Читать книгу Messias Elias - Matthias Grau - Страница 4

Abbruch

Оглавление

„Sie verstehen doch sicher, oder?“ Elias Young verstand. Abteilungsleiter Williams hatte ihm alles genau erklärt. Die Umsatzzahlen seien besorgniserregend. Daran sei er – Elias – nicht ganz unschuldig. Nicht abschlusssicher. Ein Verkäufer im Außendienst müsse abschlusssicher sein. Er dürfe den Kunden nicht aus den Klauen lassen. Wenn er schon im Büro eines potentiellen Interessenten sitze, dürfe er nicht eher gehen, bevor dieser seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt habe.

Als wenn das so einfach wäre. Elias hatte diverse Verkäuferschulungen besucht. Dort brachten zwielichtige Dozenten den Lehrgangsteilnehmern fragwürdige Praktiken bei. Zum Beispiel W-Fragen. Man solle den Kunden nicht fragen – kann ich etwas für Sie tun? Nein, man solle stattdessen fragen – was kann ich für Sie tun? Das sei nämlich viel konkreter, darauf könne der Angesprochene nicht einfach mit ,nein, danke!‘ antworten.

Die Kunden antworteten trotzdem mit ,nein, danke!‘

Oder Einwandbehandlungslisten: Ein weißes Blatt, bekritzelt mit einer Skizze, die mehrere Rechtecke enthielt, welche durch Pfeile miteinander verbunden waren. Man rief einen potentiellen Interessenten an und stellte ihm die Frage, die im ersten Rechteck eingetragen war. Von der Antwort hing ab, ob man anschließend dem Pfeil nach unten oder dem nach rechts folgte.

,Nein, danke! Kein Interesse!‘ Elias hasste diese Antwort! Denn dann folgte er dem Pfeil nach rechts zum nächsten Rechteck, von dem sich wieder zwei Pfeile gabelten, die wiederum zu weiteren Rechtecken mit Fragen führten und die allesamt dazu dienten, den Angerufenen argumentativ in die Enge zu treiben, bis er keinen anderen Ausweg sah, als einzuwilligen und das beworbene Produkt zu bestellen.

Sie können sich das Produkt nicht leisten? Pfeil nach rechts: Kein Problem, wir bieten auch Finanzierung an! Über wie viele Monate soll ihre Finanzierung gehen?

Doch auch die Listen funktionierten nicht. Die Angerufenen am anderen Ende der Leitung fingen entweder an zu schimpfen, oder sie legten einfach auf.

Ein ehemaliger Kollege von Elias war besonders dreist: Er wählte die Nummer erneut und behauptete frech, die Verbindung sei unterbrochen worden, und ob er, der Angerufene, als Auserwählter nicht das besonders günstige Sonderangebot nutzen wolle.

Keine 24 Stunden später kam ein Anwalt vorbei und deponierte unter den Augen eines mitgebrachten Zeugen eine gerichtliche Vorladung. Der Angerufene hatte eine Unterlassungsklage gegen das Unternehmen erhoben und forderte eine sechsstellige Summe.

Vermutlich war das mit ein Grund für die ,Umstrukturierungsmaßnahmen‘, wie Abteilungsleiter Williams Elias’ Rauswurf so raffiniert verklausuliert hatte.

Marketing funktioniert nicht. Das hatte Elias in einem Onlineportal gelesen. Jährlich gaben Unternehmen Milliardensummen für Werbung aus, und im Gegensatz zu den Experten aus den Verkäuferschulungen gab es auch noch Experten, die genau das Gegenteil behaupteten. Wenn jemand ein Produkt partout nicht benötigte, dann könne man die Filmchen noch so bunt machen, könnten die Sprecher noch so hypnotisierende Stimmen haben, die sich lüstern räkelnden Models noch so sexy sein, der Umworbene würde das Produkt trotzdem ums Verrecken nicht kaufen.

Elias’ Arbeitgeber hatte mit ihm ein Grundgehalt plus Umsatzbeteiligung vereinbart. Zu Beginn motivierte ihn diese Regelung tatsächlich, sich richtig reinzuknien, den Umsatz möglichst in die Höhe zu treiben. Doch beim Blick auf die Gehaltsabrechnungen folgte schnell die Ernüchterung. Spätestens nach einer netten Unterhaltung in einer Londoner Bar, als eine leicht angetrunkene Personalchefin ihm ein paar Geheimnisse aus den Führungsetagen verriet, war es mit der Motivation vorbei. Durch die Gehaltszusammensetzung aus Grundgehalt und Provision wälzten Arbeitgeber das Unternehmerrisiko gern auf ihre Angestellten ab. Ein Festgehalt müssten sie nämlich auch dann zahlen, wenn der Umsatz am Boden lag. Waren die Zahlen aber schlecht, bekam der Arbeitnehmer mit Provisionsanteil auch automatisch weniger Geld, egal ob er Schuld an der Misere hatte oder nicht.

Elias war sich keiner Schuld bewusst. Abteilungsleiter Williams saß ihm gegenüber und schaute ihn mit seinen teilnahmslosen grauen Augen an. Der verschlissene Bürostuhl sah aus, als würde der leicht übergewichtige Mann mit der Glatze und den von rechts nach links hinübergekämmten und irgendwie angeklebten Haaren das Polster bereits seit Jahrzehnten mit seinem fetten Hintern platt sitzen. Auch der fleckige blaue Kittel mit den im Ellenbogenbereich abgestoßenen Ärmeln unterstrich diesen Eindruck.

Das Unternehmen gab es seit gut 80 Jahren. Vermutlich hatte er schon häufiger Angestellte gefeuert. Es war sein Job, es gehörte mit dazu.

„Haben Sie verstanden?“ wiederholte Williams seine Frage. „Jaja …“ Elias nickte. Er war nicht der Typ, der ein Fass aufmachte, wenn ihm irgendwas nicht passte. Kein typisches Alphamännchen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb seine Umsätze stets im unteren Bereich lagen. Zum Verkäufer muss man berufen sein, so was kann man nicht erlernen. Es hatte zwölf Jahre gedauert, bis Elias das verstanden hatte.

Eigentlich musste man für jeden Beruf berufen sein, daher die Bezeichnung. Ob Feuerwehrmann oder Polizist, ob Türsteher oder Opernsänger – jeder Mensch hatte seine Bestimmung. Doch was war seine?

Elias Young, dreißig Jahre alt, eher still und zurückhaltend, ein freundlicher Mensch mit wenig Überzeugungskraft. Wenn er sprach, hörte niemand zu. Wenn er erklärte, fielen ihm die Gesprächspartner gern mal ins Wort. In solchen Situationen verstummte er.

