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Kapitel 8: Wieder in Würzburg

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Am nächsten Morgen fuhr Richard nach Deutschland zurück, mit einer Buslinie, die wegen ihres günstigen Preises vor allem von griechischen Gastarbeitern genutzt wurde. Der Bus war dementsprechend überfüllt. Richard gelang es nur mühsam, für sich und seine Reisetaschen noch ein kleines Stehplätzchen im Mittelgang zu ergattern. Der Lärmpegel war erschreckend hoch, wesentlich schrecklicher empfand Richard allerdings die unterschiedlichsten unangenehmen Gerüche, die seine Leidensfähigkeit auf eine nur schwer zu bestehende Probe stellten. Sein einziger Trost war der Gedanke, dass er sich nicht schämen musste, wenn er ebenfalls schon ein bisschen müffelte, denn infolge seines Fiebers und der fehlenden Waschgelegenheiten waren beide Hosen, die er mitgenommen hatte, nicht mehr die frischesten, um es vorsichtig auszudrücken.

Auch die Federung des Busses erwies sich als recht mangelhaft, und so verbrachte Richard anderthalb weitere nicht gerade angenehme Tage. Zum Glück boten ihm zwei seiner Mitreisenden freundlicherweise für jeweils einige Stunden ihre Sitzplätze an, und so konnte sich Richard wenigstens für kurze Zeit in einer etwas bequemeren Position entspannen.

Victor hatte ihm zum Abschied die Dechiffrierung des Originaldokuments aus Martin Finks Akte in die Hand gedrückt. Dieses zog er nun aus der Tasche und studierte es eingehend. Tatsächlich schien so ungefähr jedes vierte Wort einen Sinn zu ergeben, falls der Text in Latein verfasst worden war. Aber einen Zusammenhang dieser Worte konnte Richard nicht erkennen, schon allein, weil er viel zu übermüdet war. Also legte er das Dokument bald wieder beiseite und schloss erschöpft die Augen.

An Schlaf war allerdings nicht zu denken, und als er schließlich irgendwo zwischen Trient und Bozen dennoch ein paar Mal einnickte, erschienen ihm wirre Bilder aus seinem Fiebertraum, nur dass es ihm diesmal ein wenig übel wurde, als ihm die Schöne die Medizin mit ihrem Mund einflößte, was Richard auf das Wackeln und Schaukeln des Busses zurückführte.

In München stieg er in einen ähnlich überfüllten Regionalzug um und erreichte zur besten nachmittäglichen Berufsverkehrszeit den Würzburger Hauptbahnhof, und so wurde auch der Weg durch die wuselnden Menschenmassen zur nicht weit entfernten Straßenbahnhaltestelle zu einer Qual. Zum Glück wartete gerade eine Straßenbahn. Mit letzten Kräften schleppte Richard sich und sein Gepäck zur Bahn, doch gerade in dem Moment, als er den leuchtenden Türknopf betätigte, verlosch dieser, und alles Drücken war umsonst, ebenso Richards Versuch, Kontakt mit dem stoisch nach vorn blickenden Fahrer aufzunehmen. Die Tür blieb verschlossen. Verdattert starrte Richard der etwa eine Minute später abfahrenden Straßenbahn hinterher, und er wusste, er war wieder in Würzburg.

„Jemand zu Hause?“

Richards Frage verhallte ungehört. Anscheinend waren seine beiden Mitbewohner gerade unterwegs. Er duschte ausgiebig, um Schweiß und Schmutz der Reise zu entfernen, dann betrachtete er im Spiegel sein Gesicht. Tatsächlich, auf seiner Wange war nur noch ein kleiner roter Strich zu sehen. Zu müde, sich sowohl über diese wunderbare Heilung als auch über seine restlichen Reiseerlebnisse länger Gedanken zu machen, schrieb er noch eine Notiz mit der Nachricht „Bin wieder da, Richard“ auf einen Zettel und legte ihn auf den Küchentisch. Dann schleppte er sich in sein Bett und schlief sofort ein.

*

Als er aufwachte, befand er sich nicht mehr in seinem Zimmer. Der Untergrund besaß nicht die Nachgiebigheit seiner ausgeleierten Matratze, er war hart wie Stein. Richard konnte nichts erkennen, völlige Dunkelheit umgab ihn, aber mit seinen Händen konnte er fühlen, dass er auf einer granitenen Platte lag. Mühsam richtete er sich auf. Vor ihm gähnte eine düstere Öffnung in der Wand. Und darüber schimmerten geheimnisvolle Schriftzeichen in kaltem Glanz. Er befand sich in der Altarhalle, erkannte er, er saß auf dem Blutaltar der „Schwarzen Bogomilen“.

Um ihn herum herrschte tiefe Stille. Wie war er hierher gelangt? Vorsichtig glitt er von der Platte und tastete sich zur Öffnung. Diesmal nahm er sich Zeit, die Schriftzeichen näher zu betrachten. Es war verwirrend, denn als er genauer hinsah, um den Sinn der Zeichen zu enträtseln, da bemerkte er, wie sie sich veränderten, wie sie von unbekannten Glyphen zu griechischen Buchstaben mutierten, allerdings seltsam verschnörkelt und deshalb nur mit Mühe als solche zu identifizieren. „Gnothi seauton“ las er, „Erkenne dich selbst“. Was hatte das zu bedeuten? Richard tastete sich in den Gang. Zuerst umgab ihn völlige Dunkelheit, dann sah er den vertrauten orangefarbenen Schimmer, und als er um eine Biegung trat, da erblickte er sie, seine Schöne, wie sie mit dem Rücken zu ihm ihren leuchtenden Stab in die Höhe hielt und geheimnisvolle Beschwörungsformeln murmelte.

