Читать книгу Emma Nielsen - Die mit dem Teufel tanzt - Teil 2 - Matthias Rathmer - Страница 6
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ОглавлениеSolange sie sich nicht sicher war, wie er zu ihr stand, lösten ihre Gefühle für ihn helle Aufregung denn wohlige Vertrautheit in ihr aus. An Schlaf war nicht zu denken. Aufgewühlt schlug sie ihre Fäuste in die Kissen. Der vergangene Tag, der zur Kür in der Zeit ihres Erwachens hatte werden sollen, war gründlich verlebt. Sie griff erneut nach dem von Kaffeesatz verdreckten Handzettel, der an der Pinnwand hing und auf den sie schon einmal zu schielen begonnen hatte, als sie sich am Abend hingelegt hatte. Ihr Urteil stand nun unwiderruflich fest. Er kam zu kitschig daher, dieser Engel. Er saß auf einer Wolke und lächelte einem so freundlich entgegen, wie es sich wohl die meisten Himmelsfahrer wünschten, wenn sie gestorben und von Gottes Personal in Empfang genommen worden waren.
„Der Mensch ist nur ein Mensch. Weil er liebt. Weil er vergibt,” las sie sich selbst zum wiederholten Male laut vor, als ginge es ihr darum, mit dem Klang dieser Buchstabenreihen ihre Bedeutung besser verinnerlichen zu können.
„Wie soll ich jemandem vergeben, von dem ich gar nicht weiß, ob es sich effektiv lohnt, ihm derart große Geschenke zu machen. Das gehört sich einfach nicht.”
Emma blinzelte angestrengt zurück auf den Diener Gottes. Die Worte des Engels standen auf einem Flyer, den sie vor dem vernichtenden Zugriff der Mutter hatte bewahren können, weil er sonst, ohne ihr Interesse, auf dem Altpapierstapel neben den Bioabfällen gelandet wäre. Immerhin hatte jemand eine Meinung und traute sich ihren öffentlichen Vortrag. Das war selten genug. Der Botschaft dieser klerikalen Hauswurfsendung allerdings konnte sie nur sehr bedingt folgen. Eitel oder narzisstisch wie die meisten im Allgemeinen um sie herum waren, hatte Emma längst aufgehört, anderen vorzugaukeln, dass es bereichernd sein könnte, sie auf ihren Irrfahrten durchs Leben zu begleiten, um entweder zu zweit oder in Ansammlungen ihrer Art doch nur wieder allein zu sein. Emma wollte nicht ungerecht sein. Doch seit langem schon bemäkelte sie den allgegenwärtigen Unsinn menschlichen Handelns. Wider jede Einsicht lebte sich die Mehrzahl scham- und skrupellos aus. Sie taten so, als ginge sie Verantwortung höchstens dann etwas an, wenn sie bezahlt wurde. Dabei kam niemand lebend davon.
„Wer sich für die Warums dieser Welt interessiert, wäre besser dumm geblieben.” Es gab Tage, da reduzierte Emma, hatte sie über die bedeutendsten weltweiten Krisenherde gelesen oder gehört, die Funktion und Daseinsberechtigung der Menschheit allein auf die Umwandlung von Sauerstoff in Kohlenstoff. Über alle anderen Ungerechtigkeiten, über den massenhaften Lug und Betrug in den unzähligen anderen Winkeln dieses Planeten wurde, wie sie mittlerweile begriffen hatte, deswegen nichts gesagt, weil die Berichterstattung darüber entweder manipuliert war, oder Spalten wie Sendeminuten für verblödende Werbung vorgesehen war.