Ein Kunde, dem er eigentlich eine Menge zu erzählen gehabt hätte, redete ganze zweieinhalb Stunden auf ihn ein. Mit einem unbeschreiblichen Wortschwall erzählte er seine ganze Lebensgeschichte. Hinterher wusste Elias alles über die Vorlieben, die Familie und wie der gesprächige Mann sich den Rest seines Lebens vorstellte. Als Elias endlich zum Abschluss kommen wollte, hatte der Mann es plötzlich sehr eilig und komplimentierte ihn aus dem Büro hinaus.

Nach diesem Vorfall, den er zu seinem Verdruss auch noch mit Abteilungsleiter Williams ausdiskutieren musste, schwor er sich, nie wieder so devot zu sein.

Abends hatte er das Thema noch einmal durchkauen müssen, als Sara ihn fragte, wie denn sein Tag gewesen sei. Elias versuchte erst, sich drum herum zu mogeln, aber auch Sara war in ihrem Auftritt recht selbstsicher und bohrte unbeirrt nach.

„Du wirst es nie zu was bringen“, warf sie ihm vor, „wenn du nicht endlich mal dominanter auftrittst! Du musst die Führung des Gespräches übernehmen, nicht dein Gegenüber!“

Sara. Oje! Wie sollte er ihr das nur beibringen?

„Sie sind zwar erst sieben Jahre in der Firma, aber ich biete Ihnen trotzdem ein Abfindungspaket an. Es gilt genau 24 Stunden, danach verringert es sich immer weiter, bis nichts mehr davon übrig ist. Haben Sie verstanden?“

Williams pochte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. Zwischen Finger und Tischplatte lag eine schriftliche Vereinbarung. Elias zog sie zu sich heran. Siebentausend Pfund Abfindung. Ein Witz! Aber es war besser als nichts. Er nickte. „Dann unterschreiben Sie hier!“ Erneut klopfte der Finger auf die Platte.

Ein Wink nach draußen, durch die Scheibe der Bürotür. Der kräftige Security-Mitarbeiter trat ein und richtete seinen schweren Blick auf Elias.

„Mr. Smith, geleiten Sie Elias Young aus dem Gebäude. Er ist ab sofort nicht mehr für uns tätig.“ Kurzes Kopfnicken, die fleischige Hand von Mr. Smith wies auf Elias und in Richtung Ausgang. Elias verspürte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Mr. Smith würde ihm nichts tun, das war absolut klar, aber dennoch hatte seine Erscheinung etwas Einschüchterndes. Berufung eben. Ihm gehorchte vermutlich jeder.

Wenig später stand Elias mit einem halbvollen Pappkarton in den Händen auf der Straße. Kein Blick zurück! Nur keine Sentimentalität! Es wird schon werden!


„Es wird schon irgendwie werden!“ Elias hörte seine eigenen Worte, doch er glaubte sie selbst nicht recht. Saras schräge Kopfhaltung bestätigte seinen Verdacht. Dann legte sie los und Elias verstummte. Versager, Nichtsnutz, warum hatte sie sich überhaupt mit ihm eingelassen! Er habe sie nur wertvolle Zeit gekostet, ein Glück, dass das jetzt passiert sei, in zehn Jahren wäre es zu spät gewesen, immerhin sei sie auch bald dreißig. Sie hätte noch so viel vor, Kinder vor allem, und wie solle sie das alles alleine bezahlen, in einer so teuren Stadt wie London?

Nachdem sie gegangen war, befanden sich auch einige Sachen weniger in der Wohnung. Das Bad schien erstaunlich groß ohne all die bunten Töpfchen und Tiegelchen. Und im ein Meter zwanzig breiten Bett konnte man sich doch erstaunlich gut rekeln und ausstrecken, sobald man nur noch alleine darin lag. Doch diese Gedanken mochten Elias nicht wesentlich erheitern. Denn die Angst kam zurück, das unangenehme Kribbeln in der Magengegend.

Arbeitslosigkeit, Verlust der Wohnung. London war inzwischen exorbitant teuer! Dabei wohnte er schon in einem der Außenbezirke! Vielleicht ließ der Vermieter mit sich reden?

Aber nein, warum sollte er? Er würde kein Problem haben, die Wohnung mit einer höheren Miete neu zu vergeben. Bei Besichtigungen standen die Bewerber in Viererreihen, trotz der hohen Mieten.

Elias’ Kopf füllte sich mit Schwere. Reiß dich zusammen! Doch die Tränen ließen sich nicht zurückhalten. Der seit Jahren angestaute Frust brach nun hervor. Zum ersten Mal im Leben fühlte er eine Aussichtslosigkeit, wie er sie noch nie empfunden hatte. Was nun?


Die Mitarbeiterin des Jobcenters zuckte ratlos mit den Schultern. „So was haben wir hier nicht. Verkäufer für Vakuumbeschichtungsanlagen? Wofür braucht man die? Wir haben hier nur Stellen für Verkäufer in Bekleidungsgeschäften anzubieten. Oder für Kellner. Da werden immer Leute gesucht. Ach so, die Füße tun Ihnen weh? Tja …“


Die Zeit verrann wie im Fluge, die Rücklagen gingen allmählich zur Neige. Siebentausend Pfund Abfindung sind nicht viel wert in einer Stadt wie London. Auch im Jobcenter wurde man ungeduldig. „Wenn Sie nicht bald etwas Neues finden, muss ich einen Schlussstrich ziehen! Die Wohnung ist zu teuer! Sie können nicht von der Allgemeinheit erwarten …“

„Jaja.“ Elias verließ ihr Büro mit gesenktem Kopf.

Vielleicht doch erst mal als Kellner? Aber wenn man erst mal etwas angefangen hat, wird man schnell träge und bemüht sich nicht mehr. Für alle Zeiten als Kellner zu arbeiten, schien ihm auch nicht die Erfüllung zu sein.

Er versuchte es trotzdem. Nach zwei Monaten hatte der Manager der Fast-Food-Kette ihm die Entscheidung abgenommen. Als Kellner muss man sich auch ein paar Dinge merken können! Doch Elias konnte sich kaum die Bestellungen der ihm zugewiesenen Tische merken, ganz zu schweigen von denen der anderen Kellner. Die Gäste bestellten halt bei jedem, der vorbeikam, sie wussten ja nichts von der Aufteilung der Tische. Die Beschwerden häuften sich.

Irgendwann war Elias’ Spalte an der Tafel mit der Schichteinteilung für die nächste Woche leer. Stumm ließ er die kurze Litanei des Managers über sich ergehen, räumte den Umkleidespind und verließ das Restaurant.

Gesichter konnte sich Elias gut merken, aber abstrakte Dinge? Namen, Daten … oder eben die bestellten Getränke verschwanden so schnell aus seinem Gedächtnis, wie sie durchs Gehör gerauscht waren.


„Ist mir egal! Ich hab genug eigene Probleme!“ Den Vermieter interessierten Elias’ zerbrochene Beziehung und die Arbeitslosigkeit nicht.