Langsam ging er auf sie zu. Sie spürte seine Anwesenheit und drehte sich um. Ihre zarte Hand berührte seine Schulter. „Sotir“, hauchte sie mit ihrer engelhaften Stimme, dann führte sie ihn zurück in die Halle und bedeutete ihm, sich wieder auf den Altar zu legen. Richard zögerte, er spürte, dass das nicht richtig war, dass er ihr nicht gehorchen durfte, dass er besser versuchen sollte, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Sie bemerkte sein Zögern und lächelte ihr unvergleichliches Lächeln, dann wies sie erneut auf den Altar. Diesmal folgte Richard ihrer Aufforderung. Sie setzte sich neben ihn, nahm eine kleine rote Frucht aus einer Tasche ihres Gewandes, hielt sie in die Höhe und begann zu singen, dieselbe wunderschöne Melodie, die er während seines Fiebertraums vernommen hatte. Er spürte, wie ihn diese Melodie verzauberte, wie der harte Stein des Altars sich in unendliche Weichheit verwandelte, er glaubte zu schweben auf einer Wolke des Glücks. Dann nahm sie die Frucht in den Mund und zerkaute sie. Richard erschauderte vor Wonne, als ihre Lippen die seinen berührten, als ihre Zunge den Brei in seinen Mund schob.

Doch diesmal fühlte er keine heilende Wirkung. Er verspürte ein Aufwallen von Hitze, erst schwach, dann immer heißer und heißer, bis sein Mund brannte, als hielte er glühende Kohlen zwischen den Zähnen. Erschrocken riss er die Augen auf, die er zuvor in Erwartung des Kusses geschlossen hatte. Ihr Antlitz schwebte über ihm, aber nicht länger lieblich und von unendlicher Schönheit, sie zeigte ihr anderes, furchterregendes Gesicht. Ihre Augen glühten böse in rotem Schimmer. Er versuchte sich loszureißen, zu schreien, doch sie hielt ihn unerbittlich fest und hörte nicht auf, ihn zu küssen, erstickte jede Gegenwehr und jeden Schrei. Immer unerträglicher wurden Schmerz, Grauen und Entsetzen, bis Richard seine schwindenden Kräfte zusammenraffte, zu einem letzten Versuch, sich zu befreien, sich aufzubäumen gegen sein Schicksal … und es gelang. Sie war verschwunden, von einem Moment auf den anderen, seine Lippen waren frei, sein Mund leer, und das Brennen verebbte. Er war allein, gedämpftes Tageslicht drang durch die Jalousie vor dem Fenster seines Zimmers. Er lag in seinem Bett. Alles nur ein Traum. Schwer atmend richtete er sich auf und blickte auf die Uhr. Kurz vor elf. Höchste Zeit aufzustehen.

Diesmal wusste er, dass es ein Traum gewesen war und nicht Realität. Obwohl ihm wiederum alles so schrecklich wirklichkeitsgetreu vorgekommen war, war er sich dennoch sicher, dass er nur geträumt hatte. Gott sei Dank. Denn dieses Mal verspürte er keinen Wunsch, dass die Erlebnisse von eben Wirklichkeit sein sollten. Es war schlimm genug, davon auch nur zu träumen.

Aber hieß das im Gegenschluss, dass sein Fiebertraum in der Hütte der Alten vielleicht doch keine Einbildung gewesen war? Richard schüttelte unschlüssig den Kopf. Wenn schon ein normaler Albtraum so erschreckend real wirken konnte, musste ihm dann ein Fiebertraum, der seine Sinne sicherlich weit stärker in Mitleidenschaft gezogen hatte, nicht noch wesentlich realer erscheinen?

Richard beschloss, von weiteren unfruchtbaren Gedanken Abstand zu nehmen, kleidete sich an und betrat die Küche.

Ein Duft nach frischem Kaffee empfing ihn. Der Tisch war gedeckt, mehrere Wurst- und Käsesorten standen neben frischer Butter und Marmelade. Doch niemand war anwesend. Aber noch während Richard die Bedeutung dieses neuen und unerwarteten Anblicks zu deuten suchte, hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte. Tabea trat ein, eine Tüte mit frischen Brötchen in der Hand.

Sie schauten sich schweigend einige Sekunden an, bevor sie sich umarmten. Richard hatte einen Moment lang seine Schöne vor den Augen, wie sie ihn in seinem Traum umschlungen und geküsst hatte. Unwillig verscheuchte er dieses Bild und drückte Tabea umso fester.

„Schön, dass du wieder da bist“, begrüßte sie ihn mit einem ungewohnten Anflug von Melancholie in der Stimme, dann ließ sie ihn los.

„Hast du das alles besorgt?“, fragte Richard überflüssigerweise und deutete auf den gedeckten Tisch.

