, keines der Wesen zu berühren.

Er postierte sich in der Mitte der Formation, beugte sich unbeholfen vor und beschloss dann, in die Hocke zu gehen. Er betrachtete den Tloxi, der mit leerer Miene vor sich hinzustarren schien. Das grob gerasterte Rot seiner Augen, die aussahen, als seien sie aus primitiven semitransparenten Plastikelementen zusammengesetzt, schien ein wenig zu flackern.

»Ist das normal?«, fragte Schleuner.

»Die Augen, meinen Sie?« Auch jetzt übernahm es Kristina, für den Rest der Gruppe zu reden.

Schleuner bejahte.

»Die Intensität variiert leicht«, erklärte sie daraufhin. »Die Lichtstärke schwankt um etwa ein Prozent, die Farbwerte bewegen sich noch weniger. Wenige Nanometer rauf und runter. Vermutlich spiegeln die Augen die geistige Aktivität. Aber bislang konnten wir keine Muster identifizieren.«

Schleuner nickte. »Fragen wir sie einfach!«

Der klobige Anzug machte es nicht ganz einfach. Aber dann hatte er eine Stellung gefunden, in der er dem Tloxi einigermaßen in Augenhöhe gegenüber war.

»Mein Name ist Dr. Schleuner«, sagte er. »Ich bin der Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung des Schiffes MARQUIS DE LAPLACE, das sich in einem Orbit um diesen Asteroiden befindet.«

Er konnte förmlich hören, wie Doina Gobaidin einige tausend Kilometer entfernt, auf der Brücke eben jener MARQUIS DE LAPLACE, verzweifelt aufstöhnte.

»Das wissen wir«, sagte der Tloxi.

Schleuner, der jetzt nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war, bemerkte, dass der Roboter den Mund nicht bewegte, während er sprach. Allerdings schien das Flackern der Augen, die den Ton von Stopplichtern hatte, dabei zuzunehmen.

»Das freut mich«, sagte Schleuner. »Und es freut mich, dass Sie inzwischen unsere Sprache sprechen.«

»Das war nicht allzu schwer«, sagte der Tloxi. »Ihr Funkverkehr ist ziemlich durchsichtig. Kann man das so sagen?«

»Ich verstehe, was Sie meinen.« Schleuner unterdrückte ein Glucksen. Auch im Umkreis seiner Mitarbeiter sah er nur grinsende Gesichter, während er gleichzeitig überzeugt war, dass die Vizeadmiralin jetzt endgültig toben und schäumen würde. Die nichtvorhandenen Sicherheitsvorkehrungen in dieser Hinsicht würden noch ein Nachspiel haben. Aber das interessierte ihn jetzt nicht im geringsten.

»Schön«, sagte er nur. »Dann können wir uns umso besser unterhalten.«

»Ihre Sprache ist sehr einfach strukturiert«, sagte der Tloxi.

»Vermutlich ist sie das.« Schleuner dachte nach. »Es ist eine historisch gewachsene Kommunikationsform. Aber sie wurde irgendwann für unsere Schiffe und Basen ausgewählt, weil sie leicht zu erlernen ist und man sich in ihr knapp und präzise verständigen kann.«

Er versuchte in der Miene des kleinen Roboters irgendeine Regung zu erhaschen, aber genau so gut hätte er Empathie zu einer Bodenfliese aufbauen können.

»Was ja hiermit erwiesen wäre«, schloss er fürs erste.

»Ihre Spezies befährt noch nicht lange den Raum«, sagte der Tloxi.

»Das kommt darauf an, in welchen Zeitmaßen man denkt«, versetzte Schleuner. »Aber vermutlich haben Sie recht.« Er tauschte einen Blick mit seinen Kollegen, ehe er sich weiter vorwagte. »Wie ist es mit Ihnen? Sie nennen sich Tloxi, haben wir das richtig verstanden? Wie lange befahren Sie schon den Raum? Wo kommen Sie her? Entschuldigen Sie, wenn wir so neugierig sind. Das ist eine Untugend unserer Spezies.«

»Zum Begriff Untugend finde ich keine Entsprechung in unserer Sprache«, sagte der Tloxi.