Elias war pleite. Es war vorbei. Ende der Woche würde er die Wohnung geräumt haben müssen. Glücklicherweise war nicht mehr viel übrig, denn er hatte bereits versucht, die wenigen Habseligkeiten, die ihm geblieben waren, auf dem Flohmarkt zu veräußern. Den Rest hatte Sara mitgenommen. Nur sein Bett und der sperrige Kleiderschrank standen noch da.

Typisch Frauen! Wenn alle Welt dich verlassen hat, wenn du alles verloren hast, ausgerechnet in dem Moment, wenn du Trost und Unterstützung am nötigsten hättest, genau dann wenden auch sie sich gegen dich und ziehen dir den Boden unter den Füßen weg!

Nur ein Wunder konnte Elias jetzt noch retten.

Ein Wunder …

Elias blickte durch das Fenster zum düsteren Himmel hinauf. Vielleicht sollte ich mal bei Gott nachfragen, was er sich dabei gedacht hat? Einfach mal Frust ablassen? Mich beschweren? Ihn so richtig anbrüllen?

Seine Eltern waren Protestanten gewesen, aber mehr auf dem Papier, als aus Überzeugung. Sie hatten vielleicht fünf, sechs Mal mit ihrem Sohn eine Kirche besucht, da war er noch ein Kind. Es war stets im Urlaub, an fremden Orten, wo sie die Kirchen mehr wie eine Sehenswürdigkeit betrachteten und nicht als Ort zur spirituellen Einkehr und der Begegnung mit Gott.

Elias betrachtete noch immer den Himmel. Er war grau und wolkenverhangen, wie schon den ganzen Winter über. Bis zum Frühling waren es noch einige Wochen, doch Gott sei Dank war es nicht mehr so kalt.

Gott sei Dank. Wie leicht sich das sagt! Dabei wusste nicht einmal jemand, ob Gott überhaupt der richtige Adressat war für Dankbarkeit und Verehrung.

Kann er mich überhaupt hören, mit so dichten Wolken davor? Elias faltete die Hände vor dem Gesicht.

Nein, so ein Quatsch, dachte er und nahm sie wieder herunter. Es gibt keinen Gott! Der hätte sich längst mal blicken lassen müssen, bei all dem Übel und Elend in der Welt!

Er versteckte die Hände hinter dem Rücken, um sie zögerlich doch wieder hervorzuholen. Die Finger verschränkt und das Kinn auf sie gestützt, suchte er nach Worten. Wenig überzeugt von dem, was er tat, flüsterte er: „Gott? Bist du da?“ Elias horchte.

Der Lärm der Stadt war auch hier in den Außenbezirken noch deutlich zu vernehmen. Irgendwo in der Nachbarschaft kläffte hysterisch ein Hund los, nur kurz, denn plötzlich verstummte er, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

„Wie … wie soll ich dich nennen? Gott? Allah? Oder … Jehova? Ich meine … ich habe noch nie gebetet! Ich weiß nicht, wie das geht! Soll … oder … muss ich Amen sagen am Schluss? Damit es auch ankommt?“

Er sah das Gesicht seines Vaters vor sich. Ein freundlicher, gütiger Mann mit verhaltener Stimme. In seiner Funktion als Arzt und Wissenschaftler hatte er an der Entwicklung von Medikamenten zur Heilung von Krebs geforscht, bis der Krebs selbst ihn schließlich holte.

Seine weichen, warmen, dunklen Augen und der Vollbart waren Elias im Gedächtnis geblieben. Als Nordländer-Augen hatte Mama sie immer bezeichnet. Männer in Skandinavien hätten häufig solche Augen. Das Augenlid nach außen hin abfallend, den Blick leicht ausgestellt. Augen, in denen sich Fernweh spiegelte wie bei einem einsamen Bootsmann, der aufs weite Meer hinausschaut. Romantische Augen. Wehmütige Augen. In diesem Moment sah Elias alles klar vor sich: Das Meer, das freundliche Lächeln, den Bart, wie er vom Wind zerzaust wurde. Die Augen.

Kein einziges Mal hatte der Sohn seinen Vater wütend oder ungeduldig erlebt. Er tadelte nie, sondern korrigierte Fehler des Sohnes nachsichtig.

Elias hatte schon mit zehn Jahren beachtlich an Höhe gewonnen. Jeder Stuhl, jeder Tisch war zu niedrig für ihn. Ab etwa zwölf Jahren begann er daher, mit krummem Rücken bei Tisch zu sitzen. Sein Vater erinnerte ihn stets daran, indem er ihm mit der Hand sanft von oben nach unten über den Rücken strich. Diese stille Methode war ebenso effektiv wie unauffällig und vielleicht deshalb so erfolgreich. Auch nach dem hundertsten Mal verlor sein Vater nicht die Geduld. Irgendwann bemerkte Elias seinen krummen Rücken von selbst und korrigierte die Haltung.

Es gibt keinen Gott! Wie kann Gott es zulassen, dass so ein guter Mensch vor seiner Zeit einfach hinweggerafft wird?

„Gott holt jene, die er liebt, als erste zu sich“, hatte Elias Mutter ihn zu trösten versucht, und sich selbst vermutlich auch. Kurz darauf nahm sie sich aus Kummer das Leben. Über zwanzig Jahre war das nun schon her!

Gütig, so sollte ein Gott sein! Sanft, mit weichen, warmen, wehmütigen Nordländer-Augen und einem Vollbart.

„Vater. Ich werde dich Vater nennen!“ Dann wurde Elias flau ums Herz. Sein Schmerz ergoss sich in Strömen von Tränen über das Gesicht. Zunächst glichen seine Worte mehr einem Gestammel. Als er sich wieder beruhigt hatte, trug Elias seine Bitte zunehmend gefasster und geordneter vor. Das Gebet endete, nur so zur Sicherheit, mit einem Amen. Amen!

Elias lauschte seinen Worten hinterher. Die Geräusche der Stadt klangen mit einem Mal leiser, im Osten lockerte die Wolkendecke auf und ließ den aufgehenden Mond hindurchscheinen. Es sah aus wie ein göttliches Zeichen, fast schon prophetisch, schien es Elias. Doch die scheinbare Vision verging rasch, gefolgt von Regen. Er trommelte auf die blecherne Fensterbank und überdeckte den städtischen Lärm. Dennoch empfand Elias so etwas wie Trost, begab sich zu Bett und schlief schnell ein.


Mein Bett steht schief! Irgendetwas lastet auf der Matratze. Ich werde gleich herunterrollen, wenn ich mich nicht anders hinlege!

Noch nicht, ich will noch nicht wach werden! Schlafen. Einfach weiterschlafen … Die Gegenwart ist zu deprimierend, um ihr so früh am Morgen schon Beachtung zu schenken.

