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Kapitel 7: Richard Kronaus erster Fund

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Richard verbrachte den größten Teil des Tages im Tiefschlaf. Als er erwachte, verlieh die spätnachmittägliche Sonne den Zeltwänden einen warmen Schimmer. Richard fühlte sich wesentlich frischer, aber immer noch schwach. Als er sich streckte und versuchte aufzustehen, nahm er eine vertraute Gestalt wahr, die neben seinem Schlafsack saß und ihn beobachtete.

„Hallo“, grüßte Günther Mehl. „Das sind ja schlimme Geschichten, die man da von dir hört.“

„Das Schlimmste hab’ ich hoffentlich hinter mir“, brummte Richard. „Das ist ja eine Überraschung! Bist du extra hergekommen, um zu sehen, wie es mir geht?“

„Und um dich nach Saloniki zurückzubringen. Schließlich bin ich als dein älterer Kollege für dich verantwortlich.“

„Aber das wäre doch nicht nötig gewesen“, stammelte Richard, den die plötzliche Fürsorge des Faluktätsmitarbeiters doch sehr verwunderte. Hatte Günther plötzlich Bedenken, dass Richard ihm durch seinen Einsatz hier vor Ort den Rang ablaufen könnte?

„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Günther. „Also, pack’ deine Sachen zusammen, wir fahren in zwanzig Minuten.“

Das war Günther Mehl, wie er leibte und lebte. Nur so rasch wie möglich wieder aus dem Zeltlager weg. Aber Richard hatte hier noch einiges zu klären.

„Heute noch?“, fragte er erschrocken. „Ich bin krank. Der Arzt hat gesagt, ich soll noch mindestens ein oder zwei Tage im Bett bleiben.“

„In Saloniki hast du es viel bequemer als hier. Du musst dich erholen. Schließlich geht es bald zurück nach Deutschland.“

„Aber Papadopoulos und Kilic … Wissen die Bescheid? Ich wollte ihnen noch den Eingang zu einer Höhle zeigen, die ich entdeckt habe.“

„Die beiden Professoren sind momentan unterwegs. – Was für eine Höhle denn?“

„Ich …“, begann Richard, dann unterbrach er sich, als ihm bewusst wurde, dass er diese Höhle ja nur im Traum gesehen hatte. Einen Moment überlegte er, ob er Günther von seinen Erlebnissen berichten sollte, aber dann befand er, dass das keine gute Idee war. Günther würde alles anzweifeln, und wenn Richard sich auf eine nervtötende Diskussion mit seinem Kollegen einließ, wäre das seiner Gesundung bestimmt nicht zuträglich.

„Nicht so wichtig“, murmelte er deshalb nur.

„Dann pack deine Koffer.“

„Ich möchte erst mal raus, frische Luft schnappen. Ich fühl’ mich nicht gut. Wenn es mir danach besser geht, dann können wir von mir aus fahren.“

„Wenn es unbedingt sein muss“, stimmte Günther zu, „aber bleib nicht zu lange weg. Ich will hier nicht übernachten.“

Richard nickte und stand langsam auf. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn, nur kurz, dann ging es ihm wieder besser, aber Richard beschloss, seine Schwäche noch ein wenig auszuspielen, denn nichts wollte er weniger, als an diesem Abend noch nach Saloniki fahren. „Danke, geht schon“, wehrte er mit brechender Stimme ab, als Günther ihn stützen wollte, und tastete sich langsam aus dem Zelt.

Draußen sog er tief die milde Abendluft ein und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. So viel hatte sich in den letzten Tagen ereignet, zu viel, um es einfach so verarbeiten zu können. Für ein bloßes Hirngespinst erschienen ihm seine Erlebnisse letzte Nacht eindeutig zu realistisch, aber … die Gänge durch die Erde, die leuchtenden Schriftzeichen, der Rabe, der sich in einen Menschen verwandelt hatte, seine Schöne … das konnte doch nie und nimmer tatsächlich geschehen sein. Allein die Tatsache, dass er ausgerechnet ihr begegnet war. Es war sicher wahrscheinlicher, den Jackpot im Lotto zu gewinnen, als diese Frau zuerst in Würzburg und nur wenige Tage später noch einmal hier in dieser abgelegenen Gegend zu treffen. Ganz abgesehen von ihren Zauberkräften. Diese fantastischen Ereignisse gestern Nacht waren alles andere, nur keine Realität. Es widersprach jedem Naturgesetz, jedem gesunden Menschenverstand. Es musste einfach ein Traum gewesen sein.

Richard blickte sich um. Auf und um den Grabungshügel waren die Arbeiter gerade damit beschäftigt, ihre Werkzeuge zusammenzupacken. Vielleicht würde er einige Antworten auf seine Fragen erhalten, wenn er auf den Hügel gehen und einen Blick in die Altarhalle werfen würde? Doch er fürchtete, dass der Aufstieg noch zu anstrengend für ihn war. Vielleicht morgen? Heute wäre es sicher besser, in der Ebene zu bleiben. Und so lenkte Richard seine Schritte um den Hügel herum. Wieder spukten ihm die Geschehnisse der letzten Nacht durch den Kopf.

Richard blieb stehen und setzte sich auf das Gras am Wegrand. Langsam begann der Eindruck der Erinnerung zu verblassen, er spürte, wie er zurück in die wirkliche Welt fand. Er schaute sich um. Im Westen versank die Sonne hinter dem Horizont und erhellte mit ihren warmen rötlichen Strahlen die Seite des Hügels, wo er im Traum den Zugang zur Altarhalle entdeckt hatte. Im Norden erkannte er die Hütten des Dorfs, in dem er übernachtet hatte.