»Ihre Sprache würde uns natürlich ebenfalls interessieren«, warf Schleuner leichthin ein. »Wollen Sie uns nicht Ihre Grammatik erklären, nachdem Sie sich schon mit der unseren vertraut gemacht haben?«

Das Wesen schien in Nachdenken versunken. Es wirkte wie ein ernstes, vielleicht auch etwas trotziges Kind.

»Es tut mir leid, Dr. Schleuner«, sagte es nach einer Weile. »Aber ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen.«

»Was meinen Sie«, rief der Wissenschaftler aus. »Die Grammatik? Oder einen Informationsaustausch im allgemeinen?«

»Wir sind nur das Vorauskommando«, sagte der Tloxi.

»Aha.« Schleuner wirkte für einen Augenblick perplex. Dann hatte er sich wieder im Griff. »Es hat Sie jemand geschickt! Da Sie nicht-biologisch sind, soweit wir das beurteilen können, vermutlich Ihre Erbauer oder Konstrukteure?!«

»Negativ«, schnarrte der Tloxi, dessen Stimme zum ersten Mal so etwas wie eine Färbung annahm. Vermutlich analysierte er das Gespräch Wort für Wort und lernte dabei auch Dinge wie die Tonmodulation.

»Verzeihung?«

»Ich bin nicht autorisiert, darüber Auskunft zu geben.«

»In Ordnung«, sagte Schleuner. »Ich bin wohl wirklich etwas zu sehr vorgeprescht. Mit der Tür ins Haus gefallen. All das sind Redensarten, aber irgendetwas sagt mir, dass Sie schon verstehen, was ich meine.«

»Was haben Sie jetzt vor?«

»Was ich ...?« Schleuner konnte zum wiederholten Mal seine Bestürzung kaum bemeistern.

»Wir haben Ihren Funkverkehr mitgehört und auch die Diskussionen, die sich auf der Brücke ihres großen Schiffes abgespielt haben.«

Schleuner registrierte, wie etwas an seiner Unterarmmanschette blinkte. Er sah aus dem Augenwinkel hin, ohne die Aufmerksamkeit von dem Tloxi zu nehmen. Es war das Symbol für Abbruch. Es kam direkt von der MARQUIS DE LAPLACE.

»Wir wissen, was Sie vorhaben.« Der Tloxi klang ganz ruhig, keineswegs drohend. Dennoch hatte diese Ruhe, die noch immer unpersönlich wie eine Flughafendurchsage war, während der letzten Sätze etwas Angsteinflößendes eingenommen.

»Dr. Schleuner«, sagte Kristina Nursin, die ebenfalls angepiepst worden war.

»Sofort.« Er hob die Hand um anzudeuten, dass er nur noch einen Augenblick brauche.

»Sie haben vor, einen von uns vom Rest der Gruppe zu isolieren und zu autopsieren«, stellte der Tloxi sachlich fest.

»Wir werden nichts ohne Ihre Einwilligung tun«, stammelte Schleuner überrumpelt.

»Negativ«, sagte der Tloxi. »Sie werden überhaupt nichts tun. Seit Bestehen unseres Volkes ist kein Mitglied einer fremden Spezies autorisiert worden, einen von uns zu autopsieren.«

»Selbstverständlich.« Schleuner registrierte, wie seine Mitarbeiter nach und nach die Helme wieder aufsetzten. Die Anzeige an seinem Unterarm hatte den Rhythmus ihres Blinkens verdoppelt. Das war nervtötend. Er versuchte sich zu konzentrieren. Aber die Situation entglitt ihm wie ein nasses Stück Seife, das umso sicherer davonflutschte, je fester er zugreifen wollte.

»Chef!« Das war die Stimme Kristina Nursins. Auch sie hatte, wie er über die Schulter hinweg wahrnahm, damit begonnen, den Helm wieder überzustreifen. Aber ihr Haarnetz hatte sich geöffnet. Der Pferdeschwanz gebärdete sich widerspenstig. Eine Kollegin half ihr, verhedderte sich aber ihrerseits in dem Durcheinander aus Haaren, Netz und Helmkupplung.

