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PRAELUDIUM

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Der Engel breitete die Flügel aus. Er ließ sich treiben im warmen Wind, der verspielt an seinen Federn zupfte, leicht wie ein Schmetterling glitt er über die wirbelnde Wolke. Die Hosianna-Gesänge der Seraphim drangen an sein Ohr, fuhren durch seinen ätherischen Körper und lösten unbekannte Hochgefühle in ihm aus, jenseits aller Vorstellungskraft. Er legte die Flügel an, wurde schneller, zog eine elegante Kurve um die wogenden Türme seiner Wolke, überschlug sich in unbeschreiblicher Glückseligkeit und trudelte in jauchzende Höhen. Ja, das war Freiheit, unendliche, bedingungslose Freiheit, nach der er sich kaum zu sehnen gewagt hatte, als sein Körper aus Fleisch ihn noch an die Niederungen des irdischen Lebens gebunden hatte. Doch nun war er hier, für ewig, für alle Zeit, und jeder seiner Sinne sang von beständiger Freude.

Nun schwebte er am Rand seiner Wolke entlang, folgte ihren verzwickten Windungen, warf einen Blick hinunter auf die ferne Erde. Drunten im blauen Dunst erstreckten sich Wüsten und Wälder, Meere brandeten an die Ufer des Festlandes, sanfte Strömungen kräuselten die Oberflächen stiller grüner Seen. Er sah die Schwärme der Fische in ihren Tiefen, erblickte die zahllosen Tiere, die großen wie die kleinen, Ameisen, die über den Waldboden wuselten, stachlige Igel, die sich zu Kugeln rollten, Hirsche, Rehe, Enten, Füchse … die ganze herrliche Schöpfung des Herrn breitete sich vor seinen Augen aus, und er jubelte vor Glück.

Äcker trieben in seinen Blick, riesige Monokulturen aus Weizen, Mais und Kartoffeln. In ihrer einfachen Geradheit wirkten sie beinahe wie Fehler in Gottes ansonsten so organisch-vollendetem Bauwerk. Dann wieder ein Wald, doch dieses Mal keine wilde, vielgestaltige Natur aus Buchen, Eichen, Pappeln und zahllosen weiteren Arten von Bäumen und Büschen, nein, geordnet in Reih und Glied reckten gleichförmige Fichten ihre Wipfel zum Himmel empor, wie eine baumgewordene Anklage gegen die natürliche Ordnung.

Und dann erblickte er das Geschwür.

Unbeirrt schwebte die Wolke auf die offene Wunde zu, auf graue Häuser, Industrieanlagen, Straßen, Flughäfen, Fabriken, ewig hastende Männer und Frauen in ihren mobilen Käfigen aus Blech, und alles überspannte eine hässliche graubraune Glocke aus gottlosem Dunst, ein einziger in Materie gewandelter Aufschrei gegen den Willen des Herrn.

Der Engel spürte die Feindseligkeit des Ortes. Erfüllt mit innerem Abscheu stieg er höher, näher an die schützende Wolke. Und doch spürte er eine seltsame Anziehungskraft, die von dem widerwärtigen Gebilde auf der Erde ausging, ein Ziehen und Zerren an den Federn, ein Reißen an seinem Körper, das sich stetig verstärkte, je länger er die Metropole beobachtete. Dort unten musste der Teufel wohnen, der Antichrist, der große letzte Feind des Herrn. Irgendetwas in des Engels Geist akzeptierte diese Wahrheit mit einem merkwürdigen Anflug von perverser Freude, war begierig, herauszufinden, welche Verderbnisse, welche unaussprechlichen Qualen die Hölle unter ihm für seine geläuterte Seele bereithalten mochte.

Rasch, bevor der Sog des Bösen zu stark für seinen Willen wurde, schwang er sich mit kräftigem Flügelschlag auf die sichere, watteweiche Fläche der Wolke zurück, schloss die Stadt mit all ihren gefahrvollen Versuchungen aus seiner Wahrnehmung aus und lauschte, um seine Seele zu heilen, den heiligen Seraphim, den Weisen unter den Engeln, wie sie das ewige Lob des Allmächtigen verkündeten.

Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke.

Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke,

Wie du warst vor aller Zeit, so dein Ruhm in Ewigkeit.

Unter dem Einfluss des Gesanges beruhigte sich der Engel und vertrieb das Böse, das nach ihm gegriffen hatte, aus seinem Herzen. Von neuem erfüllte ihn himmlische Verzückung und Glückseligkeit.

