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Aufbruch

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Sie durchstreiften Haupt- und Nebenstraßen, anscheinend ziellos in Richtung Südwesten, wie Elias anhand des Sonnenstandes abschätzte. Was wollten sie da? Was befand sich dort? Ach so, das Zentrum Londons!

Der alte Mann kam gut voran, jedenfalls schneller, als es seine menschliche Hülle hätte vermuten lassen. Elias musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie überquerten einen Friedhof, Tower Hamlets Cemetery Park, wie auf einem Hinweisschild geschrieben stand. Hier war Elias noch nie gewesen, obwohl er fast sein ganzes Leben in der Stadt verbracht hatte. Der Park war sehr verwildert, was ihm etwas Romantisches, Urtümliches verlieh.

Gott warf im Vorbeieilen einen Blick auf die Grabsteine links und rechts des Weges: „Merkwürdig, warum sind auf vielen Steinen Kreuze abgebildet?“ Elias schloss zu ihm auf. „Vermutlich waren sie gläubige Christen.“

„Was sind denn Christen?“ fragte Gott zurück, ohne auch nur eine Sekunde an Tempo zu verlieren. „Na, Anhänger von Jesus Christus. Dein … äh … beziehungsweise doch nicht dein Sohn“, korrigierte sich Elias. „Auch wenn er vorgab, in deinem Auftrag zu handeln.

Hier in London befindet sich übrigens das Grab eines anderen ,Heiligen‘! Er hieß Karl Marx, war dir aber wohl nicht besonders zugetan. Er sagte … äh …“ Elias grübelte. Der alte Mann kam ihm zuvor: „Religion ist das Opium des Volkes.“ Elias fragte verblüfft: „Woher weißt du das? Hast du schnell in deinen Notizen geblättert?“

„Nein, ich habe schnell in deinem Gedächtnis nachgesehen und gefunden, was du gerade gesucht hattest.“ Elias überging den Umstand, dass ihn diese Tatsache beunruhigte und sagte: „Das Verhalten seiner Anhänger hatte teilweise auch fanatisch-religiöse Züge angenommen, doch letzten Endes sind sie gescheitert. Der Kommunismus brach Anfang der Neunzigerjahre zusammen.“

„Siehst du, das kommt davon, wenn man sich nicht an meine Dreißig Gebote hält!“ belehrte der alte Mann. Elias fragte: „Sag mal, wenn ich nun in deinem Auftrag die Menschheit bekehren soll, was … ich meine … wie soll ich mich ihnen vorstellen? Als Gottes Assistent? Stellvertreter? Oder Sekretär?“

Gott blieb abrupt stehen. „Wie nanntest du mich gestern Abend? In deinem Gebet? Vater? Also wenn du mich Vater nennst, nenne ich dich Sohn. Warum also stellst du dich nicht einfach als Sohn Gottes vor? Das würde bei dir besser passen, als bei diesem Jesus, mit dem ich ja nun gar nichts zu tun hatte!“ Er nahm das Tempo wieder auf und verließ den Park durch ein offenstehendes, verrostetes, altes Torgitter. Elias stand noch sinnierend herum: Elias, der Sohn Gottes. Das klang doch irgendwie nett!

„Trödel nicht rum, mein Sohn, wir wollen weiter!“ ermahnte Vater Gott. Hurtig spurtete Elias hinterher und trug ein seliges Lächeln im Gesicht, als er ihn eingeholt hatte.

Sie durchquerten die Twine Terrace mit niedrigen, schmucklosen Reihenhäusern. Dahinter ein weiterer Park, Mile End, luftiges Grün, mitten in der Großstadt. „Wo wollen wir denn hin?“ keuchte Elias. „Ins Stadtzentrum.“

„Und wohin genau?“

„Wart’s ab!“ antwortete Gott, während er quer über eine frisch gemähte Wiese latschte. Elias konnte kaum noch mithalten. „Vielleicht wäre es besser, mit dem Bus zu fahren. London ist groß, wir wären viel schneller.“

„Wieso?“ fragte Gott. „Hast du’s eilig?“

„Nein, aber …“ Elias blieb stehen, beugte sich nach vorn, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt. „… du, wie mir scheint!“ Er rang nach Luft. Der alte Mann lächelte, schlenderte die wenigen Schritte zurück, legte den Arm um Elias’ Schulter und zog ihn behutsam mit sich. Zusammen ging es besser und Elias kam wieder zu Kräften.