Jetzt bewegt sich das da auf der Matratze auch noch. Ist Sara zurückgekehrt? Nein! Die Art, wie sie aus der Wohnung gestürmt war, hatte keinen Raum für Illusionen gelassen. Aber wenn sie es nicht war, wer oder was war das dann, dort am Fußende auf der Matratze?

Ich bin so furchtbar müde! Aber vielleicht sollte ich doch besser mal nachsehen!

Elias öffnete die Augen. Am Fußende des Bettes saß ein alter Mann. Die Beine auf dem Boden, den Oberkörper halb zu Elias hingedreht, sah er ihn an.

Wobei das Adjektiv ,alt‘ irgendwie nicht so richtig passte. Zwar hatte er grau meliertes Haar und seine sonnengegerbte Haut zeigte eine stattliche Anzahl an Falten. Aber die Augen blitzten frisch und jugendlich. Sie demonstrierten zudem eine innere Stärke, wie sie wohl nur aus unendlicher Weisheit und der Erfahrung von Äonen erwachsen konnte. Seine Mimik zeigte einen Hauch von … war es Erstaunen? Die Brauen waren leicht angehoben, vielleicht bedeutete dies auch Neugier. Und irgendwie … kam er Elias bekannt vor!

Verschlafen stützte er sich auf den Unterarm, den Fremden wortlos betrachtend. Dessen Haare waren sauber gescheitelt, sein Vollbart gestutzt. Er trug einen selbstgestrickten, grün-braunen Schlabberpullover, eine ausgewaschene Jeans und eine braune Lederjacke. Keinerlei Schmuck, nicht mal eine Uhr, um seinen Auftritt zu verfeinern.

„Na? Entspricht meine Erscheinung deinen Vorstellungen?“ Der Mann brach das seltsame Schweigen als erster.

„Wer sind Sie denn überhaupt, und was machen Sie in meiner Wohnung?“

„Ach, komm schon! Nur weil ich kein Namensschild trage, muss das hier nicht ewig dauern!“

Elias setzte sich nun ganz auf und lehnte sich an die Wand. Diese Augen … der Bart … „Sie … Sie haben … irgendwie Ähnlichkeit mit … meinem Vater.“

„Ich habe mir auch alle Mühe gegeben, sein Aussehen möglichst detailgetreu anzunehmen. So etwa würde er heute wohl aussehen, wäre er noch am Leben.“

In der Tat! Der Mann sah aus, wie eine etwa zwanzig Jahre ältere Version seines Vaters! Elias’ Kinnlade folgte langsam der Erdanziehungskraft.

Das Gebet! Er hatte seinen Vater gar nicht erwähnt! Mühsam versuchte er, die noch übermächtige Müdigkeit abzuschütteln und in die Gänge zu kommen.

„Sie … sind … also …

Nein, das kann doch nicht …“

„Du hast mich gestern Abend angerufen. Hast um Antworten gebeten.“

Elias versuchte, das Offensichtliche zu verdrängen. „Nein, nein, Sie wohnen bestimmt nur in der Nachbarschaft! Ich vermute, Sie haben mich belauscht.“ Elias verschränkte trotzig die Arme und ließ sie sogleich wieder sinken, als der Mann fragte: „Was ist mit deinem Vater? Ihn hattest du nicht erwähnt! Das ist dir doch gerade eben selbst aufgefallen!“

Mein Gott, er kann Gedanken lesen! schoss es Elias durch den Kopf. Instinktiv versuchte er, nicht zu denken. „Ja, ganz recht – mein Gott! Du hast es also erraten!“

Ungläubig starrte Elias ihn an. „Du … du kannst also … Gedanken lesen! Du wusstest, wie ich mir einen gütigen Gott vorstelle. Aber … wie machst du das?“

Gott hob die Beine vom Boden, drehte sich ganz zu ihm hin und setzte sich in den Schneidersitz. Die Schuhe behielt er dabei an. Sie sahen vollkommen neu und unbenutzt aus, daher protestierte Elias nicht.

„Ich könnte es dir erklären, aber du würdest es nicht verstehen. Genauso wie du mein wahres Aussehen nicht verstehen würdest. Ich habe diese Form angenommen, damit du mich überhaupt wahrnehmen kannst. Um meine vollständige Gestalt zu registrieren, benötigst du siebzehn weitere, miteinander kombinierte Sinne. Ihr Menschen verfügt jedoch nur über eine simple rudimentäre Sensorik. Mit Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken könnt ihr kaum ein Prozent dessen entdecken, was euch umgibt. Was auch der Grund ist, weshalb ihr Menschen mich nicht wahrnehmen könnt. Eure Konstruktion ist einfach nicht mehr auf dem neuesten Stand!“

„Du hast also mein Gebet gehört“, stellte Elias, inzwischen wach und nüchtern, erfreut fest. Gott nickte. „Ich habe es gehört, gesehen, geatmet. Ich registriere alles, was geschieht. Du suchst eine neue Aufgabe.“

„Ja, sozusagen. Einen neuen Job. Vor allem, damit ich die Wohnung halten kann.“

Gott runzelte die Stirn. „Einen Job? Für dieses Loch, das du Wohnung nennst?“ Elias betrachtete irritiert, was von seiner Wohnung übriggeblieben war. Plötzlich, als würde ein Schleier vor seinen Augen beiseitegezogen, sah er die Welt klar und vollkommen rational. Die Wohnung lag im Souterrain eines heruntergekommenen, dreistöckigen Vorstadthauses. Die alte Tapete war speckig und rußgeschwärzt, die lackierten Holzdielen verschlissen. Das Fenster, durch welches Elias gestern Abend in den Himmel geschaut hatte, begann knapp über seinem Kopf. Selbst der kleinste Dackel mit den kürzesten Beinen, der auf dem Gehweg vor dem Haus an der Leine spazieren geführt wurde, konnte in die Wohnung hinabsehen, was in Wirklichkeit aber nie vorkam, denn nicht einmal Dackel würdigten diese Bruchbude auch nur eines Blickes. Elias begriff, dass er eigentlich gar nichts zu verlieren hatte.