„Nein, die Heinzelmännchen“, konterte seine Mitbewohnerin.

„Und das alles für mich?“

„Ich freue mich eben, dass du wieder da bist“, erklärte Tabea, aber die reine Freude schien nicht gerade aus ihren Augen zu springen.

Sie setzten sich an den Frühstückstisch, und Richard ließ sich die süße Erdbeermarmelade auf der Zunge zergehen. Schweigend saßen sie sich gegenüber.

„Danke für die Karte“, sagte Tabea schließlich. „Sie lag heute Morgen im Briefkasten.“

„Oh, dann war die Post aber schnell.“

„Ja, sieht so aus.“

Sie schwiegen erneut eine ganze Weile, dann versuchte Richard, den Faden wieder aufzunehmen. „Womit habe ich das alles nur verdient? Ich habe dir nicht einmal einen Stein mitgebracht. Nur eine Vase, aber die muss ich erst noch auspacken.“

„Macht nichts“, entgegnete Tabea nur. Richard bemerkte, dass ihre Augen wässrig waren.

„Was ist denn los“, wollte er wissen.

„Nichts Wichtiges“, seufzte sie. „Kai hat mit mir Schluss gemacht.“

„Tut mir Leid.“

Betroffen schwieg er für einige Sekunden und überlegte, ob er Tabea in den Arm nehmen sollte, so verletzlich, wie sie wirkte.

„Dann ist er also wieder aus Amerika zurückgekommen?“, erkundigte er sich stattdessen. Er erinnerte sich, dass das Auslandssemester seines Mitbewohners noch lange nicht zu Ende war.

„Er ist schon wieder dort“, klärte Tabea ihn auf. „Er hat dort jemanden kennen gelernt, eine Amerikanerin, und jetzt will er drüben bleiben, bei ihr.“

„Das ist ja schlimm“, kommentierte Richard etwas hilflos.

„Nein“, wehrte Tabea ab, „er war eh nicht der Richtige. Es musste früher oder später sowieso so enden. Besser jetzt.“

Eine Träne floss ihre Wange hinab. Richard schob seinen Stuhl neben den ihren und legte seinen Arm um sie. Sofort lehnte sie sich an ihn und begann zu weinen.

„Psst!“, versuchte Richard sie zu beruhigen. „Wenn er dich so hat sitzen lassen, dann war er es wirklich nicht wert. Es ist gut so, wie es gekommen ist.“

„Aber es ist doch irgendwie Scheiße“, schluchzte Tabea. „Wenn wenigstens ich mit ihm Schluss gemacht hätte und nicht er mit mir.“

„Nicht weinen. Komm schon.“

Aber Tabea heulte noch eine ganze Weile, bis sie schließlich ein „Danke“ murmelte. „Danke, dass du mich getröstet hast.“

Sie richtete sich auf, und Richard rückte seinen Stuhl wieder von ihr weg auf seinen ursprünglichen Platz.

Eine Weile aßen sie schweigend weiter.

„Du siehst gut aus“, bemerkte sie schließlich.

Richard befühlte seine Wange. „Ja, dank der Antibiotika. Aber es war ganz schön knapp. Ich wäre beinahe gestorben.“

„Was?“, fragte Tabea fassungslos, und Richard erzählte ihr von seinen Erlebnissen in Edirne. Nur bei seinem Fiebertraum ließ er so manche Einzelheit aus, berichtete zum Beispiel nicht, dass der Engel, der ihn zur Höhle geführt hatte, die Gestalt der Schönen aus der Gothic-Disco angenommen hatte, und selbstverständlich erzählte er auch nichts von den delikaten Heilmethoden seiner Traumfrau.

Tabea war auch so sehr beeindruckt. Richards Bericht war genau die richtige Medizin gegen ihren Seelenschmerz. Als hätte es Kai nie gegeben, verschwendete sie an diesem Vormittag keinen Gedanken mehr an ihn, sondern beschäftigte sich damit, Richards Erlebnisse und vor allem seinen Fiebertraum zu deuten.

„Du hast den Gang aus dem Traum wirklich entdeckt?“, staunte sie ungläubig, als Richard auf dieses Thema zu sprechen kam.

„Vielleicht“, korrigierte dieser. „Vielleicht ist es auch nicht dieselbe Höhle. Aber auf jeden Fall eine wichtige Entdeckung.“

„Gratuliere“.

„Und ich habe dort meinen ersten archäologischen Fund gemacht.“

„Ja?“

„Eine Plastiktüte. Mit zwei leeren Blättern drin. Lag direkt am Eingang. Ist wahrscheinlich von spielenden Kindern dort zurückgelassen worden.“

„Hört sich sehr interessant an.“ Tabeas Stimme zeigte einen Hauch von Ironie.

„Ich kann sie dir ja mal zeigen. Sie muss noch irgendwo in meiner Reisetasche stecken.“

„Nein, mach dir keine Mühe. Hat diese Höhle in die Bogomilenhalle geführt?“

Richard berichtete, dass diese Frage gerade von dem dortigen Grabungsteam in Angriff genommen werde. Danach wollte er wissen, ob Tabea und Theo neue Erkenntnisse gewonnen hätten, doch sie verneinte seine Frage. Ihr Blick wurde wieder merkwürdig abwesend.