Gott sprach: „Vermeide wenn möglich die Nutzung örtlicher Transportsysteme, sondern bewege dich immer zu Fuß, wenn du neu an einem Ort bist! So lernst du ihn besser kennen und entdeckst vieles, was dir sonst verborgen geblieben wäre!“

„Aber ich wohne doch schon lange hier! Den Park kenne ich schon!“ Der alte Mann schmunzelte: „Ich auch! Aber er hat sich in den letzten paar tausend Jahren schon ein wenig verändert!“

Im Park tummelten sich zu dieser frühen Stunde bereits erstaunlich viele Menschen. Einige Jogger, Mütter mit Kinderwagen, ältere Leute, auf den Bänken sitzend und erzählend oder die Tauben fütternd, trotz der kühlen Jahreszeit. Doch die Sonne schien und wärmte mit ihren Strahlen die Besucher.

Die beiden verließen den Park und bogen auf die A11 ein, welche direkt in die City führte. Auch wenn weit vorn am Horizont einige bekannte Sehenswürdigkeiten auftauchten, so zog sich der Marsch dennoch unerfreulich lange hin. Elias spürte allmählich seine engen Schuhe und versuchte sich zu erinnern, wann er jemals eine so weite Strecke zu Fuß zurückgelegt hatte.

Bei Aldgate East standen die ersten Hochhäuser. Kurz darauf passierten sie Gherkin, ein Bürogebäude, das aussah, wie ein langgezogenes Fabergé-Ei. Oder halt wie eine Gurke.

Weitere Hochhäuser aus Glas und Metall säumten den Weg, dahinter tauchten die ersten klassischen Gebäude der Altstadt auf, wie sie in allen Metropolen der alten Welt zu finden sind. Am Mansion House Place mit seinen fünf aufeinandertreffenden Straßen verloren sie die Orientierung, und hätte der alte Mann verraten, wo genau er hinwollte, ganz sicher hätte Elias ihm auch helfen können, denn hier kannte er sich wieder aus. Aber das Zögern dauerte nur kurz, dann wies Gott zackig mit der Hand in die Queen Victoria Street. Anschließend die Cannon Street entlang, danach noch ein Stückchen bis zum großen Platz, bis sie endlich vor dem anvisierten Ziel standen: Saint Balls Cathedral.

Gott stand, die Fäuste in die Hüften gestemmt, breitbeinig da, schaute zu den beiden Türmen empor und strahlte über das ganze Gesicht. Mit breitem Lächeln rief er: „Prachtvoll, nicht wahr?“ Dabei bewegte er die linke Hand mit einer graziösen Bewegung in Richtung des Eingangs, als wollte er Wassertropfen abschütteln. Stattdessen lösten sich ein paar Fünkchen, tanzten ein paar Sekunden umher und erloschen wieder. „Ein Gebäude, erbaut einzig und allein mir zu Ehren!“

„Sag mal, was sind das eigentlich für Funken, die sich aus deinen Händen lösen, wenn du sie bewegst?“ wollte Elias wissen, nachdem er sich nun sicher war, sie wirklich gesehen zu haben. „Ist doch klar: Ich bin ein echt heißer Typ!“ rief Gott mit stolzgeschwellter Brust und schritt auf den Eingang zu. „Komm, mein Sohn, lass uns mal nachschauen, was die dort drin so treiben!“

Es war Sonntag, Viertel nach Zehn, genau die richtige Zeit, denn die Messe begann, kaum dass sie den Raum betreten hatten. Gott wollte die vorderen Bänke ansteuern, aber die ersten Reihen waren bereits vollständig besetzt.

„Na gut, nehmen wir kurz weiter hinten Platz, ich denke, ich werde ohnehin gleich nach vorne gebeten“, sagte Gott und zog Elias mit sich. Ein paar Besucher drehten sich mit langen Gesichtern um. Der alte Mann nickte ihnen jovial zu und rief mit beschwichtigender Geste: „Hallo, schön Sie zu sehen! Danke, dass Sie extra gekommen sind!“ Die Worte waren nicht laut vorgetragen, die tiefe Stimme erzeugte in dem riesigen Innenraum dennoch einen weithin hörbaren Nachhall.