*

Es war die Hölle.

Die Wüste empfing sie mit einer Ladung Sand, als sie aus dem Leihwagen ausstieg, der heiße Wind blies ihr die Körner unbarmherzig ins Gesicht. Schnell rückte sie die schützende Sonnenbrille zurecht und band sich ein Tuch um Mund und Nase, dann ließ sie ihre Augen umherschweifen. Man konnte sich nur schwer einen abgeschiedeneren Ort vorstellen als diese Wüste. Sand, Steine, Sonne, vor Hitze flimmernde Luft, und so weit die Augen blickten, die majestätischen, ewig wandernden Dünen, die alles Lebendige unter sich begruben und ebenso alles, was jemals lebendig gewesen war. Dazu das ewige Heulen des Windes, das geradezu eifersüchtig kein anderes Geräusch an die Ohren dringen lassen wollte … der perfekte Ort für die ewige Ruhe. Und doch, manchmal grub der Wind auch Dinge wieder aus, die besser noch einige Zeitalter verborgen geblieben wären.

Kriminalkommissarin Emma Lind nahm den Tatort in Augenschein. Acht bis zur Unkenntlichkeit verformte Skelette hatten die Helfer bisher aus dem feinen Sand gebuddelt, und keiner konnte wissen, wie viele Leichenreste noch unter den Dünen auf ihre Entdeckung warteten.

„Das waren Profis“, murmelte ein hagerer Mann im mittleren Alter, anscheinend der Leiter des Bergungsteams. Eine auf seiner Jacke aufgeklebte Plakette wies ihn als Hauptwachtmeister des regionalen Polizeidienstes aus. Er zeigte auf zwei Gestalten im weißen Schutzanzug, die zwischen den Leichenresten herumturnten und Proben nahmen.

„Ich glaube nicht, dass unsere Spurenfuzzis was finden“,

erklärte der Hauptwachtmeister. „Alles schön säuberlich mit Flugbenzin übergossen und verbrannt. Keine Fingerabdrücke, keine Augenscans, noch nicht mal intakte DNA. Das waren echte Profis.“

Er wandte sich der Kommissarin zu.

„Ach ja, ich heiße Rabe. Wie der arktische Vogel.“

„Emma Lind.“

„Freut mich. – Etwa die Emma Lind, die den Rekombinanten geschnappt hat?“

„Ist schon ewig her“, wiegelte Emma ab und deutete auf die Skelette. „Waren ja gut versteckt, diese Leichen.“

„Ein Riesenzufall, dass wir sie überhaupt entdeckt haben. Liegen wahrscheinlich schon Jahre unter der Düne, zumindest einige von ihnen. Wenn der Sandsturm vorgestern nicht gewesen wäre, würden sie vermutlich jetzt noch hier ruhen. Wär vielleicht auch besser so.“

Emma beschloss, kein Mitgefühl für den Hauptwachtmeister zu empfinden. Verstehen konnte sie ihn zwar, ein Fall dieses Ausmaßes mitten in der fränkischen Wüste, da war für Polizisten nicht viel zu holen außer Schwierigkeiten. Leichen, die sich nicht identifizieren ließen, machten viel Arbeit und versprachen lediglich eine geringe Prämie, und auf Prämien war ein Polizist nun mal angewiesen, das Grundgehalt reichte kaum, Wohnung und Essen zu bezahlen, für einen Hauptwachtmeister im regionalen Dienst hier im heißen Süden noch weniger als für eine Kommissarin bei einer relativ gut zahlenden Firma wie der ihren. Aber Idioten wie ihr Gesprächspartner waren in der Regel selbst schuld, wenn es sie in die Wüste verschlagen hatte. Wer konnte schon wissen, was dieser Rabe ausgefressen hatte?

„Hey, Bruno, hast du was?“, rief der Hauptwachtmeister einer der beiden Gestalten zu, die gerade einen Oberarmknochen aus dem Sand zog, an dem tatsächlich noch verdorrte Fleischreste zu hängen schienen. Hoffnungsvoll hob Emma den Kopf. Vielleicht war der Fall doch gewinnbringender, als sie befürchtet hatte. Ihr Chef hatte sie hierher in die Abgeschiedenheit geschickt, damit sie diese Drecksarbeit erledigte, während er selbst sich einer weitaus lohnenderen Verbrecherjagd widmete. Ihm würde sie es wirklich gönnen, wenn sie mit einer fetten Prämie nach Hause käme und er das Nachsehen hätte.