Warum war ihm alles so real vorgekommen, wenn das, was er erlebt hatte, keine Realität war? Richard erinnerte sich an eine Grippe, die ihn vor vier Jahren erwischt hatte. Auf über 40 Grad Celsius war seine Temperatur gestiegen. Auch damals hatte ihm ein Fiebertraum beängstigend reale Bilder vorgegaukelt. Diesmal hatte ihn das Fieber wesentlich heftiger erwischt, der wahnwitzige Traum war ihm logischerweise noch wahrhaftiger erschienen. Ja, so musste es gewesen sein. Alles war nur ein Traum, einschließlich der unbekannten Schönheit. Er hatte sie in seinem Traum gesehen, weil sie für ihn die Frau seiner Träume war, und nicht Tabea oder wer auch immer. Sie war ihm erschienen, weil er sich in sie verliebt hatte. Deshalb hatte sie ihn von seiner Krankheit geheilt, und deshalb hatte sie ihn geküsst. Richard zitterte, als er diesen Kuss in seiner Erinnerung noch einmal durchlebte. Er liebte sie, das wusste er jetzt, und aufgrund seines Fiebertraums liebte er sie umso mehr. Er spürte, er würde nicht mehr ohne sie leben können, es war zu spät für eine Umkehr.

Aber hatte er nicht auch eine völlig andere Seite von ihr erblickt? Eine furchterregende, schreckliche Seite? Als sie in der Höhle ihre flammenden Augen auf ihn gerichtet hatte, bevor sie ihn erkannte? Als sich ihr sonst so liebliches Gesicht in eine furchteinflößende Fratze verwandelt hatte? Was hatte das zu bedeuten? Er hatte Todesängste ausgestanden, hatte befürchtet, sie würde ihn mit ihrer Zauberkraft über den Jordan befördern. Aber vielleicht war genau das der Punkt. Er hatte Angst vor diesem Mädchen, nein, nicht vor ihr, sondern vor der großen Liebe, die er empfand, Angst vor dem Abgrund, in den seine Gefühle ihn zu stürzen drohten, Angst davor, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Und nur zu berechtigt erschien ihm diese Furcht. Die Frau, die er in seinem Traum gesehen hatte, das war nicht seine Angebetete, das war noch nicht einmal ein Mensch, das war eine Fee oder ein Engel. Wollte er sich in eine Sagengestalt verlieben, in eine Ausgeburt seiner Fantasie? Das konnte nur in den Wahnsinn führen.

In der wirklichen Welt war er ihr gerade dreimal über den Weg gelaufen, soweit er sich erinnerte, und zwar immer nur für einige kurze Momente. Eine dieser Begegnungen war sehr beeindruckend gewesen, zugegeben, aber noch lange kein Grund, verrückt zu spielen.

Richard blieb stehen und setzte sich auf das Gras am Wegrand. Langsam begann der Eindruck der Erinnerung zu verblassen, er spürte, wie er zurück in die wirkliche Welt fand. Er schaute sich um. Im Westen versank die Sonne hinter dem Horizont und erhellte mit ihren warmen rötlichen Strahlen die Seite des Hügels, auf der er im Traum den Zugang zur Altarhalle entdeckt hatte. Im Norden erkannte er die Hütten des Dorfs, in dem er übernachtet hatte.

Sein Vorhaben war unsinnig, das wusste er, aber er stieg dennoch den Hügel hinauf, um nach dem Eingang zu suchen. Doch kam ihm die Steigung geringer vor als in seinem Fiebertraum, auch die Büsche und Bäume, die auf dem Hügel wuchsen, wirkten anders. Vielleicht entstand dieser Eindruck, weil er nicht exakt aus der gleichen Richtung auf den Hügel stieg, das Ganze aus einer veränderten Perspektive sah. Viel wahrscheinlicher war allerdings, dass Richard eben doch nur geträumt hatte und der Hügel aus seinem Traum ein anderer war als der Hügel der Realität.

Richard registrierte, dass es langsam zu dämmern begann. Wenn er wirklich den Eingang zu dieser Höhle entdecken wollte, sollte er ihn besser im hellen Tageslicht suchen. Aber auch dann würde er nichts finden, einfach deshalb, weil es keinen Eingang gab. Doch warum hatten sich dann die Professoren so interessiert an seinem Bericht gezeigt? Hofften Sie vielleicht … ja … die Alte, seine Retterin aus dem Dorf, vielleicht hatte sie tatsächlich Geschichten über einen Engel und über einen Stollen in den Berg erzählt, als sie an seinem Lager gewacht hatte. Und deshalb hatte er diesen Gang auch in seinem Traum gefunden, genauso, wie er den Engel gesehen hatte, wenn auch in Gestalt der Frau, die er heimlich liebte. Aber hieß das im Umkehrschluss, dass auf diesem Hügel tatsächlich ein Tor in die Unterwelt auf seine Entdeckung wartete? Selbst wenn es früher einmal existiert hatte, müsste es inzwischen nicht längst verschüttet worden sein, unter tausenden Tonnen Erdreich begraben? Was genau erhofften sich die Professoren?

Aber diese Frage konnten nur Papadopoulos und Kilic selbst beantworten. Inzwischen müssten sie sich wieder im Lager eingefunden haben, vermutete Richard. Außerdem erinnerte ihn ein leichtes Schwindelgefühl daran, dass er seine Kräfte noch schonen musste. Und so machte er sich auf den Weg zurück ins Lager.

Doch die Professoren befanden sich nicht an der Grabungsstätte. Niemand hatte sie gesehen, und sie hatten sich auch nicht abgemeldet.