„Mit Theo stimmt irgendwas nicht“, erklärte sie schließlich. „Er ist so komisch geworden. Es interessiert ihn überhaupt nicht, was für Rätsel hinter Martin Finks Aufzeichnungen stecken, aber er hängt jeden Abend im Memphiskeller ’rum und wartet auf sein Supergirl. Aber wenn man ihn darauf anspricht, reagiert er total aggressiv. Vor drei Tagen hab’ ich mich in diesen Schuppen bewegt, um einen Termin mit ihm auszumachen, aber er hat nur dagesessen, vor seinem Bier, und war überhaupt nicht ansprechbar. Da bin ich wieder gegangen. Ist der öfters so übel drauf?“

„Manchmal schon“, erinnerte sich Richard, „aber das vergeht wieder. Ich werde mit ihm reden. Mal sehen, ob ich ihn zur Vernunft bringen kann. Hast du heute Abend Zeit?“

„Wozu?“

„Damit wir uns treffen, alle drei. Ich habe die Dechiffrierung von Martin Finks geheimnisvollem Originaldokument mitgebracht. Es gibt einige Rätsel zu lösen.“

„Und du meinst, dass Theo mitmacht?“

„Sicher.“

„Weißt du überhaupt, wo du ihn findest?“

„Natürlich. Ich mache mich gleich auf den Weg“

„Richard“, sagte Tabea ernst, „es ist wirklich gut, dass du wieder da bist.“

*

Aber Theo saß nicht auf seinem Lieblingsplatz hinter den Weinbergen, wie Richard vermutet hatte. Suchend überprüfte er den Himmel, konnte jedoch keine Krähen entdecken. Nur in der Ferne, da, wo die Hügelkuppe, auf der die Steinburg stand, nach Süden zur Stadt hin steil abfiel, schimpfte eine Schar Elstern in den Bäumen.

Richard ging in Richtung der Lärmquelle, schon weil er sonst keine Idee hatte, wo er Theo suchen sollte. Und tatsächlich, die Vögel wiesen ihm den Weg. Am Rand des Abhangs saß Theo und starrte auf die Stadt hinunter. Er wirkte noch düsterer und hagerer als sonst.

„Seit wann sprichst du mit Elstern?“, wunderte sich Richard halblaut.

Langsam drehte Theo sich um. Kein Zucken seiner Miene verriet, dass er sich über Richards Erscheinen freute. Richard war sich noch nicht einmal sicher, ob Theo ihn überhaupt wahrnahm.

Theo wandte seinen Blick wieder der Stadt zu. „Man kann sich seine Gesprächspartner nicht immer aussuchen, mein Freund“, brummelte er und schwieg.

„Soll ich wieder gehen?“, erkundigte sich Richard nach einer Weile, doch Theo ignorierte seine Frage.

„Sie sind nur am Meckern, diese Vögel“, gab er von sich, „kaum einmal ein Scherz oder eine positive Bemerkung.“

Ein Auto brummte den schmalen Lieferantenweg unterhalb von seinem Aussichtspunkt zu einem nahegelegenen Ausflugslokal hinauf. Theos Gesichtsausdruck wurde noch finsterer.

„Sie haben auch vollkommen recht, die Biester“, bemerkte er bitter. „Das ist schon das elfte Auto, das verbotenerweise hier hoch fährt, seit ich hier sitze.“

„Und?“

„Schau dir einmal die Straßen da unten an. Dieser Verkehr, er wird immer schlimmer. Immer schlimmer und schlimmer. Immer mehr Abgase, immer mehr Gift wird in unsere Atmosphäre geblasen. Der Wald stirbt, aber das ist allen scheißegal. Über zehn Prozent aller Krebserkrankungen werden durch die Umweltverschmutzung verursacht, aber interessiert das jemanden? Die Luft wird schlechter und schlechter, es macht keine Freude mehr, sie einzuatmen. Die Stadt stinkt, mein Freund, die Stadt stinkt – Wie bist du hier rauf gekommen?“

„Mit dem Fahrrad“, erwiderte Richard wahrheitsgemäß, erwähnte aber lieber nicht, dass er nur deshalb kein Auto fuhr, weil er es sich nicht leisten konnte.

„Sehr lobenswert“, kommentierte Theo. „Dreißigtausend Tote im Jahr, allein in Deutschland, nur durch die Autofahrer, und diese Zahl steigt an. Das ist Mord, mein Lieber, das ist nichts anderes als Mord, ein Holocaust, an dem sich alle beteiligen, hier ‚in diesem unserem Lande’.“

Richard erkannte, dass Theos Stimmung noch weit schlechter war als er befürchtet hatte. „Du hast sie nicht gesehen?“, fragte er mitfühlend.

„Lenk nicht ab“, wies Theo ihn zurecht. „Und wer kriegt den Schlamassel am heftigsten ab? Die Kinder, weil nämlich die Schadstoffe in den Abgasen schwerer sind als Luft und sich in Bodennähe konzentrieren. Hast du das gewusst?“

„Nein“, räumte Richard kopfschüttelnd ein. Ob sein Freund nun Recht hatte oder nicht, hoffentlich ging das nicht noch stundenlang so weiter.