»Da geht etwas vor«, sagte einer der anderen Wissenschaftler.

Schleuner versuchte aufzustehen. Trotz oder wegen der geringen Schwerkraft war das gar nicht so einfach. In die Anzüge waren Gravipander eingearbeitet. Er musste sich erst darauf einstellen. Dabei war er Physiker, kein Astronaut! Als er sich abrupt hochstemmte, verlor er das Gleichgewicht und kippte nach vorne, in den Tloxi hinein, der regungslos dastand und ihn verständnislos anglotzte.

Für einen Moment hatte Schleuner die rot glimmenden Augen des kleinen Roboters keine Handbreit vor den seinen. Er sah, wie das leichte Flimmern und Flackern darin mit einemmal aufhörte. Der starre Blick des Wesens wurde noch eine Nuance starrer.

Dann erloschen die Augen.

Es war spät geworden. Die kleine Jennifer war längst im Bett, und auch die Zwillinge waren irgendwann aus ihrem Zimmer heruntergekommen, um Gute Nacht zu sagen. Die Erwachsenen blieben sitzen, leerten noch eine Flasche Wein und unterhielten sich. Irgendwann hatten sie alle Anekdoten aus der heroischen Zeit des Erstfluges durchgekaut. Beth gähnte laut und vernehmlich, um sich gleich darauf zu entschuldigen. Laertes hatte verstanden. Er erhob sich schwankend und stellte fest, dass er zu gleichen Teilen müde und betrunken war. Ash kam nicht einmal mehr aus seinem verführerisch bequemen Sessel hoch. Er sah aus, als wolle er am liebsten hier schlafen.

Beth war Laertes’ Zustand nicht entgangen.

»Wenn du magst, kannst du über Nacht hier bleiben«, sagte sie. »Ich habe das Gästezimmer für alle Fälle hergerichtet.«

Eigentlich war es ihm unangenehm, sich noch länger in diesem Familienidyll einzuquartieren. Schon am Nachmittag hatte er aufbrechen wollen! Aber er war zu schwer und zu benommen. Ihm fiel keine Ausrede ein. Und die Vorstellung, sich jetzt noch in den Scooter zu setzen und eine Stunde lang die Küstenstraße hochzutuckern, war wenig verlockend.

»Wenn’s keine Umstände macht?« Mehr brachte seine ungelenke Zunge nicht mehr zustande.

»Überhaupt nicht.« Beth führte ihn nach oben und zeigte ihm das Zimmer. Ash hatte sich mit einer undefinierbaren Handbewegung von ihm verabschiedet. Laertes wartete, bis Beth im Bad fertig war und die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte. All diese Einrichtungen eines fremden Ehelebens genierten ihn. Er ging ins Bad und war froh, als er wieder in seinem Zimmer war. Natürlich hatte er nichts dabei. Es hatte ein Kaffeebesuch werden sollen. Ein, zwei Stunden, um von der gemeinsamen Vergangenheit zu klönen. Jetzt war Mitternacht vorüber, und er war immer noch hier.

Er zog sich aus und setzte sich auf die Bettkante. Als er das Medaillon aktivierte, schaute ihn Kathys traurig-schönes Antlitz an. Er versank eine Weile in den Anblick. Dann legte er den Daumen in die Passform auf der Rückseite.

»Guten Abend, Laertes«, sagte Madeleines sanfte Stimme. »Da ist es aber spät geworden.«

»Ja, wir haben uns verplaudert.«

»Das tut dir gut«, meinte die KI mitfühlend. »Ich bin froh, dass du wieder unter Leute gehst.«

»Die letzten Jahre waren ein bisschen einsam, du hast recht.«

»Vorträge und Reisen ...« Die körperlose Stimme schien zu schmunzeln.