„Kein Grund zur Beunruhigung“, meinte Sophia. „Das kommt ab und zu schon einmal vor. Manchmal fahren sie für einen oder auch zwei Tage nach Saloniki oder nach Istanbul, ohne sich abzumelden, um die dortigen Bibliotheken nach Veröffentlichungen zu durchsuchen.“

„Die vertiefen sisch so in ihre Forschungen, dass sie alles um sisch ’erum glatt vergessen“ bemerkte Victor und blickte Sophia tief in die Augen. „Das ist ja im Prinzip auch sehr verständlisch, allerdings nur, wenn es sisch um das rischtige Forschungsobjekt ’andelt.“

Richard wartete geduldig ab, bis sich die beiden lang und innig geküsst hatten. Schließlich löste sich Sophia aus der Umarmung und wandte sich Richard zu.

„Du siehst wieder viel besser aus“, stellte sie fest und berührte seine Wange. „Man kann fast nichts mehr erkennen. Nur noch einen kleinen roten Strich.“

„Aber ich fühle mich noch ziemlich schwach.“

„Du warst in dem Dorf, ’abe isch ge’ört?“

Richard nickte. „Ich hatte dort einen Fieberanfall. Ich glaub’, es war ziemlich knapp. – Haben euch Kilic und Papadopoulos von einem Gang erzählt, bevor sie verschwunden sind?“

„Was für einen Gang?“, hakte Sophia nach. Offenbar waren die beiden von den Professoren nicht informiert worden.

„Einen Gang, der in die Halle der ‚Schwarzen Bogomilen’ führt“, erklärte Richard. „Ich bin in ihn hineingestiegen.“

„Was?“ Den beiden standen die Münder offen wie die von Säuglingen in Erwartung der Mutterbrust.

„Es war nur ein Traum“, dämpfte Richard die Überraschung der beiden. „Das glaube ich zumindest. Ich hatte hohes Fieber gestern Nacht, ich kann nicht mehr sagen, was wirklich geschehen ist und was nicht, und gerade eben, als ich wieder nach dem Eingang gesucht habe, konnte ich ihn nicht finden. Aber ich habe Papadopoulos und Kilic davon erzählt, und sie fanden die Geschichte äußerst interessant.“

„Dann sind sie bestimmt nach Saloniki gefahren und durchwühlen dort die Bibliothek.“

„Aber warum ’aben sie dann nischt gewartet, chérie, bis Rischard wieder gesund ist, damit er ihnen den Gang zeigt?“

„Weil sie die Zeit nutzen wollten. Wenn sie einer so heißen Sache auf der Spur sind, dann verlieren sie keine Sekunde.“

„Na, dann werden sie wohl morgen früh wieder zurück sein“, folgerte Victor. „Wenn nischt, dann machen wir uns selbst auf die Suche nach diesem Gang, mein lieber Rischard.“

*

„Ich werde auf keinen Fall noch eine Nacht hier bleiben.“ Günther Mehl bedachte Richard und seine beiden Freunde mit einem strafenden Blick aus müden Augen.

„Wo hast du denn übernachtet, mein armer chéri?“, fragte Sophia etwas übertrieben teilnahmsvoll. „Vielleicht gibt es ja einen ruhigeren Platz für dein Zelt.“

Günther ignorierte ihren spöttischen Ton. „Ich habe kein Zelt“, erläuterte er vorwurfsvoll. „Ich dachte, dass wir gestern Abend schon nach Saloniki zurückfahren würden. Ich habe die ganze Nacht im Freien verbracht.“

„Es ist sischer noch eine Ecke in unserem Zelt frei“, schlug Victor vor. „Es ist zwar etwas eng …“

„Nein, danke!“, unterbrach ihn Günther. „Ich kann in einem Zelt nicht einschlafen. Tut mir Leid, ich bin nun mal nicht für ein Leben hier draußen geschaffen. Also, pack deine Sachen, Richard, aber hurtig, wir fahren in dreißig Minuten.“

Richard wollte protestieren, überlegte verzweifelt, wie er noch ein paar Stunden herausschlagen konnte. Zum Glück kam ihm Victor zu Hilfe.

„Rischard kann doch auch mit mir fahren. Ich muss morgen sowieso für ein paar Tage nach Saloniki, da kann isch ihn doch mitnehmen.“

Günther zögerte einen Moment, bevor er nickte. „Aber auf deine Verantwortung, Richard, auf deine Verantwortung.“

*

„Hier war es. Hier irgendwo.“

Richard sah sich um. Sie standen auf halber Höhe des Hügels, auf der nordwestlichen Seite, dort, wo Richard in seinem Traum die Höhle gefunden hatte. Wieder hatte er den Eindruck, dass die Landschaft nicht genau dem Bild glich, das er in seinem Fieberanfall wahrgenommen hatte. Der Hang erschien ihm weniger steil, er sah deutlich weniger Büsche und Bäume, auch der Grasbewuchs wirkte im hellen Sonnenlicht des späten Vormittags deutlich spärlicher. Und schließlich, und das war natürlich das Entscheidende, von einem Eingang in die Unterwelt war nichts zu entdecken.

Sophia prüfte die Festigkeit des Erdbodens mit ihren rustikalen Schuhen. „Nichts“, meinte sie schließlich.

„Vielleischt sollten wir woanders suchen“, schlug Victor vor.

Sie stiegen langsam den Hügel hinunter, Richtung Dorf, untersuchten das Terrain auf das Gründlichste und ließen keine verdächtige Einzelheit außer Acht, aber, falls der Eingang überhaupt existierte, blieb er ihnen verborgen.

„Wahrscheinlich habe ich mir doch alles nur eingebildet“, entschuldigte sich Richard.