„Kannst du eine DNA-Probe machen, Bruno?“, erkundigte sich Rabe.

„Ich versuch’s“, erwiderte der Angesprochene und schob ein kleines Röhrchen in den Knochen.

„Doch nicht ganz so professionell, die Täter“, flüsterte Emma.

„Muss wohl beim Verbrennen Sand auf den Arm gekommen sein“, mutmaßte Rabe.

Dann schwiegen beide und warteten.

„Das Knochenmark scheint noch intakt zu sein“, verkündete Bruno endlich. „Yupp, habe die Probe.“

„Machen Sie sofort einen Abgleich mit allen vermissten Personen der letzten zehn Monate“, verlangte Emma Lind.

„Wer ist die Frau?“, erkundigte sich Bruno, der sich sichtlich auf den Schlips getreten fühlte.

„Mach schon“, intervenierte Rabe, „sie ist die Kommissarin, die sie uns schicken wollten. Gerade angekommen.“

„Endlich angekommen, meinst du“, maulte der Spurensicherer, steckte aber das Röhrchen, so wie es von ihm erwartet wurde, in ein längliches Gerät mit kleinem Bildschirm. „Was macht ihr von der Kripo eigentlich, außer Prämien abzukassieren, die eigentlich uns zustehen?“

„Beherrsch dich, Bruno! Sie hat schon mal einen Rekombinanten kassiert.“

„Toll. – Was ist ein Rekombinant?“

„Ein aus den besten verfügbaren Genen künstlich konstruierter Mensch. Schneller und schlauer als unsereins und angeblich unbesiegbar. – Hey, du bist doch der Genetiker hier.“

„Wollte nur mal testen, ob du das schnallst.“

„Sehr witzig, und jetzt mach mal ein bisschen schneller, Bruno, sonst gibt’s heute überhaupt keine Prämie mehr.“ Rabe wandte sich an die Kommissarin. „Ob hinter dieser Sache hier auch ein Rekombinant steckt?“

„Unwahrscheinlich“, erklärte Emma. „Gibt nämlich keine mehr. Meiner war der letzte.“

Und das war auch gut so, fügte sie in Gedanken hinzu. Unbesiegbar war der Kerl zwar nicht gewesen, aber bevor sie ihn erwischte, hatte er acht der fähigsten Polizisten Europas erledigt, und ohne ihr hartes Training hätte auch sie keine Chance gegen ihn gehabt. Fünf Jahre war es jetzt her, und noch immer sprach man sie auf diese Heldentat an, ziemlich nervig, aber immerhin hatte sie ihr die Beförderung zur Kommissarin eingebracht.

„Beinahe schade“, brummte der Hauptwachtmeister. „Hätte gern mal einen verhaftet.“ Bedächtig wischte er sich den Schweiß von der Stirn. „Zum Glück ist es heute nicht so verdammt heiß wie in den letzten Tagen.“

„Zweiunddreißig Grad“, entgegnete Emma Lind. „Eigentlich fast schon kühl für die Gegend hier, oder?“

„Immer noch heiß genug für Anfang November. – Hast du was gefunden, Bruno?“

„Sieht nicht so aus.“

„Dann nehmen Sie das Jahr 2087 mit dazu“, verlangte Emma. „Und wenn’s sein muss, auch noch 2086.“

„Wie Madame Rekombinantenkiller befehlen.“

„Und lassen Sie die Unverschämtheiten, sonst sorge ich dafür, dass Ihre Prämien für mindestens drei Monate gesperrt werden.“

Der Spurensicherer warf Emma einen Blick zu, der meh­rere Personen auf einmal hätte töten können, beherrschte sich dann aber doch und verzichtete wohlweislich auf eine Antwort.

Rabe sah sich im Dünenmeer um. „Nichts als Sand und Hitze“, brummelte er. „Kein Tier, kein Vogel, noch nicht einmal ein scheiß Insekt, höchstens ab und zu mal ein Skorpion. Kaum zu glauben, dass hier mal Menschen lebten.“

Emma Lind bemühte sich wegzuhören. Was kümmerte sie die Vergangenheit? Was zählte, war die Gegenwart. Wann sie endlich mit der Arbeit hier fertig war und hier rauskonnte, zurück ins heimische Hamburg mit seinen doch ein ganzes Stück angenehmeren Temperaturen. Und ob sie wenigstens eine anständige Prämie mit nach Hause nehmen konnte, die den ganzen Stress rechtfertigte.