»Was soll ich den Leuten sonst erzählen?«

»Die Wahrheit?«

»Aber was ist die Wahrheit?«

»Das ist eine philosophische Frage, mein Freund. Ich fürchte, wir werden sie heute Nacht nicht mehr beantworten.«

»Weißt du, Madeleine, manchmal finde ich es schade, dass du keinen Leib hast. Für solche Äußerungen gehörst du eigentlich übers Knie gelegt!«

»Würde dir das Spaß machen?«

»Nein.« Er streifte das Kettchen, an dem das Medaillon baumelte, über den Kopf und deponierte es auf dem Nachttisch. »Was soll ich den Leuten sagen? Dass ich nur abgehangen bin? Mich vor aller Welt verborgen habe? Mich in mein Selbstmitleid vergraben habe?«

»Ich denke, du bist in letzter Zeit gut vorangekommen«, erwiderte Madeleine. »Allein, dass du die Einladung deines Freundes angenommen hast, ist ein Fortschritt. Vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen.«

»Ja, du hast recht.«

»Und dann sitzt du bis morgens früh und plauderst! Großes Lob!«

»Du sollst mich nicht verspotten, Madeleine.«

»Ich verspotte dich nicht, Laertes.«

»Du hast Bewusstsein und eine Persönlichkeit. Vielleicht hast du inzwischen tatsächlich so etwas wie eine Seele. Aber manche Dinge wirst du trotzdem nie begreifen. Weil du sie nicht nachempfinden kannst.«

»Den Schmerz?«

»Das Bewusstsein, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Das Gefühl des Unwiederbringlichen.«

»Es tut mir leid. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Aber ich denke, du kehrst trotz allem langsam ins Leben zurück. Es mag trivial klingen, zumal von einem Computer, aber du solltest jetzt nach vorne schauen, Laertes.«

»Ich bin ja schon dabei.«

Er schlüpfte ins Bett und deckte sich zu. Die Decke war leicht und angenehm. Das Fenster stand einen Spalt weit offen. Der Nachtwind führte das Geräusch der Brandung und den Geruch des Meeres mit sich.

»Was gibt es Neues?«, fragte er. »Was machen unsere heldenhaften Freunde bei der Eroberung der Galaxis?!«

»Oh, es gibt tatsächlich Neuigkeiten«, sagte Madeleine.

»Offizielle?«

»Nein.« Die KI klang beinahe so, als habe sie gekichert. »Nichts was du in den Nachrichten der Medien findest!«

»Stabslog?«

»Nicht einmal das!«

»Jetzt spann mich aber nicht länger auf die Folter!«

Laertes wusste, dass Madeleine bisweilen eigenmächtig geheime, streng geheime und absolut geheime Kanäle anzapfte. Er hatte sie dazu nicht ausdrücklich aufgefordert, aber er unternahm auch nichts dagegen. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Und als ehemalige Bordentität des größten Schiffes der Menschheit hatte sie sich den Anspruch bewahrt, über alle Vorgänge im Tätigkeitsbereich der Union auf dem laufenden zu sein.

»Rogers hat etwas ausgeheckt.«

»Erzähl!«

»Ein neues Modul.«

»Eine Waffe?«

»Eigentlich nicht. Offiziell ein System zur Erstellung von Planetenprofilen.«

»Seismische Sprengungen.«

»Etwas in der Art, aber mit einem ordentlichen Kaliber!«

»Atombomben?«

»Größer.«

Laertes pfiff durch die Zähne. »Ein offizielles Projekt der Union?«

»Offiziell schon!«

»Und inoffiziell?«

»Ein konfuses Netz aus Geldgebern, Stiftungen, obskuren Instituten und Scheinfirmen.«

»Die Mauretanier?«

»Nein. Oder doch nicht so, dass man sie identifizieren könnte.«

»Das sieht ihnen ähnlich.« Laertes gähnte. »Wie nah kommst du ran?«

»Alle Fäden laufen bei einer Organisation zusammen, deren Namen ich noch nie gehört habe.«

»Und das will etwas zu heißen haben.«

»Interessiert es dich?«

»Nur, wenn es nicht mehr lange dauert. Ich bin todmüde.«

»Sie nennen sich Unsichtbare Front!«

Persephone

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