„Vielleischt“, stimmte Victor zu, „ein ’eftiges Fieber kann uns manchmal falsche Tatsachen vorgaukeln, die wir dann für Wirklischkeit ’alten. Na ja, da ’aben wir dann fast einen ganzen Vormittag verschwendet. Aber mach dir kein schleschtes Gewissen, mein Freund, isch ’abe den Spaziergang sehr genossen.“ Er legte einen Arm um seine Geliebte. „Und isch ’offe, dass wir den Rückweg ebenso genießen können.“

Sophia drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Aber ein wenig sollten wir uns schon auf den Weg konzentrieren“, mahnte sie. „Wenn wir aus Zufall auf den Eingang stoßen, fallen wir womöglich noch hinein, und soweit ich weiß, magst du keine großen Löcher.“

„Völlisch rischtisch“, bestätigte Victor. „Eigentlisch bin isch ganz froh, dass wir deinen Eingang in die Unterwelt nischt gefunden ’aben, Rischard. – Ge’en wir?“

Richard zögerte. „Ich möchte gern noch ein wenig hier bleiben. Ich muss nachdenken. Geht ihr nur schon voraus. Ich komme dann nach.“

„Aber bleib nicht zu lange“, bat Sophia. „Mittags wird es hier ganz schön heiß in der Sonne.“ Sie wandte sich an Victor und berührte zärtlich seine Schulter. „Komm, wir ’aben noch zu tun“, hauchte sie.

Richard schaute den beiden nach, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden waren. Er musste endlich diesen dummen Fiebertraum vergessen. Jetzt war es schon so weit gekommen, dass er andere in seine Fantasieerlebnisse mit hineinzog. Natürlich war der Gedanke, es gäbe einen Eingang zu dem Altarraum, für jeden verlockend, der an dem Grabungsprojekt beteiligt war. Und es musste ja auch irgendeinen Eingang geben, das war nur logisch, das entsprach den Naturgesetzen, denn die, die in der Halle ihre finsteren religiösen Rituale abgehalten hatten, hatten sich dort sicher nicht hineingebeamt. Aber diese Feststellung hatte nichts mit seinem Traum zu tun. Was er da erlebt hatte, das entsprach nicht den Naturgesetzen, das war nicht logisch, das war einfach nicht möglich. Und wenn ihm die Alte im Dorf von einem Eingang erzählt, und er deshalb davon geträumt hatte, dann mochte ja dieser Zugang zur Halle der Bogomilen tatsächlich existieren, aber es war dennoch äußerst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet er ihn finden würde. Selbst wenn man damals wirklich eine Öffnung auf eben diesem Hügel angelegt hatte, dann war sie mit ziemlicher Sicherheit schon längst verschüttet und somit unauffindbar geworden.

Die Alte im Dorf, dachte er, sie hatte ihm das Leben gerettet, und er hatte sich kaum bei ihr bedankt. Sollte er ihr nicht ein Geschenk überreichen? Aber was? Geld? Das war so unpersönlich, doch ihm fiel nichts Besseres ein. Morgen würde er von hier wegfahren, und bis dahin bot sich keine Gelegenheit mehr, einen Markt zu besuchen. Er hatte sowieso keinen Schimmer, was einer alten Frau in einem so rückständigen Dorf Freude bereiten könnte. Hatten sie dort überhaupt schon Strom?

Langsam näherte er sich den Häusern. Sein Blick fiel auf die Böschung, hinter der er das Gespräch zwischen der Alten und seiner Schönen belauscht hatte. Auch diese Böschung wirkte anders, als er sie im Fieber gesehen hatte, aber immerhin existierte sie.

Zwischen den trockenen Büschen der Erhebung entdeckte Richard ein mögliches Mitbringsel für die Alte: eine Decke. Er erinnerte sich, dass er mit einer Decke um die Schultern die Hütte der Alten verlassen hatte, aber war er auch ohne Decke zurückgekehrt? Hatte er sie etwa hier verloren? Er stieg auf die Böschung, um den Fund aufzuheben, stutzte aber. Das war doch im Fiebertraum geschehen. Diese Decke durfte doch gar nicht hier liegen.

Schwer atmend hob er sie auf. War es dieselbe Decke? Er konnte sich nicht erinnern, auf solche Einzelheiten hatte er im Fieberwahn nicht geachtet. Und doch, es konnte sich kaum um einen Zufall handeln. Seiner Erinnerung nach hatte er die Decke zwar getragen, als er die Hütte der Alten verlassen hatte, aber er musste sie irgendwann unbewusst abgelegt haben. Als er eng umschlungen mit seiner Schönen den Hügel hinuntergerollt war, da war die Decke nicht mehr um seinen Körper gewickelt, dessen war er sich ganz sicher. Er schloss die Augen, um dieses letzte Bild festzuhalten, um die Leidenschaft, die ihn durchflutet hatte, erneut zu spüren. Er wünschte sich so sehr, dass sein nächtliches Erlebnis kein Traum gewesen, dass ihr Kuss wirklich war. Und wenn diese Decke dieselbe war, die er letzte Nacht getragen hatte, dann hielt er hier einen untrüglichen Beweis in seinen Händen.

Mürrisch verscheuchte er diesen verrückten Gedanken aus seinem Kopf und untersuchte seinen Fund. Er wirkte recht schmutzig, so als habe er schon eine ganze Zeitlang hier im Dreck gelegen und nicht nur anderthalb Tage. Nun, die Alte würde ihm sicherlich mehr dazu sagen können.

Ein Hund schlug an, als er an das Haus seiner Wohltäterin klopfte. Sie öffnete die knarrende Tür, und Richard verbarg seinen Fund rasch hinter seinem Rücken. Die Alte brauchte einen Augenblick, bis sie Richard erkannt hatte, dann berührte sie ehrfurchtsvoll seine Wange und murmelte „Angila“. Richard fragte sich einen Moment, ob sie damit die Wirkung der „Heilsalbe“ seiner Schönen meinte, doch schnell verbannter er diesen Gedanken aus seinem Hirn. Sie hatte zu ihrem Engel gebetet und nun sah sie, dass ihr Gebet erhört worden war. Das war alles. Er holte die Decke hinter seinem Rücken hervor und zeigte sie der Frau. Ihre Augen weiteten sich, sie nahm die Decke an sich und betrachtete Richard prüfend. Sie erkannte sie also wieder, folgerte Richard und zeigte auf seine Wange, das Wort „Angila“ wiederholend.