Doch Theo hatte sich in Fahrt geredet. „Aber das ist denen da unten egal“, fuhr er fort. „Sie steigen in ihre heilige Kuh und fahren und morden und quälen. Weißt du, dass der Kohlendioxidgehalt in unserer Luft mehr und mehr zunimmt? Weißt du, was das heißt? Dass es immer wärmer wird auf unserem Planeten. Dass wir immer mehr Stürme und Überschwemmungen haben werden. Aber kümmert die das? Ich sage dir, mein Freund, wenn in zwanzig oder dreißig Jahren die Polkappen schmelzen, wenn Stürme und Tornados hierzulande an der Tagesordnung sind, wenn die Kinder alle heiser geworden sind und sich mit Asthma und anderen Atemwegserkrankungen herumschlagen, glaubst du, dass dann die Menschen zur Vernunft kommen? Ich sage, nein, aber das wird dann auch egal sein, weil es dann eh zu spät ist, und die Menschheit untergehen wird.“

Er legte eine Pause ein, um seine Worte besser wirken zu lassen.

„So, das musste mal gesagt werden.“ Er lehnte sich zurück und atmete tief durch.

„Geht’s dir jetzt besser?“, wollte Richard wissen.

„Nein“, antwortete Theo. „Nummer zwölf“, notierte er dann, als ein weiteres Auto zur Gaststätte hinauftuckerte. „Ich habe sie übrigens nicht gesehen, nur um deine Frage von vorhin zu beantworten.“

„Dachte ich mir doch.“

„Es ist, als hätte es sie nie gegeben“, erklärte Theo. „Niemand will sie gesehen haben, niemand hat sie gesprochen, niemand hat von ihr gehört.“

„Und Orakel?“

„Ist auch verschwunden. Na ja, man soll ja nie die Hoffnung verlieren, auch dann nicht, wenn es keine Hoffnung mehr gibt. Übermorgen ist wieder Gothic-Disco, vielleicht treffe ich sie dann.“

„Vielleicht.“ Richard wurde wieder von seiner Erinnerung an den Kuss der Schönen gepackt. Energisch verdrängte er das Bild. Davon konnte er Theo unmöglich erzählen.

„Wenn du Glück hast, lernst du sie dann kennen“, versuchte er, seinen Freund aufzumuntern, allerdings ohne selbst so recht daran zu glauben. „Und sie dich.“

„Kann sein“, brummte Theo. „Quatsch. So wird es sein. Und wir werden zusammenfinden, sie und ich, ich weiß es. Sonst hält mich nichts mehr hier auf dieser Welt.“

„Theo …“, begann Richard, wieder einmal schockiert über die Ansichten seines Freundes. Er suchte nach Worten, doch Theo kam ihm zuvor.

„Weißt du“, flüsterte er traurig, „ich will gar keinen Sex mit ihr, ich will sie nur in den Armen halten. Ich will nur ein bisschen Zärtlichkeit.“

Richard dachte wieder an ihrer beider Traumfrau, daran, wie er und sie sich in seinem Fiebertraum geküsst hatten. Er wollte sehr wohl Sex mit ihr haben. Wie weltfremd war Theo eigentlich? Richard legte dem Freund mitfühlend seine Hand auf die Schulter. Doch der reagierte nicht.

„Warum versuchst du es nicht erst mal mit einer anderen?“, versuchte es Richard. „Übung macht den Meister.“

Theo bedachte Richard mit einem strafenden Blick. „Ich dachte, ich hätte dir deutlich gemacht, wie ich zu der Sache stehe“, stellte er klar, und Richard schwieg.

Theo betrachtete seinen Freund kritisch. „Du willst mich sicher überreden, dass ich zu einem deiner Treffen mit Tabea komme, um über diese komischen Forschungen von diesem komischen Fink zu reden“, mutmaßte er.

„Ja, und damit ich euch erzählen kann, was ich in Edirne erlebt habe. Heute Abend, bei mir in der WG?“

Theo blieb stumm.

„Komm schon“, drängte Richard, „das ist doch besser, als jeden Abend im Memphiskeller rumzuhängen und auf Phantome zu warten.“

„Da bin ich anderer Meinung.“

„Ich geh’ auch übermorgen mit dir in die Gothic-Disco.“

„Also gut“, brummte Theo schließlich. „Aber nur, weil du es bist. Und nur unter einer Bedingung …“

*

„Es hat drei Tage gedauert, bis ich auch nur das erste von Martin Finks Interviews in Lautschrift übertragen hatte“, erklärte Tabea. „Ich verstehe trotzdem kaum etwas. Deshalb habe ich mir die Arbeit bei den anderen Interviews gespart. Die Qualität der Bänder ist einfach zu schlecht.“

Sie starrte ein wenig frustriert in den mit rosa Schäfchenwolken geschmückten Himmel, der sich über dem abendlichen Würzburg spannte. Ein zarter, wenn auch ein wenig kühler Lufthauch strich über das Gelände hinter den Weinbergen; denn das war die Bedingung, die Theo gestellt hatte: dass sie ihre Zusammenkunft auf Theos Lieblingsplatz abhielten.

„Trotzdem nett von dir, dass du es versucht hast“, bedankte sich Richard und entfernte eine Ameise von seiner Hose.