„Pssst! Seien Sie doch still!“ zischte eine ältere Dame. „Der Bischof möchte endlich anfangen!“

Verdutzt wegen dieser herben Zurechtweisung, setzte Gott sich gehorsam auf die Bank. Elias saß bereits und blickte zur Kanzel. Sie war leer, also suchte er deren Umgebung ab und erspähte den Bischof unten vor dem Altar. Der schaute zurück zu den beiden Nachzüglern. Ein mildes, bittersüßes Lächeln hatte sich im Gesicht des Kirchenmannes festgefressen, und wenn Blicke töten könnten, so hätten Elias und der alte Mann die Kirche zumindest mit leichten Blessuren verlassen. Aber die Blicke konnten nicht töten, zumindest nicht die des Bischofs. Darum richtete er sie zurück auf das Blatt mit der vorbereiteten Predigt, ließ sie anschließend noch einmal über die Besucher streifen, hob seine Arme empfangend empor und rief: „Halleluja!“ Dann bekreuzigte er sich: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes – Amen!“

„Siehst du, er meint uns beide – Vater und Sohn!“ Gott knuffte Elias mit dem Ellenbogen in die Seite. Elias knuffte vorsichtig zurück. „Ja, uns und den Heiligen Geist, das hast du wohl überhört.“ Gott runzelte die Stirn: „Welchen Heiligen Geist? Etwa den, der angeblich Maria geschwängert haben soll?“ Die resolute alte Dame zischte sie erneut an. „Werden Sie jetzt endlich still sein? Sie verderben die ganze Predigt!“

Betreten sah Elias zu Boden und Gott kniff verärgert die Lippen zusammen. Als weitere Worte des Bischofs zu ihnen drangen, verfinsterte sich seine Miene noch etwas mehr.

„Im Namen unseres Herrn Jesus Christus …“

„Was? Jesus? Von Nazareth? Was hat der denn hier zu suchen?“

„… den Herrn loben und preisen und sich an ihm freuen …“ Gott schloss die Augen. „Was redet der da?“

„… Märtyrer, die uns zeigen, dass es jemanden gibt, für den es sich lohnt, zu leben und auch zu sterben …“

„Lohnt, zu sterben? Seit wann lohnt es sich, zu sterben? Und für welchen Herrn?“ knurrte der alte Mann. „Er meint dich!“ beschwichtigte Elias. „Oder vielleicht auch Jesus“, korrigierte er sich, „ich weiß nicht genau.“

„Aber weshalb sollte jemand für mich sterben wollen? Was bringt denn das?“ Gott sprach nun wieder deutlich lauter, sodass einige aus der Reihe davor die Köpfe zu ihnen hindrehten. Die alte Dame klatschte sich auf die Schenkel, riss die Arme mit vorwurfsvollem Gesicht nach oben, als wollte sie rufen: ,was soll denn das?‘

Der Bischof hatte die Unruhe durchaus bemerkt, aber als oberster Hirte seiner Schäfchen durfte er sich von kleineren Unruhen nicht gleich aus dem Konzept bringen lassen. Er setzte wie geplant zu seinem liturgischen Gesang an: „… darum bitten wir durch Jesus Christus unsern Herrn und Gohohohooott …“

Unter seinem Hintern spürte Elias, wie die Bank begann, leicht zu vibrieren. Auch roch es plötzlich nach verbranntem Holz. Verwundert blickte er nach unten, dann neben sich und bemerkte, wie Gott seine Finger in die Sitzfläche krallte, bis es qualmte. „Schon wieder dieser Jesus!“ fauchte er. „Erstes Gebot: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! Und warum jammert der so? Das ist ja nicht zu ertragen!“

Die alte Dame stand wutentbrannt auf und wechselte zu einem weiter entfernten Sitzplatz. Im Weggehen warf sie zornige Blicke zurück. „So was hab ich ja noch nie erlebt! Unverschämtheit!“