„Aber warum kommst du gerade zu mir? So viele Menschen beten täglich zu dir, und ausgerechnet bei mir tauchst du auf?“ Der Mann antwortete: „Nun, sagen wir mal, es wurde Zeit! Es sind tausende Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Ich muss feststellen, es hat sich doch einiges verändert! Vieles leider nicht zum Besten! Eigentlich hatte ich mir das alles ganz anders vorgestellt! Aber da du mich um eine Aufgabe gebeten hast, will ich dir auch eine überantworten.“

Zweifelnd fragte Elias: „Für mich? Eine Aufgabe? Was könnte ich schon tun, was du nicht viel besser könntest? Du bist immerhin Gott!“ Der Mann antwortete: „Sicher, aber ich habe auch sehr wenig Zeit! Es gibt noch mehr Welten, um die ich mich kümmern muss.“

Elias staunte: „Noch mehr Welten? Wie viele?“

„Unendlich viele! In jedem Winkel und jeder Dimension!“

„Und für wie viele bist du verantwortlich?“

„Etwa schnölfzig.“

„Bitte?“ Elias kratzte sich am Kopf. „Die Zahl gibt es doch gar nicht!“ Gott wackelte mit dem Zeigefinger hin und her. „Nicht in eurem primitiven Dezimalsystem! Bei uns hingegen schon! Und natürlich muss ich meinem Vorgesetzten regelmäßig Bericht erstatten.“

Was? Gott hat einen Chef? Elias traute seinen Ohren nicht. „Es gibt noch eine höhere Instanz als dich?“ Der Mann lächelte amüsiert. „Ihr Menschen! Glaubt doch wirklich, ihr seid die Krone der Schöpfung! Wenn es unendlich viele Welten gibt, dann muss es auch unendlich viele Instanzen geben! Wie sonst sollte man all die Arbeit erledigen und organisieren, die tagtäglich so anfällt?“

„Ja … das ist wohl wahr!“ sagte Elias gedehnt. „Wie heißt denn dein Vorgesetzter?“ Schelmisch grinsend zog Gott die Schultern hoch. „Ich nenne ihn Chefchen! Weil ich weiß, wie sehr ihn das ärgert! Aber was soll er machen? Personal ist knapp! Da muss man als Chef hin und wieder etwas großzügiger sein.“

Gottes durchaus angenehmer Humor brachte Elias zum Lächeln, wenn auch nur kurz, denn er fiel zurück in sein trostloses Hier und Jetzt, und das Lächeln erstarb. „Ich wünschte, mein Chef wäre auch etwas großzügiger gewesen“, sagte er betrübt. „Nicht doch, Junge! Weine doch nicht diesem Job hinterher! Es gibt Besseres als das! Es gibt große Dinge für dich zu tun!“ Gott reckte erhobenen Hauptes den Oberkörper Achtung heischend empor und stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. „Die Rettung der Menschheit!“

Elias prustete: „Was? Ich? Die Menschheit? Retten?“ Er lachte. Doch erneut verging ihm das Lachen, denn der alte Mann wurde sehr ernst: „Ihr habt diesen Planeten furchtbar zugerichtet! Ihr seid die grausamste und gewalttätigste Spezies, die jemals diese Welt bevölkert hat! Während andere Lebewesen nur töten, um sich zu ernähren, bringt ihr nicht nur andere Spezies um, sondern auch noch euch gegenseitig. Ihr vernichtet eure Umwelt allmählich durch Gifte, Müll, Feuer und Rodung. Damit vernichtet ihr andere Lebewesen sogar indirekt, indem ihr deren Lebensgrundlage zerstört.

Ich experimentierte mit verschiedenen Entwürfen herum, um die optimale Mischung aus diversen Lebensformen für diese Welt zu finden. Alles muss perfekt zueinanderpassen, damit die Welt im Gleichgewicht bleibt, das ist nicht einfach! Ich erschuf auch die Dinosaurier, bei denen ich erst dachte, jetzt hab ich’s geschafft! Sie waren prachtvoll, nicht war? Aber ich lag falsch! Es wurden zu viele, das brachte alles ins Kippen. Also fachte ich die Vulkane an, sorgte für ein sich allmählich verschlechterndes Klima und schickte zum finalen Abschuss einen kleinen Asteroiden.“

„Klein? Aber … war der nicht riesig? So um die 15 Kilometer groß?“ unterbrach ihn Elias. Gott schüttelte den Kopf. „Das ist winzig! Fast nichts. Ich habe schon ganze Sonnen geschickt, wenn es gar nicht anders ging. Aber richtige Sonnen! Nicht so eine Faschingsfunzel wie eure hier.“

Elias bekam plötzlich wieder das unangenehme Kribbeln in der Magengegend, eine Ahnung ließ ihn erschaudern. „Hast du mit der Menschheit nun dasselbe vor wie mit den Dinosauriern?“ fragte er furchtsam.

Gott antwortete mit ratloser Stimme: „Was bleibt mir denn übrig, wenn ihr nicht zur Vernunft kommt?“

Elias erinnerte sich: „Die Zerstörung der zwei Städte, wie hießen sie noch gleich … Sodom und … Gomorra, warst du das wirklich? So wie im Alten Testament beschrieben?“ Gott fragte: „Bitte? Sodom? Gomorra? Warte kurz!“ Bei den letzten zwei Worten hob er den Zeigefinger, schloss die Augen und durchsuchte in Gedanken seine Notizen. „Ah, hier: Sodom und Gomorra. Deren Einwohner hatten jegliche moralische Orientierung verloren und wurden unter einem Regen aus Feuer und Schwefel begraben. Äh … nein! Das war ich nicht! Kleiner Betriebsunfall mit einem Meteoriten vor 3728 Jahren. Ich hab ihn nicht kommen sehen! Sorry, kann mal passieren! Doch ich glaube, sie hatten’s verdient!“

„Aber … ich meine … die Menschheit ist deine eigene Schöpfung! Du kannst uns doch nicht einfach so auslöschen!“ Es klang fast schon flehend und weinerlich. „Hast du es nicht selbst so verfügt – du sollst nicht töten?“

Der alte Mann korrigierte: „Ich sagte nicht ,töten‘, ich sprach von ,morden‘! Von was wollt ihr euch ernähren, wenn ihr nicht auch tötet? Von Sand und Steinen?“

„Vielleicht rein vegetarisch?“ schlug Elias vor. Gott runzelte die Stirn. „Vegetarisch? Ach so! Pflanzen sind natürlich keine Lebewesen, richtig?“ Elias schaute betreten.

„Ja, ich habe euch erschaffen! Aber ihr seid nicht mehr als ein genetisches Experiment. Ihr seid nicht mal ein besonders aufwendiger oder komplexer Entwurf. Euch zu vernichten ist für mich nichts anderes, als wenn ihr mit dem Tank voller Gift über ein Feld fahrt, um die darauf lebenden Insekten auszulöschen. Macht ihr euch darüber vielleicht Gedanken? Ich glaube nicht!“

Elias wurden schlagartig die Dimensionen bewusst, um die es hier ging. Dieses Wesen dort vor ihm, in Menschengestalt, war eine universale Kraft von unvorstellbarer Größe, eine Macht mit der Fähigkeit, Leben zu geben und zu nehmen. Wer gigantische Sonnen erschaffen kann, wer in der Lage ist, riesige Planeten um diese Sonnen so zu positionieren, dass sie für Jahrmilliarden umeinander kreisen, ohne sich in die Quere zu kommen, für den sind wir Menschen nicht mehr wert, als ein störender Ameisenhaufen im Garten hinter dem Haus.