Die Alte schaute ihn gebannt an, dann zuckte sie erschrocken zusammen, wich einen Schritt zurück, hob ihre Hand und stieß hastig ein paar Worte auf Bulgarisch hervor. Richard brauchte einen Moment, bis er verstand, dass sie nicht zu ihm gesprochen hatte. Schnell fuhr er herum und erblickte den Dorfältesten, der ihn mit finsterem Gesichtsausdruck betrachtete. Neben dem Greis stand ein großer, vierschrötiger junger Mann, der einen bulligen Hund an einer kurzen Kette hielt.

Der Alte krächzte in grimmigem Tonfall ein paar bulgarische Worte, die der Vierschrötige mit knurrender Stimme in ein schlechtes Englisch übertrug.

„Du verschwinden“, brummte er.

„Ich will mich nur bei ihr bedanken“, sprach Richard bewusst langsam, damit sein Gegenüber ihn verstehen konnte. „Sie hat mir das Leben gerettet.“

Der Vierschrötige übersetzte Richards Antwort, wozu er aber nur zwei Worte benötigte. Dafür dauerte der wutentbrannte Sermon, den der Alte darauf von sich gab, umso länger.

„Du verschwinden schnell“, übersetzte der Vierschrötige knapp.

Richard zog seinen Geldbeutel aus seiner Hosentasche, entnahm ihm einen Zehntausend-Piaster-Schein und überreichte ihn der Alten. „Charin“ murmelte er, in der Hoffnung, dass dies als Dankeschön verstanden wurde. Die Greisin nahm den Schein mit spitzen Fingern, gab ein „Uchi“ von sich und wollte ihn Richard zurückgeben. Da brüllte der Alte los, langte sich an den Kopf und ließ wieder einen langen Wortschwall folgen, diesmal an Richards Wohltäterin gerichtet, worauf die Frau schließlich den Schein in einer Rockfalte verbarg.

„Jetzt verschwinden“, brummte der Vierschrötige.

„Nur eine Frage noch“, beharrte Richard und wandte sich an den Dorfältesten. „Angila?“

Der Greis erbleichte, warf einen zornigen Blick auf die Frau, die erschrocken den Kopf schüttelte, und hielt Richard einen endlosen wutentbrannten Vortrag. Der lange graue Bart und eine behaarte Warze am Kinn des Alten verliehen dem eigentlich furchterregenden Vorgang eine dezent komische Note, aber Richard beherrschte sich tapfer.

„Engel böse“, übersetzte der Vierschrötige, „Fluch werden geweckt. Von Euch. Bringen Unglück. Stehlen Kinder. Du verschwinden. Alle verschwinden.“

„Sie stehlen Kinder?“, hakte Richard interessiert nach, doch der Dorfvorsteher war weiteren Fragen nicht mehr zugänglich und richtete einen scharfen Befehl an den Hund, der sich mit einem wütenden Knurren auf Richard stürzte und nur durch die kräftige Hand des Vierschrötigen zurückgehalten wurde.

„Ich habe verstanden“, beschwichtigte Richard hastig, überspielte seinen Schrecken und verbeugte sich vor seiner Wohltäterin. Er verabschiedete sich mit einem herzlichen „Chari“, drehte sich auf dem Absatz um und eilte mit großen Schritten aus dem Dorf hinaus. Der bohrende Gedanke, ob sich der Hund nicht doch von der Kette losreißen könnte, verursachte ihm ein unangenehmes Kribbeln im Magen. Doch erst als er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, wagte er sich umzudrehen.

Die Geschichte wurde immer seltsamer. Die Decke gehörte also tatsächlich der Alten? Oder doch nicht? Vielleicht hätte sie Richard ja mehr erzählt, wenn der Dorfälteste nicht so rasch aufgetaucht wäre. Vielleicht aber auch nicht. So oder so, auf jeden Fall würde er sich nicht noch einmal in dieses Dorf wagen, das wusste er.

Er blickte auf den Hügel. Die Perspektive kam ihm bekannt vor. Er stand direkt neben der Böschung, von der aus er in seinem Traum der Schönen gefolgt war. Wenn er hier losmarschierte und den Berg erklomm, hätte er vielleicht bessere Chancen, die Höhle zu entdecken. Natürlich war das Unsinn, aber er hatte ja Zeit. Ein letzter Versuch, dann würde er aufgeben, dann könnte er sich endgültig sicher sein, dass er in jener Nacht nur das Opfer eines Fieberwahns geworden war.

Langsam schritt er den Hügel hinauf. Auch jetzt kam ihm die Steigung wesentlich geringer vor als in jener Nacht, aber inzwischen fühlte er sich ein ganzes Stück gesünder und kräftiger. Die Büsche und Bäume um ihn herum wirkten in Größe, Anzahl und Standort ebenfalls nicht so, wie er sie in Erinnerung hatte, aber das konnte natürlich auch an den veränderten Lichtverhältnissen bei Tage liegen. Und trotz aller Unterschiede hatte er das merkwürdige Gefühl, er ginge den gleichen Weg, die gleiche Strecke den Hügel hinauf.