Eine andere, wesentlich jüngere Frau mit blau gefärbten Zöpfen und auffallend farbenfroher Kleidung wandte sich Kaugummi kauend um: „Mir wäre es auch lieber, er würde das Gejammer lassen und stattdessen ein paar erbauliche Worte sagen, hinsichtlich der Probleme der Menschheit.“ Der neben ihr sitzende, vornehm gekleidete Herr bemerkte höflich: „Sie werden verzeihen, meine Dame, aber was würde das an den Problemen der Menschheit ändern?“

Der Bischof versuchte, mit lauter, fester Stimme die aufkommende Unruhe in den letzten Reihen zu bändigen. Scheppernd drang sein Singsang aus den plärrenden Lautsprechern: „… der Herr sei mit euch und mit deinem Geiste aus dem heiligen Evangelium nach Johannes …“

„Wozu wedelt der da mit dem rauchenden Topf herum? Er will doch nicht etwa dieses herrliche Gebäude in Brand stecken?“ Elias wies den alten Mann auf seine in die Bank gekrallten Finger hin: „Wenn du nicht aufhörst, so fürchte ich, wirst du wohl eher derjenige sein, der die Kirche anzündet.“ Inzwischen glühte das Holz bereits an den Rändern um die Hände herum. „Oh, Verzeihung! Das habe ich nicht gewollt!“ Gott lockerte den Griff und versuchte, die Glut zu löschen, indem er darauf herumpatschte, was aber nur zu einem verstärkten Funkenflug führte. Der höfliche Mann auf der Bank vor ihnen lehnte sich zurück und goss etwas Wasser aus seiner Flasche über die Glut. Blauzopfbuntgirly hatte den Vorgang auch bemerkt und rief gedehnt: „Cool! Wie haben Sie das denn gemacht? Man sieht ja Ihre Handabdrücke im Holz. Sieht aus wie die Abdrücke der Stars am Hollywood-Boulevard!“

Auf der anderen Seite von Gott saß ein junger Student mit einem zerknitterten Anzug und einer Nickelbrille. Er neigte sich zu Gott hinüber, deutete in Richtung des Altars und erklärte: „Das ist Weihrauch! Damit kann die Kirche all ihre Missetaten beweihräuchern!“ Er grinste böse. Gott fragte entgeistert: „Welche Missetaten?“ Ungläubig musterte ihn der Student. „Sie waren wohl schon lange nicht mehr hier?“ Gott antwortete: „Etwa 8000 Jahre!“ Der Student grinste erneut: „Hey, Sie sind witzig! Ihr Humor gefällt mir! Ich meinte die Hexenverbrennungen, die Inquisition im Mittelalter, die Kreuzzüge, Behinderung von Fortschritt und Wissenschaft und die in letzter Zeit bekannt gewordenen Vorwürfe des hundertfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Ja, die Kirche war in viele Schweinereien verwickelt! Geldgeschäfte. Immobilienspekulationen. Die Liste ist endlos lang!“

„… denn der Messias trägt viele Namen: Jesus, Christus, Sohn Gottes, Sohn Davids, Menschensohn …“ Der Bischof hatte seinen Gesang beendet und fuhr mit seiner Predigt fort. „… Lamm Gottes, der wahre König, in ihm sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis enthalten, weil er der Schöpfer ist, weil er der Erlöser ist, in ihm gründet alles. So demütigt euch unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. All eure Sorge werft auf ihn …“

An dieser Stelle stöhnte Gott laut auf. „Was, auf mich? Wieso denn ausgerechnet auf mich?“ Durch den Widerhall wurden auch die Besucher einige Bänke weiter vorn aufmerksam und drehten sich um.

„… denn er sorgt für euch. Seid nüchtern und wacht, denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe …“

Gott schlug jammernd die Hände vors Gesicht: „Der Teufel? Das darf nicht wahr sein!“

Der Bischof hielt tapfer durch: „… und … ähh … und sucht, wen er verschlinge. Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus, der wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, aufrichten, stärken, kräftigen, gründen. Ihm sei die Macht, in alle Ewigkeit, amen.“

„Ich muss hier raus!“ Ungestüm sprang Gott von der Bank auf, drängelte sich rücksichtslos an den neben ihm sitzenden Besuchern vorbei und lief eilig aus der Kirche. Elias folgte ihm, sehr verwundert, nahm sich jedoch mehr Zeit, die anderen Besucher höflich um Durchlass zu bitten.