„Ich konnte nur heraushören, dass Martin Fink immer wieder nach einem verschwundenen Neugeborenen gefragt hat“, setzte Tabea ihren Bericht fort. „Und nach diesem Breschoarde hat er auch immer wieder gefragt. Ich vermute, dass es sich bei diesem Namen um einen Ort handelt, wahrscheinlich ein kleines Dorf. Wird dann wohl mit ch geschrieben, also Brechoarde. Auch die altbekannten Wörter ‚Turm’ und ‚Hexe’ habe ich heraushören können, aber da habe ich den Zusammenhang nicht kapiert. Ich verstehe ja noch nicht einmal diesen seltsamen Dialekt so richtig.“

„Hast du wenigstens herausbekommen, wo dieses Brescho- oder Brechoarde liegt?“, wollte Richard wissen.

„Ein Brechoarde hab’ ich nicht gefunden. Aber dann bin ich auf die Idee gekommen, dass ja auch Bresoarde oder Bressoarde gemeint sein könnte, so vernuschelt, wie die reden. Und tatsächlich, es gibt ein kleines Dorf mit dem Namen Bressoarde im französischen Mittelgebirge, nicht allzu weit von St. Etienne, etwas südlich von Le Puy.“

„Na, das ist doch schon mal wenigstens etwas“, kommentierte Richard.

„Falls dieses Dorf gemeint ist“, schränkte Tabea ein. „Aber der Dialekt der Befragten könnte schon dazu passen.“

„Also, wenn ich zusammenfassen darf“, meinte Richard, „wir wissen immerhin aus diesen Bändern, dass in irgendeiner abgelegenen Gegend im südlichen französischen Mittelgebirge die Menschen noch an Hexen glauben.“

„Nicht sonderlich überraschend“, brummte Theo, der die ganze Zeit nur damit beschäftigt gewesen war, in die Umgebung zu starren, und Tabea noch nicht einmal mit einem Kopfnicken begrüßt hatte.

„Es ist anscheinend eine Gegend“, fuhr Richard fort, „wo es Felsen gibt, einen Turm und irgendwelche ‚Schwarzen’. Am interessantesten finde ich die Sache mit dem verschwundenen Baby, weil es genau die gleiche Geschichte in der Gegend um Edirne gibt.“

„Das ist ja heiß“, staunte Tabea. „Gibt es auch Hexen in diesem Edirne?“

„Nein, nur Engel“, berichtigte Richard. „Aber es sind nicht unbedingt gute Engel. Zumindest gibt es Parallelen zwischen den Legenden von Edirne und Bressoarde. In diesen Interviews, ging es da auch mal um Raben?“

„Nein“, erklärte Tabea, „aber ich habe wirklich nicht viel verstanden. Ich will also nicht ausschließen, dass nicht doch irgendwo von einem Raben gesprochen wurde.“

„Auf jeden Fall war der Vogel sowohl auf der Zeichnung von Martin Fink zu sehen als auch auf dem Fresko in Edirne“, stellte Richard fest. „Genauso wie der Engel und diese komische Pflanze.“

Er wandte sich an Theo. „Warst du eigentlich im botanischen Garten?“

Theo drehte sich langsam um. „Wer? Ich?“, fragte er nach, aus seinen trüben Gedanken gerissen.

„Wer denn sonst?“, meinte Tabea genervt.

„Natürlich war ich dort“, erklärte Theo. „Ich bin dort wenigstens einmal in der Woche.“

„Und?“, wollte Richard nach einer Pause wissen.

„Was und?“

„Hast du die Pflanze identifizieren können, die du auf der Baustelle entdeckt hast?“

Theo dachte eine Weile nach.

„Nein. Diese Art gibt es nicht im botanischen Garten.“

„Die Spur können wir also streichen“, bemerkte Tabea.

„Aber die Art stammt doch aus Südamerika?“, hakte Richard nach.

„Weiß nicht“, maulte Theo. „Ist mir egal. Ich hab’ eh vergessen, sie zu pressen.“

Tabea wirkte, als wollte sie aufbrausen, aber sie beherrschte sich. Inzwischen war sie ja schon einiges von Theo gewohnt. „War vielleicht auch nicht so wichtig“, seufzte sie.

„Ist eh alles nicht so wichtig“, sagte Theo leise. „Was kümmern mich diese Sekten. Was kümmert mich das Mittelalter. Ist doch sowieso alles egal.“

„Das ist nicht egal“, widersprach Tabea. „Wir sind extra hier herauf gekommen, auf deinen Platz, um die Rätsel hier zu diskutieren, mit dir zusammen.“

„Und?“

Jetzt platzte Tabea doch noch der Kragen. „Wir sind auf jeden Fall nicht hier heraufgekommen, um deinen verdammten Depri-Trip mit anzusehen! Du bist nicht allein auf der Welt, also denk nicht dauernd an die blöde Scheiße, in der du steckst, denk auch mal an andere und hilf uns gefälligst bei unseren Recherchen!“

Richard erwartete, dass sein Freund nun mit gleicher Vehemenz entgegenhalten würde, aber Theo schwieg eine Weile, um dann genauso leise und irgendwie abwesend zu antworten wie zuvor.

„Na gut, dann helfe ich euch eben. Ist doch eh egal.“ Theo starrte weiter ins Leere.