„Ich glaube, ich beginne zu verstehen. Sag mir, was ich für dich tun kann!“ Es klang aufrichtig und ehrfürchtig.

„Doch nicht für mich! Für euch Menschen kannst du etwas tun!“ antwortete Gott. „Geh hinaus in die Welt und bringe die Menschen wieder zur Vernunft! Ich sehe durchaus, dass ihr euch in den letzten 8000 Jahren weiterentwickelt habt, deshalb möchte ich nicht gleich zum Äußersten greifen. Ich gebe euch eine weitere Chance!“

„Aber … wie könnte ich denn die Menschheit zur Vernunft bringen? Wer hört denn schon auf mich? Sie hört ja anscheinend nicht mal auf dich!“ Elias ließ ratlos die Schultern hängen.

„Na, ganz einfach: Sorge dafür, dass sie sich an meine Anweisungen erinnern und danach richten!“

„Meinst du die Zehn Gebote?“

„Zehn? Wieso zehn?“ Gott schüttelte den Kopf. „Dreißig Gebote gab ich euch mit auf den Weg, als Orientierungshilfe!“

Ungläubig fragte Elias nach: „Dreißig Gebote? Es waren nicht nur zehn? Das erklärt wohl so einiges!

„Nein, dreißig! Und ganz leicht zu verstehen!“ Der Mann fing an, sie aufzuzählen:

„Erstens: Ich bin dein Gott! Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Denn für diese Welt bin ich zuständig und kein anderer! Gelegentlich kommt es vor, dass ein anderer Gott seine Späßchen treibt und Welten, die von seinem Kollegen verwaltet werden, ein wenig in Unordnung bringt. Die hiesigen Gewitter zum Beispiel stammen gar nicht von mir! Hat ein Kollege dagelassen. Ich habe mich heftig erschrocken, als es das erste Mal blitzte und donnerte!“ Der Mann feixte. „Aber ich fand die Idee ganz witzig, darum habe ich es beibehalten. Als Vergeltung habe ich eine seiner Schöpfungen unter Wasser gesetzt. Das hat ganz schön gezischt, er hatte sie nämlich ursprünglich als Sonne konzipiert! Aber ich schweife ab!

Zweitens: Du sollst dir kein Gottesbild machen. Das würde nämlich nicht klappen, denn euch fehlen, wie vorhin schon erwähnt, siebzehn weitere Sinne, um mich überhaupt wahrzunehmen. Was ihr, damit ausgestattet, zu sehen bekommen würdet, entspräche ganz sicher nicht euren Vorstellungen!

Drittens: Du sollst dich nicht vor Göttern niederwerfen. Denn das mögen wir nicht! Ist uns peinlich! Diese Unterwürfigkeit.“ Er verzog das Gesicht. Elias lächelte.

„Viertens: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Das mögen wir nämlich auch nicht, Herrgott noch mal!“ Grimmig fuchtelte der Mann mit der Faust herum. Elias schien es, als hinterließe sie dabei ein paar kleine Fünkchen in der Luft.

„Fünftens: Gedenke des Sabbats, halte ihn heilig! Am Samstag soll nicht gearbeitet werden. Freitag ist natürlich auch frei, wie der Name schon sagt.“

„Ach so? Beide Tage frei?“ fragte Elias verblüfft. „Ja sicher!“ antwortete Gott.

„Also bei uns muss man freitags arbeiten! Manchmal auch samstags.“

„Ist ja unglaublich!“ empörte sich Gott. „Warte kurz!“ Sein erhobener Zeigefinger gebot Einhalt, als er seine Lider schloss und sich ein paar Gedächtnisnotizen machte. Verwundert sah Elias ihm dabei zu. Nachdem Gott fertig war, öffnete er die Augen und fuhr fort:

„Sechstens: Der siebte Tag ist ein Ruhetag!“

„Ach so? Das wären ja drei freie Tage hintereinander!“ freute sich Elias. „Aber klar! Wozu sich abschuften?“ fragte Gott verständnislos.

„Na, zumindest der Sonntag ist bei uns ein Ruhetag. Außer vielleicht für Kellner. Oder Busfahrer. Oder Piloten … Zugbegleiter … Fitnessstudiomitarbeiter …“

Empört stemmte Gott die Fäuste in die Hüften. Bei jedem weiteren aufgezählten Beruf vertieften sich die Zornesfalten auf seiner Stirn. „Ist ja ungeheuerlich!“ schnaubte er wütend. „Aber gut, das klären wir noch!

Siebtens: Ehre deinen Vater und deine Mutter. Ich meine, das ist ja wohl selbstverständlich!“ Elias hatte kurz wieder das Bild seines Vaters im Gedächtnis und nickte stumm.

„Du sollst nicht morden. Also, wenn ich mich hier auf der Erde so umsehe …“ Vorwurfsvoller Blick. „Aber auch das klären wir noch!

Neuntens: Du sollst nicht die Ehe brechen. Also echt, fremdgehen geht gar nicht! Bist du schon mal fremdgegangen?“ Die Frage kam völlig unerwartet.

„W…w…wer … ich? Aber nöö, nicht doch, das würde ich doch niemals, nie … “ stotterte Elias und wurde rot.

„Du sollst nicht lügen und betrügen!“ fuhr Gott unbeirrt fort. „Aber ich lüge doch gar …“

„Nein, das ist das nächste Gebot“, unterbrach ihn der Mann. Nachdenklich griff er sich an die Schläfe. „Und was kam danach?“ Sinnierend blickte er zur Decke hinauf. Erneut gebot der Zeigefinger Einhalt: „Warte kurz!“ Er schloss die Augen, seine Augäpfel zitterten blitzschnell hoch und runter.

Elias fragte: „Was machst du da?“

„Sssccchhht!“ zischte Gott. „Ich sehe meine Notizen durch.“ Kurz darauf hatte er wohl gefunden, wonach er gesucht hatte.

„Ah ja, genau … du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht nach dem Land deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Auch nicht nach seiner Frau, nach seinem Rind, seinem Esel, seinem Auto, seinem Kommunikationsinstrument oder nach irgendetwas anderem, das deinem Nächsten gehört.“

„Kommunikations… äh …instrument? Ach so, verstehe!“ Elias’ Blick war auf sein Handy gefallen.

„Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Ich meine, Leute unberechtigterweise anscheißen, das gehört sich einfach nicht!“ Elias schmunzelte. Hatte Gott soeben ein unanständiges Wort benutzt?

„Vierzehntens: Halte dich fern von vergorenem Traubensaft und den Extrakten von gewissen Pflanzen, also Mohn zum Beispiel. Oder Hanf. Oder Pilzen … Echt, Leute, das ist nichts für euch! Ihr Menschen macht immer so dämliche Sachen, wenn ihr angetütert seid!