„Noch vor fünfzig Jahren soll es hier Dörfer gegeben haben“, setzte der Hauptwachtmeister seinen Vortrag unerbittlich fort. „Bewohnte Dörfer. Sehen Sie dort!“

Seine Hand wies auf die halbzerfallene Spitze eines Kirchturms, die weit im Osten aus dem Sand ragte, wie ein Relikt aus vergangener Zeit.

„Muss ein Ort namens Uffenheim sein“, überlegte er, „den alten Karten nach zu urteilen. Wissen Sie, ich interessiere mich für fränkische Geschichte.“

„Schön für Sie“, brummte Emma und ging zu ihrem Auto, um sich nach einem Schutz für ihren langsam heiß werdenden Schädel umzusehen.

Rabe folgte ihr wie eine Klette. „Ist ein Hobby von mir. Meine Urgroßeltern stammen aus der Gegend. War alles mal Ackerland hier, bevor die Hitze kam. Kaum zu glauben, aber vor hundert Jahren hat es hier noch richtige Winter gegeben, wie in Grönland, mit richtigem Schnee.“

„Können Sie nicht bald was finden, Bruno?“, rief die Kommissarin dem Spurensicherer zu.

„Schon geschehen“, rief dieser zurück.

Rabe und Emma eilten zu ihm. Stolz wies der Mann auf seinen mobilen Holoschirm.

„Hier. Ruthlene Handsome heißt sie. Mit 99,6-prozentiger Sicherheit.“

„Handsome?“, echote Emma erstaunt.

„Vermisstenanzeige am 28.12.2087. Nur intern behandelt. Arbeitgeber hat auf höchste Diskretion bestanden, selbst gegenüber den Angestellten. Offiziell steht sie nach wie vor in Amt und Würden. War Leiterin des Arbeitsbereiches Südeuropa bei … Mist, der Bildaufbau hat eine Macke …“

„Bei Eugene Worthy“, ergänzte Emma atemlos.

„Eugene wer? Habe ich da richtig gehört?“

„Sie haben. Eugene Worthy. Heaven Corp. Der Schöpfer. Gratuliere, Bruno, Sie haben gerade den Jackpot geknackt.“

„Das heißt, es gibt eine Prämie?“

„Eine Riesenprämie, du Riesentrottel“, schaltete sich Rabe ein. „Für uns alle! Eugene Worthy, der Schöpfer des Himmels, der reichste und mächtigste Mann auf Erden. Also, ich weiß schon genau, was ich mit meiner Prämie alles anstellen werde.“

„Moment!“, unterbrach Emma den Hauptwachtmeister. „Kochen Sie nicht die Klapperschlange, solange sie noch beißen kann! Der Fall ist noch lange nicht gelöst. Wo wurde die Handsome zuletzt gesehen?“

Bruno sah auf seinen Bildschirm. „In Würzburg, steht da zumindest.“

„Das passt ja!“ Rabe stieß aufgeregt den Atem durch die Zähne. „Wissen Sie, wo Würzburg ist?“, fragte er die Kommissarin.

„Ich weiß, wo Würzburg ist“, blaffte Emma. Vor allem wusste sie, was Würzburg war. Eine künstliche grüne Insel inmitten der fränkischen Wüste, ein Ort des Luxus in einer verarmten Region, ein Sammelpunkt für durchgeknallte reiche Touristen, die sich lieber in der Hitze braten ließen, anstatt an einem kühlen Ort Erholung zu suchen. Nichts, aber auch gar nichts zog sie an einen solchen Platz.

„Mein Boss ist schon mindestens zweimal dort gewesen“,

erklärte sie mit zu unnatürlicher Freundlichkeit geronnener Miene. Wie oft hatte dieser Volltrottel, der sich ihr Vorgesetzter nennen durfte, mit seinen ach so unglaublichen Erlebnissen in dieser Plastikstadt geprahlt. „Hat ihm angeblich sehr gefallen“, presste sie zwischen den Lippen hervor.

„Und jetzt dürfen Sie selbst dorthin“, gratulierte Bruno strahlend. „Ist das Leben nicht wunderbar?“

Cristos' Himmelfahrt

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