Er fand Gott, mental etwas derangiert, am Fuße der Treppe vor dem Eingang. „Jesus Christus? Unser Herr? Heiliger Geist? Ja, sind denn alle verrückt geworden? Hast du das auch gehört? Der Teufel? Was redet der Mann da nur für einen Unsinn? Dieses sinnlose Geseier! Wieso trägt er diese merkwürdigen Frauenkleider und die lächerliche Mütze?“

Mit einem Mal schlug sein Entsetzen in Wut um. Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Eine leichte Erschütterung rollte über den Platz und die Mauern der Kirche hinauf, wo sie sich in einem tiefen, lauten Glockenschlag entlud. Die Menschen auf dem Platz, zum überwiegenden Teil wohl Touristen, zuckten erschrocken zusammen, denn der Glockenklang kam nicht oben vom Kirchturm, der ganze Himmel schien ihn abzustrahlen, er war überall, und er klang furchterregend, klar und tief, wie eine Totenglocke.

Mit ernster Miene nahm Gott Elias in die Pflicht, als er zurück zum Eingang zeigte. „Deine Zeit ist gekommen! Meine Aufgabe für dich beginnt hier und jetzt! Geh wieder hinein und fordere den Mann auf, sofort mit dem Unsinn aufzuhören!“

Die Totenglocke hatte Elias verschreckt. Folgsam fragte er: „Was soll ich ihm sagen? Ich meine, wie soll ich das begründen?“

„Mit den Dreißig Geboten! Du erinnerst dich doch?“ Mit schrägem Kopf ermahnte der alten Mann Elias. „Lerne die Gebote auswendig! Für heute will ich dir noch mal auf die Sprünge helfen: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! Du sollst Kinder beschützen und dich ihnen nicht in sexueller Absicht nähern! Jetzt geh!“

Gehorsam stieg Elias die Stufen hinauf und verschwand im Inneren der Kirche. Es vergingen etwa zwei, drei Minuten, bis die Türen sich öffneten und Elias von zwei Ministranten hinauseskortiert wurde.

Missmutig schlurfte er die Treppe hinunter. „Ich habe noch nie besonders überzeugend auf andere gewirkt. Das war schon immer so. Deswegen war ich wohl auch nicht so erfolgreich in meinem Job.“

Gott musterte ihn aufmerksam. „Mhm. Ich sehe schon, ich werde dich vielleicht ein wenig unterstützen müssen.“ Er fuhr sich durch den Bart. Im selben Moment zitterte, nein – vibrierte die Hand deutlich sichtbar. Gott schaute sie erstaunt an. „Nanu? Hier? Um diese Zeit? Er steckte sich den Daumen ins Ohr, spreizte den kleinen Finger ab und rief: „Hallo? Gott hier! Ja? Oh! Aha! Ich verstehe! Ouha! Verstehe! Na klar! Verstehe! Ich verstehe! Mach ich, Chefchen!“ Freches Grinsen. „Bin sofort da!“ Er nahm den Daumen wieder aus dem Ohr.

„Ähm … hör mal, Elias, ich muss kurz weg! Beteigeuze ist kurz vor dem Abschmieren. Da muss ich mich drum kümmern und neuen Brennstoff nachlegen.“

„Beteigeuze? Ist das nicht ein Sternbild?“ versuchte Elias sich zu erinnern. „Das ist ein Stern. Eine Sonne. Aber eine richtige! Tausendmal so groß wie eure hier und zehntausendmal so hell!“ Elias staunte: „Zehntau…“

„Sie darf auf keinen Fall ausgehen! Hinterher muss ich noch zu GN-z11, das ist die am weitesten von euch entfernte Galaxie. Sie hat ihre Endphase erreicht und muss kontrolliert zusammengeführt werden, damit sie anschließend mit einem präzisen Urknall neu gestartet werden kann. Verstehst du?“

Elias Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass die Angelegenheiten, von denen Gott da gerade berichtete, eine Nummer zu groß für ihn waren. „Äh … alles! Wird das lange dauern? Ich meine, kommst du noch mal zurück?“

„Keine Sorge, ich bin ja nicht weg! Ich bin überall! Nur konzentriert sich ein Großteil meiner Aufmerksamkeit vorübergehend auf ein paar andere Aufgaben. Du wirst schon sehen!“ Er zwinkerte Elias noch einmal zu, drehte sich um, rannte zwei, drei Schritte, federte sich mit dem letzten Schritt kräftig ab und sprang ins Nichts. Er löste sich einfach auf, blendete sich aus … oder …

Es ging so schnell und unspektakulär, dass Elias nicht einmal hätte beschreiben können, wie es genau passierte. Ratlos stand er da und schaute der … ,Entscheinung‘ hinterher.