Eine ganze Woche hatte sie in den letzten Frühjahrsferien damit verbracht, Kriege, Katastrophen, Korruption und andere Untaten aus zehn bedeutsamen Illustrierten zusammen zu tragen. Nicht weniger als einhundertzweiunddreißig Ereignisse von Belang hingen schließlich an ihrer Wand, von der einst Robbie Williams seinen Charme als lebensgroße Puzzlegestalt versprüht hatte. Das Leben machte einfach keinen Sinn. Die Menschen machten einfach keinen Sinn. Emma wusste, dass allgemeine Verurteilungen nicht wirklich etwas taugten. Sie veränderten nichts. Sie veränderte mit ihnen nichts. Weil die Defizite vieler einzelner aber in der Regel überwogen, und es keinen gab, zu dem sie hätte aufsehen können, stellte sie die Menschheit als Einheit immer häufiger in Frage. Gute Musik als Ausflug in eine kleine, heile Welt fegte diese Missstände schon lange nicht mehr aus ihrem Hirn.
„Was denkst Du gerade?” hatte sie Oskar gefragt, als sie damals, im nasskalten April, eine ganze Weile schweigend, gelangweilt und genervt nebeneinander im Auto gesessen hatten, weil sich auf der Rückfahrt der Straßenverkehr gestaut hatte. Sie waren ein ganzes Wochenende über auf einem Raverfestival im Brandenburgischen gewesen. Emma hatte diesen Trip deswegen noch so genau im Kopf, weil sie nie zuvor heftigere Ohrenschmerzen und Herzrhythmusstörungen bekommen hatte als während und nach dieser zweitägigen Dauerbeleidigung für ihre Ohren. Dazu hatten sie im Matsch gebadet. Es hatte unaufhörlich geregnet.
Beide hatten bereits in einem der ersten Gespräche, die sie geführt hatten, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, vereinbart, dass der jeweils andere zügig und ehrlich zu antworten hatte, wenn einer von beiden diese Frage gestellt hatte. Kein Mensch dachte tatsächlich an nichts.
„Dass neunzig Prozent der Menschen dumm und blöd sind,” war Oskars Antwort gewesen.
„Mehr!” hatte sie sofort ergänzt. „Wenn ich einen schlechten Tag habe, denke ich, dass es weit mehr sind.”
„Das darf man aber um Himmelswillen bloß nicht laut sagen, um nicht ans Kamener Kreuz genagelt und öffentlich mit Katzenkot beworfen zu werden.”
„Kamener Kreuz?”
„Ist da, wo sich die erste und die zweite Autobahn unserer Republik kreuzen. Die, die Hitler einst bauen ließ. Mit all den Dummen und Blöden.”
„Es ist heute genau so,“ seufzte Emma auf. „Neunzig Prozent der Menschen sind wie Knete in den Klauen ein paar weniger. Zerquetscht von Macht und Ohnmacht. Sie sind dumm, ehrerbietig, namenlos, habgierig, zivilfeige und konsumsüchtig. Keine Revolution, kein Krieg, keine Regierung und kein Herrschaftssystem hat daran in den letzten dreitausend Jahren etwas ändern können, nicht einmal die Philosophen, die Künstler, die Denker oder die anderen Großen ihrer Zeit.”
„Stimmt! Mit ihren Büchern und Schriften könnte man im Mittelmeer eine ganze Insel aufschütten lassen, die aber sicherlich niemand besuchen würde, weil sich dort auszuruhen hart und unbequem wäre.”
„Ja! Es ist zum Beispiel total sinnlos, in dieser Blechlawine nach Hause zu schleichen. Alle wissen es, aber alle tun es trotzdem. Wir gehören ganz eindeutig ebenfalls zu den neunzig Prozent. Ich hab es vorher gesagt. Und was war? Nichts war. Wir sind trotzdem gefahren.”
„Schatz! Das nächste Mal hast Du Recht. Ganz gleich, was es ist, ok?” Oskar konnte so herrlich einfach sein.
Von allen Sinnlosigkeiten des Lebens, erinnerte sich Emma an dieses Ereignis zurück, war die damalige Schleichfahrt mit ihm noch einigermaßen erträglich gewesen. Sie waren wenigstens vorangekommen, im Straßenverkehr und in ihrer Freundschaft. Vor allem das war selten genug, zwischen Männern und Frauen.