Schließlich war er auf der Höhe angekommen, auf der er den Eingang in den Boden vermutete. Er ging bei seiner Suche ganz systematisch vor, zehn Schritte nach oben, dann zurück zum Ausgangspunkt, dann zehn Schritte nach rechts, dann nach links, aber nirgendwo konnte er ein Loch im Boden erkennen oder ertasten. Er nahm sich nun die Quadrate zwischen den Geraden vor, klopfte jeden Meter Erdboden ab, alles umsonst. Schließlich hielt er inne und fragte sich wieder einmal, wie lange er diesem Phantom eigentlich noch nachjagen wollte. Er war seit über einer Stunde am Werk, die Sonne brannte heißer und heißer, und er spürte, wie sich die Kopfschmerzen wieder zu melden begannen. Er war mit sich übereingekommen, wenn dieser Versuch nicht gelingen würde, würde er aufgeben, und nun war dieser Punkt endgültig erreicht.

„Nur noch hinter den nächsten Busch schauen“, sagte er zu sich und tat es. Nichts. „Schluss!“, presste er zwischen seinen Lippen hervor, „ein für allemal Schluss!“

Er richtete sich auf und blickte sich um. Der kürzeste Weg zurück ins Lager führte direkt über die Hügelkuppe. Also schlug er diese Richtung ein, direkt durch das trockene Gras. Nach etwa zwanzig Schritten glitt er aus und landete unsanft auf dem Boden. Eines der Grasbüschel hatte nachgegeben und war weggerutscht. Richard versuchte sich aufzurappeln, da versank sein Arm im Boden. Aufgeregt stellte er fest, dass sich das Gras zur Seite schieben ließ. Darunter klaffte ein tiefes Loch in der Erde. Der Eingang? Gar nicht so weit weg von der Stelle, wo er ihn in seinem Traum gesehen hatte. Vorsichtig kroch er in das Loch, um zu untersuchen, ob es sich auch wirklich nicht nur um eine Höhlung handelte, die ein entwurzelter Baum hinterlassen hatte. Aber nein, er befand sich am Anfang eines Ganges, eines langen Ganges, der direkt Richtung Altarkammer führte. Vorsichtig tastete sich Richard vorwärts. Der Boden war weich, erdig und ziemlich nass, anders als in seiner Erinnerung. Aber vielleicht hatte er diese Einzelheiten aufgrund seiner Fieberschauer nicht wahrgenommen. Doch dann betrachtete er in dem schwachen Licht seine Hände und Hosen. Sie waren schmutzig und feucht. Als er nach der Fiebernacht auf seinem Lager aufgewacht war, war er nicht sonderlich schmutzig gewesen. Feucht ja, aber von seinen fiebrigen Schweißausbrüchen, nicht durch die Berührung mit Erde oder Schlamm.

Leise fluchte er, weil er vergessen hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Das war ja ein schöner Start für seine Höhlenforscherkarriere. Vorsichtig kroch er weiter in den Gang hinein, aber bald schwand das Tageslicht ganz, und er musste sich allein auf seinen Tastsinn verlassen. Die Erde wurde weich und immer schlammiger. Wasser tropfte auf ihn, auch eine Empfindung, an die er sich nicht erinnern konnte. Was wäre, wenn der Gang einstürzte, schoss ihm durch den Kopf. Oder wenn sich Schlangen am Ende der Höhle befänden? Es war wohl klüger umzukehren und seine Entdeckung dem Grabungsteam zu melden. Dann konnten die Archäologen diesen Gang mit professioneller Ausrüstung untersuchen.

Vorsichtig kroch Richard zurück. Langsam kehrte das Tageslicht wieder, und schließlich war er am Eingang der Höhle angelangt. Er schob die Grasbüschel beiseite und warf einen letzten Blick in die Höhlung. Schon nach wenigen Metern verlor sich der Gang in tiefer Schwärze. Jetzt kam ihm diese Finsternis bedrohlich vor, er konnte sich kaum mehr vorstellen, dass er da eben hineingekrochen war. Gerade wollte sich Richard wieder der Außenwelt zuwenden, da fiel sein Blick auf ein pinkfarbenes Ding, das in einem frischen Erdhaufen an der Seite steckte. Neugierig grub er den Gegenstand aus, der so gar nicht zu einem geheimen Gang zu passen schien. Eine Plastiktüte, rosa, mit dunkelvioletter Aufschrift in türkischer Sprache. Er war also nicht der erste, der diese Höhle entdeckt hatte. Vielleicht war sie ja ein beliebter Treffpunkt für Liebespärchen oder für spielende Kinder aus dem Dorf.

Richard packte die Tüte und kroch aus der Höhle in das gleißende Sonnenlicht. Sobald sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, säuberte er notdürftig seine Hände an dem Gras ringsum und untersuchte den Inhalt seines ersten „archäologischen“ Funds. Zwei linierte DINA5-Blätter, aus einem Schreibheft herausgerissen, unbeschrieben. Ja, völlig leer. Nur an der oberen linken Ecke einer Seite konnte Richard einen blauen Strich erkennen, wie von einem gerade versagenden Kugelschreiber, ansonsten nichts. Seufzend packte er die Blätter wieder in die Plastiktüte und steckte sie in seine Hosentasche. Er hatte zwar keine antike Vase oder wenigstens eine mittelalterliche Tonscherbe entdeckt, sondern nur eine pinkfarbene Plastiktüte, aber es war immerhin sein erster Fund auf einer archäologischen Expedition, und einen ersten Fund wirft man nicht weg.

*

„Achtung! Bitte vollkommene Ruhe!“, rief der Assistent von Professor Kilic auf türkisch und auf griechisch. Das gesamte Team unterbrach für eine Minute jegliche Aktivität und jedes Gespräch, dann war die Bodenwiderstandsmessung beendet, und alle redeten wild durcheinander und schlossen Wetten auf das Ergebnis der Messungen ab.