Was nun? Es war fast Mittag. Wäre er noch in Lohn und Brot, würde er früh zum Essen gehen. Aber er hatte ja leider nichts zum Bezahlen.

Augenblick mal! Der alte Mann hatte ihm doch etwas Geld zugesteckt! Der Erlös von den alten Möbeln. Na, prima!

Direkt gegenüber lag das La Strada, ein italienisches Restaurant. Er schlenderte zufrieden auf die andere Straßenseite, trat ein und setzte sich. Der Kellner brachte die Karte, aber Elias hatte bereits gewählt. Risotto Luganica: Reis mit Fleischbällchen, Schinken und Pilzen. Das kannte er schon und aß es immer wieder gern. Wozu also experimentieren?

Etwas später brachte der Kellner die Rechnung und wies auf den Fernseher. „Haben Sie das mitbekommen? Schauen Sie nur, das muss wohl gerade erst passiert sein.“

Auf dem Bildschirm berichtete ein Nachrichtensender über die merkwürdigen Vorkommnisse während der Messe in der Saint Balls Cathedral. Die Kamera zeigte einen Reporter mit der Kirche im Hintergrund. Er erzählte, ein anscheinend verrückter älterer Mann habe die Veranstaltung gestört und versucht, die Inneneinrichtung in Brand zu stecken. Möglicherweise bestehe ein Zusammenhang zwischen dem Vorfall und der merkwürdigen Fehlfunktion der Glockensteuerung. Augenzeugen kamen zu Wort: Der Glockenschlag sei nicht von der Kirchenglocke erzeugt worden, die klinge doch ganz anders, viel heller, und der Ton hier sei überall im Himmel zu hören und viel tiefer gewesen. Der Mann senkte seine Stimme und versuchte, das Geräusch nachzuahmen. Zwei junge Mädchen hinter ihm kicherten, was ihn verunsicherte. Schnitt auf Blauzopfbuntgirly: „Er hat nicht gekokelt, er berührte die Bank einfach nur mit seinen Händen und setzte sie in Flammen. Er hatte etwas Magisches, ach ich wünschte, es gäbe mehr solche Männer!“ Schnitt auf den Reporter: „Die Polizei sucht nach einem jüngeren Komplizen, der möglicherweise genauere Angaben zu dem älteren Mann machen kann. Laut Zeugen habe dieser sich in … äh, nun ja … in Luft aufgelöst. Also … der alte Mann, nicht der Komplize.“ Eine Zeichnung des mutmaßlichen Komplizen wurde gezeigt.

Argwöhnisch huschten die Augen des Kellners zwischen dem Bildschirm und Elias hin und her. „Also, ich weiß nicht! Sieht Ihnen die Zeichnung nicht irgendwie ähnlich?“ fragte er. Elias wurde blass. „Öhm, nicht dass ich wüsste, nein, eigentlich gar nicht!“ Der Kellner hatte Lunte gerochen: „Aber klar, sehen Sie doch nur, die Augen, die Gesichtszüge … hey, wo wollen Sie denn hin?“

Elias ließ reichlich Geld auf dem Tisch liegen, damit der Kellner nicht noch auf die Idee kam, ihn zu verfolgen, und dieser Trick funktionierte auch. Aber er kam dennoch nicht weit. Ein gellendes Kreischen hallte über den Platz. „Daaa, das da! Das ist er!“ Blauzopfbuntgirly hüpfte aufgeregt herum und zeigte auf Elias.

Ich hätte doch lieber ein anderes Restaurant wählen sollen, ging es ihm durch den Kopf, als zwei Polizisten ihn festnahmen.

Messias Elias

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