Tabea schien am Rande der Verzweiflung zu stehen. Erschöpft wandte sie sich ab. Richard befürchtete, sie würde ihre Sachen packen und gehen.

„Andere haben auch ihre Probleme“, murmelte sie stattdessen ein wenig müde, und Richard wusste, dass sie an Kai dachte.

„Ich habe sowieso keine Ahnung, wie ich euch Geisteswissenschaftlern helfen kann“, gab Theo von sich, genauso teilnahmslos wie zuvor. „Aber wie gesagt, es ist mir egal, ich versuche mein Bestes, also macht weiter.“

„Gut“, versuchte es Richard nach einer etwas ratlosen Pause von neuem. Seinem Freund ging es schlechter als sonst. Und das hatte sicher einen ganz bestimmten Grund, aber Theo jetzt danach zu fragen, wäre verlorene Liebesmüh gewesen, soweit kannte Richard seinen Freund. „Ich zeige euch jetzt mal die Übertragung des Originaldokuments aus Martin Finks Akte“, begann er vorsichtig und packte die Zettel aus, die er mitgebracht hatte. Tabea schaute mit mäßigem Interesse in die Schriftstücke, Theo blieb regungslos sitzen.

Richard begann trotzdem zu erklären, was Victor herausgefunden hatte, auch wenn er sich dabei ziemlich unwohl fühlte.

Zumindest gelang es ihm, Tabeas Interesse wieder zu wecken. „Jedes vierte Wort ist also entzifferbar?“, hakte sie nach.

„Und die beiden ersten Sätze“, ergänzte Richard. „Die Letzten werden die Ersten sein“, trug er vor. „Das ist ein Bibelspruch. Victor war der Meinung, dieser Spruch bezieht sich auf die Methode der Verschlüsselung. Die Buchstaben des Alphabets wurden einfach vertauscht und die ersten wurden zu den letzten.“

„Klingt einleuchtend“, stimmte Tabea zu.

„Das ist unlogisch“, mischte sich unvermutet Theo ein. Richard und Tabea drehten sich überrascht zu ihm um.

„Warum sollte der Autor die Verschlüsselung eines Textes erst dann verraten, wenn der Text entschlüsselt ist?“, erläuterte Theo seine These und versank wieder in seine Teilnahmslosigkeit.

„Das ist wahr“, räumte Richard ein. „Aber dann haben wir noch dieses Rätsel: Ein Turm bedinget die Verirrung, durch Feuer endet die Verwirrung; im Norden Kraft, im Süden halb der Mond, im Westen Heiligkeit, im Osten Weisheit wohnt. Namen im Spiegel. Wir haben nicht herausgefunden, was das bedeuten könnte.“

„Die vier Himmelsrichtungen“, raunte Tabea. „Warum? Vielleicht bezeichnen sie Länder?“

„Daran haben wir auch schon gedacht“, teilte Richard mit. „Kraft steht für ein nordisches Volk, vielleicht sind die Wikinger gemeint, der Halbmond steht für Arabien, die Heiligkeit für den Papst in Rom und die Weisheit für Indien oder China.“

„Aber was soll das mit dem Turm und dem Feuer bedeuten?“, fragte Tabea.

„Vielleicht bezieht sich das auf den Turm, der in den Interviews erwähnt worden ist“, mutmaßte Richard. „Und das Feuer steht für die Hexenverbrennungen.“

„Ja“, ergänzte Tabea. „Verirrung durch die Sektierer, die im Turm wohnten, und Ende der Verwirrung durch die Scheiterhaufen für die Ketzer.“

„Aber was hat das alles mit den Himmelsrichtungen oder Ländern zu tun?“ wandte Richard ein, und darauf fand auch Tabea keine Antwort.

Einige Minuten herrschte Schweigen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und langsam begann es zu dunkeln.

„Vielleicht ist das Rätsel ja der Schlüssel zur Entzifferung des restlichen Textes“, unterbrach schließlich Theo die Stille.

„Ein Schlüssel?“, zweifelte Richard.

„Das wäre logisch“, bekräftigte Theo seine Hypothese. „Den ersten Code herauszufinden, ist einfach. Deshalb erhält man den Schlüssel hierzu erst nach der Entzifferung des ersten Textes, sozusagen als Bestätigung. Der zweite Code ist schwieriger. Deshalb verrät uns der Autor diesen Schlüssel schon vorher.“

„Klingt wirklich logisch“, gab Richard zu. „Aber was bedeuten dann der Turm und das Feuer?“

Theo verdrehte ein wenig mitleidsvoll die Augen. „Der erste Schlüssel ist ein Bibelspruch. Die Letzten werden die Ersten sein. Warum sollte der zweite Schlüssel sich nicht auch auf die Bibel beziehen?“

„Wo kommt in der Bibel ein Turm vor?“, überlegte Richard laut.

„Vielleicht in den Tempelanlagen von Jerusalem?“, schlug Tabea vor.

Theo seufzte. „Früher.“

„Ägypten?“, riet Richard unsicher.

„Viel früher.“

„Der Turmbau zu Babel! Natürlich!“

„Und das Feuer?“, wollte Tabea wissen.

„Pfingsten“, sagte Theo nur.