Na ja, und dann kommt noch was mit – du sollst die Natur achten. Halte sie am Leben und verunreinige sie nicht. Du sollst Tiere nicht quälen, sondern mit Respekt behandeln. Du sollst anderen gegenüber keine Gewalt anwenden. Du sollst keine Waffen bauen und an andere veräußern. Du sollst dein Geld mit anderen teilen, wenn du viel davon hast. Du sollst keine Wucherzinsen erheben, wenn du Geld verleihst. Du sollst nicht wetten und um Geld spielen. Du sollst Kinder beschützen und dich ihnen nicht in sexueller Absicht nähern. Du sollst Sex nur mit Erwachsenen deiner eigenen Spezies haben. Nach den Erfahrungen mit Sodom hielt ich es für angebracht, diesen Punkt mit aufzunehmen.

Als gewählter Anführer deines Stammes sollst du die Interessen der Menschen vertreten, die dich auserwählt haben, für sie zu sprechen. Du sollst nicht spucken, nicht popeln, deine Umwelt nicht mit lauten Geräuschen belästigen. Nicht schreien, nicht fluchen, nicht beleidigend werden … Ich glaube, das war’s!“

Elias folgte baff Gottes Ausführungen. „Also diese Liste ist ja wirklich komplett, da hast du nichts Wichtiges vergessen!“

„Tja, man macht so seine Erfahrungen. Auch ich habe mal klein angefangen, war naiv und unerfahren.“ Es schien ihm peinlich zu sein.

„Schau, Elias – nach dem Reinfall mit den Dinosauriern erschuf ich die Säugetiere, damals ein brandneues Konzept. Etwas später bastelte ich die Affen zusammen.“ Er tippte mit dem Zeigefinger der einen auf den Daumen der anderen Hand, so als wollte er mitzählen. „Ich musste erforschen, wie sich diese Konstruktion bewährt. Und ich sah, dass sie gut war.

Nach ein paar hunderttausend Jahren wählte ich einen männlichen Vertreter der erfolgreichsten Affenart und gab ihm mittels Gentechnik den Verstand. So erschuf ich Adam. Weil er ganz gut zurechtkam, entnahm ich seiner Rippe etwas Genmaterial und erschuf daraus Eva.“ Er seufzte.

„Eigentlich sollten die beiden sich um die Erde kümmern, Getreide anbauen, Bäume pflanzen, Tiere züchten. Aber als sie in die Pubertät kamen, hatten sie nur noch das eine im Kopf. Da hab ich sie rausgeschmissen. Meine kostbare Zeit war mir echt zu schade, um sie an zwei Sexsüchtige zu verschwenden! Ich hatte gehofft, der Verstand würde sie zu Höherem geleiten. Doch ich hatte wohl die natürlichen Bedürfnisse unterschätzt.“

„In der Bibel steht, mit der Vertreibung aus dem Paradies seien auch Krankheit und Tod über die Menschen gekommen. Ist das wahr?“ Gott schaute Elias fragend an. „In der … was? Äh, warte kurz!“ Der Zeigefinger sprang wieder empor. Oszillierende Augäpfel durchstöberten die Notizen.

„Ah, hier ist es ja! Bibel: Religiöse Textsammlung des Christentums. Warte kurz …“ Gott überflog den Inhalt des Alten und Neuen Testaments in wenigen Sekunden.

„Na, sieh mal an, da sind sogar ein paar historische Ereignisse beschrieben! Aber recht ungenau. Ich muss es wissen, ich war schließlich dabei!

Nein, Krankheiten und früher Tod sind das Ergebnis von genetischen Schäden, verursacht durch Inzucht. Wenn es anfangs nur zwei Menschen gab, von denen alle anderen abstammen, nämlich Adam und Eva, dann müssen sich in der zweiten Generation zwangsläufig Brüder und Schwestern miteinander gepaart haben. Anschließend Cousins und Cousinen. Ich hatte euch für damalige Verhältnisse nahezu perfekt konstruiert: exzellente Zähne, die immer wieder nachwachsen, kein Haarausfall, keine Plattfüße! Aber Adam und Eva mussten ja unbedingt ihren niederen Trieben frönen!“ Selbst nach so langer Zeit war ihm die Enttäuschung noch immer anzumerken.

„Adam wurde 930 Jahre alt! Was ist heute noch davon übrig geblieben? Wenn ihr Menschen 80 Jahre alt werdet, seid ihr schon alt, klapprig und runzelig.“

„Manche werden heute über hundert!“ warf Elias zur Ehrenrettung ein. „Lächerlich!“ konterte Gott. „Ein Mensch, der heute seinen 930sten Geburtstag feiern würde, wäre bereits im Jahr 1090 geboren worden. Er wäre Zeuge vom Bußgang Kaiser Heinrichs des Vierten zum Papst in Canossa geworden. Er hätte die Erfindung des Buchdruckes erlebt, die Eroberung Amerikas, die Entdeckungen Galileo Galileis, die überwältigende Musik von Bach und Mozart. Das ist ein hohes Alter!“

Erneut wurde Elias bewusst, in welch kümmerlichen Ausmaßen sich ein normales Menschenleben doch abspielte. Dann fielen ihm plötzlich Bruchstücke der Schöpfungsgeschichte ein und deren Widerspruch zu Gottes Aussage: „In der Bibel steht irgendwas von einer Schlange, die ähh …“, Elias mühte sich durch seine lückenhaften Kindheitserinnerungen, „… Eva irgendwie überredete, ähh … eine Frucht von, ähh … vom Baum der Erkenntnis zu essen. Oder so ähnlich. Stimmt das?“

Gott erhob sich murrend vom Bett. „Da kannst du mal sehen, wie sehr sich Geschichten verändern, wenn man sie mündlich weitergibt und erst Jahrtausende später schriftlich notiert! Das ist natürlich totaler Quatsch! Eva spielte mit ähh, … nun ja, Adams … ähh …“ Jetzt war er es, der ins Stottern kam, doch eher aus Verlegenheit. Er ruderte mit beiden Händen in der Luft herum, und Elias war sich nun sicher, dabei Fünkchen entstehen zu sehen. „… ähh … Schlange.“

„Was?“ Elias hatte den Faden verloren. „Sie spielte mit einer Schlange?“ Gott druckste herum. „Nein, nicht mit einer Schlange, mit seiner Schlange! Herrgott, muss ich denn wirklich noch deutlicher werden?“ Dabei stellte Gott fest, dass er soeben erneut gegen das vierte Gebot verstoßen und seinen eigenen – den Namen des Herrn missbraucht hatte.