Richard erinnerte sich, wie er am gestrigen Nachmittag durch die Grabungsstätte marschiert war und schmutzstarrend wie er war „Heureka!“ gerufen hatte, um die Aufmerksamkeit möglichst des gesamten Teams auf sich zu ziehen. Sophia und Victor hatten sofort gewusst, was geschehen war. Richard hatte die beiden zum Eingang der Höhle geführt, und Sophia hatte auf der Stelle alles Nötige veranlasst. Jetzt, am nächsten Morgen, befand sich der größte Teil des Teams auf der nordwestlichen Seite des Hügels und verfolgte gebannt die Untersuchungen über Lage und Größe des neu entdeckten Gangs. Die Leitung dieser Untersuchungen hatte Kemal übernommen, der nette unscheinbare Assistent von Professor Kilic, denn weder Kilic noch sein Kollege Papadopoulos hatten sich bis jetzt zurückgemeldet.

„Selbst schuld“, hatte Kemal nur gemeint. Jeder wusste, mit welchem Elan sich die Professoren in diese Arbeit gestürzt hatten.

Der Assistent wirkte unzufrieden. Er wechselte ein paar Worte mit Sophia und wandte sich dann den Arbeitern zu, um die weiteren Vorgänge zu besprechen.

„Leider hat die Bodenwiderstandsmessung kein aufschlussreiches Ergebnis erbracht“, erklärte die Griechin Richard und Victor. „Der Gang führt genau in Richtung Altarraum, aber nach ungefähr zwei Dritteln der Strecke wird der Boden felsig, und unsere Detektoren können uns kein Bild über den weiteren Verlauf vermitteln.“

„Aber der Gang kann doch gar nischt bis zum Altarraum führen“, warf Victor ein, „sonst müsste man doch dort eine Tür oder eine Öffnung se’en.“

„Nicht unbedingt“, widersprach Sophia. „Es könnte sich ja auch um eine Geheimtür handeln, die nur von der Gangseite her zu öffnen ist. So eine Geheimtür wäre im Altarraum praktisch unsichtbar. Das würde erklären, warum wir sie bisher übersehen haben. Allerdings werden wir die Halle noch einmal auf feinste Unebenheiten oder andere Anzeichen hin untersuchen.“

„Und der Gang selbst?“, fragte Richard.

„Das Erdreich ist zu locker“, verneinte Sophia. „Wir können es nicht wagen, dort hineinzugehen. Nur ein Lebensmüder käme auf eine solche Idee.“

„Dankeschön“, kommentierte Richard.

„Wir werden den Gang ausgraben“, fuhr Sophia fort. „Das dauert zwar ein wenig länger, aber es ist die sicherste Methode. Sobald wir in den felsigen Untergrund gelangen, können wir vielleicht die Wände mit Balken abstützen. Es kommt natürlich darauf an, wie es dort aussieht.“

„Auf jeden Fall müssen wir wohl noch einige Wochen auf das Ergebnis warten“, folgerte Victor.

„So ist es“, bestätigte Sophia, „vielleicht sogar Monate“.

„Und dann war vielleicht alles umsonst“, unkte Richard, dem bewusst war, dass er sich in diesem Fall für monatelange ergebnislose Grabungen verantwortlich fühlen würde.

„Das ist nun einmal das Risiko eines Archäologen“, kommentierte Sophia. „Mindestens neun von zehn Probegrabungen bleiben ergebnislos oder bringen kaum Erkenntnisse.“

„Beruhigend“, stellte Richard fest.

*

Später am Tag verabschiedete sich Richard vom Grabungsteam. Sophia drückte er besonders herzlich und wünschte ihr viel Glück. Was hatte er ihr und Victor nicht alles zu verdanken! Ohne die beiden wäre er vielleicht nicht einmal aus Saloniki herausgekommen.

„Ich hoffe, wir sehen uns wieder“, sagte er, wohl wissend, dass die Wahrscheinlichkeit dafür nicht allzu hoch war.

„Natürlich werden wir uns wiedersehen“, entgegnete sie, „ich spüre es.“

Richard wandte sich an Kemal, den Assistenten von Professor Kilic und bedankte sich auch bei ihm für all seine Hilfe, besonders, als es darum ging, in Edirne einen Arzt zu finden. Auch Kemal dankte, vor allem für die Entdeckung des Gangs, und wollte sich dann an Victor wenden, der jedoch gerade mit einer innigen Verabschiedung von Sophia beschäftigt war.

„Wenn Sie in Saloniki sind“, richtete Kemal deshalb seine Worte an Richard, „könnten Sie sich dort nach den Professoren erkundigen? In Istanbul hat sie nämlich niemand gesehen, weder in der Bibliothek noch irgendwo sonst in der Universität.“

„Machen Sie sich Sorgen?“, fragte Richard nach.

„Keine Sorgen, nein, es ist nicht das erste Mal, dass die beiden für ein paar Tage verschwunden sind, ohne sich abzumelden, aber dennoch …“

„Wir werden uns nach ihnen erkundigen“, versprach Richard.

Die Fahrt verlief ruhig. Richard war nicht nach Reden zumute, zu sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt. Mühsam versuchte er, das Erlebte in eine vernünftige Ordnung zu bringen. Aber auch Victor war ungewöhnlich schweigsam. Irgendetwas bedrückte ihn, ihn, der doch sonst immer so fröhlich war und das Leben so leicht zu nehmen schien.

*

„Ich fahre morgen früh um fünf mit einem Bus direkt nach Deutschland“, erklärte Richard. „Günther Mehl hat bereits alles organisiert.“

„’auptsache billisch“, kommentierte Victor. „Aber isch dachte, du ’ättest noch eine’ Tag?“

„Wahrscheinlich will er mich so schnell wie möglich loswerden.“

Sie hatten sich zur späten Abendstunde zu einem letzten Treffen verabredet, saßen nun auf der Terrasse eines hübschen Cafés und genossen den Blick auf die herrliche Altstadt Salonikis.