Es war fast zwei Uhr in der Früh geworden. Der Wind hatte nachgelassen. Emma heftete den Flyer zurück an die Pinwand, ließ sich auf den Rücken fallen und stöhnte leise auf. Wo war Ron? Was war Traum? Und was war Wirklichkeit? Es gab Stunden, die zu erleben so schräg war, dass die, die von ihr darüber hörten, nur müde lächelten und sie für hoffnungslos durchgeknallt hielten. Es gab Momente, die zu erleben so verrückt war, dass einem keiner auch nur ein Wort glaubte, obgleich sie wahr gewesen waren. Und es gab Augenblicke, die zu erleben so unvorstellbar war, dass sie darüber eisern schwieg. Alle diese Erlebnisse kannte sie. Was jedoch gerade geschah, machte es ihr unmöglich, eine Bezeichnung dafür zu finden, geschweige denn eine Erklärung. Trotzdem. Sie musste glauben, was ihre Augen gesehen hatten.
Ron hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Nichts mehr als die reine Wahrheit. Ihr Leben stand auf dem Spiel. Sie würde tun müssen, was er vorgeschlagen hatte. Sie musste einmal durchs Jenseits laufen, die Hölle hinab, am Inferno vorbei, dem Amtssitz Luzifers, den Berg des Fegefeuers hinauflaufen, bis sie das ewige Licht erreicht hatte. Dann erst war sie den Höllenfürst samt seiner Bande von Riesenschnauzern los. Emma erinnerte sich. Sie war ihm gefolgt. Eine Untergrundbahn hätte sie zermalmt, wenn er nicht gewesen wäre. Mit diesem Tag hatte alles angefangen. In diesen Stunden hatte sie eine Entscheidung getroffen, über deren Konsequenzen sie nicht die geringste Ahnung besessen hatte. Ihre Reise durchs Jenseits, das es entgegen vieler Bekundungen und Lehren also doch gab, sollte eine dramatische Enthüllung werden, die nie zuvor ein Mensch gemacht hatte. Und hätte Emma zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, wer im Hintergrund tatsächlich an den Fäden ihres Schicksals zog, hätte sie sich freiwillig für den Rest ihres Lebens in eine kleine, gemütliche Irrenanstalt eingewiesen.
Sie war mit ihm durch die Hölle gegangen. Sie war dem Teufel entkommen, während Ron in dessen Händen verschwunden blieb. Sie hatte die ersten Prüfungen im Fegefeuer bestanden, während von Oskar nach seinem Tod immer noch jeder Hinweis fehlte, wo sie ihn entweder beerdigt oder sonst wo hingebracht hatten. Und obendrein war sie dieser Kaja begegnet, während ihres nächtlichen Spazierganges. Wäre sie nicht aufgewacht, aus jenem Traum in dieser Nacht, hätte sie nicht ins Schlafzimmer gelugt, wäre sie nicht hinaus in die Nacht, hätte sie in der Bar nicht nach einem Bier gefragt, wäre sie auch diesem bornierten Vamp niemals begegnet. Träumte sie etwa immer noch? Emma sinnierte über das Tempo des Lebens, über die Dinge und Menschen, die einem widerfuhren oder begegneten und damit das eigene Dasein so maßgeblich beeinflussen konnten. Sie dachte an Ottokar und an Silvy, an Hölle und Himmel, an die Reiche im Jenseits, die es angeblich nicht gab, an Gott und die Welt, an das, was alles zuvor geschehen war, an diesen skurrilen Gesprächskreis über Neid. Und überhaupt. Woher wusste diese Hure über sie und Ron? Wo bloß war Ron? Was bloß fiel dieser Hexe Kaja ein, sie derart zu beleidigen?
Vielleicht war es die Anstrengung, auf so viele Fragen so wenige Antworten zu haben. Vielleicht hatte sich ihr Unterbewusstsein ergeben. Vielleicht hatten sich ihre Hirnzellen ergeben, weil das erträgliche Maß, zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden zu können, längst schon überschritten war, bei allem, was sie bis hierher durchgemacht hatte. Mit einem letzten Blick auf das Lächeln dieses kitschigen Gotteshelfer jedenfalls fielen Emma die Augen zu, begleitet von dem Gedanken, dass ihre Liebesgeschichte noch nicht vollendet war.