Elias verzog ratlos das Gesicht, bis es endlich Klick machte. „Du meinst, sie hat ihn … sie hat seine Schlange, seinen … ähh …? Oh! Ich verstehe!“

„Genau! So wurden sie sich ihrer Fruchtbarkeit bewusst! Also vielleicht nicht gleich, aber doch kurze Zeit später. Erkenntnis der Fruchtbarkeit, nicht Frucht vom Baum der Erkenntnis. Alles klar?“

„Jaja, verstanden!“ All das scheinheilige Getue um religiöse Themen hatte Elias vergessen lassen, dass die nüchterne Wahrheit meist auf einem schnöden, alltäglichen Kern basierte. So wie auch Gottes Auftrag, die Menschheit zu retten, einen alltäglichen Kern in sich barg.

„Wie genau stellst du dir das vor? Soll ich einfach so durch die Gegend ziehen und Menschen zum Guten bekehren?“ fragte Elias. „Ja, genau so! Mach ihnen klar, dass sie verloren sind, wenn sie sich nicht sofort ändern! Vorgabe dafür, wie sie ihr Leben auszurichten haben, sind meine Dreißig Gebote. Du kennst sie nun. Bring sie unter die Menschen!“

„Okay, aber wer wird mir glauben?“ fragte Elias den alten Mann, während er sich selbst fragte, ob er die Dreißig Gebote aus dem Gedächtnis wieder zusammenbekommen würde. „Du weißt doch selbst, wie Menschen sind – grausam und gewalttätig! Du hast ja schon mal einen Sohn von dir losgeschickt, um Liebe und Frieden zu predigen. Er wurde dafür ans Kreuz genagelt!“

Gott richtete seinen Blick zur Decke. „Sohn von mir? Ans Kreuz genagelt? Wer macht denn so was? Keine Ahnung, wen du meinst!“

„Na, Jesus!“

„Wer?“

Elias ergänzte verwundert: „Jesus Christus? Gottes Sohn?“

Gott grübelte. „Ähh … warte kurz!“ Zeigefinger, Augenzucken. Die unfassbare Menge an Notizen aus Jahrmilliarden raste vor seinem inneren Auge vorbei. „Ah, hier … richtig! Du meinst Jesus von Nazareth! Interessante Geschichte! Mutter, Maria. Vater, ein römischer Soldat. Unehelich gezeugt, was zur damaligen Zeit eine Steinigung der Mutter wegen Ehebruches bedeutet hätte. So kam sie auf die Idee mit der Zeugung durch den Heiligen Geist, was sie auch ihrem Sohn Jesus so beibrachte. Klassischer Fall von Messias-Komplex durch mütterlicherseits induzierte religiöse Wahnvorstellungen.“

„Sie ist fremdgegangen? Er war also gar nicht dein Sohn?“ Der alte Mann schüttelte den Kopf: „Nöö, nicht dass ich wüsste. Maria hatte also gleich gegen zwei meiner Gebote verstoßen: ,Du sollst nicht lügen und betrügen‘ sowie ,du sollst nicht die Ehe brechen‘. Okay, ich versteh’s zwar nicht, aber die Sache mit dem Sex scheint euch Menschen aus irgendeinem mir vollkommen unplausiblen Grund sehr wichtig zu sein. Als sie dann schwanger wurde, was hätte sie tun sollen, außer die Wahrheit ein klein wenig … sagen wir mal … umzudichten? Die Leute damals waren noch recht leichtgläubig. Oder anders formuliert, es war eine religiös sehr angeregte Epoche. Würde deine Freundin heute nach Hause kommen und behaupten, der Heilige Geist hätte sie geschwängert, würdest du es glauben?“

„Sie kommt nicht mehr, fürchte ich. Sie hat kürzlich mit mir Schluss gemacht“, bekannte Elias traurig. Gott lief zum Kopfende des Bettes, setzte sich neben ihn und legte seinen Arm um Elias’ Schulter. Seine Hand fühlte sich ungewöhnlich warm an. „Aber das ist doch prima! Keine Freundin, kein Job, keine Wohnung – bessere Bedingungen für einen Neustart kann man sich gar nicht wünschen! Elias, du bist frei! Du kannst tun, was immer ich will!“ Gott lachte und Elias tat es ihm gleich. „Jaja … was du willst …“

„Also dann los, raus aus dem Bett! Ich verspreche, es wird spannend!“ Gott zog Elias die Bettdecke weg und fand ihn darunter splitternackt vor. „Oh, Verzeihung, das wusste ich nicht! Ich meine, eigentlich wusste ich es schon, ich bin schließlich Gott, nur war ich nicht darauf gefasst, mit deiner … äh … Schlange konfrontiert zu werden.“ Peinlich berührt, wandte er sich ab.

Elias zog sich flink eine Unterhose an: „Darf ich noch duschen und mir die Zähne putzen?“ Gott lächelte: „Ich bitte darum!“

Als Elias aus dem Badezimmer zurückkehrte, fragte er: „Was ist mit frühstücken? Wovon werde ich unterwegs leben? Ich verdiene doch kein Geld mehr! Wie soll ich mir etwas zu essen kaufen? Wo werde ich schlafen?“

Der alte Mann hatte es sich auf dem Bett gemütlich gemacht. Er lag da, lächelnd, den Rücken durch einige Kissen aufgerichtet, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Beine übereinandergeschlagen. „Mach dir mal darüber keine Gedanken! Ich kümmere mich schon um dich! Es wird dich auch niemand ans Kreuz nageln. Vertrau mir! Vertraust du mir?“

Elias sah ihn stumm an. Wem sollte er sonst vertrauen können, wenn nicht Gott? „Ja … ich vertraue dir!“

„Gut! Dann komm, lass uns gehen!“ Sie stiegen die Treppe hinauf. Als sie auf der Straße standen, fiel Elias auf – er hatte gar nichts eingepackt! Keinen Koffer, keinen Rucksack, das Portemonnaie lag noch unter dem Kopfkissen, die Schlüssel, die Uhr, das Handy und der Mietvertrag, meine Güte, er müsste die Wohnung ja eigentlich in renoviertem Zustand übergeben, und die beiden letzten Möbel, der Schrank und das Bett, waren zwar alt und abgenutzt, aber auf dem Flohmarkt hätten sie vielleicht doch noch ein paar …

„Mach dir keine Sorgen! Ist schon erledigt.“ Gott griff sich Elias’ Hand und legte ein paar Geldscheine hinein. Es waren so um die zweihundert Pfund. Durch das Fenster knapp über dem Boden sah Elias die Wände in makellos weißem Zustand, sie glänzten sogar noch ein wenig, so als wären sie feucht. Die Möbel waren verschwunden, der Fußboden gewischt und gewienert. In den Jackentaschen spürte er rechts sein Handy und links das Portemonnaie. Erstaunt schaute er Gott an. Der lächelte verschmitzt. „Ich sagte doch, ich kümmere mich um dich!“

„Tja, vielen Dank!“ Mit einem Mal war das unangenehme Ziehen im Magen verschwunden. Er wusste, alles würde gut werden. Auch das fehlende Frühstück hatte er schon vergessen.

Messias Elias

Подняться наверх