„So, dann verlässt du uns also endgültisch“, bemerkte der Franzose ein wenig sentimental. „Es war eine schöne Zeit. Isch ’offe, es ’at dir trotzdem gefallen, trotz aller Widrischkeiten.“

„Dank dir und Sophia. Und den Professoren. Hast du etwas über sie herausgefunden?“

„Nein. In der Bibliothek sind sie auch nischt gewesen. Jetzt weiß isch nischt mehr, wo wir sie sonst noch suchen könnten. So langsam mache isch mir Sorgen.“

„Ob das damit zusammenhängt, dass ich ihnen von diesem Gang erzählt habe?“

„Das kann isch nischt sagen. Aber isch denke, sie werden schon wieder auftauchen. Isch wette, wenn isch misch wieder im Lager melde, dann erwarten sie misch bereits und präsentieren mir voller Stolz ihre neuesten Entdeckungen.“

Victor hing einen Moment seinen Gedanken nach, dann wechselte er das Thema. „Schade, dass du nischt dabei sein wirst, wenn sisch ’erausstellt, ob dein Gang das Tor zur Altarkammer ist oder nischt.“

„Ihr könnt mir ja eine Postkarte schicken.“

„Falls isch es selbst noch erlebe. Isch bin nämlisch auch nischt mehr lange ’ier. Übermorgen fahre isch wieder zur Grabungsstätte, aber in vierzehn Tagen muss isch nach Lyon zurück. Vielleischt se’en wir uns einmal in Frankreisch bei einem Glässchen vin rouge.“

Er wandte sich der Bedienung zu, die gerade die bestellten Getränke servierte, und bedankte sich mit einem zärtlichen „Merci“, worauf die hübsche junge Frau ihn mit einem verlegenen Lächeln bedachte.

„Wer weiß, vielleicht komme ich wirklich einmal nach Frankreich“, prophezeite Richard und schmunzelte über Victors umwerfende Wirkung auf die Frauenwelt. „Und Sophia?“, erkundigte er sich dann.

„Bleibt natürlisch ’ier“, teilte ihm der Franzose mit einem Anflug von Wehmut mit. „Es war selbstverständlisch von vorne’erein klar, dass unser Glück nischt ewisch dauern würde. Aber nun, wo es so langsam dem Ende zugeht, wird mir doch ein wenisch weh ums ’erz. Sie ist mir wirklisch sehr an dasselbige gewachsen.“

„Du redest ja so, als würdet ihr euch nie mehr wiedersehen.“

„Wozu? Das macht doch alles nur noch schwerer. Außerdem warten in Frankreisch meine beiden Freundinnen Nathalie und Amélie auf misch, und es ist schon schwer genug, nur diese beiden unter einen ’ut zu bringen. Nathalie ist nämlisch ziemlisch eifersüschtisch. Das erfordert eine perfekte Terminplanung, damit keine von der anderen erfährt.“

Richard betrachtete den Franzosen mit ganz neuen Augen. Er hatte doch immer geglaubt, Victor und Sophia seien das ideale Paar.

„Du wirkst ein wenisch irritiert, mein Freund.“

„Ja, ich habe die ganze Zeit gedacht …“

„’ast du nischt auch eine Freundin?“

„Nein, momentan nicht, und wenn, hatte ich immer nur eine.“

Der Franzose betrachtete Richard voller Mitgefühl. „Ihr Deutschen seht immer alles so ernst.“

Richard beschloss, beim Thema zu bleiben. „Was sagt denn Sophia dazu? Bist du dir überhaupt darüber im Klaren, wie sie sich fühlen wird, wenn du in Frankreich bist?“

„Keine Angst“, erwiderte der Franzose lächelnd. „Sophia kann damit umge’en. Natürlisch wird sie misch vermissen, isch werde sie auch vermissen, schließlisch liebe isch sie.“

„Du liebst sie?“, fragte Richard ein wenig ungläubig.

„Sischerlisch“, bekräftigte Victor. „Aber das ist doch kein Grund, ein Drama daraus zu machen. ‚Die Liebe ist wie ein Vogel, man muss ihn fliegen lassen, ’ält man ihn fest, in einem Käfisch, dann verkümmert er.’ Das ist aus ‚Carmen’.“

„So viel ich weiß, sind in ‚Carmen’ alle umgekommen.“

„Du machst schon wieder ein Drama daraus, mein lieber Rischard. Ihr Deutschen wirkt immer so schrecklisch unbe’olfen, wenn es um die Liebe geht. Wie Schulbuben aus der achten Klasse.“

„Danke.“

„Das merkt man übrigens schon an eurer Sprache.“

„Wieso?“

„Deutsch ist so kalt und lieblos, so fürschterlisch unerotisch. Französisch dagegen ’at so ’errlisch viele O’s und U’s, wunderschöne Laute, bei denen sisch der Mund zu einem Kuss formt. ‚Voulez-vous coucher avec moi?’ Dreimal U, dreimal in diesem kleinen Sätzschen verspreschen deine Lippen deiner Angebeteten eine zärtlische Berührung. Und im Deutschen? ‚Wollen Sie mit mir schlafen?’ Ein einziges Mal ge’en die Lippen nach vorn, und das auch noch verbunden mit einem ’ässlischen Reibelaut.“

„Aber dafür formt der Deutsche bei dem Wort ‚Kuss’ die Lippen zu einem Kussmund, der Franzose bei ‚baiser’ aber nicht“, entgegnete Richard schlagfertig.

Victor schüttelte missbilligend den Kopf. „So ist es“, bemerkte er trocken, „wenn man die Dinge beim Namen nennt, dann seid ihr Deutschen immer so schrecklisch direkt.“


Wächter des Paradieses - Teil 2

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