„Wieso?“

„Der Turmbau zu Babel steht für die Verwirrung der Sprachen“, erklärte Richard aufgeregt. „Und an Pfingsten hat sich eine Flammenzunge auf die Köpfe der Apostel gesenkt, und daraufhin konnten sie sich plötzlich in allen Sprachen unterhalten.“

„Dann stehen die vier Himmelsrichtungen nicht für Länder, sondern für Sprachen“, folgerte Tabea scharfsinnig.

„Ja“, bestätigte Richard. „Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, aus welchen Sprachen diese Worte entnommen wurden, und wir haben den Text entziffert.“ Er wandte sich zu Theo. „Mensch, das war genial!“

Theo starrte ihn nur undurchdringlich an.

„Ja, das war wirklich klasse“, lobte auch Tabea.

„Geisteswissenschaftler“, bemerkte Theo kopfschüttelnd und wandte sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung zu, nämlich in die Leere zu starren.

Die betreffenden Sprachen herauszufinden, erwies sich tatsächlich als ein nicht allzu großes Problem. Jetzt, da sie auf der richtigen Spur waren, wurde sofort offensichtlich, dass es sich bei einer der verwendeten Sprachen um Deutsch handelte, zwar nicht um Mittelhochdeutsch, sondern um einen südwestlichen Dialekt, um eine Art Altalemannisch. Das erklärte natürlich, warum die unbekannten Wörter ihnen nicht schon zuvor vertraut erschienen waren. Die Sprache des Ostens entpuppte sich zum Glück nicht als Indisch oder Chinesisch, sondern stellte sich als Altgriechisch heraus. Eigentlich lag das auf der Hand, wie Richard sich im Nachhinein eingestand, denn gerade aus der Sicht der Gelehrten des Mittelalters stellte das alte Griechenland mit seinen unzähligen Philosophen den Hort der Weisheit dar. Es war für Richard kein Problem, die Bedeutung dieser Worte zu entschlüsseln.

Ganz anders verhielt es sich mit der vierten Sprache, der Sprache des Südens, unzweifelhaft Arabisch. Diese Sprache beherrschte nun wirklich keiner von ihnen, und ohne die Worte, die in Arabisch geschrieben waren, ergaben leider nur wenige Sätze des Dokuments einen Sinn. Soviel fanden sie zumindest heraus, dass es in dem Text um Hexen und um die Verfolgung von Ketzern ging. Auch das griechische Wort für „Rabe“ kam vor, was Richard ganz hellhörig machte. Aber ansonsten konnten sie nicht viel herauslesen, ohne in reine Spekulation zu verfallen.

„Wir brauchen jemanden, der Arabisch kann“, beendete Theo die Interpretationsversuche seiner Freunde.

„Vielleicht sollten wir das Dokument der altphilologischen Fakultät übergeben“, schlug Richard vor. „Ganz offiziell. Dort gibt es bestimmt jemanden, der die arabischen Wörter übersetzen kann.“

„Ja, da wäre sogar dein Dekan stolz auf dich“, meinte Tabea mit leicht ironischem Unterton.

„Der wird nie stolz auf mich sein“, wehrte Richard ab. „Aber irgendwann müssen wir das Ganze sowieso der Uni überlassen.“

„Irgendwann schon“, stimmte Tabea zu, „aber erst mal will ich wissen, was da drin steht. Wenn wir diesen Text jetzt der Uni übergeben, werden wir das vielleicht nie erfahren.“

„Willst du es mit einem Wörterbuch versuchen?“, erkundigte sich Richard.

„Nein“, entgegnete Tabea, „ich glaube, das hätte keinen Zweck. Ich kann die arabische Schrift nicht lesen.“

„Dann überlasst die Sache eben mir“, verkündete Theo.

Tabea und Richard blickten ihn an, als hätten sie gerade einen Frosch verschluckt.

„Du kannst Arabisch?“, entfuhr es Tabea.

„Nö“, erwiderte Theo, ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen. „Ich kann ein bisschen Englisch, das ist alles.“

„Aber wie willst du dann das Dokument übersetzen?“

„Wer hat denn gesagt, dass ich das Dokument übersetzen will?“ Theo schüttelte den Kopf. „Aber Karla kann es“, schmunzelte er.

„Die Frau aus der Gothic-Disco?“, hakte Richard nach.

„Eben die“, bestätigte Theo. „Sie stammt aus Tunesien. Ich werde mich gleich morgen Nachmittag mit ihr zusammensetzen. Da hat sie frei, soweit ich weiß.“

„Und du?“, erkundigte sich Tabea, „musst du nicht in dein Labor?“

Theo wandte sich brüsk ab. „Muss ich nicht“, raunte er, „ich habe alle Zeit der Welt.“

„Wieso?“, wollte Richard wissen. „Ist etwas passiert?“

Theo blickte zuerst zu Richard, dann zu Tabea. „Was soll denn schon passiert sein?“, wich er aus. „Ich hab’ eben einfach Zeit.“ Er wandte sich wieder von ihnen ab und starrte in den inzwischen von den ersten Sternen bedeckten Abendhimmel. „Zeit für die wichtigen Dinge“, murmelte er endlich. Danach schwieg er, und Richard wusste, dass keine Macht der Erde seinen Freund dazu bewegen konnte, ihnen mehr über seine Probleme zu verraten.

Wächter des Paradieses - Teil 2

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